Vollständiges
deutschsprachiges Manuskript
des Buches
'Neuordnung.
Eine friedliche und nachhaltig
entwickelte Welt ist (noch)
möglich.'
6. aktualisierte und erweiterte Auflage, 2025
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Zitiermöglichkeit:
Moegling, Klaus (2025): Neuordnung. Eine friedliche und nachhaltig entwickelte Welt ist (noch) möglich. Kassel, 6. aktualisierte und erweiterte deutschsprachige Auflage, https://www.klaus-moegling.de/aktuelle-auflage-neuordnung/, 10.3.2025, letzte Bearbeitung: 12.4.2025.
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aktuelle Auflage 'Neuordnung. Eine friedliche und nachhaltig entwickelte Welt ist (noch) möglich.'
von Klaus Moegling
Kriege, soziale Ungleichheit, Klimaerwärmung, Pandemien. Die Welt steht täglich vor neuen Herausforderungen, die nur durch eine weitreichende Neuordnung bewältigt werden können, die an den Ursachen der verschiedenen globalen Probleme ansetzt.
Die Welt ist in Unordnung geraten: In vielen Weltregionen ist der Frieden zerstört, finden Kriege in unterschiedlicher Form statt. Die aktuellen Kriege in der Ukraine, im Jemen und im Nahen Osten sind erschreckende Beispiele hierfür. Menschen werden gefoltert, erschossen, in die Luft gesprengt oder verhungern. Viele Staaten werden zunehmend autoritär und repressiv nach innen und gefährlich nach außen.
Die Ungerechtigkeit im globalen Maßstab wird immer größer: Wenige Reiche verdienen immer mehr, ein großer Teil der Weltbevölkerung hat keinen Zugang zu Grundnahrungsmitteln und sauberem Trinkwasser. Die Ökonomie dient nicht dem Menschen. Die Digitalisierung fördert ein Leben in Scheinwelten und die Veränderung des Humanen. Der Umgang mit Pandemien ist unzureichend. Die Umwelt wird zunehmend zerstört. Die Fluchtbewegungen nehmen zu und die damit verbundene Migrationsproblematik ist selbst für reiche Gesellschaften schwieriger zu bewältigen. Gleichzeitig erfahren Rechtspopulismus und Rechtsextremismus eine Renaissance. Die Klimaerwärmung wird zu einer dramatischen Verschiebung des ökologischen Gleichgewichts führen. 'Rette sich, wer kann!' oder Nachdenken über einen Neubeginn?
Die Antwort hierauf ist ein Plädoyer für eine Neuordnung.
Eine friedliche und am Prinzip der Nachhaltigkeit orientierte Welt ist (noch) möglich. Und: Die Neuordnung muss bereits jetzt mit den ersten notwendigen Schritten beginnen. Aber: Die Zeit wird knapp.
Das Buch "Neuordnung" wird ausführlich und kontrovers in wechselseitiger Kommunikation mit dem Autor diskutiert unter:
https://www.freitag.de/autoren/profdrklausmoegling1952/sozialoekologische-transformation
Das Buch ist inzwischen in seiner 3. Auflage im Verlag Barbara Budrich vergriffen. Es ist nun auf dieser Webseite als 6. aktualisierte und erweiterte Auflage frei lesbar veröffentlicht. Die Rechte hierzu wurden vom Verlag erworben.
Video-Einführung in das Buch 'Neuordnung'
Inhaltsverzeichnis
| | Vorwort zur 6. Auflage: Don't give up!
5
| | Vorwort zur fünften Auflage:
Eine Neuordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse wird drängender.
7
| | Vorwort zur vierten Auflage:
Eine Verhandlungslösung ist möglich.
11
| | Vorwort zur dritten Auflage:
Der Widerstand wächst, eine neue Ordnung scheint hindurch.
22
| | Vorwort zur zweiten Auflage:
Was uns Mut machen kann.
24
| | Vorwort zur ersten Auflage:
Ordnung - Unordnung - Neuordnung
25
| 1 | Analyse gegenwärtiger globaler Krisen – Ordnungen lösen sich auf
30
| 1.1 | Ökonomische Krisen
31
| 1.1.1 | Globale Strukturen der Gier
31
| 1.1.2 | Widerstand gegen den neoliberalen Marktradikalismus
52
| 1.1.2.1 | Die WTO-Proteste in Seattle
52
| 1.1.2.2 | Occupy Wall Street
55
| 1.1.2.3 | G20-Proteste in Hamburg
57
| 1.2 | Politische Krisen: Krise der UN, Rückzug der Demokratien und Wiederkehr autoritärer Herrschaftsformen
62
| 1.2.1 | Demonstrationen und Proteste gegen die extreme Rechte in westlichen Demokratien
67
| 1.3 | Versuche der Weltbeherrschung und hegemonial verursachter internationaler Krisen
84
| 1.4 | Militärische Krisen und Rüstungspolitik
91
| 1.4.1 | Das Wachstum des militärischen Gewaltpotenzials
91
| 1.4.1.1 | Der militärisch-ökonomische Komplex
91
| 1.4.1.2 | Die Wiederkehr der Rüstungsspirale
131
| 1.4.1.3 | Umwelt, Militär und Krieg
147
| 1.4.1.4 | Asymmetrische Kriegsformen und die Neuen Kriege
157
| 1.4.1.5 | Die mediale Konstruktion von Feindbildern
163
| 1.4.2 | Friedensproteste und Friedensbewegung
172
| 1.4.2.1 | Ostermarschbewegung, Proteste gegen den Vietnam-Krieg und den Nato-Doppelbeschluss
172
| 1.4.2.2 | „Kein Blut für Öl!“ – Proteste gegen die Golf-Kriege
174
| 1.4.2.3 | Aktuelle Proteste gegen die Militarisierung der Welt: International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN), Global Partnership for the Prevention of Armed Conflicts (GPPAC),
Peace Brigades (PB), Friedensappelle zum Krieg in der Ukraine
178
| 1.5 | Ökologische Krisen
192
| 1.5.1 | Die geschundene Biosphäre wendet sich gegen den Menschen
192
| 1.5.2 | Widerstand und Proteste gegen die ökologische Zerstörung
217
| 1.5.2.1 | Der Widerstand der indigenen Völker
217
| 1.5.2.2 | Fridays for Future (F4F)
220
| 1.5.2.3 | Extinction Rebellion (XR)
224
| 1.5.2.4 | Professionalisierte Umwelt-NGO’s: Greenpeace und Mighty Earth
228
| 1.5.2.5 | Die Letzte Generation
233
| 1.6 | Kulturelle Krisen
240
| 1.6.1 | Kultur und Kunst im Kapitalismus
240
| 1.6.2 | Zur kulturellen Problematik von Kirchen und Religionen
247
| 1.6.3 | Kulturelle Umbrüche
256
| 1.7 | Psychische Krisen: Durchsetzung instrumenteller Vernunft, Narzissmus und Massenneurose
261
| 1.8 | Die Krise der Männlichkeit und die Emanzipation der Frauen
277
| 2 | Drohende globale Szenarien – Unordnung als Ordnungsprinzip
284
| 2.1 | Das militärische Vernichtungsszenario
285
| 2.2 | Das ökologische Verwüstungsszenario
290
| 2.3 | ‚Failed States‘ und die Hilflosigkeit der internationalen Gemeinschaft
300
| 2.4 | Religiöser Fanatismus und Terrorismus
302
| 2.5 | Zusammenbruch der Weltwirtschaft, Überbevölkerung und Hungerkatastrophen
305
| 2.6 | Cyber-Kriege
311
| 2.7 | Digitale Imperien und die mediale Transformation des Humanen
314
| 2.8 | Massenhafte Sinnkrisen, psychische Verwerfungen und Fluchten
320
| 2.9 | Externe planetare Bedrohungen der Zukunft
323
| 3 | Die Grundlage einer gesellschaftlichen Neuordnung liegt auch in der psychosozialen Bildung des Einzelnen
330
| 3.1 | Innere Welten, Sozialität und soziale Beziehungen: Wer in seinem Verhältnis zu sich selbst nicht klar ist, verfügt auch über keine Klarheit in seinen Beziehungen.
330
| 3.2 | Bildung und die Arbeit am sozialen Selbst: Über empathische Gemeinschaftserfahrungen zum
gebildeten Selbst
336
| 3.3 | Humanistische Psychologie und Therapieverfahren
356
| 3.4 | Meditation als Selbst- und Welterfahrung
363
| 3.5 | Demokratiebildung auf dem Weg zu einem neuen Politiker_innen-Typus
374
| 4 | Sozioökonomische, institutionelle und sozialökologische Grundlagen nachhaltiger Entwicklung und wirksamer Friedenspolitik
384
| 4.1 | Den Tiger zähmen: Die globale Ökonomie im Sinne von Nachhaltigkeit und
Friedenssicherung transformieren
384
| 4.2 | Demokratische Erneuerung von Gesellschaften, Institutionen und Lebensweisen
406
| 4.3 | Soziale Gerechtigkeit in einer internationalen Perspektive als Grundlage sozialen Friedens
410
| 4.4 | Die ökologischen Voraussetzungen des Friedens
413
| 4.5 | Der digitalen Weltbeherrschung Grenzen setzen
433
| 5 | Neuordnung des Systems internationaler Beziehungen
441
| 5.1 | Entnationalisierung und Stärkung demokratischer Strukturen auf regionaler Ebene
442
| 5.2 | Weiterentwicklung von Global Governance
444
| 5.3 | Stärkung und gleichzeitige Demokratisierung der Vereinten Nationen
446
| 5.4 | Kann die EU eine zentrale Rolle bei Abrüstung und Rüstungskontrolle einnehmen?
458
| 5.5 | Entwaffnung der Nationalstaaten, klandestiner sowie terroristischer Organisationen und bewaffneter Einzelpersonen
466
| 5.6 | Aufbau einer demokratisch kontrollierten Weltpolizei und eines Gewaltmonopols der UN
469
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Exkurs zu Kap. 5.6:
Sollte die NATO der Ukraine, Belarus und Russischer Föderation ein Beitrittsangebot unterbreiten? Eine utopische Skizze.
480
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| 5.7 | Der UN-Zukunftspakt
487
| 6 | Erste Schritte auf einem langen Weg gesellschaftlicher Pazifizierung
498
| 6.1 | Ökonomische Entwicklungsschritte
501
| 6.2 | Demokratische Entwicklungsschritte
504
| 6.3 | Ökologische Entwicklungsschritte
507
| 6.4 | Friedenspolitische Entwicklungsschritte
514
| 6.5 | Sozialpolitische Maßnahmen
518
| 6.6 | Schritte zur Beherrschung der digitalen Entwicklung in demokratischen Gesellschaften
521
| 6.7| Schritte zum kulturellen Transfer, zur Bildungsgerechtigkeit und zum Erhalt der demokratischen Medienöffentlichkeit
521
| 7 | Einordnung des vorliegenden Ansatzes in die Theorien internationaler Beziehungen
525
| 8 | Zusammenfassung und Epilog: Eine neue Ordnung für die Welt
535
Literaturverzeichnis
559
Vorab soll zunächst das zusammenfassende und Perspektiven bildende letzte Kapitel 8 dem gesamten mehrere hundert Seiten umfassenden Manuskript voran gestellt werden.
Anschließend kann sich anhand des Inhaltsverzeichnisses entschieden werden, das gesamte Manuskript von vorn bis hinten durchzulesen bzw. in welchen Kapiteln vertiefend nachgelesen werden soll.
Kapitel 8
Zusammenfassung und Epilog: Eine neue Ordnung für die Welt
Der ganzheitliche Ansatz
Nur selten gelingt es politikwissenschaftlichen Ansätzen, über eine teilhafte Spezialisierung ihrer Aussagen oder über eine Fokussierung auf einen einzigen theoretischen Ansatz hinauszugehen. Aus diesem Grunde kann die Komplexität gesellschaftlicher Vorgänge dann nur einseitig und z.T. unterkomplex erfasst werden. Beispielsweise befinden sich neoliberale Theorien ökonomischer Entwicklung in einer Verbindung zu ökonomischen Interessen, formulieren also bewusst einseitig und teilspezialisierend, um alternative Perspektiven auszuschließen und ihre Klientel mit auf individueller Gewinnmaximierung ausgerichteten Handlungsstrategien zu versehen.
Dem Buch liegt daher ein holistischer bzw. ganzheitlicher Ansatz zugrunde, dessen prioritäres Erkenntnisinteresse es ist, gesellschaftliche Perspektiven mehrdimensional aus verschiedenen Blickrichtungen zu analysieren und zu beurteilen, um Anforderungen für eine zukünftige gesellschaftliche Entwicklung zu formulieren, die an universalen Werten und Interessen der Menschheit nach Frieden, Gerechtigkeit und dem Erhalt bzw. der Wiederherstellung einer ausbalancierten Ökologie orientiert ist. Dieser Ansatz ist vor allem durch acht systemtheoretische Annahmen begründet:
1. Alles steht in einer Verbindung zueinander: Die Teile untereinander und die Teile wiederum zum Ganzen. Weit entfernte Ereignisse können daher in der Nähe eine große Wirkung zeigen. Dies gilt für die räumliche und für die zeitliche Ebene.
2. Politische Aktivität kann in dieser Ordnung eine Wirkung entfalten, die zu einer Veränderung der Teilbeziehungen untereinander und damit zu einem Einfluss auf das gesellschaftliche Ganze führt.
3. Systemstrukturen geben dem Ganzen Festigkeit gegenüber der Eigendynamik der Teile. Allerdings wirken in bestehenden Strukturen Personen und Gruppen, die wiederum strukturbildende Regeln verändern können.
4. Es gibt verschiedene Systemebenen. Die Organisationsmuster auf den verschiedenen Systemebenen sind weniger hierarchisch, sondern in der Regel weisen Systeme multivariate Organisationsmuster auf. Informationen und Einflüsse verlaufen in alle Richtungen, abwärts, aufwärts und auf der horizontalen Ebene.
5. Im Unterschied zu einer einfachen Maschine funktionieren Ganzheiten im Sinne lebendiger Systeme nicht in einem linear-kausalen Sinne, sondern Veränderungen ergeben sich durch zyklische Informationsmuster mit vielfältigen Rückkoppelungsschleifen.
6. Lebende Systeme sind durch die Prinzipien der Selbstorganisation und der Selbsterneuerung (Autopoiesis) gekennzeichnet. Dies bedeutet, dass ein funktionsfähiges System in der Lage ist, relativ selbstständig seine Ordnung zu definieren, zu verändern und lernend neu zu organisieren.
7. Eine Neuordnung des Ganzen entsteht, wenn die verschiedenen teilhaften Aktivitäten vieler Einzelner und einzelner Gruppen intensiv genug und systemisch passend zur beginnenden strukturellen Veränderung zusammenarbeiten.
8. Wenn Teilbereiche systemisch stimmig zusammenwirken, entwickeln sie eine systemverändernde Dynamik. Dann kann es – auch in einem disruptiven Sinne – zu qualitativen Veränderungen mit hoher Geschwindigkeit, also zu gesellschaftlichen Kipppunkten hin zu einer globalen Neuordnung, kommen.
Oftmals voneinander getrennte Bereiche, wie Körper, Geist, Psyche und Gesellschaft, wie Umwelt, Wirtschaft und Gesundheit oder Identität, Religion und Krieg werden als miteinander zusammenhängende Bereiche verstanden. Das Ganze ist auch hier mehr als die Summe seiner Teile. Teilbereiche wirken systemisch zusammen und können eine dynamische und weltumspannende Wirkung zeigen. So zeigt uns die Verbreitung des Coronavirus, wie der gesellschaftliche Umgang mit einem Virus zu Ansteckungsängsten in den Menschen, zu einem veränderten zwischenmenschlichen Verhalten, zu wirtschaftlichen Krisen, wie dem Umsatzeinbruch von Unternehmen und Massenentlassungen, sowie politischen Krisen führen kann. Genauso kann die Corona-Krise zeigen, dass ein neoliberales Wirtschaftsregime, im Zuge dessen die Privatisierung und Kommerzialisierung des Gesundheitswesens vorgenommen wird, nicht geeignet ist, eine Pandemie erfolgreich zu bekämpfen. Der schreckliche Preis sind Unmengen von Schwererkrankten und Toten.
Nicht zu verstehen, wie alles zusammenhängt, kann daher höchst gefährlich sein. Auch die Wirkungen alltäglichen Verhaltens, also auf der Mikroebene, zu unterschätzen, kann äußerst gefährlich sein. Zu unterschätzen, was das alltägliche mediale Betrachten von Morden und zwischenmenschlicher Quälerei und das virtuelle Mitwirken in diesem Geschehen im jungen Menschen anrichten kann, bedeutet die psychische Anfälligkeit von Menschen zu übersehen. Massenschießereien in Schulen und todbringende Anschläge, aber auch die Bereitschaft, im Krieg zu töten, sind Ausdruck dieser Ignoranz.
Hingegen können auf demokratischer Grundlage eintretende und an Nachhaltigkeit orientierte Bildungsprozesse nicht hoch genug für ihre Bedeutung für das Ganze eingeschätzt werden. Auch das friedliche Meditieren, die zwischenmenschliche Liebe und das gegenseitige Helfen können Prozesse mit globaler Ausstrahlungskraft bedeuten, wenn Empathie und Hilfsbereitschaft zur Grundlage einer kollektiven Solidarität werden.
Der Zusammenhang wird ebenfalls deutlich, wenn wir uns die Verbrennung von Braun- oder Steinkohle zur Beheizung aber auch zur industriellen Energieproduktion in ihrer Verbindung zur Freisetzung weiterer Klimagase betrachten. Die u.a. durch die CO2-Emissionen entstehende Klimaaufheizung führt zu vielfältigen Auswirkungen von der Veränderung der Meeresströmungen, über die Entstehung von Wüsten, dem vermehrten Auftreten heftiger Stürme, dem Abschmelzen der Gletscher, dem Anstieg des Meeresspiegels bis hin zum Auftauen des Permafrostbodens und der entsprechenden Freisetzung wiederum Klima relevanten Methans. Die klimatischen und ökologischen Verschiebungen und Verwerfungen führen zu Massenfluchten und Völkerwanderungen, die wiederum oftmals nicht bereitwillig von den Einheimischen hingenommen werden und zu gewalttätigen Auseinandersetzungen sowie zur Verschiebung der politischen Kräfteverhältnisse führen.
Kriege entstehen, wenn politische Möglichkeiten der beteiligten Akteure, einen Konflikt zu lösen, versagt haben. Erst die historische Kontextualisierung militärisch ausgetragener Konflikte kann zeigen, welche Interessen, Maßnahmen und Verweigerungen der Zusammenarbeit zum Ausbruch eines Krieges geführt haben. Hierbei stehen in der Regel ökonomische Interessen, wie z.B. das Gewinnstreben der Rüstungsindustrie, das Ausbeutungsinteresse an fossilen Brennstoffen oder seltenen Erden, in einer Verbindung zu machtpolitischen bzw. geopolitischen Optionen. Diese unterschiedlichen Interessen sowie die historische Genese eines Krieges müssen in einen Zusammenhang gedacht werden, wenn Überlegungen zur Beendigung eines militärischen Konflikts realistisch und erfolgreich sein sollen.
Diesen Zusammenhängen und den Möglichkeiten, einen ethisch vertretbaren politischen Einfluss im Ganzen zu haben, ist das vorliegende Buch gewidmet.
Einer Vision kann man nicht vorwerfen, visionär zu sein.
Das Buch beginnt mit einer kritischen Analyse des gesellschaftlichen Ist-Zustands in einem globalen Kontext. Hierbei werden die zentralen gesellschaftlichen Bereiche analysiert und auf ihre Verbindungen hin durchdacht: Ökonomie, Politik, Militär, Ökologie und Kultur.
Es wird hierbei ein Fokus auf globale Strukturen der Gier gelegt, die im Kolonialismus ihren historischen Ausdruck fanden, aber auch in postkolonialen Zeiten ihre Verlängerung und systemische Modifizierung erfuhren.
Ein Schwerpunkt liegt anschließend jeweils auch auf der Rekonstruktion und Einordnung der internationalen Widerstandsbewegungen, die sich gegen die herrschende Ökonomie, soziale Ungerechtigkeit, die Zerstörung des Klimas und gegen die Militarisierung der Welt wehren.
In einem zweiten Schritt werden Negativszenarien für diese Bereiche entwickelt. Hier wird danach gefragt, wie die Zukunft der Weltgesellschaft aussehen wird, wenn es nicht gelingt, die Gefahr einer weltweiten militärischen Katastrophe einzudämmen, die Klimakatastrophe zu verhindern, den Tendenzen der Entdemokratisierung entgegen zu wirken, die soziale Ungleichheit zu beseitigen und die digitale Transformation des Humanen im Rahmen einer menschenfeindlichen Kultur zu verhindern.
Die Skizzierung derartiger Negativszenarien, die im Sinne der Heuristik aus einer Kombination von Fakten, theoretischen Einschätzungen, Vermutungen und Hypothesen konstruiert werden, ist neben der kritischen Ist-Analyse die Basis für die Forderung nach einer radikalen Neuordnung der Weltgesellschaft, damit eine derartige Entwicklung verhindert werden kann.
In einem dritten Schritt wird dann die positive Vision einer (noch) möglichen globalen Entwicklung beschrieben, die eintreten kann, wenn die richtigen Maßnahmen ergriffen und die hierfür notwendigen Entscheidungen über zivilgesellschaftlichen Widerstand, Demokratisierung und internationale Vernetzung durchgesetzt werden können. Diese Vision ist an den ökologischen Notwendigkeiten, den Kriterien der Demokratie, des friedlichen Zusammenlebens, der Wahrung der Menschenrechte, einer menschengerechten Ökonomie, sozialer Gerechtigkeit, einer aufgeklärten Kultur, also am Prinzip einer damit gemeinten mehrdimensional zu begreifenden Nachhaltigkeit orientiert. Allerdings besteht hinsichtlich der verschiedenen Dimensionen der Nachhaltigkeit aufgrund der gegenwärtigen und zukünftigen klimatischen Bedrohungslage das Primat der ökologischen Dimension, an der sich jede Maßnahme und Strategie zu messen hat.
Es werden dann hierauf folgend auf der Grundlage der kritischen Analyse, der Negativszenarien und der auf verschiedenen Ebenen entwickelten positiven Vision planetarer Entwicklung erste konkrete Schritte entwickelt, die am gegenwärtigen Zustand globaler Politik, neoliberal geprägter Ökonomie, globaler Ökologie sowie diversifizierter kultureller Lebensweisen ansetzen können.
Wie bereits einleitend gesagt: Es kann eine derartige Vision nicht mit dem festlegenden und einengenden Blick auf die Unzulänglichkeiten und Beschränkungen der Gegenwart entwickelt werden. Der beständige Vorwurf eines ungenügenden Realismus‘ verfehlt die Intention des visionären Vorhabens. Daher kann man einer Vision nicht vorwerfen, visionär zu sein. Nur die ersten Schritte in Richtung auf die langfristige Annäherung an eine Vision müssen an dem Vorfindbaren anknüpfen. Hier ist es dann auch legitim zu fragen, inwieweit die ersten Schritte realistisch gewählt sind.
Die positive Vision einer Neuordnung hingegen ist Ausdruck des idealiter Gewünschten und Gewollten und findet seine Einlösung möglicherweise erst in mehreren Generationen – wenn der Menschheit tatsächlich noch bis dahin Zeit gegeben werden wird.
Zur zeitlichen Dimension einer Neuordnung
Die im vorliegenden Buch vertretene positive Zukunftsvorstellung einer Neuordnung ist vor dem Hintergrund der Ist-Analyse und negativer Szenarien, aber auch wünschenswerter Entwicklungen entstanden, um die Möglichkeiten eines Überlebens der menschlichen Zivilisation zu ermöglichen. Hierfür ist das Erkennen der eigenen Verantwortlichkeit der derzeit lebenden Generationen dringend notwendig, damit der Zeitpunkt der Umkehr und Neuordnung nicht verpasst wird – so Hans Jonas (1979/2015, 8f.):
„Im Zeichen der Technologie aber hat es die Ethik mit Handlungen zu tun (…), die eine beispielslose kausale Reichweite in die Zukunft haben, begleitet von einem Vorwissen, das ebenfalls, wie immer unvollständig, über alles ehemalige weit hinausgeht. Dazu die schiere Größenordnung der Fernwirkungen und oft auch ihre Unumkehrbarkeit. All dies rückt Verantwortung ins Zentrum der Ethik, und zwar mit Zeit- und Raumhorizonten, die denen der Taten entsprechen.“
Wer in diesem Zusammenhang argumentiert, dass der Mensch von Grund aus bösartig, der Mensch dem Menschen ein Wolf sei und daher eine positive Vision menschlicher Entwicklung naiv und unrealistisch sei, dem sei noch einmal entgegengehalten, dass es genügend weltweite Beispiele von positiver menschlicher Humanität, von zivilgesellschaftlichem Mut, Engagement gegen Unterdrückung, Hilfsbereitschaft und Empathie in der neueren Geschichte der Menschheit gegeben hat – von Bertha v. Suttner, über Emmeline Pankhurst, Martin Luther King, Mahatma Gandhi, Nelson Mandela bis zu Malala Yousafzei und Greta Thunberg.
Auch die vielen Unterstützungsleistungen und Hilfen, die sich Menschen gegenseitig in Familien, Freundeskreisen, politischen Aktionen oder Arbeitsverhältnissen geben, sprechen eine positive Sprache hinsichtlich der Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen. Auch ist entgegenzuhalten, dass wir erst eine ontologisch und phylogenetisch sehr geringe Entwicklungsphase der Menschheit hinter uns haben. Möglicherweise sind erst die ersten Zentimeter eines Tausende Kilometer langen Weges begangen worden. Visionen menschlicher Entwicklung müssen daher nicht nur über ein paar Jahrzehnte hinweg sondern auch mit einer Reichweite von vielen Generationen in die Zukunft gerichtet sein – so Wilhelm Reich in seiner Rede an den ‚kleinen Mann‘:
„Du denkst immer zu kurz, kleiner Mann, nur vom Frühstück bis zum Mittagessen. Du musst es lernen, in Jahrhunderten zurück und in Jahrtausenden vorwärts zu denken. Du mußt es lernen, in den Begriffen des lebendigen Lebens, deiner Entwicklung vom ersten Protoplasmaflöckchen bis zum aufrecht gehenden, aber noch krumm denkenden Menschentier zu denken. Du hast kein Gedächtnis für Dinge, die vor zehn oder 20 Jahren vorgefallen sind, und daher wiederholst du die Dummheiten, die du schon vor tausend Jahren sagtest. Mehr, du haftest an deinen Dummheiten, der ‚Rasse‘, der ‚Klasse‘, der ‚Nation‘, des religiösen Zwanges und des Liebesverbots, wie eine Laus im Pelz. Du wagst es nicht wahrzunehmen, wie tief im Elendspfuhl du steckst. Gelegentlich erhebst du deinen Kopf aus dem Pfuhl und rufst Eja-eja-ejaja! Das Quaken eines Frosches im Sumpf ist näher am Lebendigen.“[1]
Lebenssinn und Persönlichkeitsentwicklung
Menschen müssen sich im Klaren werden, warum sie auf dieser Erde leben wollen, welche Werte und welchen Lebenssinn sie verfolgen möchten. Sie müssen für sich klären, welche soziale Ordnung sie anstreben und sich in diesem Sinne für eine Neuordnung einsetzen, wenn die bisherige Ordnung der Welt nicht ihren Vorstellungen eines ‚guten Lebens in Verantwortung‘ entspricht.
Entsprechend müssen sie sich auf der Persönlichkeitsebene und in ihren sozialen Beziehungen entwickeln, reifen, wachsen und für sich und miteinander Durchbrüche schaffen. Menschen – egal aus welcher Kultur und aus welcher Region – können für sich Wege finden, wie sie sich im Kontext von ähnlich Gesinnten über veränderte Politikformen, neue Lebenszusammenhänge, Formen solidarischen Wirtschaftens, über Bildungsprozesse, therapeutische Interventionen oder Meditationspraktiken weiterentwickeln möchten.
Die Voraussetzung hierfür auf der Persönlichkeitsebene ist u.a. die Entwicklung von Achtsamkeit, d.h. der Fähigkeit, sich aufmerksam bezüglich des eigenen Denkens, Fühlens und Handelns wahrzunehmen und zu reflektieren. Dies erfordert oftmals ein Innehalten, ein Verweilen und eine Entschleunigung des eigenen Lebens. Menschen, die in diesem Sinne auf sich aufmerksam werden – so wurde argumentiert – lassen sich nicht so leicht manipulieren, verlieren sich nicht in virtuellen Welten oder anderen Süchten, sind angstfreier, identifizieren sich nicht mit ihrer Entfremdung, entwickeln Eigenart und Zivilcourage. Die Verbindung von Achtsamkeit, Persönlichkeitsreife und Demokratiefähigkeit über Bildungsprozesse unterschiedlicher Art wird als eine gute Grundlage dafür angesehen, einen positiven Einfluss auf ökonomische, ökologische, soziale und politische Strukturen zu nehmen.
Hierbei ist anzumerken, dass diese Entscheidungsmöglichkeit zu einem guten Leben in Verantwortung nur in Gesellschaften gegeben ist, die systemisch einigermaßen funktionieren und nicht in Kriege und Unterdrückung durch extreme illegitime Herrschaft verwickelt wurden. Für Regionen, wie dem Gaza-Streifen oder dem Sudan, gelten derzeit andere Voraussetzungen. Hier geht es schlichtweg um das Überleben bzw. um die Suche nach Fluchtwegen.
Determinanten einer Neuordnung
Insbesondere die drohende ökologische Verwüstung, die zunehmende soziale Ungerechtigkeit, das militärische Vernichtungsszenario, die zunehmende Entdemokratisierung, die Enthumanisierung im Zuge digitaler Transformation sowie das verstärkte Auftreten von Pandemien stellen Gefährdungen der Überlebensbedingungen der Menschheit dar, für die entschiedene Gegenmaßnahmen im globalen Maßstab unter der Perspektive der Nachhaltigkeit ohne eine weitere zeitliche Verzögerung wirksam einsetzen müssen. Nachhaltige Entwicklung bezieht sich hierbei mehrdimensional auf ökologische, ökonomische, politische und kulturelle Aspekte globaler Entwicklung unter dem Primat des Ökologischen und meint nicht nur die Erhaltung der Lebensgrundlagen für die zukünftigen Generationen, sondern auch die Heilung des Zerstörten. Eine derartige Entwicklung kann aufgrund ihrer Globalität nicht nur nationalstaatlich eingeleitet werden, sondern muss dringend transnational unter Einbezug einer reformierten UN koordiniert werden.
Im Zuge der Konstruktion einer positiven Vision gesellschaftlicher Veränderung werden des Weiteren die sozioökonomischen Voraussetzungen friedlichen und ökologischen Zusammenlebens im Sinne einer Postwachstumsgesellschaft und alternativer Ökonomien mit deutlicher Gemeinwohlorientierung beschrieben. Die Ökonomie muss prioritär dem Menschen dienen und nicht primär den Rentabilitätsinteressen ihrer Shareholder. Verschiedene Widerstandsbewegungen gegen die neoliberalisierte Ökonomie und für eine gemeinwohlorientierte Ökonomie werden skizziert und analysiert. Schritte aus dem Griff einer gierigen Ökonomie, auch Enteignungs- bzw. Wiederaneignungsprozesse, werden beschrieben und mit Beispielen einer menschenfreundlichen und ökologisch orientierten Ökonomie versehen.
Die vorliegende positive Vision gesellschaftlicher Entwicklungsmöglichkeiten hat auch auf der Ebene internationaler Politik Vorschläge unterbreitet, die hier noch einmal kurz zusammengefasst werden sollen. Die Vorschläge lassen sich auf verschiedenen Ebenen skizzieren und sind äußerst aktuell aufgrund der weltpolitischen Entwicklung, wie der russische Überfall auf die Ukraine, die Kriege im Jemen und in Syrien, im Nahen Osten (Israel/Palästina) sowie im Sudan dramatisch zeigen:
1. Die konsequente Demokratisierung der Vereinten Nationen durch ein demokratisch gewähltes Weltparlament, der Umstrukturierung des UN-Sicherheitsrats und einer demokratisch gewählten und streng kontrollierten Administration in Bezug auf das UN-Generalsekretariat;
2. Hiermit verbunden die schrittweise sich entwickelnde Entnationalisierung politischer Herrschaft zugunsten einer sinnvoll abgestuften Regionalisierung im Sinne des Subsidiaritätsprinzips;
3. Eine Aufwertung und Neustrukturierung der internationalen Gerichtsbarkeit, der sich kein UN-Staat mehr entziehen kann;
4. Eine internationale Abrüstung und Entwaffnung von Staaten, Armeen und illegitimen Organisationen zugunsten eines demokratisch kontrollierten Gewaltmonopols der Vereinten Nationen mit weltpolizeilichen Einsatzmöglichkeiten im Falle massiver Verstöße gegen die UN-Charta;
5. Die Verwendung der Abrüstungsgewinne, also der Friedensdividende, für die drängenden und global relevanten Aufgaben nachhaltiger Entwicklung – vor allem zunächst für den Klimaschutz, die Friedenssicherung, die Gesundheitssysteme und für die Beseitigung des Welthungers.
Natürlich sind wir weit von einer Entmilitarisierung, einer Entnationalisierung und einer Durchsetzung des Universalismus und einer Einrichtung kosmopolitischer Ordnungsstrukturen entfernt. Der russische Angriff auf die Ukraine in 2022 und die Unfähigkeit der Vereinten Nationen, hier präventiv zu handeln und auch in der militärischen Eskalation wirkungsvoll zu reagieren, zeigt dies auf eine gefährliche Weise. Auch der Ausgang der US-Wahlen 2024 zeigt, wie weit wir von einem Universalismus entfernt sind.
Dennoch ist in Maßnahmen zur Erreichung dieses Zustands einer internationalen Neuordnung ein wichtiger Schlüssel zur globalen Befriedung und für die Freisetzung von Ressourcen insbesondere für den ärmeren Teil der Welt gegeben. Wenn durch die drastische Verringerung von Rüstungsausgaben im Zuge der Entwaffnung der Nationalstaaten die für die Entwicklung der ärmeren Weltregionen notwendigen Ressourcen in Billionenhöhe eingesetzt werden können, werden auch ökonomische Gründe für die Massenmigration und die damit verbundenen Konflikte und Probleme zumindest erheblich gemindert.
Auch mit dem nach bedeutenden Investitionen verlangenden, zeitnahen Gegensteuern gegen den ökologischen Klimakollaps werden zumindest mittelfristig aufgrund der durch die Klimaträgheit bedingten Zeitverzögerung die ökologischen Gründe zukünftiger Massenfluchten vermindert werden.
Der Politikwissenschaftler Farsan Ghassim ermittelte in einer empirischen Studie, dass die Idee einer globalen Demokratie und einer demokratischen globalen Weltregierung durchaus Anklang in der Bevölkerung einer Reihe einflussreicher Staaten findet - so Ghassim (2021):
"In allen befragten Ländern unterstützen klare Mehrheiten die Idee einer globalen Demokratie. Im internationalen Durchschnitt sind es 65 Prozent. Die Spanne reicht von 57 Prozent in England und 61 Prozent in den USA über 68 Prozent in Brasilien bis hin zu 74 Prozent in Japan. Deutschland liegt mit 64 Prozent in der Mitte dieser fünf Länder."
Es sollte uns nicht suggeriert werden, dass niemand die globale Demokratie wolle. Die Umfrageergebnisse von Ghassim machen deutlich: Es ist nicht aussichtslos, sich für die Veränderung globaler Herrschaftsstrukturen einzusetzen. Dies trifft auf eine große Resonanz bei vielen Menschen. Es sind mehr Menschen an globaler Demokratie interessiert, als national ausgerichtete Politiker_innen uns einreden wollen. Das "Make America great again" ist absolut unzeitgemäß und kontrakarikiert die tatsächliche globale Entwicklung hin zu einer multipolaren Weltordnung. Hierbei stellen die USA zukünftig nur noch eine von mehreren Machtzentren dar, das auf die Zusammenarbeit mit den anderen Weltregionen angewiesen ist.
Die Biosphäre antwortet auf den menschlichen Zugriff
Der Raubbau an der Natur bleibt nicht unbeantwortet. Der Planet Erde beginnt sich gegen den Menschen zu wehren. Noch aber kann eine Katastrophe im globalen Maßstab verhindert werden.
Der Weltklimabericht des IPCC der Vereinten Nationen macht deutlich, dass zwischen dem – ebenfalls problematischen – 1.5-Grad-Ziel und dem 2.0-Grad-Ziel bis zum Ende des 21. Jahrhunderts ein erheblicher Unterschied für die globale Klimasituation insbesondere für bereits benachteiligte Regionen und Bevölkerungsgruppen festzustellen ist:
„Zu den Bevölkerungsgruppen, die einem überproportional hohen Risiko nachteiliger Konsequenzen einer globalen Erwärmung um 1,5°C und mehr ausgesetzt sind, zählen benachteiligte und verwundbare Bevölkerungsgruppen, manche indigene Völker sowie lokale, von landwirtschaftlichen oder küstengeprägten Lebensgrundlagen abhängige Gemeinschaften (hohes Vertrauen). Zu den überproportional gefährdeten Regionen gehören arktische Ökosysteme, Trockengebiete, kleine Inselentwicklungsländer und die am wenigsten entwickelten Länder (hohes Vertrauen). Armut und Benachteiligung werden in manchen Bevölkerungsgruppen mit zunehmender Erwärmung voraussichtlich zunehmen; eine Begrenzung der Erwärmung auf 1,5°C könnte im Vergleich zu 2°C die Anzahl der Menschen, die sowohl klimabedingten Risiken ausgesetzt als auch armutsgefährdet sind, bis zum Jahr 2050 um mehrere hundert Millionen senken (mittleres Vertrauen).“ [2]
Das Erreichen des 1.5°C-Ziels ist wohl – nun aus der Sicht von 2024 - nicht mehr möglich. Nun gilt es das 2-Grad-Ziel zu fokussieren, das ebenfalls schon wieder gefährdet ist. Die hierfür erforderlichen Maßnahmen müssten allerdings unverzüglich eingeleitet werden und müssten zeitlich deutlich über der durch den IPCC gegenüber 2010 bis 2030 globalen CO2-Absenkung um 45% und der bis 2050 geforderten vollständigen CO2-Neutralität hinausgehen. [3] Bis 2050 wird man sich für die Maßnahmen zur Klimaneutralität angesichts der sich derzeit beschleunigenden Klimaerwärmung, der Existenz von nicht kontrollierbaren Kipppunkten, dem Wirken von klimatischen Rückkoppelungseffekten, aber auch den Millionen Hungertoten sowie den Bedrohungen des Weltfriedens aufgrund der Klimaentwicklung nicht mehr Zeit lassen können.
Der IPPC (2023, 12) stellt in seinem im März 2023 verabschiedeten Synthese-Bericht, für den über 9000 Studien analysiert wurden, fest, dass die Grenze von 1,5 Grad über einen längeren Zeitraum bald erreicht sein wird, aber dass dennoch Hoffnung auf ein Zurückdrängen der Klimaerwärmung bestehe, wenn drastische Maßnahmen kurzfristig ergriffen würden:
"Continued greenhouse gas emissions will lead to increasing global warming, with the best estimate of reaching 1.5°C in the near term in considered scenarios and modelled pathways. Every increment of global warming will intensify multiple and concurrent hazards (high confidence). Deep, rapid, and sustained reductions in greenhouse gas emissions would lead to a discernible slowdown in global warming within around two decades, and also to discernible changes in atmospheric composition within a few years (high confidence)."
‚Climate Justice‘ im weitergehenden Sinne aber bedeutet auch, dass die reicheren Regionen der Welt, die ökologischen Schutz- und Präventionsmaßnahmen für den ärmeren Teil der Welt und hierbei dort ebenfalls die notwendige Umstellung auf eine das Klima schonende regenerative Energieerzeugung weitgehend zu finanzieren haben. Hiermit können Jahrhunderte der kolonialen und postkolonialen Ausbeutung ganzer Weltregionen Schritt für Schritt zumindest partiell finanziell ausgeglichen werden.
Im Rahmen des vorliegenden Buches werden daher die notwendigen Maßnahmenpakete zeitlich abgestuft innerhalb von 15 Jahren skizziert. Bis dahin müssten alle wichtigen Entscheidungen gefallen und die notwendigen Maßnahmen eingeleitet sein, um den globalen Entwicklungsprozess noch rechtzeitig umsteuern zu können.
Prioritär hierbei sind – neben einem früheren Erreichen der Emissionsreduktionsziele – vor allem:
- Umstellung auf regenerative Energieversorgung im Strom- und im Wärmebereich;
- Umlenkung öffentlicher finanzieller Ressourcen weg von der Waffenindustrie hin zur Finanzierung von Klimapräventions- und -schutzmaßnahmen;
- Förderung von Effizienz- und Energieeinsparmaßnahmen anstelle technischer Lösungen im Sinne des ‚Carbon Engineering‘;
- Entwicklung fiskalischer Anreize zur ökologischen Umsteuerung und eines wirksameren CO2-Emissions-Zertifikatemarkt.
- Besondere finanzielle Unterstützung derjenigen Weltregionen durch einen ausreichend finanzierten Weltklimafond, die von den Klimafolgen besonders betroffen sind.
Das Wissen für die sozialökologische Transformation ist vorhanden; der politische Wille der Verantwortlichen muss sich hingegen weiterentwickeln, so dass diese Maßnahmen tatsächlich möglichst zeitnah umgesetzt werden.
Zum Verhältnis von nationalstaatlicher Abrüstung und dem Aufbau eines UN-Gewaltmonopols
Des Weiteren gilt es, angesichts der wachsenden Bedrohung ohne weitere Zeitverzögerung die ersten sinnvoll abgestimmten Schritte hinsichtlich der globalen Abrüstung zu gehen:
Die Technologie von Nuklearwaffen wird aktuell von allen Atommächten mit großem Aufwand modernisiert und weiter entwickelt. Es wird zunehmend versucht, künstliche Intelligenz und Cyberkriminalität in der Kriegsführung einzusetzen. Privatarmeen gekaufter Söldner, nuklear bestückbare Hyperschallraketen, der Einsatz von autonom entscheidenden Killerrobotern sowie die Militarisierung des Weltraums drohen oder sind bereits eingetreten. Der Rüstungswahnsinn kennt keine ethisch bestimmten Grenzen mehr.
Aber auch die Gefahr einer unbeabsichtigten Einmischung sich verselbstständigender Programme besteht. Insbesondere droht die unkontrollierte Weiterentwicklung Künstlicher Intelligenz zu einer ‚Superintelligenz‘, die dem Menschen in Bezug auf ihre technologische Intelligenz überlegen ist. Hierbei besteht die Gefahr, dass eine derartige ‚Superintelligenz‘ die Kontrolle über das Internet übernimmt und hierbei sich in die kritische zivile Infrastruktur destruktiv einmischt. Dies kann zu erheblichen sozialen Verwerfungen bis hin zu bürgerkriegsähnlichen Situationen führen, wenn die medizinische Versorgung in Krankenhäusern zusammenbricht, Ampelanlagen an Kreuzungen nicht mehr funktionieren, die Stromversorgung ausfällt oder Renten nicht mehr ausgezahlt werden können. Auch ein ‚Atomkrieg aus Versehen‘ ist über das Eindringen der Künstlichen Intelligenz bzw. über das Versagen von KI in Waffensystemen durchaus denkbar und leider nicht unrealistisch. Renommierte internationale KI-Forscher warnen hiervor.
In der gegenwärtigen Situation befinden wir uns noch eindeutig in einer Welt wachsender multipolarer Bedrohung. Sowohl einzelne Nationalstaaten, Machtblöcke und Allianzen mit der Unterstützung der internationalen Rüstungsindustrie als auch Terrormilizen und klandestine Organisationen bedrohen den Weltfrieden in einer Weise, wie es seit der scheinbaren Beendigung des ‚Kalten Krieges‘ nicht mehr der Fall gewesen ist. Auch die Demokratien befinden sich zurzeit in der Defensive bzw. im Rückzug. Autokratien, bis an die Zähne bewaffnet, versuchen im Zuge hybrider, teils versteckter, teils offener Kriegsführung, hegemoniale Interessen in ihren Weltregionen durchzusetzen. Der russische Krieg in der Ukraine ist nur der negative Höhepunkt dieser Entwicklung hin zu innerer und äußerer Repression. Der russische Überfall in der Ukraine ließ nun auch für Europa die Bedrohung erfahrbar werden. Der 2024 noch andauernde Krieg im Nahen Osten, der im brutalen Überfall der Hamas auf Israel und der unverhältnismäßigen Vergeltung im Gaza-Streifen mit 10.000den Toten, insbesondere palästinensischer Zivilbevölkerung, zeigt, wie nicht gelöste Konflikte und eine fehlende effektive transnationale Struktur immer wieder zu dramatischen historischen Ereignissen führen.
Ein großer Teil der weltweit erwirtschafteten Ressourcen geht in die Produktion von Rüstungsgütern und -dienstleistungen. SIPRI (2025) meldet, dass sich im Jahr 2024 die Rüstungsinvestitionen auf ca. 2,7 Billionen US-Dollar gesteigert hätten. Aber die ungebremste Rüstungsspirale führte im letzten Jahrhundert zweimal zu einem globalen Krieg.
Dies alles bedeutet, dass die nationalstaatliche Entwaffnung der Welt zwingend notwendig ist, es aber Ausdruck einer gefährlichen Naivität wäre, wenn insbesondere die Staaten und Allianzen mit demokratischem Selbstanspruch und zumindest in ernstzunehmenden Ansätzen entwickelten demokratischen Strukturen als erste beginnen würden, sich radikal zu entwaffnen und einseitig abzurüsten. Die Folge wäre eine Wehrlosigkeit, die durch autoritäre und politisch unreife Regime sowie terroristische und politisch extremistische Organisationen ausgenutzt werden würde. Die Naziherrschaft und die aggressive Militärtechnologie der Nazis hätten sich nicht mit gutem Zureden, Liedersingen und Klangketten stoppen lassen. Dies soll Formen der sozialen Verteidigung nicht grundsätzlich abwerten, aber im friedlichen Widerstand gegen aggressive totalitäre Regimes werden Menschen, die sich verweigern und widersetzen, eingesperrt, gefoltert oder gleich umgebracht.
Formen sozialer Verteidigung, wie die Verweigerung der Kooperation, Demonstrationen sowie Massenstreiks, können jedoch eine wichtige Rolle spielen, wenn z.B. ein Regime im Niedergang begriffen ist und das eigene Militär nicht mehr hinter diesem steht.
Anlass zur Hoffnung hinsichtlich der Vernichtung von Nuklearwaffen gibt die weltweite Bewegung der ‚Mayors for Peace‘ mit über 8000 beteiligten Städten aus 165 Staaten, die sich für die sofortige Abschaltung der einsatzbereiten Atomwaffen und den Abbau und die Zerstörung aller Atomwaffen einsetzen.
Natürlich ist auch das im Rahmen der Vereinten Nationen und von der internationalen NGO ICAN initiierte und am 22.1.21 in Kraft getretene Atomwaffenverbot Anlass zu Hoffnung. Dieses Verbot gilt zwar rechtlich nur für die ratifizierenden Nationen, setzt aber neue internationale ethische Maßstäbe, auf die sich die internationale Friedensbewegung beziehen kann. Nun ist erstmals im Völkerrecht neben dem Atomwaffensperrvertrag auch ein Verbotsvertrag verankert, mit dem sich die Nuklearstaaten konfrontiert sehen.
Eine Entwaffnung im nuklearen und im konventionellen Bereich kann in den ersten Schritten nur über international koordinierte Abrüstungsverhandlungen, gestützt von einer transnationalen Allianz der demokratischen Staaten und Regionen, im Kontext der Vereinten Nationen erfolgen.
Diese internationale Entwaffnung kann nur stattfinden, wenn sie von einer globalen zivilgesellschaftlichen Bewegung getragen wird, die den notwendigen Anstoß und die druckvolle Begleitung dieses Prozesses leistet. Der Erfolg der Friedensbewegung in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts hat dies nachweisen können. Die Bewegung z.B. der ‚Mayors for Peace‘, die zivilgesellschaftlichen Aktivitäten von ICAN oder die Aktivitäten der ‚Women’s International League for Peace‘ (WILPF) weisen hier in die richtige Richtung.
Gleichzeitig bzw. eher in den einzelnen Schritten jeweils zeitlich vorlaufend zu diesen genau abzustimmenden Abrüstungsmaßnahmen sind die UN-Blauhelm-Truppen mit einem erweiterten Mandat und die UN-Weltpolizei als Gegengewicht und Korrektiv aufzubauen. Ohne die zeitliche Abgestimmtheit von internationaler Abrüstung der Nationalstaaten und dem Aufbau einer funktionsfähigen, überregional, regional und lokal gegliederten und gut ausgerüsteten Exekutive würde ein unverantwortliches Machtvakuum entstehen.
Ein alternativer Weg könnte über die globale Erweiterung der NATO beschritten werden. Eine derartige Ausbreitung eines Bündnissystems ist zwar unwahrscheinlich, sollte aber durchdacht werden. Auch wenn dies auf den ersten Blick absurd erscheint: Zumindest ist dies einmal zu reflektieren, ob nicht eine erweiterte und in sich veränderte NATO die weltpolizeiliche Funktion im Rahmen der Vereinten Nationen übernehmen könnte. Zunächst könnten eher westlich orientierte Staaten, wie z.B. Südkorea, Australien, Brasilien oder Japan, an die Nato angenähert und dann Schritt für Schritt in das Sicherheitsbündnis integriert werden. Doch auch Staaten, die derzeit noch in Gegnerschaft zur NATO stehen, könnte längerfristig eine NATO-Perspektive eröffnet werden. Voraussetzung hierfür wären die an genau definierte Bedingungen - u.a. einem Friedensvertrag und die nachvollziehbare Initiierung demokratisch rechtsstaatlicher Strukturen - geknüpfte Annäherung sowohl der Ukraine als auch der Russischen Föderation an die NATO und in den nächsten Schritten die Integration der VR China und weiterer Staaten insbesondere aus dem globalen Süden. In diesem Sinne würde die erweiterte und dann auch mittelfristig technisch umgerüstete NATO die für die UNO notwendige weltpolizeiliche Sicherheitsstruktur bieten – unter der Voraussetzung, die UNO würde demokratisch reformiert. Die mit Transformationsbedingungen verbundene Integration der Ukraine und der Russischen Föderation in die NATO beispielsweise wäre ein Angebot, um den Krieg in der Ukraine zu beenden. Auch die Aufhebung der westlichen Sanktionen für den Fall eines Friedensvertrags, im Rahmen dessen eine dem Völkerrecht entsprechende Regelung für die annektierten ukrainischen Gebiete vorgenommen würde, könnte Russland angeboten werden. Insgesamt eine Win-win-Situation. Sicherlich müssten die Risiken und auch die Widerstände bedacht werden, wenn man eine derart unkonventionelle Lösung vieler Probleme erörtert (vgl. ausführlicher Kap. 5.6 und den dazu gehörenden Exkurs).
Eine riesige Friedensdividende wäre der Welt jedenfalls gewiss.
Wie gesagt: Eher unwahrscheinlich.
Aber auch in einem anderen Szenario: An der globalen Abrüstung wird die Welt nicht vorbei kommen, wenn sie die notwendigen Ressourcen für die Bewältigung der weltweiten Probleme und Krisen aufbringen will.
Entsprechend demokratisch gefasste Abrüstungsbeschlüsse müssten dazu führen, dass die nationalstaatliche Entwaffnung in einem transparenten Verfahren und in parallel vorgenommenen und kontrollierten Abrüstungsmaßnahmen aller Staaten erfolgt. Staaten, die sich weigern, sind mit wirtschaftlichen und politischen Sanktionen zu belegen, die so dosiert sind, dass sie vor allem die dort herrschenden und sich verweigernden Eliten treffen. Illegale Organisationen sind auf nationaler und überregionaler Ebene weltpolizeilich zu verfolgen, zu sanktionieren und aufzulösen.
Die UN-Vereinbarungen zur Vernichtung der Atomwaffen, denen Anfang 2025 bereits 73 Staaten beigetreten sind, stellen einen ersten Schritt dar. Weitere 21 Staaten befinden sich im Ratifizierungsprozess (ICAN 2025). Diese Zahlen gilt es auszuweiten und parallel hierzu mit dem Abbau der nationalen Waffenarsenale hinsichtlich nuklearer, biologischer, chemischer und konventioneller Waffengattungen über einen verbindlichen UN-Beschluss zu beginnen. Der Krieg Russlands in der Ukraine zeigt noch einmal sehr deutlich, dass ein weltpolizeilicher Einsatz bzw. der Einsatz von UN geführten Truppen erst dann Sinn macht, wenn einer der militärischen Aggression beschuldigter Staat nicht mit dem Einsatz von Atomwaffen drohen kann.
Parallel hierzu und z.T. vorab sind demokratische Strukturen jenseits der Nationalstaaten auf regionaler und auf UN-Ebene Schritt für Schritt auf- und auszubauen. Hierbei haben mutiges zivilgesellschaftliches Engagement und die demokratische Organisation der notwendigen gesellschaftlichen Veränderung auf der globalen Ebene eine wichtige und unverzichtbare Funktion. Zur Durchsetzung einer demokratischen und sozialökologischen Neuordnung sind alle bisher erfolgreichen zivilgesellschaftlichen Widerstandsformen einzusetzen, von Massenprotesten, über Warenboykotts bis hin zu Massenstreiks. Natürlich spielt ein entsprechendes Wählerverhalten und das Engagement in sozialökologisch orientierten und friedenspolitisch engagierten Institutionen, Parteien und Gewerkschaften ebenfalls eine wichtige Rolle.
Es beginnen Entwicklungen, die Hoffnung geben.
Auch wenn sich die Klimapolitik noch nicht wirkungsvoll genug entwickelt, auch wenn der Welthunger immer noch nicht beseitigt ist, ökologische Katastrophen drohen bzw. schon eintreten, auch wenn das internationale Sicherheitssystem u.a. mit der russischen Invasion in der Ukraine eine große Niederlage erlitten hat, sollten dennoch vorhandene positive weltpolitische Entwicklungen nicht übersehen werden. An vielen Orten der Welt gibt es aktuell Protest- und Widerstandsbewegungen, die sich für eine friedlichere und nachhaltiger entwickelte Welt im Sinne einer Neuordnung engagieren.
Zur Frage nach der gesellschaftlichen Umgestaltung entwickelte Friedrich Engels bereits 1895 Überlegungen, die aus meiner Sicht bis heute noch gültig sind - so Engels:
"Die Zeit der Überrumpelungen, der von kleinen bewußten Minoritäten an der Spitze bewußtloser Massen durchgeführten Revolutionen ist vorbei. Wo es sich um eine vollständige Umgestaltung der gesellschaftlichen Ordnung handelt, da müssen die Massen selbst mit dabei sein, selbst schon begriffen haben, worum es sich handelt, für was sie mit Leib und Leben eintreten. Das hat uns die Geschichte der letzten fünfzig Jahre gelehrt. Damit die Massen aber verstehen, was zu tun ist, dazu bedarf es langer, ausdauernder Arbeit, und diese Arbeit ist es gerade, die wir jetzt betreiben, und das mit Erfolg, der die Gegner zur Verzweiflung bringt." (Engels 1895)
Eine gesellschaftliche Umgestaltung und Neuordnung wird also nicht über einen einzigen globalen disruptiven Ausbruch erfolgen, sondern besteht aus sehr vielen Bewegungen und politischen Maßnahmen, die mit einer langfristigen Perspektive ausdauernd ergriffen werden. Ein derartiges Engagement mit 'langem Atem' an vielen Orten und auf unterschiedlichen Ebenen von vielen Bewegungen und Organisationen in und außerhalb von Institutionen kann dann tatsächlich zum globalen gesellschaftlichen Kipppunkt führen, der nicht mehr von den restaurativen Kräften aufgehalten werden kann.
Es lassen sich derzeit nicht nur weltweit Massenproteste von Erwachsenen beobachten, sondern insbesondere die Jugend ist es, die sich gegen Gewalt und Klimazerstörung zur Wehr setzt. Die US-amerikanischen Schüler_innen forderten beispielsweise im März 2018 beim „March for Our Lives“ sehr deutlich und lautstark eine gesellschaftliche Transformation im Bereich der Waffenindustrie und der sie kontrollierenden Gesetze, gegen die Interessen der Waffenlobby und der damit verbundenen Politik. Anlässlich der Serie von Massenmorden in US-amerikanischen Schulen solidarisierten sich ca. 800.000 Schüler_innen und Erwachsene zu einer eindrucksvollen Demonstration, die von Überlebenden des Massakers an der Marjory Stoneman Douglas High School in Parkland (Florida) mit dem Ziel organisiert wurde, eine längerfristige politische Bewegung gegen die Aktivitäten der US-Waffenlobby, insbesondere der NRA, der entsprechenden Waffenindustrie und der von ihnen bezahlten Politiker aufzubauen. [4]
Ebenfalls stellt der weltweit vorfindbare Widerstand indigener Völker und ihrer Unterstützergruppen gegen die Zerstörung ihrer lebensweltlichen und natürlichen Grundlagen durch die Fossilindustrie eine weitere nicht zu unterschätzende Gegenbewegung gegen den Raubbau an der Natur und der Klimazerstörung dar. Das Volk der Ogoni in Nigeria, die Sioux in Nord-Dakota, indigene Bewohner des Regenwaldes in Brasilien oder die Cree Nation im Norden Albertas führen einen Kampf mit Öffentlichkeitsarbeit, Blockaden, rechtlichen Auseinandersetzungen und Protestcamps gegen die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen. Sie politisieren sich im Laufe dieser Auseinandersetzungen und erkennen den Zusammenhang zwischen Kapitalismus, staatlicher Repression und der Vernichtung natürlicher Lebensräume. Junge Menschen arbeiten hier im Widerstand gegen die Fossilindustrie mit den älteren Generationen zusammen.
Auch dass z.B. im März 2019 weltweit Schülerproteste in Verbindung mit Schulstreiks gegen die Zerstörung des Klimas und für effektiven und zeitnahen Klimaschutz in ca. 2000 Städten in 120 Ländern stattfanden [5], ist ein Zeichen dafür, dass sich in der Schülergeneration engagierter zivilgesellschaftlicher Widerstand formiert. Allein in Berlin waren 25.000 Schülerinnen und Schüler am Streik beteiligt. [6] Ein halbes Jahr später waren es z.B. in Berlin bereits 240.000 Personen und weltweit mehrere Millionen Jugendliche, die den Klimastreik unterstützten. Insbesondere die Tatsache, dass hier auch mit dem Druck der institutionellen Verweigerung im Rahmen eines Schulstreiks gearbeitet wird, lässt aufhorchen. Die von von der damals 16-jährigen schwedischen Klimaaktivistin Greta Thunberg initiierte Bewegung ‚Fridays for Future‘ (F4F) zeigt, dass Jugendliche zunehmend bereit sind, auch zu radikaleren zivilgesellschaftlichen Mitteln zu greifen. Sie haben verstanden, dass es um das Ganze geht („Wir sind hier, wir sind laut, da ihr uns die Zukunft klaut.“, „Es gibt keinen Planeten B“). Es wird hochinteressant sein, welche Wirkung diese Massenproteste der F4F-Bewegung haben werden. Dies hängt davon ab, inwieweit sie sich stabilisieren, vernetzen und auf andere Aktionsfelder ausweiten sowie auch die älteren Generationen einbeziehen können. Auch stellt sich die Frage, ob der Zusammenhang zwischen international wirkenden Strukturmerkmalen kapitalistischer Ökonomie, des politischen Systems und der Zerstörung der Biosphäre hergestellt wird. Auch das eigene Konsumverhalten, z.B. im Rahmen des Boykotts klimaschädlich hergestellter bzw. betriebener Produkte, wird hier eine wichtige Rolle spielen.
Möglicherweise ist dies der Anfang einer weiteren kulturellen Revolution – nach den Brüchen mit der etablierten Kultur durch die 68er-Generation – die nun aber aufgrund der massiven Bedrohungslage wesentlich breitere Teile der Weltbevölkerung mit einer globalen Reichweite erfassen könnte.
Ungefähr 27.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler [7] aus der Schweiz, Österreich und Deutschland (‚Scientists for Future‘) haben eine Erklärung unterzeichnet, welche die Klimaproteste der Jugendlichen unterstützt. In anderen Ländern entwickeln sich vergleichbare Aktivitäten. So ist eine internationale Unterstützung von ca. 15.000 Wissenschaftler_innen der ‚Alliance of World Scientists‘ aus 182 Ländern im Entstehen. Diese Wissenschaftler sagen: „Die Schüler haben recht. Die wissenschaftlichen Ergebnisse stützen eindeutig ihr klimapolitisches Engagement.“ Parallel hierzu gebildete Vernetzungen von z.B. Eltern (‚Parents for Future‘) und Lehrer_innen (‚Teachers For Future‘) unterstützen ebenfalls die Schülerproteste und fordern die Schulbehörden auf, auf schulische Ordnungsmaßnahmen im Falle der Streikbeteiligung zu verzichten. Auch an den Hochschulen bilden sich die ‚Students For Future‘ und organisieren Streikaktionen an den Universitäten und ‚Public Climate Schools‘.
Insbesondere das Engagement der jungen Menschen lässt hier hoffen, dass es zu wirksamen und längerfristigen Gegenbewegungen kommen wird und sich eine Generation aus der verdummenden medialen Umarmung durch den militärisch-ökonomischen Komplex, aus der Priorität einseitiger Karriereinteressen und aus der entpolitisierenden und klimaschädlichen Konsumorientierung im Sinne eines radikalen kulturellen Umbruchs lösen wird.
In diesem Zusammenhang könnte die westliche Gesellschaft etwas von dem zurückgeben, das sie über Jahrhunderte hinweg im Zuge der Kolonialisierungsprozesse den unterworfenen Völkern geraubt hatte – so der ehemalige bundesdeutsche Entwicklungsminister Jürgen Todenhöfer:
„Die Geschichte des Westens ist eine Geschichte brutaler Gewalt und großer Heuchelei. Nirgendwo auf der Welt kämpft der Westen für die Werte seiner Zivilisation. Sondern ausschließlich für seine kurzsichtigen Interessen. Um Macht, Märkte und Moneten. Oft mit terroristischen Methoden. Die Leiden anderer Völker und Kulturen interessieren ihn nicht. (…) Der Westen braucht eine gewaltfreie humanistische Revolution. Statt die Werte seiner Zivilisation zur Vergewaltigung anderer Völker und Kulturen zu missbrauchen, sollte er seine jahrhundertealten Versprechen gegenüber der Menschheit einlösen.“ [8]
Dies bedeutet ebenfalls, dass die reichen Weltregionen, wie z.B. die EU oder Nordamerika, mit der Verminderung von klimarelevanten Emissionen vorangehen müssen. Ärmeren Weltregionen muss hierbei noch etwas Zeit gegeben werden, Entwicklungen aufzuholen, die ihnen durch die Kolonialisierung und eine ungerechte Weltwirtschaftsordnung verwehrt wurden. Allerdings ist auch hier Wert auf eine möglichst früh zu erreichende Nachhaltigkeit in der Industrie, im Verkehr, in der Landwirtschaft etc. zu legen.
Eine weitere anregende Initiative stellt die im März 2021 zum internationalen Frauentag von den finnischen 'Women for Peace' vorgestellte Initiative für die Einrichtung eines finnischen Ministeriums für Frieden und nachhaltige Entwicklung dar. Dies von verschiedenen finnischen NGOs unterstütze Initiative kritisiert die Verschwendung und Fehlinvestition gesellschaftlicher Ressourcen für Aufrüstung und Krieg. Die initiierenden Frauen fordern die Einrichtung eines finnischen Ministeriums, das dafür sorgt, dass das bisher für das Militär ausgegebene Geld für den Frieden, für den Abbau von Armut und die Beseitigung des Hungers und eine an den Nachhaltigkeitszielen der UN (SDGs) orientierte ökologische Entwicklung ausgegeben wird. Sie fordern auch andere Staaten auf, derartige Ministerien einzurichten und damit für eine friedlichere, gerechtere und umweltbewahrende Welt einzutreten. Die weitere Entwicklung dieser Initiative gilt es aufmerksam zu verfolgen. [9]
Auch die rassismuskritische Bewegung, aktuell z.B. ‚Black Lives Matter‘, stellt eine für die gesellschaftliche Neuordnung zu beachtende politische Bewegung dar.[10]
‚Black Lives Matter‘ ist eine aus der afroamerikanischen Gesellschaft der USA stammende Protestbewegung, die sich gegen den systemischen Rassismus in der US-amerikanischen Gesellschaft wendet. Sie wurde bereits 2013 angesichts schwerwiegender Fälle von Rassismus aber auch von latenter Alltagskriminalisierung begründet, wurde aber vor allem durch den auf Video aufgenommenen und dokumentierten Mord an George Floyd zu einer Massenprotestbewegung gegen rassistisch bedingte polizeiliche Übergriffe, die sich auch international verbreitete.
„Black Lives Matter‘ hat keine zentralisierte Struktur, sondern ist ein ‚Graswurzelbewegung‘, die dezentral vernetzt ist. BLM führt Demonstrationen, Märsche und Kundgebungen durch. BLM-Slogans wie z.B. „Hands up! Don’t shoot!“, „No justice, no peace!“ oder „Is my son next?“ gingen im Zuge dieser Proteste weltweit durch die Medien.
Ausgehend durch den von einem Polizisten ausgelösten Erstickungstod von George Floyd in Minneapolis organisierten sich Massendemonstrationen in den USA, wo Millionen Menschen auf die Straße gingen. Auch gab es Proteste in Europa. So demonstrierten in Wien im Frühsommer 2020 ca. 50.000 Teilnehmer_innen und in Berlin im Juni 2020 – trotz Corona – 15.000 vorwiegend junge Menschen gegen den gesellschaftlichen Rassismus.
Der ehemalige und inzwischen wiedergewählte US-Präsident Trump schätzte hingegen die Demonstranten als ‚terroristische Antifa‘ ein und drohte angesichts von Ausschreitungen weniger, welche die Demonstrationen gewalttätig ausnutzten, der gesamten Bewegung mit dem Einsatz der Nationalgarde: „Irgendeine Schwierigkeit und wir werden die Kontrolle übernehmen, aber wenn die Plünderungen beginnen, beginnt das Schießen.“ [11]
So versammelten sich auch im Zuge derartiger Aussagen schwerbewaffnete rechtsorientierte weiße Zivilisten an Denkmälern ehemaliger US-amerikanischer Kolonialherren und rassistischer Politiker und Generälen, um ein Herabstürzen dieser Denkmäler durch Aktivisten mit dem Einsatz ihrer Schusswaffen, z.T. auch Schnellfeuergewehren, zu verhindern.
Die Bewegung hat zumindest bislang in den weiten Teilen USA bereits erreicht, dass es zu einer neuen Diskussion der Rassismusfrage gekommen ist und auch Suspendierungen gewalttätiger Polizisten sowie mit der Einleitung von Strafprozessen begonnen wurde. Auch ist erreicht worden, dass sich wieder aktuell mit Kolonialismus, Sklaverei und Neokolonialismus auseinandergesetzt wird. Selbstkritisch sollte die Bewegung mit Tendenzen von Splittergruppen umgehen, selbst rassistisch zu werden, indem diese weiße Amerikaner pauschal diskriminieren. Auch muss die ausgesprochen berechtigte Protestbewegung zu verhindern versuchen, dass im Schatten der Proteste Plünderungen und Zerstörungen durchgeführt werden. Dies erleichtert dann ihren Gegnern die ‚Black Lives Matter‘-Bewegung als terroristisch einzustufen. Hierbei fällt abermals die leichtfertige Verschiebung der Standards für das Verständnis von ‚Terrorismus‘ auf. In der Türkei werden Demonstranten gegen das Erdogan-Regime ebenfalls von diesem als Terroristen bezeichnet. In Hongkong wird der Protest gegen China nun in Zukunft ebenfalls aufgrund des durchgesetzten Sicherheitsgesetzes auf die Stufe mit Terrorismus gesetzt. Nun bezeichnete der ehemalige und Ende 2024 wiedergewählte US-Präsident Trump die amerikanische Antifa als Terroristen. Genauso bezeichnete Putin die ukrainischen Regierungsmitglieder als Faschisten und Terroristen. Autokraten und autoritäre Regime verschieben den Terrorismusbegriff und schaffen dadurch die Voraussetzungen, dass die demokratische Opposition verfolgt und mit Repression bedroht werden kann.
Rechtsextreme und rechtspopulistische politische Parteien verzeichnen weltweit Wahlerfolge und treten wieder offensiver auf. Gleichzeitig formiert sich dagegen – hoffentlich noch rechtzeitig – der Widerstand in der Bevölkerung der betroffenen Staaten. So haben zu Beginn des Jahres 2024 mehrere Millionen deutscher Bürger_innen gegen die extreme Rechte protestiert. Anlass war das konspirative Treffen nationalchauvinistischer Politiker – u.a. der Alternative für Deutschland (AfD) – in einer Potsdamer Villa. Dort wurde über die Deportation von Millionen Bürgern mit Migrationshintergrund und ihrer Unterstützer verhandelt. Dies führte zu einem Aufschrei in der deutschen Öffentlichkeit und einer über Monate hinweg andauernden Demonstrationsbewegung in allen deutschen Regionen. Auch dies macht Hoffnung. [12]
Im Frühjahr 2025 nun sind in Europa zahlreiche Massenproteste und Großdemonstrationen gegen den Rechtsextremismus und gegen die eigenen autoritären Regierungen vorhanden. Menschen beginnen sich in vorwiegend basisdemokratischen Bewegungen gegen staatliche Willkür, Korruption und Wahlfälschungen zur Wehr zu setzen. Ist dies der Anfang einer anhaltenden europäischen Protestwelle, bei der sich zunehmend gegen die Rechtsentwicklung gewehrt, gegen autoritäre Staaten und für gerechte und lebenswerte Verhältnisse gekämpft wird?
In Staaten, wie in Rumänien, Griechenland, Ungarn, Spanien oder Italien, ist der Repressionsgrad noch relativ gering. Autoritäre Regime, wie in der Türkei, Georgien oder Serbien, versuchen diese Proteste, ähnlich wie dies in Russland geschieht, im Sinne von Staatsverrat und Terrorismus zu diskreditieren und gegen sie mit Gewalt vorzugehen.
Der inzwischen verstorbene ehemalige französische Widerstandskämpfer und Diplomat Stéphane Hessel forderte dementsprechend insbesondere die Jugend der Welt auf, sich gegen solche Bedeutungsverschiebungen, gegen die Entdemokratisierung und Ungerechtigkeiten zu empören und sich für eine gerechtere Gestaltung der Welt zu engagieren:
„Es mag ja sein, dass die Gründe für Empörung heute nicht mehr so deutlich zu erkennen sind. Wer befiehlt und wer entscheidet? Wir haben es nicht mehr mit einer kleinen Elite zu tun, deren Machenschaften leicht zu durchschauen sind. Die Welt ist groß, und wir spüren deutlich, wie sehr die Dinge miteinander verschränkt sind. Aber in dieser Welt gibt es Dinge, die unerträglich sind. Wer sie sehen will, muss genau hinsehen. Ich sage den jungen Leuten: Wenn ihr nur ein wenig sucht, werdet ihr solche Dinge finden. Am schlimmsten ist es, wenn man sagt: ‚Damit habe ich nichts zu tun. Das ist mir egal.‘ Wer sich so verhält, verliert eine der wesentlichen und unverzichtbaren Eigenschaften, die den Menschen ausmachen: die Fähigkeit zur Empörung und das Engagement, das daraus erwächst.“ [13]
Zu diesem Engagement sollte zunächst der Erhalt der noch vorhandenen demokratischen Spielräume gehören, die von vorherigen Generationen unter großen Opfern historisch erkämpft wurden. Damit müsste der Einsatz für weltweite demokratische Strukturen unter dem Dach der Vereinten Nationen verbunden sein sowie die sozialökologische Umsteuerung von Gesellschaften im Zuge einer systemischen Transformation des Weltkapitalismus durchgesetzt werden. Der nachstehende Überblick, der auch sicherlich um viele weitere Initiativen zu ergänzen ist, gibt zumindest in Ansätzen einen Einblick in die Vielfalt der NGO’s, Initiativen und Bewegungen, welche u.a. die Initiatoren und Träger einer solchen globalen Neuordnung sein können:
Wer sind die gesellschaftlichen Kräfte einer sozialökologischen Neuordnung?
Alle sozialökologisch, demokratisch und friedenspolitisch engagierten Bürger_innen, Parlamentarier_innen, Parteien, Gewerkschaften, Parlamente und Institutionen in lokalen, nationalen, regionalen und globalen Kontexten sowie weltweit widerständige NGO‘s und Initiativen wie zum Beispiel:
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Transparency International, ATTAC, Netzwerk für gerechten Welthandel, Forum Fairer Handel, food watch, Fridays For Future, Scientists For Future, Amnesty International, Alliance internationale pour la defense des droits et des libertes (AIDL), Extinction Rebellion (XR), Smash Cruiseshit, Seebrücke, Greenpeace, Global Witness, Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW), Ärzte ohne Grenzen, Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs – Ärzte in sozialer Verantwortung (IPNNW), World Future Council (WFC), Women for Peace, Women’s International League for Peace‘ (WILPF), Bundesausschuss Friedensratschlag, Netzwerk Friedenskooperative, Informationsstelle Militarisierung (IMI), Initiative ‘Sicherheit neu denken’, International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN), Peace Brigades International, Democracy without Borders, UNPA-Kampagne, Democracy International, Civicus, Asia Democracy Network (ADN), Asia Forum of Human Rights and Development (Forum-Asia), Asia Democracy Research (ADRN), Asian Network for Free Elections (ANFREL), Democracy for Hongkong (D4HK), Open Russia, Pussy Riot, Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI), Rete Italiana per il Disarmo, Movimento Nonviolento, Sea-Watch, Electronic Frontier Foundation (EFF), digitalcourage, International Commitee for Robot Arms Controll (ICRAC), Campaign to stop Killer Robots, WWF, Safe School Declaration, Save the Children, Global Partnership for the Prevention of Armed Conflicts (GPPAC), Wuppertaler Institut für Klima, Umwelt, Energie, Fraunhofer Gesellschaft, Netzwerk der UNESCO-Schulen, International Rescue Commitee (IRC), The African Centre for Democracy and Human Rights Study (ACDHRS), African Commission for Human and Peoples‘ Rights (ACHPR), Comisión Interamericana de Derechos Humanos (CIDH), Arab Organization for Human Rights (AOHR), Palestinian Center for Human Rights, The Israeli Information Center for Human Rights in the Occupied Territories (B‘Tselem), Human Rights Watch, Black Lives Matter (BLM), Beaver Lake Cree Nation, Athabasca Chipewyan First Nation (ACFN), Netzwerk politischer Kommunen (Kommuja), Tamera, Kommune Niederkaufungen, Service Civil International (SCI), Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg, Ende Gelände, OXFAM, Ehrfurcht vor allem Leben (EVAL), Global Justice Now, World Vision, LobbyControll, The Humanitarian League Advocacy , Pacific Climate Watch , Science for Peace, Nobel Peace Prize Watch, No More Bombs, Ziviler Friedensdienst, Nuclear Age Peace, Socio-ecological union international, Sortir du nucleaire Paris, Swedish Peace Council, The Resistance Center for Peace and Justice, Ukrainian Pacifist Movement, Veterans for Peace, Campaign for International Cooperation and Disarmament (CICD), Peace SOS, World Beyond War, Women’s International League for Peace and Freedom, World BEYOND War, South Africa, Seattle Anti-War Coalition; Office of Peace, Justice, and Ecological Integrity; Friends of the Earth Australia, Independent and Peaceful Australia Network, Scottish Campaign for Nuclear, Basel Peace Office, Cameroon for a World BEYOND War, Campaign Against Arms Trade, Cessez d’alimenter la Guerre, Disarmament and Security Centre, Global Campaign for Peace Education Japan, Global Network Against Weapons & Nuclear Power in Space, Grassroots Global Justice Alliance, Hawaii Peace and Justice, International Physicians for the Prevention of Nuclear War, Movimiento por un mundo sin guerras y sin violencia, Campact, Mighty Earth, Global Ecovillage Network (GEN), Mayors for Peace, World Future Council …
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Eine übergeordnete Struktur für den im kosmischen Maßstab kleinen Planeten Erde wird aufgrund der zukünftigen Anforderungen und Problemstellungen ohnehin irgendwann kommen müssen. Es wird allerdings darum gehen, dass es sich hierbei um kein totalitäres Weltregime einer sich bereichernden und Macht anhäufenden klandestinen Weltelite, sondern es sich um eine demokratisch strukturierte Weltgesellschaft auf der Basis der strukturell reformierten Vereinten Nationen in Zusammenarbeit und Subsidiarität mit den verschiedenen globalen Regionen handeln wird. Mit dem internationalen Demokratisierungsprozess müssen des Weiteren eine Demokratisierung der Produktion und der Wertschöpfung einhergehen. Ökonomisches und politisches System müssen von den gleichen demokratischen Gestaltungsprinzipien getragen werden. Insbesondere in dieser Verbindung unterscheidet sich der vorliegende Entwurf von den meisten Vorstellungen einer globalen Neuordnung.
Es gibt keine Alternative
Viele werden derzeit der Auffassung sein, dass die hier entwickelte Vision unrealistisch sei, sich dies niemals zukünftig umsetzen lasse, zum Beispiel eine umfassende Gemeinwohlorientierung dem menschlichen Charakter widerspreche. Dieser negativen Anthropologie möchte ich noch einmal entgegensetzen:
Erstens: Wer kann denn jetzt am relativen Beginn der Menschheitsgeschichte schon sagen, welches Entwicklungspotenzial der Mensch als Gattungswesen und die Menschengemeinschaft in der Zukunft haben werden?
Und zweitens möchte ich fragen: Wo ist die Alternative? Ohne einen demokratisch kontrollierten globalen Zusammenschluss und eine einhergehende sozialökologische und demokratische Transformation von Politik und Ökonomie wird die Menschheit die Zukunft der kommenden Generationen nicht sichern können. Der Planet Erde wird im wahrsten Sinne über ökologische und militärische Katastrophen verbrennen. Die ersten Feuer brennen bereits.
Wer ist eigentlich naiv? Derjenige, der die Entwicklungen sieht, hier radikal gegensteuert oder derjenige, der für ein ‚Weiter so‘ plädiert?
Hierbei ist Radikalität etwas völlig anderes als Extremismus. Radikalität im gesellschaftlichen Transformationsprozess meint an der Wurzel („radix“) von Problemen anzusetzen: Es geht um die weltweite und in allen Weltregionen vorzunehmende schrittweise Transformation des Kapitalismus zugunsten eines Verhältnisses von Ökonomie und Politik, das durch Verantwortlichkeit und Gemeinwohlorientierung gekennzeichnet ist. Ökonomie und Politik müssen sich in den Dienst der Versorgung der Menschen stellen und hierbei die Prinzipien von Gerechtigkeit, Demokratie, Friedfertigkeit, Wissenschaftlichkeit und ökologischer Verantwortlichkeit zu ihrem leitenden Paradigma werden lassen. Ein solches sich weltweit durchzusetzendes System kann nicht mehr Kapitalismus genannt werden, sondern sieht eine staatliche Rahmung des Wirtschaftsprozesses im nationalen, regionalen und globalen Kontext vor, der marktwirtschaftliche Prozesse von ihrer Raubtiermentalität befreit, Fragen der Eigentums- und Vermögensverteilung anders regelt, das Spannungsverhältnis von Ökonomie und Ökologie beseitigt, die Technologieentwicklung ethisch kontrolliert und die kreative ökonomische Kraft der Menschen im Sinne der Gemeinwohlorientierung frei setzt. Die entsprechenden transformatorischen Schritte in Richtung auf eine radikale Neuordnung in diesem Sinne wurden im Rahmen des vorliegenden Buches ausführlich beschrieben. [14]
Daher noch einmal abschließend die Forderungen in aktueller Auslegung von Marx/Engels [15]:
Internationalisten und Weltbürger aus der ganzen Welt vereinigt euch! Ihr habt nichts zu verlieren als die Ketten eurer Nationalstaatlichkeit, als die Vernichtung eurer Freiheitsrechte, die Ausbeutung durch multinationale Konzerne und finanzkapitalistische Spekulanten, die Rache der Biosphäre, digitale Fußfesseln, Rüstungsspiralen und Kriege, psychische Programmierungen, fehlgeleitete Investitionen und Wertschöpfung sowie die atomare Verwüstung des Planeten.
Zu gewinnen ist eine friedliche, sozial gerechte, demokratische, ökonomisch sinnvolle und ökologisch verantwortliche Welt!
Allerdings darf das Engagement für eine globale Neuordnung keineswegs gewalttätig, also in einem extremistischen Sinne, erfolgen. Hier soll sich daher von den vermeintlichen Konsequenzen marxistischen Denkens distanziert werden. Gewalttätige Revolutionen in der Geschichte haben nur zu anderen Formen offener oder struktureller Gewalt geführt. Gewalttätige Proteste in der heutigen Zeit führen des Weiteren zur Stigmatisierung und Kriminalisierung dieses Protests. Der Widerstand sollte friedlich und druckvoll sein, indem die geistig-schöpferischen Kräfte, die Kreativität und Intelligenz, die Solidarität und die Zivilcourage der Menschen im Engagement bereits das in Ansätzen zeigen, um was es zukünftig gehen soll: Um eine gesellschaftliche Neuordnung, die Menschen jeder Hautfarbe, jeder Herkunft, jeden Alters, jeden Geschlechts und jeder Region in ihren Grundbedürfnissen nach materieller Versorgung, nach solidarischer Arbeit, hinsichtlich eines Lebens im Einklang mit der Natur, nach demokratischer Selbstbestimmung und nach Freiheit in Verantwortung berücksichtigt, unterstützt und fördert.
Es gibt keinen Grund zu resignieren, der Kampf um das lebenswerte Leben auf der Erde ist noch lange nicht entschieden! Den Vertretern der Fossilindustrie, der Rüstungsindustrie, den Kriegsherren, den Finanzspekulanten, den Milliardären, den Autokraten und Diktatoren stehen weltweit und an zahlreichen Orten viele Menschen im Protest gegen die Zerstörung gegenwärtiger und zukünftiger Lebensbedingungen vereint gegenüber. In der Zusammenarbeit und Vernetzung von gesellschaftlichen Bewegungen, Initiativen, Gewerkschaften, Parlamenten und den an einer Neuordnung orientierten politischen Parteien und Institutionen gilt es nun, klug, friedlich und doch im Veränderungswillen radikal sowie in den Aktionen druckvoll einen wirksamen Beitrag zu einer globalen Neuordnung zu leisten.
Und: Die Veränderung darf aufgrund der enormen Bedrohungslage nicht mehr lange auf sich warten lassen. Die Veränderung muss jetzt auf allen miteinander systemisch zusammenhängenden Ebenen beginnen und fortgesetzt werden. Noch ist eine Umsteuerung möglich. Zivilgesellschaftliche Bewegungen, Organisationen und Initiativen an allen globalen Orten können Synergieeffekte haben und zu einer wirkungsvollen Macht werden, die eine neue Qualität gesellschaftlichen Lebens und eine lebenswerte Zukunft für künftige Generationen hervorbringt.
Anmerkungen zum Kapitel 8
[1] Reich (1948/2013, 97f.).
[2] IPCC (2018, 13).
[3] Vgl. IPCC (2018, 16).
[4] Vgl. https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-03/march-for-our-lives-washington-demonstration-waffengesetze-parkland, 25.3.2018, 17.3.2019.
[5] In: https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-516131.html, 15.3.2019, 15.3.2019.
[6] Vgl. https://www.tagesspiegel.de/politik/fridays-for-future-im-newsblog-veranstalter-25-000-teilnehmer-bei-demo-fuer-den-klimaschutz-in-berlin/24106530.html, 15.3.19, 15.3.19.
[7] Stand: 9.10.2019, https://www.scientists4future.org/, 15.3.19, 9.10.19.
[8] Todenhöfer 2019, 292f.
[9] Klötzer/ Launokari (2021) (Women for Peace – Finland).
[10] Vgl. hierzu Yann Durand: "Black Lives Matter" - Nur ein Strohfeuer im Kampf gegen den Rassismus? https://www.dw.com/de/kommentar-black-lives-matter-nur-ein-strohfeuer-im-kampf-gegen-den-rassismus/a-53959251, 27.6.2020, 20.3.21; Jiréh Emanuel/ Mariam Aboukerim/ Naomi Lwanyaga: Black-Lives-Matter-Demos:„Wir sind Deutschland“, https://taz.de/Black-Lives-Matter-Demos/!5689380/, 13.6.2020, 20.3.21; UN verurteilen tödliche Polizeigewalt gegen Schwarze. https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-05/usa-polizeigewalt-schwarze-vereinte-nationen-kritik, 28.5.20, 20.3.21.
[11] https://www.sueddeutsche.de/politik/george-floyd-proteste-minneapolis-1.4921880, 29.5.20, 20.3.21.
[12] Vgl. u.a. Moegling, Klaus (2024): Stärken die Anti-AfD-Proteste die Demokratie?
In: Telepolis, https://www.telepolis.de/features/Staerken-die-Anti-AfD-Proteste-die-Demokratie-9626421.html, 13.2.2024, 16.2.2024.
[13] Hessel (2011).
[14] Vgl. Kapitel 5.7
[15] Vgl. Marx/Engels (1848/1983, 60).
Vorwort zur 6. Auflage:
Don’t give up!
10.3.2025
(letzte Bearbeitung: 12.4.2025)
Wir könnten daran zweifeln (und verzweifeln), ob die notwendige Neuordnung unserer gesellschaftlichen Verhältnisse noch möglich sein wird.
Die weltpolitische Situation wird durch die erneute Präsidentschaft von Donald Trump und die irritierenden Aktivitäten seiner Regierung zu Beginn des Jahres 2025 noch problematischer.
Irgendwie scheint er mit seinem Slogan "Make America great again!" nicht verstanden zu haben, dass sich inzwischen eine multipolare Weltordnung entfaltet, welche die globale US-Hegemonie überwunden hat. Auch bringen merkwürdige Forderungen des US-Präsidenten die gegenwärtige internationale (Un)Ordnung noch mehr durcheinander, wie die mögliche Annektierung Grönlands und sogar Kanadas als weiteren US-Bundesstaat, die Besetzung des Panama-Kanals, die Räumung des Gazastreifens und die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung und dort den Bau einer Riviera mit Hotels und Erholungslandschaften in Federführung von US-Konzernen, der gewünschte Zugriff auf die Bodenschätze der Ukraine, Drohungen gegenüber dem Iran und erpresserische Eingriffe in den Welthandel mit horrenden Zöllen. Der historische Eklat im Oval Office zwischen Trump, Vance und Selenskyj ist Ausdruck der Absetzbewegung der aktuellen US-Regierung von den europäischen NATO-Staaten. Ganz zu schweigen von den innenpolitischen durch den US-Präsidenten und den dahinterstehenden Interessensgruppen verursachten Unsicherheiten für Migranten, für Staatsangestellte sowie für alle, die nicht seiner politischen Meinung sind. Es fragt sich auch, wie lange man die USA noch als Demokratie bezeichnen kann, wenn auch versucht wird, die Judikative durchgehend mit Loyalisten von Trump zu besetzen.
Insbesondere auch der Angriff der Trump-Administration auf die US-amerikanischen Universitäten und die geforderte Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit stellen Anzeichen für eine Entdemokratisierung des politischen Systems der USA dar.
Doch die Situation in Russland ist noch extremer. Russland führt seit drei Jahren einen Angriffskrieg und nimmt Teile des Staatsgebiets der Ukraine in Besitz. Jegliche Opposition ist repressiv ausgeschaltet. Die russische Wirtschaft ist auf Kriegswirtschaft umgestellt, der russische Staat verschuldet sich immer mehr. An der russisch-ukrainischen Front sind bereits Hunderttausende Menschen gefallen oder schwer verletzt worden. Die Zivilbevölkerung zu beiden Seiten ist militärischen Angriffen ausgesetzt und sehnt sich nach einer Beendigung des Krieges.
Hinsichtlich der VR China weiß man nicht, inwieweit ein Angriff auf Taiwan geplant ist. Auch Chinas Aktivitäten im südchinesischen Meer geben Anlass zu Misstrauen und Verunsicherung. Die Uiguren werden in der Provinz Xinjiang brutal unterdrückt. In Tibet wird gegen Menschenrechte verstoßen und die Bevölkerung ihrer Kultur beraubt. Der Zugriff Chinas auf die Weltwirtschaft im Zuge des Seidenstraßen-Projekts verweist auf Ausbeutungsstrukturen zu Lasten der betroffenen Länder und der dort lebenden Menschen. Dennoch muss festgestellt werden, dass die VR China in den letzten Jahrzehnten an keinem Krieg beteiligt gewesen ist und versucht hat, sich konstruktiv in den Friedensprozess im Krieg zwischen Russland und der Ukraine mit einem beachtenswerten chinesisch-brasilianischen Friedensentwurf einzubringen.
Der brutale und menschenverachtende Angriff der Hamas im Oktober 2023 wurde mit einem unverhältnismäßigen Angriff Israels auf die im Gaza-Streifen lebenden Palästinenser beantwortet, der weit über 50.000 Tote zur Folge hatte – überwiegend palästinensische Zivilbevölkerung, fast die Hälfte davon Kinder. Auch wenn zurzeit (Januar/Februar 2025) ein Waffenstillstand und ein Geiselaustausch erfolgen, ist der Weg zu einem echten Frieden noch unendlich lang. Dies dürfte noch Generationen dauern, bis die gegenseitigen Wunden vernarbt sind, die sich beide Seiten zugefügt haben – wenn dies überhaupt jemals gelingen kann.
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Militärische Auseinandersetzungen in der Demokratischen Republik Kongo, im Sudan, in Äthiopien, in Myanmar, sogar zwischen Indien und Pakistan und im Jemen werden im Vergleich hierzu relativ wenig beachtet. Auch die völkerrechtswidrigen türkischen Angriffe auf das kurdische Rojava werden kaum zur Kenntnis genommen, obwohl die Kurden maßgeblich den IS besiegt und dort Tausende IS-Gefangene bewachen. Hinzu kommen weitere Dutzende asymmetrische Konflikte zwischen Warlords, Dschihadisten und Drogenkartellen insbesondere in Afrika und in Südamerika, die das Gewaltmonopol von Staaten in Frage stellen.
Gleichzeitig rollt die Klimakatastrophe weiter heran und erfasst nun auch Regionen in den reichen Staaten dieses Planeten. Die Welt bewegt sich auf eine Klimaerhitzung von 3 Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit zum Ende des Jahrhunderts zu. Doch es werden keineswegs die notwendigen Maßnahmen ergriffen, um die Klimakatastrophe einzudämmen. Hingegen beschäftigt sich die herrschende Politik – von Rechtsextremisten getrieben – prioritär mit der Wahrung von Einheimischenvorrechten, mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sowie mit Vertreibungen geflüchteter Menschen.
Neben den Konflikten im Jemen, in der Demokratischen Republik Kongo ist der Krieg im Sudan ein weiteres Konfliktfeld, das von der Öffentlichkeit des globalen Norden nur dann beachtet wird, wenn ein Eindruck entsteht, dieser Konflikt könnte dessen Interessen schaden. Zaki Al-Maboren, im Nordsudan geboren und seit Ende der 80-er Jahre in Deutschland, macht die unterschiedliche Interessenlage für verschiedene Staaten deutlich. Einerseits sei der Konflikt im Interesse der europäischen Staaten, da die Rebellenarmee der 'Rapid Support Forces' (RSF) verhindern würde, dass Flüchtlinge zum Mittelmeer gelangen und damit Europa erreichen können. Andererseits würden Russland und die Vereinigten Arabischen Emirate die Rebellenarmee finanzieren, um im Gegenzug das im Sudan vorhandene Gold importieren zu können. So finanziere Russland den Krieg in der Ukraine u.a. mit Gold aus dem Sudan. Al-Maboren fasst die gegenwärtige Situation im Sudan zusammen:
"Der Krieg im Sudan ist ein Krieg um Ressourcen. Dazu kommen massive Umweltprobleme wie Trockenheit und strategische Entscheidungen der großen Mächte. Das Rote Meer ist der wichtigste Wasserweg der Welt. Weil die Russen ihren Stützpunkt in Syrien verloren haben, bauen sie im Sudan eine neue Militärbasis auf." [1]
Doch wo bleibt die Vermittlungsaktivität der Vereinten Nationen in diesen Konflikten? Ansätze hierzu sind vorhanden, aber letztlich bleibt die Vermittlungsaktivität der Vereinten Nationen bisher ohne eine friedensstiftende Wirkung.
Die Vereinten Nationen, die im Jahr 2025 achtzig Jahre alt werden, können ihrer globalen Verantwortung immer weniger gerecht werden. Die Struktur der UNO müsste grundlegend demokratisiert werden. Hierbei spielt die Einrichtung eines UN-Parlaments ergänzend zur UN-Generalversammlung eine große Rolle. Auch der Sicherheitsrat müsste demokratisiert werden. Derzeit findet aber eher eine gegenläufige Bewegung statt. Insbesondere die ständigen Mitglieder im UN-Sicherheitsrat blockieren dessen Reform und sind verantwortlich für die Entscheidungsunfähigkeit dieses obersten internationalen Gremiums. Wie unsinnig und kontraproduktiv ist eine Struktur, die zulässt, dass ein angreifendes Land, wenn es als ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat vertreten ist, durch sein Veto-Recht eine Verurteilung seiner militärischen Aggression und geeignete Maßnahmen dagegen verhindern kann!
Alle diese destruktiven Tendenzen zeigen, dass eine systemische Neuordnung, wie sie hier im vorliegenden Manuskript in Zusammenhängen und notwendigen Schritten dargestellt ist, von denjenigen Menschen und Personengruppen mutig eingeleitet werden müsste, die durch die gegenwärtigen Entwicklungen kritisch durchblicken und die Verantwortung für die Entwicklung dieses Planeten in sich spüren. Sie dürfen sich nicht durch die gegenwärtige Destruktion entmutigen lassen, sondern sollten wissen, dass es weltweit sehr viele Menschen sind, die ähnlich denken und fühlen. Es ist noch nicht entschieden, wer auf lange Sicht sich durchsetzen wird – die Weltenzerstörer oder diejenigen, die sich für eine nachhaltige Entwicklung engagieren.
Im Frühjahr 2025 sind eine Reihe von anhaltenden Massendemonstrationen und Großdemonstrationen in Europa zu beobachten, die Ausdruck der Unzufriedenheit und der Wut der Menschen in Bezug auf autoritäre und korrupte Regierungen sind. Dies lässt sich u.a. in Ungarn, in Georgien, in Serbien, in Spanien und insbesondere in der Türkei erkennen, wo die Menschen gegen zunehmend autoritärer werdende Regime und den Raub ihrer demokratischen Rechte sowie ihrer ökonomischen Lebensgrundlagen (Mietwucher!) protestieren. Die Frage ist, ob dies vereinzelt auftretende Protestwellen oder der Beginn einer anhaltenden und sich in Europa ausbreitenden Protestwelle ist, die gegen die zunehmende Militarisierung, gegen autoritärer werdende Staatsformen, gegen ökonomische Ungleichheit und gegen Rechtsentwicklung gerichtet ist. [2]
Länger anhaltend sind bereits die Massenproteste in Israel gegen die Aushöhlung des Rechtsstaats und die unverhältnismäßige Reaktion auf den Überfall der Hamas durch die in Teilen rechtsextreme Regierung von Netanjahu. In den USA beginnen im Frühjahr 2025 an vielen Orten die Proteste gegen die Trump-Regierung und auch insbesondere gegen den reichsten Mann der Welt, Elon Musk, der den Widerstand gegen seine Vernichtung von Arbeitsplätzen und dem Abbau von Demokratie als Aktionen von Terroristen diskreditiert:
"Laut Angaben der Organisator*innen wurden am Samstag, dem 29. März, Proteste an jedem einzelnen der 277 Tesla-Showrooms in den USA abgehalten. Global seien es mehr als 500 Aktionen gewesen. Seit Anfang Februar ist der Aktienkurs von Tesla von 416 US-Dollar auf 275 US-Dollar abgestürzt. Und am 29. März fällt der Kurs von 275 auf ein Rekordtief von 260 US-Dollar. Musk zeigt sich in einem Interview mit dem rechten Fox-Nachrichtennetzwerk stinksauer und dämonisiert die Bewegung als Terrorismus." [3]
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Es gilt bei allen individuellen und kollektiven Aktionen dabei zu bedenken, dass diese im Einklang mit den Werten der Demokratie, der sozialen Gerechtigkeit, der Friedfertigkeit und der ökologischen Nachhaltigkeit zu gehen sind. Die eigenen Widerstandsformen müssen im Einklang mit den Werten sein, für die sich engagiert wird. Es handelt sich hierbei um Wege, die sich eröffnen, wenn man aufbricht und losgeht. Vieles wird sich durch ein solidarisches Leben im Einklang mit der (Mit)welt bereits für aufgebrochene Menschen persönlich zeitnah und lebensweltlich spürbar verändern. Das neue Leben kann vielerorts - jedoch nicht überall - bereits in lebenswerten Ansätzen in den alten Strukturen beginnen. Systemische Veränderungen hingegen brauchen Zeit. Für grundlegende Systemveränderungen benötigen wir den Blick in zukünftige Welten, die wir selbst wahrscheinlich nicht mehr erleben werden, für die wir uns aber auf den Weg machen können und die unsere nachfolgenden Generation (vielleicht) erleben werden.
Ich hoffe, das vorliegende Manuskript in seiner 6. Auflage ist ein kleiner Beitrag zur Orientierung und Reflexion auf diesem Weg.
Klaus Moegling
Anmerkungen:
[1] Zitat entnommen aus dem Interview zwischen Matthias Lohr und Zaki Al-Maboren: "Dieser Krieg ist kompliziert". In: Hessisch-Niedersächsische Allgemeine, vom 28.3.2025, S.4.
[2] Vgl. ausführlicher hierzu: Crăciun, Claudiu (2025): Power and Protest in Central and Eastern Europe. Basingstoke: Palgrave Macmillan.
[3] Jaspert, Robin/Sachs, Miriam u.a. (2025): Proteste in den USA, Israel, Serbien und der Türkei: Wer nicht kämpft, hat schon verloren. In: der Freitag,
https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/proteste-in-serbien-usa-tuerkei-und-israel, 2.4.2025, 6.4.2025.
Vorwort zur fünften Auflage:
Eine Neuordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse wird drängender
15.4.2024
Eine neue, fünfte Auflage der ‚Neuordnung‘ ist notwendig geworden [1], da der gesellschaftliche Wandel sich konflikthaft beschleunigt. Der Krieg in der Ukraine spitzt sich zu und erfordert inzwischen Hunderttausende Todesopfer und Schwerverletzte auf beiden Seiten. Neuere und immer gefährlichere Waffentechnologien werden eingesetzt, die beiden Lager stehen sich zunehmend unversöhnlicher gegenüber. Beide miteinander kämpfende Staaten versuchen ihre Verbündeten aktiv in die Kämpfe und weiter in den Krieg hineinzuziehen. Wann wird endlich wieder direkt miteinander verhandelt werden? Wie viele Menschen müssen noch sterben oder für ihr Leben schwer beschädigt werden, wie viel zivile Infrastruktur und Ökologie müssen noch zerstört werden, bis die Machthabenden eine Einsicht haben und sich an den Verhandlungstisch setzen?
Im vorliegenden Buch, z.B. im Kap. 5.6 und dem dazu gehörenden Exkurs, werden Antworten gegeben, wie die Konfrontation zwischen den Nato-Staaten und der Ukraine einerseits und der Russischen Föderation und auch Belarus andererseits überwunden werden kann. Dies verlangt allerdings nach dem Überschreiten der Grenzen konventionellen sicherheitspolitischen Denkens.
Anfang Oktober 2023 überfielen ca. 3000 Mitglieder der Hamas den Staat Israel und richteten an seiner Grenze ein Blutbad an, nahmen Geiseln, die sie in den Gaza-Streifen verschleppten. Die Reaktion Israels war ebenso grausam. Zehntausende Menschen, vor allem Kinder und Frauen, wurden im Gaza-Streifen getötet und ein Großteil der zivilen Infrastruktur zerstört. Die israelische Regierung und die Hamas stehen sich unversöhnlicher und verfeindeter denn je gegenüber. Auch wird nun der Krieg in den Libanon getragen. Wechselseitige Angriffe zwischen Israel und dem Iran folgten. Die israelische Regierung bekämpft die Hisbollah und nutzt die Transformationssituation in Syrien aus, lässt mit Kampfjets und Raketen dessen Militäranlagen angreifen, was als völkerrechtswidrige Aggression zu verstehen ist. Wie kann diese Entwicklung wieder umgekehrt werden? Werden sich die besonnenen Kräfte auf allen Seiten irgendwann durchsetzen können oder ist die militärische Eskalationsdynamik nicht mehr zu stoppen?
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Parallel hierzu eskalieren militärische Konflikte zwischen den vom Iran unterstützten Huthis sowie den Hisbollah mit den USA und Großbritannien. Im Sudan kämpft die u.a. von der russischen Wagner-Gruppe unterstützte Miliz RSF gegen die sudanesischen Regierungstruppen (SAF). UN-Sicherheitsratsbeschlüsse werden von beiden Seiten missachtet. Leidtragende sind derzeit 14 Millionen Menschen, die sich im Sudan auf der Flucht befinden.
Angriffe der türkischen Armee auf Rojava und Südkurdistan u.a. im Oktober 2024 werden mit Drohnen, Artillerie und Kampfjets durchgeführt. Hierdurch werden kurdische Gebiete, die hinsichtlich ihrer Selbstverwaltung im Aufbau sind, auch hinsichtlich der Bewachung der IS-Gefangenenlager geschwächt. Auch die Türkei nutzt die instabile Situation des Regimewechsels in Syrien aus und verstärkt ihre Angriffe auf das demokratische Experiment in Rojava.
Gleichzeitig zu diesen multiplen Konflikten entstehen problematische militärische Partnerschaften zwischen der Russischen Föderation, Nordkorea und dem Iran. Hier kommt es zunehmend zum Austausch von Rüstungsgütern und Waffentechnologien sowie geostrategischer Zusammenarbeit. Tausende nordkoreanische Soldaten kämpfen bereits in der Ukraine.
Die Rolle der Volksrepublik China hierbei ist derzeit noch indifferent. Einer punktuellen Zusammenarbeit, z.B. mit der Russischen Föderation, einzelnen Provokationen im Südchinesischem Meer sowie Drohungen gegenüber Taiwan steht das Interesse an ökonomischer Kooperation mit den westlichen Staaten gegenüber. China hat zusammen mit Brasilien daher im Mai 2024 einen Friedensplan zur Beendigung des Kriegs in der Ukraine entworfen. Westliche Staaten sollten sich diesen Plan ernsthaft ansehen. Es ist zu hoffen, dass die auf Kooperation bedachten Kräfte in der VR China den maßgeblichen Einfluss behalten bzw. erlangen werden.
Die ökologische Krise spitzt sich unterdessen weiter zu, wobei die notwendigen Maßnahmen zur Bekämpfung und der Prävention der Klima- und der Umweltzerstörung durch die vorhandenen militärischen Konflikte und die zunehmenden Investitionen in Waffentechnologien und Aufrüstung sowie durch die massive CO-2-Emissionen verursachende Anwendung Künstlicher Intelligenz (KI) massiv behindert werden. Auch die Wiederwahl Trumps lässt eine Verlängerung des fossilen Zeitalters und damit eine erhebliche Verschmutzung der Biosphäre mit Klimagasen erwarten.
Besonders besorgniserregend sind ebenfalls die bisher transnational kaum kontrollierten Investitionen in die technologische Entwicklung von KI im Zusammenhang mit Waffensystemen. Es stellt sich hier die Frage, ob der Mensch in der Lage ist, den Einsatz von KI in Waffensystemen verantwortlich zu steuern bzw. zu kontrollieren.
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Noch verweigern sich die im UN-Sicherheitsrat vertretenen Großmächte einer einschneidenden Reform der Vereinten Nationen. Dennoch wird immer deutlicher, dass die globalen Probleme nur über eine Demokratisierung und eine Stärkung der Vereinten Nationen zu lösen sind. Hier ist auf vorhandene Reformtendenzen innerhalb der UN und die auf transnationale Verständigung ausgerichtete Arbeit maßgeblicher NGOs zu setzen, die mit langem Atem dabei sind, Schritt für Schritt Reformvorschläge zu entwickeln und zu realisieren. Doch müssten erste Erfolge in der Transformation der internationalen Kooperation wesentlich schneller und wirkungsvoller eintreten als dies angesichts der vorhandenen Probleme derzeit der Fall ist. Der US-Wahlausgang 2024 bedeutet hier aufgrund der nationalchauvinistischen Einstellung Trumps und seiner Unterstützer noch eine Verlangsamung notwendiger Reformen.
Hoffnung machen die zivilgesellschaftlichen Widerstandsbewegungen, wie z.B. gegen den Rechtsextremismus bzw. gegen das Erstarken rechtsextremer Parteien, sowie die voraussichtlich noch wirksamer werdende und auf Verhandlungen und Diplomatie drängende Friedensbewegung.
Positiv sind ebenfalls die Ablösungen rechtspopulistischer Regierungen zugunsten demokratischer Parteien zu sehen, wie z.B. in Brasilien oder in Polen. Gleichzeitig tritt mit dem Ausgang der US-Wahlen Ende 2024 eine Wiederkehr einer vom Rechtspopulisten Trump angeführte US-Regierung ein und damit verbunden wiederum neue internationale ökonomische, ökologische und geostrategische Verwerfungen.
Es ist also passiert: Donald Trump und die Republikaner haben die US-Wahl deutlich gewonnen. Dies kann insbesondere für die US-Gesellschaft bedeuten: Die Gesellschaft dividiert sich immer weiter auseinander, soziale Spannungen verschärfen sich bei einer gleichzeitigen Zunahme des Reichtums einer kleinen Gesellschaftsschicht.
Die strukturelle Gewalt in vielen Gesellschaften erhöht sich im sich verschärfenden Kampf um Macht und ökonomischen Ausbeutungsmöglichkeiten. Doch die Möglichkeit zu einem weitgehenden Frieden - so zeigt die kritische Friedensforschung von Galtung und Senghaas - hängt mit struktureller Gewalt in den jeweiligen Gesellschaften zusammen. Eine Gesellschaft, die sich nach rechts bewegt, die auch in ihrer Mitte Rechtspopulisten nachgibt, in der rechtsextreme Parteien an Einfluss gewinnen, vergrößert die nach innen wirkende strukturelle Gewalt über Intoleranz und Hass auf alles jenseits des als normal begriffenen Mainstreams. Solche Gesellschaften werden auch nach außen weniger friedensfähig - im Gegenteil: sie neigen zu militärischen Auseinandersetzungen und Krieg.
Hoffnung machen daher - auch dort - alle gesellschaftlichen Bewegungen, die auf Zusammenarbeit, Solidarität, ökologische Nachhaltigkeit und auf einen Zugewinn gesellschaftlicher Gerechtigkeit ausgerichtet sind. Dies sind die Keimzellen einer gesellschaftlichen Neuordnung, die den Blick über eine Legislaturperiode hinaus in eine andere Zeit richten sollten. Es kommen auch wieder neue Wahlen und möglicherweise dann wieder ein Pendeleffekt zurück zu mehr Demokratie, Ökologie und internationaler Verständigung.
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Ich denke, dass wir selbst bzw. unsere Generation viele notwendige Veränderungen leider nicht mehr miterleben dürfen. Hierzu ist unsere Lebenszeit zu begrenzt und manche Veränderungen werden eventuell erst in der nächsten oder übernächsten Generation eintreten.
Eine besondere Rolle werden die Vereinten Nationen in der Zukunft spielen müssen. Ohne dass die Vereinten Nationen zu ihrer eigentlichen Bestimmung finden und sich entsprechend verändern, wird es kein erfolgreiches Engagement gegen globale Krisen geben können. Entweder die Menschheit versteht dies und sorgt auch für die Veränderung oder sie wird keiner guten Zukunft entgegen gehen können.
Die Auseinandersetzung um die Struktur, die Prozesse und Ziele der Vereinten Nationen ist derzeit voll im Gange und es steht keineswegs fest, wer sich hier mittelfristig durchsetzen wird. Pessimismus hingegen schwächt die Kräfte derjenigen, die sich mit ihrer Lebenskraft für eine Demokratisierung und Stärkung der UN einsetzen. Allerdings ist zunächst für vier Jahre eine Art Moratorium für die Vereinten Nationen zu erwarten und ein rückläufiges Engagement der USA.
Dennoch: Ich habe selbst in meinem politischen Leben mehrfach erfahren können, wie wir Erfolge erzielt haben, die viele Personen vorher für unwahrscheinlich gehalten hatten. Wenn sich entschiedene und positiv gestimmte Menschen zusammentun, sich vernetzen, organisieren und politisch zusammenarbeiten, können sie mittel- und langfristig eine Menge bewegen - lokal, regional, national und transnational.
Klaus Moegling
[1] Die Aktualisierung und Erweiterung der 5. Auflage der 'Neuordnung' ist nun am 5.4.24 weitgehend abgeschlossen worden. Es werden nur noch ab und an punktuelle Aktualisierungen vorgenommen, wo dies notwendig erscheint - wie z.B. am 10.11.24.
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Vorwort zur vierten Auflage:
Eine Verhandlungslösung ist möglich.
20.6.2023
Die vierte Auflage fällt in die Zeit eines dramatischen gesellschaftlichen Umbruchs
Waren bisher Erwartungen in der westlichen Welt an eine länger fortdauernde europäische Friedensperiode vorhanden, hat sich dies mit dem russischen Überfall auf die Ukraine deutlich verändert.
Die militärische Invasion der russischen Föderation in die Ukraine ist eine Katastrophe und durch nichts zu rechtfertigen. Selbst, wenn im Vorfeld des Krieges die diplomatischen Möglichkeiten nicht genügend wahrgenommen wurden, Russlands Sicherheitsbedenken ignoriert wurden sowie auch in der Ukraine z.T. problematische politische und militärische Kräfte sich durchzusetzen versuchten, stellt dies alles keine Legitimation für die russische Invasion, die Bombardierung von Wohnvierteln und Infrastruktur sowie für die Zerstörung der natürlichen Mitwelt dar. Erschießungen, massenweise Folterungen, Vergewaltigungen und Kinderentführungen durch russische Soldaten lassen sich erst recht nicht durch vorgebrachte russische Argumente für die „militärische Spezialoperation“ legitimieren. Der Angriff und die damit verbundene Invasion russischer Truppen stellen eine eklatante Verletzung des Völkerrechts und der Menschenrechte dar und bedeuten eine aggressive Zerstörung der europäischen Sicherheitsordnung und einen Bruch mit der UN-Charta.
Wo wird dies enden?
Werden wir den 3. Weltkrieg erleben?
Der Krieg in der Ukraine eskaliert ständig weiter.
Es wird daher versucht im Rahmen dieses Vorworts Perspektiven zu entwickeln, einen Ausweg aus dieser Situation zu finden, ohne sich Illusionen hinzugeben.
Waren Verhandlungsangebote ein Fehler?
Häufig hört man nun den Vorwurf, dass die Verhandlungsangebote an Russland naiv gewesen wären. Man hätte rechtzeitig die umfangreichere militärische Aufrüstung des Westens – und auch der Ukraine – betreiben müssen. Letztlich seien auch die westliche Friedensbewegung und ein verbreiteter friedenspolitischer Habitus daran schuld, dass der politisch-militärisch-industrielle Komplex mit Putin an der Spitze diesen Angriff gewagt habe. Hätten an der Stelle von Diplomatie konsequentere Maßnahmen militärischer Abschreckung einen größeren Erfolg haben können?
Hiergegen ist zu fragen: Was wäre denn die Alternative gewesen? Hätte man sich von der Vorahnung einer russischen Aggression in eine noch extremere Rüstungsspirale zwingen lassen sollen, welche die notwendigen Zukunftsinvestitionen zur Bekämpfung der Klimakrise, des Welthungers und zur Prävention vor Pandemien verhindern würden?
Hätte man nicht dennoch auf Verhandlungen im Rahmen der vorhandenen Institutionen setzen sollen? Wenn man die zwischen den Völkern geschaffenen Institutionen und Gesprächsformate im Rahmen der internationalen Sicherheitsarchitektur selbst nicht ernst- und wahrnimmt, dann gibt es letztlich keine Hoffnung auf eine globale friedliche Entwicklung. Dann regiert nur die Macht der Waffen.
Natürlich musste man versuchen über die UN, die OSZE, das Normandie-Format, den NATO-Russland-Rat oder bilaterale Gespräche, die russische Regierung zum Einlenken und zu vertretbaren Kompromissen zu bewegen. Dies wurde nicht ohne Rückendeckung durch die Androhung von massiven Sanktionen vorgenommen. Man musste es riskieren, auf die Rationalität Putins und der mit ihm verbundenen Politiker und Industriezweige zu setzen. Eine massivere Aufrüstung verbunden mit einer noch umfangreicheren Truppenverlegung der NATO an ihre Ostflanke sowie einer Aufnahme der Ukraine in die NATO hätte unmittelbar zu einer militärischen Auseinandersetzung geführt.
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Wie reagieren die Vereinten Nationen?
Die UN hält sich bisher auffällig zurück. Zwar gab es u.a. Sondersitzungen des UN-Sicherheitsrats und eine Verurteilung der russischen Aggression durch den UN-Generalsekretär, dennoch zeigen sich auch in dieser gefährlichen weltpolitischen Situation die strukturellen Probleme der Vereinten Nationen. Ein Staat überfällt – mit offensichtlich vorgeschobenen Gründen – einen Nachbarstaat und verletzt hiermit völkerrechtswidrig u.a. alle wesentlichen Normen der UN-Charta. Dies wäre ein klassischer Fall für „Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen“, die im Kapitel VII der UN-Charta festgelegt worden sind. Im Falle eines die Souveränität eines Staates verletzenden Angriffskrieges kann der UN-Sicherheitsrat nach der Erfolglosigkeit aller diplomatischen Maßnahmen und von Sanktionen, weltpolizeiliche und auch militärische Einsätze beschließen.[1] Doch man glaubt doch nicht im Ernst, dass die Russische Föderation nicht von ihrem Veto-Recht Gebrauch machen würde, wenn ein entsprechender Antrag im Sicherheitsrat beraten würde. So hat Russland auch am 25.2.2022 eine Resolution des UN-Sicherheitsrats, die eine Verurteilung des russischen Angriffs und die Forderung nach dem Rückzug der russischen Truppen beinhaltete, mit seinem Veto blockiert. [2] Genau für diese Situation aber ist eine Reform des UN-Sicherheitsrats dringend erforderlich:
Ein Staat, der einen anderen Staat militärisch angreift, muss das Recht verlieren, im UN-Sicherheitsrat zu votieren - insbesondere wenn es sich hier um ein ständiges Mitglied mit Veto-Recht handelt.
Natürlich kann auch die UN-Generalversammlung einen Beschluss auf den Weg bringen, der ein Eingreifen im Auftrag der UN im Sinne der UN-Charta verlangen würde. Aber auch die Beschlüsse der UN-Generalversammlung haben für einen solchen Fall nur Empfehlungscharakter. Dies gilt auch für eine Notstandsresolution im Sinne des „Uniting for Peace“. [3]
Solange es den UN-Sicherheitsrat mit den vorhandenen Befugnissen gibt, ist es daher notwendig, dass
* jedes Veto eines ständigen Mitglieds im UN-Sicherheitsrat zum dort kontrovers zu diskutierenden Gegenstand einer eigens hierfür einzuberufenden UN-Generalversammlung werden muss,
* Ein Veto im UN-Sicherheitsrat mit einer zwei Drittelmehrheit in der UN-Generalversammlung überstimmt und aufgehoben werden kann. Ein nochmaliges Veto in dieser Sache ist dann nicht mehr möglich.
Das russische Veto gegen eine Verurteilung der russischen Invasion zeigt erneut auf gravierende und zahllose Menschenleben fordernde Weise die dringende Notwendigkeit, die Vereinten Nationen strukturell zu reformieren. Die bereits mehrfach international geforderte Abschaffung bzw. Modifizierung des Veto-Rechts der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats sowie dessen veränderte Zusammensetzung und die Aufwertung parlamentarischer Versammlungen im Rahmen der Vereinten Nationen dürfen nicht mehr mit fadenscheinigen Begründungen aufgehalten werden. [4] Die Wiederherstellung und die Einhaltung des Weltfriedens bedürfen anderer internationaler Politikstrukturen und dürfen nicht einzelnen Nationalstaaten oder Militärblöcken überlassen bleiben. Der aktuelle Überfall Russlands auf die Ukraine zeigt dies eindringlich.
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Weltpolizeiliche Maßnahmen in Form von robusten UN-Blauhelmeinsätzen
Was müsste ab diesen Zeitpunkt – und natürlich zu spät aber dennoch dringend erforderlich – international eingeleitet werden?
Unausweichlich müssen auch die NATO-Staaten sich militärisch vergewissern und entsprechende Sicherungsmaßnahmen treffen, ob sie einer weiteren Eskalation des Krieges über die Grenzen der Ukraine hinaus erfolgreich begegnen können. Wenn der Artikel 5 [5] des NATO-Vertrags aktiviert wird, müssen die entsprechenden Verteidigungsmaßnahmen im Angriffsfall auf einen NATO-Staat auch durch die NATO militärisch und später - im Auftrag der UN - weltpolizeilich erfolgreich durchführbar sein. Allerdings ist die Sicherung der Verteidigungsfähigkeit nur im Rahmen einer Doppelstrategie friedenspolitisch vertretbar, deren prioritäres Ziel die Schaffung von politischen Friedensstrukturen im Rahmen einer internationalen Sicherheitsarchitektur ist. Hierbei ist zu kritisieren, dass sowohl die NATO als auch die EU - angesichts des Kriegs in der Ukraine - primär die militärische Strategie verfolgen und den diplomatischen Weg vernachlässigen. Doch genau umgekehrt müsste das Verhältnis von Militär und Diplomatie sein.
Ob westliche Staaten, immer mehr Waffen in die Ukraine liefern sollten, ist schwierig zu entscheiden. Dagegen spricht die dann zu erwartende militärische Eskalationsdramatik, die zu einer weiteren Vernichtung von Menschenleben, Umwelt und Infrastruktur führen wird. Wenn Angriffswaffen mit größerer Reichweite in die Ukraine geliefert werden, besteht die Gefahr von militärischen Gegenangriffen von Seiten der Ukraine auf russisches Gebiet, was die Eskalationsdynamik noch weiter beschleunigen würde. Auch besteht die Gefahr des Einsatzes einer taktischen Atombombe von Seiten der Russischen Föderation im Falle eigenen militärischen Scheiterns mit einem unkalkulierbaren Risiko für die weitere Eskalation. Dies zu verdrängen wäre verantwortungslos. Zumindest für eine Unterstützung der Ukraine mit Waffen, die primär der Verteidigung dienen, wie z.B. Abwehrsysteme gegen Kampfflugzeuge und Drohnen sowie Panzerfäuste, spricht, dass es um die militärische Unterstützung eines sich verteidigenden Staates ginge, der sich gegen den Überfall einer despotischen staatlichen Macht zur Wehr setzt.
Auf jeden Fall müssen Wirtschaftssanktionen, welche die Wirtschaft der russischen Föderation tiefgreifend treffen, nun mit langem Atem und im Bewusstsein, dass es hier nicht nur Einschränkungen und ökonomische Verluste auf der russischen Seite geben wird, gut durchdacht werden. Die frühere Sanktionspolitik, z.B. im Irak, hat gezeigt, dass diese oftmals falsch und schädlich für die Zivilbevölkerung angelegt wurde. Wenn beispielsweise medizinische Hilfsgüter nicht mehr in ein boykottiertes Land gelangen können, sind letztendlich Kranke, alte Menschen und Kinder die Leidtragenden und Opfer dieser Sanktionspolitik. Daher sind insbesondere Maßnahmen zur Einfrierung von Konten geeignet und wären Enteignungen der russischen Villen und Immobilien, z.B. in der Südküste Frankreichs sowie in den teuren Straßenzügen Londons, die den in Russland herrschenden und das ‚System Putin‘ unterstützenden Finanzoligarchien gehören, wichtig.
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Die Sperrung erreichbarer Geldreserven des russischen Staates sowie das Abschneiden Russlands von einem Technologietransfer, der für dessen Rüstungsindustrie relevant ist, treffen diesen und seine ‚Eliten‘ empfindlich. Auch war es richtig, den vorübergehenden Ausschluss Russlands aus dem internationalen Zahlungssystem SWIFT zumindest für die größten Banken – eventuell sogar für das gesamte russische Bankensystem – vorzunehmen. Hierdurch kann es bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten in Russland und dem dadurch anwachsenden Druck auf die russische Regierung – auch z.T. aus Unterstützerkreisen von Putin – dazu kommen, dass die russische Regierung einlenken und an den Verhandlungstisch zurückkehren muss. Dies muss das erklärte Ziel aller Maßnahmen sein. Die OSZE, die UN, das Normandie-Format oder der NATO-Russland-Rat sind institutionelle Kontexte, die für die notwendigen Verhandlungen einen geeigneten Rahmen abgeben.
Aber nicht nur die Russische Föderation muss an den Verhandlungstisch zurückkehren sondern auch die ukrainische Regierung muss sich von ihrer militärischen Option zugunsten von Verhandlungen lösen.
Des Weiteren sind parallel hierzu und auch danach u.a. die Politik- und Geschichts-wissenschaften, die verantwortlichen Politiker_innen und die mediale Öffentlichkeit aufgefordert, sich unvoreingenommen und mehrperspektivisch mit der Vorgeschichte dieses Krieges zu befassen und zu analysieren, inwieweit auch diplomatische Fehler, aber ebenfalls Interessen westlicher Staaten, Konzerne und Institutionen für das Ausbrechen Russlands aus der internationalen Sicherheitsarchitektur mitverantwortlich waren.
Wer sind die ökonomischen und geopolitischen Gewinner dieses Krieges? Welche Akteure welcher verschiedenen Machtkonstellationen auf der russischen, der ukrainischen, aber auch auf der westlichen Seite hatten ein Interesse daran, den Krieg zu beginnen bzw. zu provozieren? Diese Fragestellungen und Untersuchungsaufträge dürfen keine Relativierung der russischen Kriegsverbrechen und Völkerrechtsverletzungen intendieren, sondern die Aufmerksamkeit und die Handlungsfähigkeit für künftige internationale Krisensituationen verbessern helfen.
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Der ‚Appell für den Frieden‘
Der ‚Appell für den Frieden‘ schlägt eine diplomatische Verhandlungsinitiative über das UN-Generalsekretariat vor. [6] Der UN-Generalsekretär ist aufgefordert, endlich die Initiative zu ergreifen und eine hochlegitimierte und hochrangige Verhandlungskommission zu bilden.
Hochrangig meint, dass hier Persönlichkeiten zumindest auf der Außenministerebene in der Kommission enthalten sein sollten. Besonders wichtig wäre es, dass auch Vertreter_innen Chinas, Indiens und Brasiliens, die insbesondere für die Russische Föderation wirtschaftlich und politisch relevant sind, in dieser Kommission unter Leitung des UN-Generalsekretärs mitarbeiten. Hochlegitimiert meint, dass eine große Mehrheit der UN-Vollversammlung diese Kommission mit Verhandlungsmacht ausstattet. Die Kommission sollte unter Leitung des UN-Generalsekretärs die ukrainische Regierung und die russische Regierung an den Verhandlungstisch bringen, um einen Waffenstillstand als Voraussetzung von Friedensverhandlungen und -lösungen zu erreichen. Nationale und transnationale Regierungen sind dringend aufgefordert, sich für eine derartige Verhandlungsinitiative einzusetzen. Spätestens jetzt, aber schon viel zu spät, ist die Zeit der Diplomatie gekommen. Es besteht die Gefahr, so wie es Jürgen Habermas ebenfalls anspricht, einen 'point of no return' zu erreichen, dessen Eskalationsdynamik von keiner Seite mehr gestoppt werden kann.
Das Verhandlungsziel müsste dann im Abzug aller russischen Truppen aus der Ukraine verbunden mit Reparationszahlungen an die Ukraine bestehen. Dies müsste so weit wie möglich erreicht werden. Auch muss der Internationale Gerichtshof der Vereinten Nationen den Fall untersuchen und die Verantwortlichen bzw. die russische Regierung zur Rechenschaft ziehen. Die im März 2023 erfolgte Verurteilung des russischen Präsidenten Putin als Kriegsverbrecher durch den Internationalen Strafgerichtshof in Den Hag ist hierfür ein erster wichtiger Schritt.
Die beiden russisch orientierten Teile der östlichen Provinzen im Donbass, Donezk und Luhansk, müssten einen relativen Autonomie-Status innerhalb der Ukraine, wie dies z.B. für Südtirol in Italien der Fall ist, zugesprochen bekommen. Dieser Prozess müsste durch von durch die UN gesteuerten weltpolizeilichen Maßnahmen abgesichert werden.
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Die Krim könnte hierbei eine Ausnahme bilden, da sie vorwiegend von russischer Bevölkerung bewohnt wird und auch der historische Schenkungs-Akt von Cruschtschow 1954 an die Ukraine völkerrechtlich genauso fragwürdig wie die Übernahme der Krim 2014 durch die Russische Föderation war. Hier könnte vereinbart werden, dass die Krim solange in russischer Verwaltung bleibt, bis nach einem Zeitraum von z.B. 15 Jahren in durch die OSZE oder die UN kontrollierten Abstimmungen neu über die staatliche Zugehörigkeit der Krim entschieden wird. Aber dies ist natürlich eine Entscheidung, die im Rahmen der zukünftigen Verhandlungen zwischen der ukrainischen und der russischen Regierung unter der Leitung der OSZE oder der UN erfolgen müsste.
Hierbei soll sich niemand der Illusion hingeben, dass dies alles mit der Zustimmung eines ‚System-Putin‘ zu leisten ist. Falls Putin noch im Amt sein sollte, müssen die Verhandlungen wohl mit ihm begonnen werden. Hier muss allerdings mittelfristig auf einen Regierungswechsel in der Russischen Föderation gesetzt werden. Erst eine neue russische Regierung, die sich völkerrechtlich anders verhält, zu demokratischen Prinzipien und der Beachtung der UN-Charta zurückkehrt, wird einem robusten weltpolizeilichen Einsatz an der ukrainisch-russischen Grenze und einer entmilitarisierten Zone zustimmen. Dies wird für die sich derzeit in Russland gegen den Ukraine-Krieg engagierenden Menschen ein gefährlicher Weg sein, da die russische Regierung auf brutale Repression setzt und bereits Tausende Menschen verhaftet hat. [7]
Eine solche Zustimmung der unmittelbar beteiligten Staaten ist die Voraussetzung für eine Verbindung aus zivilgesellschaftlichen Vermittlungsversuchen und weltpolizeilichen Einsätzen unter dem Schirm der Vereinten Nationen, um die Souveränität der Ukraine über die dann anstehenden Verhandlungen wiederzuerlangen und zu sichern.
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Eine friedliche und nachhaltig entwickelte Welt ist (immer noch) möglich.
Die Welt und die internationale Gemeinschaft sind aktuell durch den Angriff Russlands auf die Ukraine sowie der damit verbundenen Drohung, bei einem militärischen Eingreifen des Westens auch Atomwaffen einzusetzen, in ihrer Entwicklung weit zurück geworfen worden. Auch die in der Ukraine vorhandenen Atomreaktoren können als Waffe nuklearer Verseuchung im Krieg in der Ukraine eingesetzt werden. Hierfür müssten lediglich die Stromversorgung und die Versorgung mit Kühlwasser lang genug unterbrochen werden. Dies ist ein deutlicher Rückschritt hin zu einer friedlicheren und nachhaltigeren globalen Entwicklung – zumal auch die VR China sich zurückhält, das Vorgehen Russlands zu verurteilen. Es ist nicht nur der Weltfrieden sondern auch der Kampf gegen die Klimakrise gefährdet, der nur vereint und unter Einsatz der notwendigen Ressourcen in Friedenszeiten zu leisten ist.
Dennoch muss die Entwicklungsperspektive an einem längerfristigen Zeitrahmen orientiert bleiben und die internationale Politik, Institutionen und NGOs, sowie die internationale Zivilgesellschaft dürfen nicht vorschnell resignieren, sondern müssen – gerade angesichts des Leids der ukrainischen Bevölkerung – neben den angesprochenen Maßnahmen auch die notwendigen Schritte im Ausbau der internationalen Sicherheitsarchitektur noch dringender vollziehen. Entsprechende Perspektiven einer neuen Sicherheitsordnung in Europa hat die NGO ‚Sicherheit neu denken‘ sehr aktuell veröffentlicht. [8]
Insbesondere sind Anstrengungen zu neuen Abrüstungsvereinbarungen zu unternehmen. Hierbei wäre zunächst die Ratifizierung des durch ICAN initiierten und durch die UN in Kraft gesetzten Atomwaffenverbotsvertrags auch von Seiten der Staaten mit Nuklearwaffen prioritär. Dies wäre die richtige Alternative zu den jetzt überall einsetzenden Aufrüstungsvorhaben.
Es zeigt sich, dass die Hauptproblematik darin besteht, dass mächtige Mitglieder des UN-Sicherheitsrats sich nicht an die Regeln des Völkerrechts halten, ohne dass die Vereinten Nationen in der Lage sind, hiergegen aufgrund der Militärmacht dieser Mitglieder und der unzulänglichen Struktur der UN vorzugehen. Dies hat sich bei Völkerrechtsverletzungen der USA (z.B. Irak-Krieg), von China (Tibet) oder nun der Russischen Föderation in der Ukraine gezeigt. Es gilt die Vereinten Nationen zu demokratisieren und gleichzeitig zu stärken, so dass sie in Zukunft im Falle militärischer Aggression eines Staates friedenspolitisch handlungsfähiger als bisher werden können.
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Ein zweiter Umbruch trat bereits etwa ein Jahr vor der russischen Aggression ein: Endlich war die US-Präsidentschaft von Donald Trump beendet.
Es ist immer noch zu hoffen, dass mit der Präsidentschaft von Joe Biden und Kamala Harris die Zeit vorbei ist, in der ein irrational, narzistisch und eigensüchtig handelnder Präsident des militärisch mächtigsten Staates bereits ein unkalkulierbares Sicherheitsrisiko darstellt.
Sicherlich sind der Teil der gesellschaftlichen ‚Eliten‘ immer noch vorhanden, die Trump an die Macht brachten und ihn (viel zu lange) unterstützten. Auch gibt es noch immer sehr viele unverbesserliche Ignoranten, die durch seine Lügen verblendet wurden oder sich hier opportunistisch anpassten. Dennoch besteht die Hoffnung, dass zumindest eine Rückkehr der USA auf die diplomatische Ebene erfolgen wird. Dies betrifft insbesondere die multilaterale Zusammenarbeit auf der Ebene der Vereinten Nationen. Erste Maßnahmen der US-Regierung zeigen, dass hier eine Fortsetzung der Zusammenarbeit im Bereich des Klimaschutzes, der gesundheitspolitischen Zusammenarbeit und der Friedenssicherung angestrebt wird. Dies betrifft die erneute Vertragsunterzeichnung der Pariser Klimakonvention und die Wiederaufnahme der Zusammenarbeit mit der World Health Organization (WHO) der UN. Die zunächst erfolgte Verlängerung des New-Start-Vertrags in Zusammenarbeit mit Russland wurde allerdings im Zuge des Kriegs in der Ukraine von Russland wieder ausgesetzt und beendet. Es ist zu hoffen, dass dies wieder rückgängig gemacht wird und dass auch China dem New Start-Vertrag zukünftig als weiterer notwendiger Schritt einer internationalen Abrüstung beitreten wird.
Doch andere Signale machen deutlich, dass auch die gegenwärtige US-Administration am Ziel eines 2%-Anteils der militärischen Ausgaben eines NATO-Staats am Bruttoinlandsprodukt festhalten wird. Der Krieg in der Ukraine dient hierfür als Legitimation. Hier scheint es keine Einsicht zu geben, dass dieses Geld woanders dringend nötiger verwendet werden müsste. Noch immer verhungern täglich Kinder. Noch immer fehlen Gelder für friedenssichernde Einsätze der UN. Die Pandemie und deren Folgen erfordern Billionen US-Dollar, um die entstandenen Schäden auch nur ansatzweise zu beseitigen. Die heran rollende Klimakatastrophe aber und deren Abwehr – soweit dies überhaupt noch vollständig gelingen kann – werden die größten Kosten und unsägliches Leid verursachen.
Wie ignorant ist es daher, weiter aufzurüsten und eine Politik des Schreckens durchsetzen zu wollen? Auch der Ukraine-Krieg kann daher kein Argument für eine weitere Aufrüstung sein.
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Wenn Biden/ Harris tatsächlich in die Geschichtsbücher als eine bedeutende US-Präsidentschaft eingehen wollen, dann sollten sie innerhalb der aktuellen Legislaturperiode dazu beitragen, dass die Vereinten Nationen eine internationale Friedenskonferenz unter Beteiligung aller UN-Staaten und – in beratender Funktion – geeigneter internationaler NGO’s, wie z.B. ICAN, Greenpeace, Democracy Without Borders, World Beyond Wars oder IPPNW, einberufen. Diese Friedenskonferenz sollte einen Stellenwert wie die Pariser Klimakonferenz einnehmen und weitreichende Abrüstungsregelungen und Beschränkungen von Waffenexporten im konventionellen und nuklearen Bereich zum Ergebnis haben. Hierbei müssten effektive Kontrollmechanismen und Sanktionen bei Regelverstößen in das Vertragswerk eingebaut werden. Des Weiteren könnten Biden/ Harris ebenfalls darauf hinwirken, dass verbindliche Kontrollen und Sanktionen im Übrigen auch für die Pariser Klimakonvention nachgeholt werden. Dies wären entscheidende Maßnahmen auf dem Weg zu einer globalen Neuordnung, die vernunftgeleitet und verantwortungsvoll sind.
Der Krieg in der Ukraine – und dies wird im Westen oft verdrängt – ist nur ein Krieg unter anderen dutzenden weiteren, aktuellen symmetrischen und asymmetrischen gewalttätigen Konflikten. Insbesondere in Europa gerät dieser Krieg in den Fokus, da er in geografischer Nähe stattfindet und auch ein Krieg unter Weißen mit ähnlichen kulturellen Traditionen ist. Bereits viel länger dauert z.B. der Krieg im Jemen, der bereits wesentlich mehr Opfer, insbesondere auch unter Kindern, gefordert hat. Doch er findet in großer Distanz zu Europa und zwischen fremdkulturellen Ethnien statt. Dies wird als nicht so bedrohlich erlebt, obwohl es völker- und menschenrechtlich ebenso problematisch ist und auch dort Kriegsverbrechen an der Tagesordnung sind.
Der Ausweg hin zu einer sinnvollen Neuordnung im globalen Kontext kann – dies ist eine zentrale, hier vertretene These – nur in der Stärkung und Demokratisierung der Vereinten Nationen liegen, die weltweit von Demokratie-Initiativen, demokratischen Parlamenten und Parteien, Nicht-Regierungsorganisationen und zivilgesellschaftlichen Protestbewegungen einzufordern ist. Hierzu gibt das vorliegende Buch zahlreiche Anregungen für die Realisierung dieses Vorhabens auf verschiedenen Zeitebenen.
Die in dem ersten Teil des Buches analysierten gesellschaftlichen Verhältnisse – insbesondere die unangenehmste Variante eines neoliberalisierten Kapitalismus und die in verschiedenen Weltregionen unterschiedlich ausgeprägten Defizite des politischen Systems – machen deutlich, dass es eine grundlegende und systemische Neuordnung geben muss. Die gesellschaftliche Transformation muss Schritt für Schritt in einer geordneten und international koordinierten Weise erfolgen, um gewalttätige Exzesse und soziale Disruptionen zu vermeiden, die letztendlich zur gesellschaftlichen Destruktion im Sinne zerstörter staatlicher Systeme oder einer wachsenden Anzahl von Diktaturen führen werden.
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Ein sinnvoller Weg zu einer Neuordnung im lokalen, nationalen, regionalen und internationalen Kontext – und insbesondere in der Verbindung dieser Ebenen – kann nur über eine Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche erfolgen. Dies muss friedlich und demokratisch erfolgen, ansonsten wird keine systemische Verbesserung eintreten.
Das Problem ist, dass wir davon noch weit entfernt sind und zum Teil gegenläufige Tendenzen festzustellen sind: Nationalistische Einstellungen, autokratische Tendenzen, Verweigerung internationaler Zusammenarbeit, ungebremstes Profitdenken, ein zunehmendes Reichtumsgefälle und wachsende soziale Unterschiede, Waffenexporte in Spannungsgebiete, zahlreiche Kriege unterschiedlichster Art und ökologische Ignoranz. Verschärfend kommt hinzu, dass insbesondere die Klimaentwicklung nur noch ein Zeitfenster von 10-15 Jahren für die Menschheit offen lässt, in denen die richtigen Entscheidungen gefällt und ergriffen werden können.
Dies bedeutet, dass sich derzeit und in naher Zukunft eigentlich niemand mehr zurückhalten kann. Es ist ein gesellschaftliches Engagement auf allen Ebenen gefragt, wenn eine positive Entwicklung in die Richtung auf eine systemische Neuordnung eintreten soll.
Mit den besten Grüßen Klaus Moegling
( Rückmeldungen an: klaus(at)moegling.de )
Anmerkungen
[1] Vgl. insbesondere den Artikel 43 der UN-Charta.
[2] "Russia blocks Security Council action on Ukraine", in: https://news.un.org/en/story/2022/02/1112802, 25..2.2022.
[3] Obwohl die UN-Vollversammlung die russische Invasion in der Ukraine mit einer großen Mehrheit von 141 Stimmen (bei 45 Enthaltungen und 5 Gegenstimmen) verurteilt hat, hat die Verabschiedung der Resolution ‚nur‘ eine symbolische Bedeutung und spiegelt die globalen Einschätzung in Bezug auf den Krieg in der Ukraine wider. Vgl. https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-03/un-vollversammlung-verurteilt-russischen-einmarsch-mit-grosser-mehrheit, 3/2/2022.
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[4] Vgl. zur Forderung nach einem demokratisch gewählten UN-Parlament mit umfassenderen Vollmachten sowie der Reform des UN-Sicherheitsrats Leinen, Jo/ Bummel, Andreas (2017): Das demokratische Weltparlament. Bonn: Dietz-Verlag. Zumach, Andreas (2021): Reform oder Blockade. Welche Zukunft hat die UNO? Zürich: Rotpunktverlag und das Kapitel 5.3 im vorliegenden Buch.
[5] Artikel 5 des NATO-Vertrags besagt: „Die Parteien vereinbaren, daß ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird; sie vereinbaren daher, daß im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten.“ https://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_17120.htm?selectedLocale=de
[6] Der komplette Text des Friedensappells in deutscher und englischer Sprache sowie die verschiedenen Erstunterzeichner_innenlisten finden sich auf https://www.klaus-moegling.de/peace-appeal/
[7] Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sprach am 26.2.2022 auf seiner Pressekonferenz von Demonstrationen in 58 russischen Städten. Die 'Frankfurter Rundschau' listet ebenfalls die Proteste in Russland gegen den Ukraine Krieg aus der Zivilbevölkerung, von russischen Hilfsorganisationen, Journalisten, Künstlern und Wissenschaftlern auf und verweist auf das Demonstrationsverbot des russischen Staats, auf die brutale Vorgehensweise des russischen Polizeiapparats sowie auf die Anzahl der vorgenommenen Verhaftungen: Vgl. https://www.fr.de/politik/news-ukraine-konflikt-russland-widerstand-proteste-krieg-wladimir-putin-erschrocken-prominente-opposition-zr-91374943.html, 27.2.2022.
[8] Vgl. Rething Security (2022):Turning the Perspective Overcoming Helplessness. Rethinking Security Report 2022. In: https://www.sicherheitneudenken.de/media/download/variant/269297/rethinking-security-report-2022-turning-the-perspective.pdf, 18.2.2022, 1.3.2022.
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Vorwort zur dritten Auflage
Das vorliegende Buchprojekt vor dem Hintergrund der politischen Bewegungen
23.4.2020
Die dritte Auflage des vorliegenden Buches versucht – ausgehend von einer aktualisierten Kritik der Verhältnisse – die theoretischen und praktischen Grundlagen einer gesellschaftlichen Neuordnung und erste Schritte auf dem Weg dorthin im Zuge einer positiven Vision zu entwerfen sowie gewaltfreie Umsetzungsstrategien zu entwickeln.
Hierbei stellt die literarische Arbeit an den bisherigen drei Auflagen ein mehrjähriges Projekt kollektiver Erfahrungsauswertung und Wissenskonstruktion dar. In jede Auflage gingen verstandenes Wissen und reflektierte Erfahrungen vieler Menschen ein, mit denen ich seit Jahren das Gespräch suche: Experten für verschiedene Gebiete, Kolleg_innen, Studenten_innen sowie die vielen Diskussionsbeiträge im Rahmen von Lesungen, Vorträgen und Internetforen, die ich wiederum seit der zweiten Auflage hierfür verarbeiten konnte. Ich habe versucht dieses Wissen und diese Erfahrungen achtungsvoll zu vernetzen und in die hier vorliegende Problemstellung auf meine Weise einzubringen.
Auch war es mir wichtig, nicht nur aus einer theoretischen Perspektive heraus oder allein über Erfahrungen der anderen zu schreiben. Daher ist dieses Buch in seinen verschiedenen Auflagen auch aus den eigenen politischen Erfahrungen in der Umwelt- und Friedensbewegung, im Bildungsbereich sowie parteipolitischer und gewerkschaftlicher Mitarbeit entstanden. Das vorliegende Buch ist damit ein Teil und Ausdruck der verschiedenen Bewegungen, die zivilgesellschaftlichen Widerstand leisten und hiermit verbunden, aus diesen Bewegungen heraus und diese reflektierend, entstanden.
Die historische Entwicklung kultureller Umbrüche zeigt, dass eine solche gesellschaftliche Veränderung nur für einen längeren Zeitraum erfolgreich sein kann, wenn ihr eine gut durchdachte gesellschaftspolitische Vision zugrundeliegt. Hier soll dafür plädiert werden, dass diese Vision ein gesellschaftspolitisches Modell beinhaltet, das demokratisch, internationalistisch, gemeinwohlorientiert und sozialökologisch ausgerichtet ist und die kulturellen Leistungen der Aufklärung zum Ausgangspunkt einer bisher in Ansätzen stecken gebliebenen Neuordnung werden lässt. Hierbei müssen auch die systemrelevanten Fragen nach der gerechten Eigentums- und Vermögensverteilung und einer anderen Lebens- und Arbeitsqualität gestellt werden.
Vielleicht hat die Aufklärung, meines Erachtens bisher die größte Kulturleistung der Menschheitsgeschichte, bislang nur eine Minderheit der Menschheit erreicht. Noch wird eine erweiterte Aufklärung massiv durch verschiedene dogmatische Religionen, durch fehlendes Bewusstsein sowie einen neoliberal ausgeprägten Raubtierkapitalismus in ihrer Entfaltung blockiert. Auch konnte beispielsweise Immanuel Kant die Ökologie-Problematik und die Anfälligkeit der Instrumentalisierung seiner Gedanken für den damals aufkommenden Kapitalismus noch nicht übersehen. Eine zweite Welle der Aufklärung, die von den blinden Stellen der ersten Aufklärung gelernt hat, und konsequente Maßnahmen zu einer globalen Neuordnung auf der Grundlage einer radikalen sozialökologischen und demokratischen Orientierung sind notwendig, wenn die Menschheit auf einem lebenswerten Niveau überleben möchte.
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Die rasante weltweite Verbreitung des Coronavirus zeigt, dass die Welt ein globales Dorf ist. Die Entwicklungen in einer Region können durch die Globalisierung sehr schnell an jedem Ort wirksam werden und alle Menschen betreffen. Dies gilt für einen Virus, für die Klimakrise und für Krieg und Frieden. Daher gilt mehr denn je das Prinzip der Verantwortung eines jeden Menschen für diese Welt, genauso wie die Notwendigkeit existiert, globalen Problemen auch in globaler Verantwortung zu begegnen.
Ich bedanke mich wieder bei allen Leserforen, Gesprächsgruppen, Seminaren, Mitarbeiter_innen und Freunde_innen sowie den Kollegen_innen bei ‚Scientists for Future‘ (S4F) (1) und im ‚Bundesausschuss Friedensratschlag‘ (2), die mir in den Diskussionen wertvolle Hinweise und Impulse zur Realisierung der dritten Auflage gegeben haben. Ohne diesen lebendigen Austausch wäre der vorliegende Entwurf nicht zustande gekommen.
Mit den besten und (immer noch) hoffnungsvollen Grüßen
Ihr Klaus Moegling
P.S.: Gern erhalte ich weiterhin Ihre Rückmeldungen und Kommentierungen unter (klaus(at)moegling.de)
[1] Vgl. zum Selbstverständnis und zu den Aktionen von ‚Scientists for Future‘: https://de.scientists4future.org/, o.D., 14.12.2022. (Das erste Datum nach dem Link zeigt den Zeitpunkt der Veröffentlichung; das zweite Datum ist das Entnahmedatum, ohne dass dies jeweils durch ‚vom‘ und ‚entnommen‘ gekennzeichnet wird. Bei o.D. ist kein Publikationsdatum angegeben.)
[2] Vgl. zum Selbstverständnis und zu den Aktivitäten des Bundesausschusses Friedensratschlag: http://www.friedensratschlag.de/Wer_wir_sind:Bundesausschuss_Friedensratschlag, o.D. 14.12.2022.
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Vorwort zur zweiten Auflage:
Was uns Mut machen kann
10.3.2019
Die zweite, hier vorliegende Auflage des Buches ‚Neuordnung‘ blieb zwar im inhaltlichen Kern des Anliegens unverändert, wurde jedoch noch einmal an einigen Stellen überarbeitet, um zusätzliche Aspekte erweitert und insbesondere um einige wichtige Entwicklungen aktualisiert. Auch wurde weitere inzwischen neu publizierte Literatur einbezogen.
Diese neue Auflage ist des Weiteren Ausdruck und Ergebnis der im vergangenen Jahr über mein Buch stattgefundenen Diskussionen in Seminaren, auf Tagungen, in verschiedenen Gesprächszirkeln und von Leseranregungen, die mir direkt mitgeteilt wurden. Vielen Dank hierfür!
Es liegt Ihnen nun, liebe Leserin, lieber Leser, ein menschenwissenschaftlich orientiertes Buch mit einem gesellschaftspolitischen Schwerpunkt vor, das für wesentliche Problemstellungen unserer Zeit und der zu erwartenden Zukunft kritische Analysen und Lösungsmöglichkeiten anzubieten versucht.
Wir befinden uns in einer globalen Transformationsphase mit einer deutlichen Beschleunigungsdynamik. Die Welt gerät zunehmend in Unordnung. Viele Menschen fühlen sich der Globalisierungsdynamik hilflos ausgeliefert, manche suchen nach einfachen Lösungen, z.B. in fundamentalistisch ausgerichteten Religionen oder bei rechtspopulistischen Gruppierungen.
Was aber Hoffnung machen kann, sind die gegenwärtigen Jugendproteste, die sich weltweit beobachten lassen. Viele Jugendliche haben erkannt, dass die derzeit herrschende Generation der Erwachsenen ihre Chancen für eine lebenswerte Zukunft vernichtet. Sie beginnen sich zur Wehr zu setzen. Ihnen schließen sich erwachsene Persönlichkeiten an, die ähnlich gestimmt sind und welche die herannahenden Katastrophen ebenfalls sehen können. Es wird hierbei deutlich: Eine neue Radikalität im zivilgesellschaftlichen demokratischen Engagement ist notwendig. Ansonsten sind die drohenden Entwicklungen offensichtlich nicht mehr zu verhindern.
Jeder, der sich einer der zunehmenden Protestbewegungen anschließt, sollte sich zumindest vier Fragen stellen:
- Wie möchte ich in Zukunft leben?
- Was verhindert, dass ich in dieser Weise leben kann?
- Wie soll eine Neuordnung der Welt in den wesentlichen Aspekten aussehen, in der diese Qualität des Lebens möglich wird?
- Was muss ich – auch gemeinsam mit anderen – auf allen gesellschaftlichen Ebenen, aber auch für mich persönlich, verändern, so dass diese Neuordnung und dieses Leben in der Zukunft wahrscheinlicher werden?
Das vorliegende Buch versucht für das eigene Suchen nach Antworten hierauf Anregungen zu bieten.
Ein Umsteuern und eine Neuordnung sind (noch) möglich. Aber die Zeit drängt. Der aktuelle Weltklimabericht des IPCC [1] fordert ein entschiedenes Umsteuern bis 2030. Maßnahmen gegen den Welthunger oder zur Kriegsprävention lassen überhaupt keinen zeitlichen Spielraum mehr. Und: Wie lange können wir uns eine fehlende Demokratisierung auf der Ebene der UN noch leisten?
Gern trete ich auch dieses Mal wieder in ein Gespräch mit Ihnen ein. Für Ihre Rückmeldungen zum vorliegenden Buch bin ich Ihnen sehr dankbar.
Mit herzlichen Grüßen
Ihr
Klaus Moegling
[1] Aktualisiert: https://report.ipcc.ch/ar6syr/pdf/IPCC_AR6_SYR_SPM.pdf, 20.3.2023, 20.3.2023.
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Vorwort zur ersten Auflage:
Ordnung - Unordnung - Neuordnung
5.6.2018
Bevor die zentralen Fragestellungen des Buches entwickelt werden, sollen vorab einige allgemeine Ausführungen zur Bedeutung von Ordnungen vorgenommen werden.
Zur Ambivalenz von Ordnungen
Ordnungen sind ambivalent. Sie können sowohl konstruktiv als auch destruktiv sein. Ordnungen und ihre darin eingefalteten Regeln strukturieren und entlasten zunächst Entscheidungen in konstruktiver Weise. Sie erleichtern damit das Zusammenleben, indem sie helfen, die Komplexität und die damit verbundene Unübersichtlichkeit des Lebens leichter zu bewältigen. Ordnungen im menschlichen Zusammenleben sind daher mehr als ein Ausdruck lästiger Sekundärtugenden, sondern geben Sicherheit, verschaffen Überblick und bieten Orientierungen sowie Identifikationen. Psychische Ordnungen stehen in einer Verbindung zu sozialen Ordnungen. Die emotionale Identifikation mit einer sozialen Ordnung stellt ein hohes Energiepotenzial bereit, sich für die Verteidigung dieser Ordnung einzusetzen.
Menschliche Ordnungen sind Ausdruck von sozialen Auseinandersetzungen und Kämpfen. Der Ausgang dieser sozialen Konflikte verfestigt sich in gesellschaftlichen Ordnungen, in denen sich Macht- und Herrschaftsverhältnisse abbilden.
Allerdings müssen soziale Ordnungen elastisch sein, wenn sie länger Bestand haben wollen, d.h. aus sich heraus ein gewisses Maß an Innovationsbereitschaft enthalten, um sich neuen Anforderungen anpassen zu können. Funktionsfähige Ordnungen bzw. Systeme haben daher die Fähigkeit, sich im Falle von eintretenden dysfunktionalen (Un-)Ordnungen zu erneuern (Homöostase). Dies bedeutet, dass ein System Maßnahmen trifft, um wieder in eine Balance zu geraten und eine funktionsfähige Ordnung herzustellen. [1]
Soziale Ordnungen andererseits, die sich aufgrund von rigiden gesellschaftlichen Beharrungskräften nicht schnell genug erneuern, werden durch andere soziale Ordnungen abgelöst. Dies widerfuhr einem erstarrten Feudalsystem mit seiner Lehensherrschaft, mit einer Stände- und Zunftordnung und deren einengenden Regulierungen zur Einschränkung von Produktion, Preisbildung, Technikentwicklung und Handel. Dies mussten auch die sogenannten realsozialistischen Systeme erfahren, die durch ihre rigiden Planungssysteme, verbunden mit massiver Einschränkung der Individualität und Repression gegenüber dem Einzelnen, nicht mehr in der Lage waren, die Systemkonkurrenz mit den verschiedenen Varianten des Kapitalismus auszuhalten. Die sie konstituierenden Ordnungen wurden beseitigt und durch neue ersetzt.
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Von der Notwendigkeit einer Neuordnung
Eine Neuordnung der Welt in ihren unterschiedlichen Dimensionen wird umso dringender, wenn die alte (Un)ordnung mehr und mehr zur Destruktion der humanen Lebensbedingungen auf dem Planeten Erde führt: Massive Versorgungskrisen, Massenfluchten und brutale Verteilungskämpfe um das Verbliebene, ökologische Katastrophen sowie verheerende militärische Auseinandersetzungen könnten für Jahrhunderte eventuell sogar für Jahrtausende die Erde in weiten Teilen unbewohnbar werden lassen.
Für ein solches Vernichtungsszenario kann es dann nur eine Alternative geben, die in der radikalen und rechtzeitigen Neuordnung der Welt zu sehen ist.
Häufig sind bereits Visionen einer Neuordnung der Welt entworfen worden. Insbesondere nach den Weltkriegskatastrophen des 20. Jahrhunderts sowie nach dem Zusammenbruch der Ost-West-Konfrontation kam es zu Entwürfen für die Neuordnung der Welt (‚New World Order‘). Dennoch reichten diese Vorstellungen in der Regel nicht von der mikrosystemischen Perspektive bis hin zur makrosystemischen Blickrichtung, schon gar nicht wurde die Interaktion dieser systemischen Perspektiven für eine Neuordnung in den Blick genommen.
Neuordnung aus einer holistischen Perspektive
Die Neuordnung des globalen und internationalen Systems – so wird im vorliegenden Buch betont – hat aber soziale und psychische Voraussetzungen. Politische, ökonomische, ökologische, zwischenmenschliche und psychische Ordnungen sind in einem holistischen Sinne in einer Verbindung zu denken und zu begreifen.
Hierbei muss genau geklärt werden, was unter Holismus bzw. Ganzheitlichkeit zu verstehen ist, um Missverständnissen zu begegnen:
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Ordnung, Unordnung und Neuordnung aus einer
ganzheitlichen bzw. holistischen Sicht
Das hier vorliegende Ganzheitlichkeitsverständnis grenzt sich von diffusen und mystischen Holismus-Überzeugungen kritisch ab und weiß auch um den Missbrauch des Ganzheitlichkeitsanliegens in faschistischen politischen Ordnungen, wie z.B. im deutschen Nationalsozialismus. Dennoch soll dieser Begriff hier aufgrund seines enormen erkenntnistheoretischen Werts verwendet werden. Die Voraussetzung hierfür ist eine genaue Definition: Ganzheitlichkeit im hier verstandenen Sinne meint die Berücksichtigung der verschiedenen Ebenen bzw. Dimensionen menschlicher Existenz und führt zu einer Beschreibung, Beurteilung und Entwicklung von Szenarien und Visionen im Verständnis der Zusammenhänge dieser Ebenen und der darauf einwirkenden Faktoren und Rückkoppelungen. Disziplinäre, inter- und transdisziplinäre Herangehensweisen in der Wahrnehmung menschlicher, gesellschaftlicher und planetarer Entwicklungen thematisieren hierbei die verschiedenen Dimensionen wie die psychische, die soziale, die ökologische, die ökonomische und die politisch-strukturelle Ebene. Dies bezieht sich zunächst auf die kognitive Perspektive einer holistischen Wahrnehmung, wenn es darum geht, die Zusammenhänge mit dem Verstand zu begreifen. Das Denken der Menschen ist hierüber hinaus in einen Zusammenhang mit ihrem leiblichen So-Sein und ihren sinnlich-emotionalen Wahrnehmungs- und Erfahrungsmöglichkeiten zu verstehen, die in eine Verbindung zur gedanklichen Reflexionsfähigkeit im Sinne von Mündigkeit, Kritikfähigkeit und Verantwortlichkeit zu treten haben. [2] Oder noch einmal anders ausgedrückt: Etwas zu wissen ist etwas anderes als etwas zu fühlen. Doch beides beeinflusst einander und führt zum Verstehen. Körper, Emotion und Intellekt scheinen getrennte Ebenen zu sein und doch sind sie miteinander in einem intensiven Kontakt. Der persönliche Reifungsprozess im Sinne einer bewussten Integration von Verstand und Gefühl darf nicht vernachlässigt werden, wenn ein gesellschaftlicher Reifungsprozess angestrebt wird. Ganzheitlichkeit im Denken und Wahrnehmen kann die Beziehung der Teile zum Ganzen sowie die Beziehung der Teile untereinander vor dem Hintergrund des Ganzen thematisieren. Hierdurch tritt die Interdependenz alles Lebendigen hervor, werden Zusammenhänge zwischen lokalen und globalen Ereignissen und Strukturen, zwischen sozialem Miteinander im Lebensweltlichen und politischem Zusammenwirken auf allen Ebenen sowie die Verbindung von Gesellschaftlichkeit und Ökologie deutlich.
Isolierte und auf nur eine Dimension bezogene Wahrnehmungsleistungen und Strategien werden nicht die Erkenntnisleistung hervorbringen und nicht die Wirkung haben, die zu einer radikalen Neuordnung führen kann.
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In diesem Sinne weist der langjährige Leiter des Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie, Uwe Schneidewind, darauf hin, dass „nur systemische Herangehensweisen, die auch einen breiten inter- und transdisziplinären Brückenschlag nicht scheuen, Orientierung in einer komplexer werdenden Wirklichkeit bieten. Dies gilt umso mehr in einer Zeit, in der im Wissenschaftssystem angesichts zunehmender Spezialisierung der Mut zu solchen Entwürfen eher ab- als zunimmt.“ (Schneidewind 2018, 11)
Rein fachliche Betrachtungsweisen können komplexere Zusammenhänge nicht erfassen. Disziplinarität, Inter- und Transdisziplinarität müssen sich sinnvoll ergänzen. Auch ein Auslassen leiblich-sinnlicher Erfahrungsmöglichkeiten, kann zu einem einseitigen und notwendige Wahrnehmungen verdrängenden Denken führen. Die Abspaltung des Emotionalen führt zu einer Verarmung der menschlichen Persönlichkeit, zu einer reduzierten Wahrnehmungsfähigkeit und zu einer destruktiven Rückkehr des Abgespaltenen. Die Ausklammerung einer kritischen Reflexionsperspektive wiederum kann zu mystischer Verklärung und ideologischer Verschleierung menschenunwürdiger Zustände führen.
Nur wenn eine neue Ordnung, eine systemische Neuordnung von der überwiegenden Mehrheit der auf dem Planeten Erde lebenden Menschen gewollt wird, wird sie eine Chance haben. Hierüber sollte man sich keinen Illusionen hingeben. Eine grundlegende Umsteuerung ist nur mit den Menschen und nicht gegen die Menschen zu erreichen.
Die Voraussetzungen hierfür werden hoffentlich nicht erst dann eintreten, wenn Generationen massives Leid erfahren haben und keinen anderen Ausweg mehr als in der radikalen Umsteuerung sehen. Dass eine derartige Transformation grundsätzlich möglich ist, darüber ist sich der Autor mit den Verfassern der 2017 erschienenen Studie des Club of Rome, Ernst Ulrich von Weizsäcker, Anders Wijkmann u.a., einig. Hierzu sind tatsächlich eine „neue Erzählung“, eine „neue Aufklärung“, aber auch ein emotionales Betroffensein sowie ein entschiedenes Umsteuern in den maßgeblichen Verhaltensweisen der Menschheit im lebensweltlichen, regionalen und globalen Kontext notwendig. [3]
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Zugrunde liegende Fragestellungen
Die zentralen Fragestellungen des vorliegenden Buches markieren in diesem Sinne das Erkenntnisinteresse, um das es gehen soll:
In welcher Hinsicht lässt sich von einer krisenhaften Entwicklung der Menschheit sprechen? Welche negativen Szenarien einer Zuspitzung der Krise sind vorstellbar und wahrscheinlich? Wird sich die Menschheit doch noch rechtzeitig als lernfähig erweisen können? Inwieweit muss eine grundlegende Veränderung des ökonomischen Systems erfolgen? Wie muss sich der Mensch psychisch, sozial und in seinem Verhalten für einen Neustart verändern? Welche Rolle können hier Bildung, Therapie, Meditation, alternative Lebensentwürfe und solidarische Ökonomien spielen? Wie ist das Verhältnis von Nationalstaaten, Regionen und transnationalen Systemen zukünftig zu gestalten? Kann eine demokratische Neuordnung der Vereinten Nationen orientiert an einer positiven Vision globaler Entwicklung gelingen? In welcher Weise muss das Verhältnis des Menschen zur Natur neu bestimmt werden? Wie kann eine regionale und internationale Neuordnung aussehen, bei der wirkungsvolle und verantwortliche klimapolitische Eingriffe zu einer Umkehr der Klimaentwicklung führen? Wie kann die Kooperation von privatwirtschaftlich organisierter Rüstungsindustrie, Politik und Militär wirkungsvoll aufgebrochen werden? Wie sind die Eigentumsfrage und die zukünftige Vermögensverteilung zu regeln? Welche Personengruppen, sozialen Bewegungen und Organisationen werden eine radikale Neuordnung durchzusetzen haben?
Und vor allem: Wie werden die ersten transformativen Schritte auf einem langen Weg zu einer Neuordnung aussehen, die den Menschen und seine psychischen, sozialen, ökologischen, ökonomischen und gesellschaftspolitischen Ordnungen im lokalen, regionalen und globalen Kontext umfasst?[ 4]
Der holistische Ansatz führt zu einer Analyse und zu einer Vision gesellschaftlich-humaner Entwicklung, die teilweise zunächst erstaunen und den Leser und die Leserin an eigene Grenzen gehen lässt. Lässt man sich aber darauf ein und lässt man die diejenigen Vorbehalte fallen, die oftmals aus einer Mischung von Vorurteilen und Ängsten bestehen, können eine Aufmerksamkeit und ein Ahnen für die zukünftigen Veränderungen in umfassender Hinsicht entstehen, um die es in diesem Buch gehen soll: Die Neuordnung des Lebens auf unserem Planeten.
Klaus Moegling
[1] Vgl. ausführlicher zu den Grundannahmen systemischen Denkens bei Capra (1985, 293 ff.); Auf einen Bezug zur Systemtheorie von Luhmann (z.B. 1984) wurde aufgrund des eher sozialtechnologischen Ansatzes, des übertriebenen Formalisierungsgrades sowie der Nicht-Berücksichtigung des Subjekts in Luhmanns Systemtheorie verzichtet.
[2] Vgl. noch ausführlicher zum Verständnis von Ganzheitlichkeit bei Moegling (2017, 80ff.).
[3] Vgl. Weizsäcker, v./Wijkman u.a. (2017, 197).
[4] Dieses Vorwort zur ersten Auflage wurde an einigen Stellen gekürzt bzw. modifiziert und mit Zwischenüberschriften versehen.
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Extra:
Entwicklung einer
friedenspolitischen
Handlungsperspektive
angesichts des Kriegs in der
Ukraine:
https://www.klaus-moegling.de/peace-appeal/
Dies ist eine eigens für den Friedensappell zum Krieg in der Ukraine, der auf Change.org veröffentlicht wurde, eingerichtete Webseite. Hier wird auch der Weg der Unterzeichnung des Appells für den Frieden beschrieben.
Des Weiteren finden sich dort Artikel, Statements von Politikern_innen, die namentliche Unterzeichner_innen-Liste und natürlich die Texte der Friedensappelle mit den Erstunterzeichner_innen-Listen.
Ein diesem Appell nachfolgender Friedensappell kann noch unterzeichnet werden:
https://www.change.org/p/gegen-die-atomare-bedrohung
1 Analyse gegenwärtiger
globaler Krisen –
Ordnungen lösen sich auf
Bevor eine positive Vision gesellschaftlicher Entwicklung entworfen werden kann, ist es erforderlich, die Notwendigkeit für eine solche Entwicklung überzeugend zu begründen. Dies soll hier im Rahmen des Kapitels 1 in einem ersten Schritt über die kritische Analyse gegenwärtiger gesellschaftlicher Verhältnisse gelingen. In einem nächsten Kapitel soll hierüber hinaus die Dringlichkeit einer systemischen Veränderung im globalen Kontext durch die Entwicklung von möglichen Negativszenarien deutlich werden (Kapitel 2): Was wird passieren, wenn die gegenwärtige Entwicklung nicht entscheidend gestoppt werden kann? Hier geht es also um negative Entwicklungen, die man nicht mit Sicherheit voraussagen kann, deren Eintreten aber unter bestimmten Voraussetzungen möglich ist.
Wenn es in den Bereich der menschlichen Vorstellungskraft gerät, wie verheerend und zerstörerisch ein derartiges Szenario auf die Möglichkeit menschlichen Lebens sein kann, wird hieraus erst die Kraft erwachsen können, die notwendig ist, um dies zu verhindern. Erst dann ist es möglich, mit der notwendigen Entschiedenheit, eine positive Vision planetarer Entwicklung zu entwerfen, die grundlegend und radikal ist, also an der Wurzel ansetzt. Ein Ansetzen an der Wurzel gesellschaftlicher Problemlagen muss sich auch der Systemfrage stellen. Davon können Eigentums- und Vermögensverhältnisse nicht unberührt bleiben.
Auch meint Radikalität nicht das Einschmeißen von Fensterscheiben, das Inbrandsetzen von Autos oder gar Gewalt gegen einzelne Personen oder Menschengruppen. Der Einsatz von Gewalt ist nicht radikal, sondern extremistisch und widerspricht der hier vorliegenden Vision einer gesellschaftlichen Neuordnung.
So radikal, also an den systemischen Grundlagen ansetzend, eine Vision einer gesellschaftlichen Neuordnung aufgrund der existierenden und drohenden Gefährdungslage auch ist und sein muss, werden dennoch in einem darauf folgenden Schritt erste, an der gegenwärtigen gesellschaftlichen Wirklichkeit ansetzende und zeitlich differenzierte Reformschritte skizziert, die auf den Weg zur Einlösung dieser auf die Zukunft gerichteten Vorstellung gesellschaftlicher Entwicklung führen können (Kapitel 6).
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So gesehen bleibt die Analyse nicht im Negativen stecken sondern gibt den Blick für eine mögliche positive Entwicklung frei, wenn die hierzu erforderlichen Maßnahmen mit der notwendigen Entschiedenheit und systemischen Stimmigkeit getroffen werden.
Hierbei ist der Mut zur Vision und zur Utopie gefragt, so wie es bereits der Sozialphilosoph Ernst Bloch 1918 zum Ende des 1. Weltkriegs formulierte:
"Wir haben Sehnsucht und kurzes Wissen, aber wenig Tat und was deren Fehlen mit erklärt, keine Weite, keine Aussicht, keine Enden, keine innere Schwelle, geahnt überschritten, keinen utopisch prinzipiellen Begriff. Diesen zu finden, das Rechte zu finden, um dessentwillen es sich ziemt, zu leben, organisiert zu sein, Zeit zu haben, dazu gehen wir, hauen wir die phantastisch konstitutiven Wege (...) und suchen dort das Wahre, Wirkliche wo das Tatsächliche verschwindet - incipit vita nova." (Bloch 1918/2018, 11)
Doch vor der Vision ist die Arbeit der kritischen Analyse zu leisten, um den 'konstitutiven Weg' nicht ins Ungewisse zu nehmen.
1.1 Ökonomische Krisen
1.1.1 Globale Strukturen der Gier
Ökonomische Krisen in einem kapitalistisch geprägten globalen System, in dessen hochentwickelter neoliberaler Spätphase wir uns offensichtlich befinden, müssen zunächst auf der sozioökonomischen Ebene analysiert werden. In einem nächsten Schritt sind aber auch die psychischen und sozialen Dispositionen zu beschreiben, die mit den privatwirtschaftlichen Produktionsweisen, der privaten Abschöpfung des erwirtschafteten Mehrwerts, dem Finanzkapitalismus sowie den entsprechenden Strukturen verbunden sind.
Marx/Engels haben bereits weitsichtig in der Mitte des 19. Jahrhunderts analysiert, wie sich der Prozess der Globalisierung im Kapitalismus vollzieht:
„Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen. Die Bourgeoisie hat durch die Exploition des Weltmarkts Produktion und Konsumtion kosmopolitisch gestaltet.“ [1]
Marx/Engels sehen die Tatsache, dass Investoren ständig auf der Suche nach neuen Investitionsmöglichkeiten und Produzenten auf der Suche nach neuen Absatzmärkten sind, als ökonomische Zwangshandlungen an, die Ausdruck von Kapitalverwertungskrisen sind, wenn sich die technischen Möglichkeiten der Produktion – und entsprechend weitergedacht – die kommunikativen Möglichkeiten der Investitionstätigkeit beständig weiterentwickeln.
Der Kolonialismus des globalen Nordens in den Regionen des globalen Südens diente – neben geostrategischen Überlegungen der Machtausdehnung – vor allem der ökonomischen Ausbeutung der menschlichen und natürlichen Ressourcen der militärisch eroberten Weltregionen. Eroberungskriege, Menschenhandel, Sklavenarbeit, Ethnozid, Umweltzerstörung, Plünderung, Zerschlagung funktionierender Infrastrukturen und Raubbau an den natürlichen Ressourcen sowie die Errichtung einer imperialen Weltwirtschaftsordnung sind Kennzeichen der kolonialen Phase weltweiter Entwicklung. Der Reichtum des globalen Nordens fußt auf der brutalen Ausbeutung des globalen Südens. Reichtum und Armut stehen hier in einem destruktiven funktionalen Zusammenhang.
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Der uruguayische Autor Eduardo Galeano beschreibt in seinem weltberühmten Buch "Die offenen Adern Lateinamerikas", wie die europäischen Kolonisatoren es schafften, einen ganzen Kontinent ausbluten zu lassen - mit Folgen, die bis heute noch massiv spürbar sind - so die dependenztheoretisch gehaltene Analyse von Galeano (1970, 14):
"Das ist Lateinamerika, die Region der offenen Adern. Von seiner Entdeckung bis in die heutige Zeit wurde alles stets in europäisches oder später in nordamerikanisches Kaptal verwandelt, und als solches wird es in den fernen Zentren der Macht angehäuft. Alles: das Land, seine Früchte und seine Bodenschätze, die Menschen und ihre Arbeits- und Konsumkraft, die natürlichen und menschlichen Ressourcen. Produktionsform und Klassenstruktur jedes Ortes wurden durch seine Eingliederung in die universelle Maschinerie des Kapitalismus nach und nach von außen bestimmt. Jedem wurde eine Funktion zugewiesen, immer im Hinblick auf die Entwicklung der jeweiligen ausländischen Metropole, und es bildete sich eine endlose Kette sukzessiver Abhängigkeiten (...)"
Postkoloniale Studien befassen sich nun u.a. mit der Verlängerung und auch der Modifizierung dieser Strukturen nach der eigentlichen Zeit des Kolonialismus im Zuge der Dekolonialisierung nach dem zweiten Weltkrieg. Hier wird thematisiert, dass die aus der Kolonialisierung resultierenden globalen Ungerechtigkeiten und auch das Denken und Fühlen in den Gesellschaften des globalen Nordens bis in die heutige Zeit weiter existieren.
Ina Kerner, Professorin für die Dynamiken der Globalisierung und für postkoloniale Studien, beschreibt die hieraus resultierenden Aufgaben:
Sie bestehen zunächst einmal darin,
„die landläufige, tendenziell positive oder zumindest verharmlosende Sicht auf den europäischen Kolonialismus zu verändern und ein kritisches Bewusstsein für seine Spätfolgen zu schaffen. Ferner geht es darum, nicht-koloniale Denkmuster, Verhaltensweisen, Repräsentationen und Institutionen zu entwickeln und zu stärken. (…) Zum einen durch genaue empirische Analysen und theoretische Reflexionen, die Aufschluss darüber geben, wie weit die kolonialen Ursachen und Pfadabhängigkeiten tatsächlich reichen – etwa bezogen auf Probleme wie Armut, starke soziale Ungleichheit, Autoritarismus oder mangelnde Rechtsstaatlichkeit in ehemaligen Kolonien. (…) Dass eine Kritik des eigenen Kontextes immer etwas Selbstreferenzielles hat, ist klar. Postkoloniale Theorien problematisieren vor diesem Hintergrund die unreflektierten Aspekte und die Machteffekte des Eurozentrismus. Denn dieser hat seit jeher dazu gedient, globale Macht- und Herrschaftsansprüche zu legitimieren.“ (Kerner 2020)
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Waren es zur Kolonialzeit vor allem Konzerne wie die British East India Company, die Dutch East India Company oder die US-amerikanische United Fruit Company, die koloniale bzw. neokoloniale Herrschaftsverhältnisse in Asien und in Südamerika brutal ausnutzten, so muss in postkolonialen Zeiten die Rolle der multinationalen Konzerne moderner Prägung genauer betrachtet werden.
Der Träger des Nobelpreises für Ökonomie, Josef E. Stiglitz, ist nicht weit entfernt von Marx/Engels‘ Analyse, wenn er die Übernahme der Marktmacht in den wichtigen ökonomischen Sektoren durch wenige Konzerne kritisiert. Diese Konzentration sei verbunden mit dem Ausschalten eines freien Wechselspiels von Angebot und Nachfrage zugunsten ungebremster Marktermächtigung und Bereicherung einiger weniger Privatpersonen zulasten der Bevölkerungsmehrheit:
„Diese Megakonzerne nutzen ihre Marktmacht, um sich auf Kosten aller anderen zu bereichern. Durch die Festsetzung höherer Preise haben sie den Lebensstandard der Verbraucher effektiv gesenkt. Neue Technologien ermöglichen diesen Unternehmen Massendiskriminierung – die sie auch praktizieren –, da die Preise nicht auf dem Markt festgesetzt werden (als Einheitspreis, der Angebot und Nachfrage abbildet), sondern durch die algorithmische Bestimmung dessen, welchen Höchstpreis ein Kunde zu zahlen bereit ist. (…)
Wo die finanzielle Deregulierung am weitesten fortgeschritten war, kam es auch am häufigsten zu Missbrauch auf dem Finanzsektor wie etwa Marktmanipulation, räuberischer Kreditvergabe und übermäßiger Kreditkartengebühren.“ [2]
Die gegenwärtige Variante des neoliberalisierten Kapitalismus sei die übelste Version kapitalistischer Gesellschaftsformation, da hier der Staat auf die notwendigen Kontrollen und Regulierungen des Kapitals weitgehend verzichte. Der Staat sieht sich vor allem in der Rolle, volkswirtschaftliches Wachstum und private Aneignung zu ermöglichen, ohne hier zu erkennen, dass Wirtschaftswachstum eine sehr problematische Größe sein kann.
Im Unterschied zu Marx/Engels sieht Stiglitz (2019) aber die Chance nicht in einer systemischen Überwindung des Kapitalismus, sondern in einem „progressiven Kapitalismus“, der eine echte Marktfunktion wiederherstelle und der das Kapital wieder gesellschaftlich einbette und sozialökologisch von staatlicher Seite reguliere.
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Das Vordringen in innere Räume
Der Kapitalismus weitete sich im Rahmen seines historischen Siegeszuges weltweit aus. Er drang nicht nur von Europa ausgehend in alle geografischen Gebiete der Erde vor, sondern er dringt auch in die inneren Räume des menschlichen Zusammenlebens ein – so Elmar Altvater (2006, 22):
„Die Mikro- und Nanostrukturen des Lebens werden in Wert gesetzt und dabei so manipuliert, dass die Verwandlung in Ware und ihre Verwertung in Geldform herauskommen. Private Rückzugsräume sind vor Sachzwängen von Geld und Kapital nicht sicher. Formen des sozialen Zusammenlebens werden mehr und mehr vertragsförmig gestaltet und dadurch der Logik von monetärer Marktäquivalenz unterworfen. Kapitalistische Inwertsetzung ist ein allumfassendes und dennoch im Binnenraum des Planeten begrenztes und begrenzendes Prinzip, dessen Regeln zu befolgen sind, als ob es sich um Gebote Gottes handele.“
Hiernach sind die Menschen auch psychisch durchdrungen von Verwertungsinteressen, Konsumangeboten, medialer Beeinflussung und den darin enthaltenen Logiken des Kapitalismus. Insbesondere die Zwangsläufigkeit einer Verbindung von Wohlstand, Privateigentum und Wirtschaftswachstum scheint ein unhinterfragbares Paradigma. Aus dieser systemischen Hegemonie des Denkens und Fühlens scheint es kein Entkommen zu geben.
Diese kritische Analyse besitzt sicherlich eine sozioökonomische Plausibilität und ist in der Analyse weltweiter Kapitalkonzentration, einer ungerechten Vermögensverteilung, der globalen Investitionstätigkeit, des Raubbaus an den Bodenschätzen und der ökologischen Verwüstung, der destruktiven Rüstungsinvestitionen sowie der immer wiederkehrenden, durch Spekulation angeheizten Wirtschafts- und Finanzkrisen zu berücksichtigen. [3]
Dennoch soll der Mensch – trotz vorhandener Strukturen – nicht nur als ein Objekt ökonomischer Entwicklungen betrachtet werden. Jede und jeder Einzelne entscheidet selbst, auf welcher Seite des globalen Geschehens sie bzw. er stehen möchte: Wertschöpfung muss auch in den Zeiten eines technisch-digitalen Entwicklungsstadiums des Kapitalismus nicht zwangsläufig destruktiv sein. Ökonomische Investitionen können durchaus an einem an Nachhaltigkeit orientierten Wertschöpfungsprozess orientiert sein. Niemand zwingt Rüstungskonzerne, auf Investitionen in Rüstungskonversion im Sinne einer Produktion von Friedensgütern zu verzichten. Niemand zwingt die Energieversorger, eine Umsteuerung auf eine solare Energieversorgungszukunft nicht rechtzeitig vorzunehmen. Niemand zwingt Politiker und Politikerinnen, sich nationalchauvinistisch zu verhalten oder Bestechungsgelder aus der Wirtschaft anzunehmen. Niemand zwingt Banken, sich an der Risikospekulation auf den Finanzmärkten zu beteiligen, anstatt sich mit der Rendite aus Krediten an Hausbauer und an die mittelständische Wirtschaft zu begnügen.
Es kann durchaus zumindest in ernstzunehmenden Ansätzen ein richtiges Leben auch unter den falschen gesellschaftlichen Voraussetzungen geben: Gier müsste weder ein zentrales Politik- noch ein prioritäres Wirtschaftsprinzip sein. Hierhinter stehen Entscheidungen des Einzelnen sich den vorhandenen Strukturen mit der ganzen Persönlichkeit auszuliefern und sich dem Paradigma egozentrisch gesteuerter Gier zu unterwerfen.
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Soziale und menschenrechtliche Folgen eines neoliberalisierten Kapitalismus
Anders sieht es für die Leidtragenden des neoliberalisierten Kapitalismus und der damit verbundenen Wirtschaftspolitik aus. Waren nach dem zweiten Weltkrieg noch Wohlstandsgewinne für größere Bevölkerungsteile und die Vergrößerung der Mittelschichten vor allem in den industrialisierten Staaten zu beobachten, sorgte die Neoliberalisierung für eine Umkehrung dieses Prozesses. Billiglohnsektoren weiteten sich auch in den westlichen Staaten aus, Lohndumping und Leiharbeit sowie Scheinselbstständigkeit sorgten dort für einen Abstieg aus der Mittelschicht und für entsprechende soziale Ängste bei den vom Abstieg Bedrohten. In den auch während der postkolonialen Zeit in Abhängigkeit gebliebenen Weltregionen gestalteten sich diese Entwicklungstendenzen noch viel dramatischer. Diese Länder dienen im Rahmen des durch Weltbank und IWF definierten ökonomischen Rahmens als Schuldner und Zinsenzahler, als Rohstofflieferanten und Anbauflächen von Monokulturen – so die Lateinamerika Expertin Sabine Kurtenbach (2019) am Beispiel Kolumbiens:
„Kolumbien könnte die Kornkammer Südamerikas werden mit ganz unterschiedlichen landwirtschaftlichen Produkten, weil es weltweit eines der Länder mit der höchsten Biodiversität ist. Stattdessen wird für den Export fast nur Palmöl angebaut.“ [4]
Das internationale Kapital sei insbesondere an einer Stabilisierung seiner Investitionstätigkeit und der damit verbundenen Profite durch autoritäre Regierungen in den postkolonialen Weltregionen interessiert. Demokratisch gewählte Regierungen jedoch, die an einer Nationalisierung der Bodenschätze, einer Auflösung der internationalen Arbeitsteilung im Interesse der reichen Nationen und der aus ihnen stammenden Großkonzerne interessiert seien, werden mit allen Mitteln, mit Geheimdiensten, Sanktionen, mit Medien-Propaganda und letztlich mit militärischen Mitteln bekämpft. Das Beispiel Chiles ist das bekannteste Beispiel, wie eine demokratisch gewählte Regierung mit der nachweislichen Unterstützung des CIA über einen Militärputsch gestürzt und 1973 ein neoliberales Regime unter einer rechts gerichteten Militärdiktatur installiert wurde. [5] Die verheerenden sozialen Auswirkungen des neoliberalen Modells in Chile sind immer wieder die Ursache für Massenproteste verbunden mit brutalen Einsätzen des chilenischen Militärs. In der Hauptstadt Santiago und weiteren Städten gab es z.B. im Jahr 2019 Demonstrationen mit über eine Million Menschen, die gegen die totale Privatisierung des Landes, die niedrigen Einkommen und Renten, die undemokratische Verfassung, die hohen Wasserpreise und Studiengebühren protestierten.
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Ein Referendum für eine neue, gerechtere chilenische Verfassung scheiterte 2022 an der einseitigen Medienpropaganda und dem hierdurch erzeugten Votum gegen den Verfassungsentwurf.
Eine andere Variante der autoritären Investitionssicherung liegt in der direkten Einflussnahme von multinationalen Unternehmen auf an der Macht befindliche Regierungen in postkolonialen Ländern, wie z.B. in Nigeria, um Bewegungen gegen die Korruption und die Ausbeutung durch Konzerne in diesen Ländern unschädlich zu machen. Das Beispiel des Trägers des Alternativen Nobelpreise (‚Right Livelihood Award‘) Ken Saro-Wiwa und acht seiner Mitstreiter zeigt, wie das Interesse des Ölkonzerns Shell von der nigerianischen Militärregierung durchgesetzt wurde. Der Kritiker des Raubbaus an der Natur, der Unterdrückung des Ogoni-Volkes und der Enteignung der nationalen Bodenschätze, hier des Öls durch Shell, wurde in einem aus der Sicht internationaler Beobachter rechtswidrigen Prozess mit seinen Gefährten zum Tod durch Erhängen verurteilt. Ken Saro-Wiwa und seine Mitstreiter wurden 1995 trotz weltweiter Proteste von den Henkern der Militärregierung hingerichtet. Shell bestritt die Einmischung, bezahlte aber den Familien der Getöteten 14 Jahre später dennoch 15,5 Millionen Dollar Entschädigung. [6]
Die Folgen einer solchen repressiven Politik multinationaler Konzerne und der sie unterstützenden Regierungen sind – in der dependenztheoretischen Formulierung – strukturelle Heterogenität und Marginalisierung. Durch ‚Land Grabbing‘ vertriebene Kleinbauern finden sich unter den elenden Bedingungen der sich beständig ausweitenden städtischen Slums wieder, ohne geregeltes Einkommen und ein Mindestmaß an gesundheitlicher Versorgung sowie sauberem Trinkwasser. Auf der anderen Seite lebt die von der Ausbeutung des Landes profitierende und von den Konzernen korrumpierte Oberschicht sowie die ausländischen Manager mit ihren Familien in ummauerten und bewachten Siedlungsfestungen, die überall und weltweit ähnlich aussehen. Eine derartige strukturelle Heterogenität ist jedoch nicht die Voraussetzung für ein demokratisches System, sondern führt in der Regel zu autoritären Lösungen, um diese Verhältnisse einer sozialen Ausgrenzung der Bevölkerungsmehrheiten aufrecht erhalten zu können.
Der weltwirtschaftliche Mechanismus, der diesen Verhältnissen zugrunde liegt, wird in der Dependenztheorie mit dem Phänomen des ungleichen Tauschs beschrieben. Dies bedeutet, dass der vorhandene Reichtum eines postkolonialen Landes, in Form von Bodenschätzen und Arbeitskraft, billig in die reicheren Regionen der Welt abzugeben ist. Hingegen müssen die Leistungen der industrialisierten Regionen in Form von gefertigten Waren oder technischen Dienstleistungen in den ärmeren Teilen der Welt mit hohen Preisen bezahlt werden. [7]
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Großkonzerne versuchen nun ihre Vertreter direkt in den Schaltstellen der Politik zu positionieren
Allerdings liefern sich auch die multinationalen Konzerne einen Überbietungswettbewerb, bei dem derjenige vom größeren Unternehmen geschluckt wird, der nicht schnell genug wächst. Hedgefonds erkaufen sich zudem die Aktienmehrheit von Konzernen, zerlegen sie und liquidieren ohne Rücksicht auf die Arbeitsplätze und dort beschäftigten Menschen Konzernteile, die keine überdurchschnittliche Rendite erzielen. Es ist offensichtlich, dass Gier das ökonomische Prinzip der Wirtschaftskonzentration und in Verbindung damit das leitende Interesse des Finanzkapitals darstellt. [8] W. I. Lenin bezeichnet die durch das Finanzkapital, also der Verschmelzung von Industrie und Bankkapital, dominierte Epoche als die Phase des Imperialismus, als die am weitesten entwickelte Phase des Kapitalismus:
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Definition des Imperialismus: „1. Konzentration der Produktion und des Kapitals, die eine so hohe Entwicklungsstufe erreicht hat, daß sie Monopole schafft, die im Wirtschaftsleben die entscheidende Rolle spielen; 2. Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital und Entstehung einer Finanzoligarchie auf der Basis dieses ‚Finanzkapitals‘; 3. Der Kapitalexport, zum Unterschied vom Warenexport, gewinnt besonders wichtige Bedeutung; 4. Es bilden sich internationale monopolistische Kapitalistenverbände, die die Welt unter sich teilen, und 5. Die territoriale Aufteilung der Aufteilung der Erde unter die kapitalistischen Großmächte ist beendet.“ [9]
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Ob diese fünf Merkmale ausreichen, um den Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus auszuweisen, sei dahin gestellt. Zweifel sind angebracht, da Lenin natürlich die Auswüchse des digitalisierten Kapitalismus noch nicht kennen konnte [10], die fundamentalen Interessensunterschiede unterschiedlicher Kapitalfraktionen nicht berücksichtigte sowie hier keine ökologischen Aussagen vornimmt.
Auf jeden Fall scheint der Kapitalismus immer wieder neue Formen anzunehmen, die dazu führen, dass immer weniger Unternehmen eine zunehmende Wirtschaftsmacht und Finanzkraft besitzen, das Kapital von Großbanken und Konzernen nicht mehr auseinanderzuhalten ist, neue Wertschöpfungsketten entstehen und hierbei immer weniger Personen immer mehr Kapital anhäufen können. Außerdem lässt sich zunehmend feststellen, dass Großkonzerne es immer weniger nötig haben, nur Lobbyisten zu politischen Mandatsträgern zu senden. Sie positionieren entweder selbst Konzernmitarbeiter oder nahestehende Personen in politische Schaltstellen oder nehmen kurz nach dem Ausscheiden Regierungsvertreter unter Vertrag, so dass sie deren politischen Netzwerke nutzen können. Der ehemalige Geschäftsführer von Greenpeace International, Thilo Bode, spricht hier von einem „politisch-ökonomischen Komplex“, der zunehmend die Demokratie unterlaufe und dafür sorge, dass die unterschiedlichen ökonomischen Interessen der multinationalen Konzerne in Konkurrenz zueinander durchgesetzt werden. [11]
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Gerhard Schröder, Mario Draghi, Joschka Fischer, Friedrich Merz, Christine Lagarde, Richard B. ‚Dick Cheney‘, Emmanuel Macron oder Donald Trump sind nur einige von zahlreichen Persönlichkeiten, die entweder direkt aus internationalen Konzernvorständen hinein in führende politische Ämter positioniert wurden oder kurz nach ihrem Ausscheiden als Regierungsmitglieder in Konzernvorstände eintraten.
Die Frage ist hier nun, ob der Kapitalismus sich sozial reformieren lässt, oder ob die Verbindung aus kollektiver Geldgier, Wirtschaftskonzentration und Finanzspekulation nur durch einen Systemwechsel, also durch eine radikale Neuordnung der Ökonomie und der Politik, aufgebrochen werden kann.
Sicherlich kann man dies nicht nur auf der systemischen Ebene bedenken, sondern muss auch in Verbindung hiermit den Einzelnen in seinem sozialen Kontext in den Blick nehmen. So weisen die Sozialwissenschaftler Ulrich Brand und Markus Wissen (2017) darauf hin, dass die systemische Ausbeutung von Mensch und Natur im Zuge eines neoliberalisierten Kapitalismus eine psychosoziale Entsprechung im Rahmen einer imperialen Lebensweise aufweist. Die imperiale Lebensweise ist nicht nur verankert in Institutionen und strukturell verstetigten Herrschaftsformen, sondern über einen Akt psychologischer und sozialisatorischer Vermittlung auch in den individuellen kognitiv und emotional gesteuerten und sozialen Verhaltensweisen der Menschen vorfindbar.
Zunächst basiere die imperiale Lebensweise erstens auf der Ausbeutung des Billiglohnsektors in den reichen Gesellschaften und zweitens auf der Ausbeutung des globalen Südens durch den globalen Norden. Des Weiteren beuten selbst die marginalisierten Menschen im Billiglohnbereich der reicheren Regionen wiederum die Arbeitskräfte in den ärmeren Regionen aus. Hierbei werde weder Rücksicht auf menschliche Grundbedürfnisse der Ausgebeuteten noch auf die Notwendigkeiten einer nachhaltigen Entwicklung aufgrund des massiven humanen und ökologischen Ressourcenverbrauch genommen.
Die imperiale Lebensweise benötigt grundsätzlich Regionen und Menschen, zu denen die Kosten für Produktion und Konsumtion hin ausgelagert bzw. externalisiert werden können. Für eine sozialökologische Transformation der Gesellschaft ist die imperiale Lebensweise strukturell und auch psychosozial zu überwinden. [12]
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US-amerikanische Kritik am neoliberalen Modell des Kapitalismus
Auch in den USA gibt es Ansätze einer Systemkritik, die von der Verflechtung von Banken- und Konzernkapital sowie deren Verfilzung mit den politisch herrschenden Kräften ausgeht, die letztlich zur heutigen neoliberalen Variante des Kapitalismus führte.
Noam Chomsky, Träger von zehn Ehrendoktorwürden, analysiert den von Großkonzernen und der Finanzwirtschaft initiierten ‚Washington Consensus‘ als Ausdruck neoliberaler Interessendurchsetzung gegen die armen Weltregionen und insbesondere deren verarmten Bevölkerungsschichten. Der Washington Consensus wurde von der Weltbank und dem Internationalen Weltwährungsfonds (IWF) unterstützt und in seiner Durchsetzung gefördert.[13]
Der Washington Consensus von 1989 schrieb u.a. Deregulierung, Privatisierung, Absenkung der Unternehmenssteuern und Handelsliberalisierung als Richtlinien einer vorgeblichen Förderung insbesondere der Staaten des globalen Südens durch die Weltbank und den IWF fest. Hierdurch wurden diesen Staaten in Wirklichkeit die Möglichkeiten von Schutzzöllen und zur Abwehr des internationalen Finanzkapitals genommen, was – wie der Nobelpreisträger für Ökonomie, Joseph Stiglitz (2002), eindrucksvoll analysiert – zur weiteren Verarmung und finanziellen Ausblutung dieser Länder führte.
Aber auch die ehemals reichen Staaten, wie die USA, Großbritannien oder weitere europäische Staaten wurden aufgrund der Neoliberalisierung des Kapitalismus und der Entgrenzung der Märkte, insbesondere der Finanzmärkte, sozial zerklüftet. Dies führte zu einer immer reicher werdenden Oberschicht und einem Absinken ehemaliger Angehöriger der Mittelschichten in die soziale Armut:
In „most advanced countries, the market economy has been failing large swaths of society.
Nowhere is this truer than in the United States. Long regarded as a poster child for the promise of free-market individualism, America today has higher inequality and less upward social mobility than most other developed countries. After rising for a century, average life expectancy in the US is now declining. And for those in the bottom 90% of the income distribution, real (inflation-adjusted) wages have stagnated: the income of a typical male worker today is around where it was 40 years ago.“ [14]
Stiglitz macht deutlich, dass ein 40 Jahres andauerndes neoliberales Experiment kläglich gescheitert sei und fordert einen sozial eingehegten Kapitalismus ein („progressiver Kapitalismus“ [15), bei dem der Staat wieder seine zentrale Rolle und soziale und ökologische Verantwortung erkennen müsse.
Während Stiglitz vor allem im Nachlassen der staatlichen Aktivität im neoliberalisierten Kapitalismus zugunsten von Konzerninteressen das zentrale Problem sieht, machte der US-amerikanische Ökonom Michael Hudson (1939/2003, 1) schon früh auf die enorme Bedeutung der an weltpolitischer Hegemonie interessierten staatlichen Interventionsstrategien aufmerksam. Er fasste seine historisch orientierten finanzpolitischen Studien einleitend wie folgt zusammen:
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„One lesson of U.S. experience is that the national diplomacy, embodied in what now is called the Washington Consensus, is not simply an extension of business drives. It has been shaped by overriding concerns for world power (euphemized as national security) and economic advantage as perceived by American strategists quite apart from the profit motives of private investors.“
Chomsky (2000, 23) sieht die Verbindung von Konzerninteressen und medialer Meinungsmanipulation, wenn er kritisch über den Washington Consensus formuliert:
„Die ‚hauptsächlichen Architekten‘ des neoliberalen ‚Konsenses von Washington‘ sind die Herren und Meister der Privatwirtschaft, in der Hauptsache riesige Konzerne, die weite Bereiche der internationalen Wirtschaft kontrollieren und über Mittel zur Beherrschung der politischen Willensbildung wie zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung verfügen. Aus ersichtlichen Gründen spielen die USA in diesem System eine Sonderrolle.“
Chomsky weist nun im Rahmen seines Buches ebenfalls – vergleichbar mit der Wahrnehmung von Michael Hudson – nach, wie die US-Konzerne zwar die Liberalisierung und Deregulierung weltweit einforderten, allerdings selbst massiv vom US-Staat strategisch mit Subventionen und Handelsbegünstigungen unterstützt wurden. So sind natürlich auch die Bemühungen der Trump-Regierung und auch der ehemaligen Biden-Administration einzuschätzen: Selbst Schutzzölle erheben, aber von den anderen Staaten die Aufhebung von Schutzzöllen zu fordern. Chomsky kritisiert daher, dass der Washington Consensus nicht für die USA, sondern nur als Doktrin für Länder gelte, auf denen der ungehinderte Zugriff der US-Konzerne erleichtert werden solle und die der Gier der Reichen in den USA diene:
„Die gepriesenen Doktrinen dienen in ihrem Entwurf und ihrer Verwendung den Zwecken von Macht und Profit. Die gegenwärtig durchgeführten ‚Experimente‘ folgen einem vertrauten Muster, indem sie die Form eines ‚Sozialismus für die Reichen‘ annehmen, der im System eines globalen Merkantilismus der Konzerne angesiedelt ist, wo der ‚Handel‘ zum größten Teil in zentral geleiteten, innerbetrieblichen Transaktionen zwischen riesigen Institutionen besteht, die in ihrem Wesen nach totalitär sind und nur dem Zweck dienen, demokratische Entscheidungsprozesse zu unterminieren und die Herren und Meister vor der Disziplin des Marktes zu bewahren. In ihren strengen Lehrsätzen werden nur die Armen und Hilflosen unterwiesen.“ [16]
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Zur Krisenhaftigkeit des neoliberalisierten Kapitalismus
Bereits Lenin analysierte die parasitären Ausbeutungsstrukturen innerhalb der globalen Arbeitsteilung:
„Monopole, Oligarchie, das Streben nach Herrschaft statt nach Freiheit, die Ausbeutung einer immer größeren Anzahl kleiner oder schwacher Nationen durch ganz wenige reiche oder mächtige Nationen – all das erzeugte jene Merkmale des Imperialismus, ihn als parasitären oder in Fäulnis begriffenen Kapitalismus zu bezeichnen.“ [17]
Sahra Wagenknecht analysiert in ihrem Buch „Wahnsinn mit Methode. Finanzcrash und Weltwirtschaft“ neuere Entwicklungen, die bei Marx/Engels und Lenin zwar im Grundsatz bereits analytisch angelegt waren, allerdings in dieser modernisierten Form noch nicht bekannt sein konnten. Wagenknecht sieht die Ursache für die 2007/2008 weltweit sich auswirkende Wirtschafts- und Finanzkrise in einer durch Bankengier gesteuerten leichtfertigen Kreditvergabe an insolvente Hausbesitzer (‚Subprime-Hypotheken‘), in dem Verkauf der undurchsichtigen und auf fehlende Bonität beruhenden Kreditpapier-Portfolios (‚Asset Backed Securities‘) auf den internationalen Finanzmärkten und im Platzen der so geschaffenen Immobilienblase, die wiederum die Erschütterung des Bankensystems nach sich zog. Die Voraussetzung hierfür war die Deregulierung der Finanzmärkte und des internationalen Kapitalverkehrs. In der Phase der Kreditverbriefung und des Verkaufs der entsprechenden Portfolios lag eine überdurchschnittliche Rendite begründet – so Wagenknecht (2008, 39):
„Zum einen lagen die Margen in diesem Geschäft deutlich höher als bei der traditionellen Kreditvergabe, die in der Regel weniger als 10 Prozent Rendite brachte, und zum anderen konnte das Kreditvolumen auf diese Weise weit über die Grenzen des Eigenkapitals der betreffenden Bank ausgedehnt werden. Da die Gewinne der Bank mit jedem vergebenen Kredit weiter anschwollen und das Ausfallrisiko ja auf die Käufer der Kreditpapiere überging, waren die Baufinanzierer fortan verständlicherweise bestrebt, so viele Darlehen wie möglich an wen auch immer zu vergeben.“
Letztendlich mussten die Steuerzahler die Rettung der Banken, die die faulen Hypothekenverbriefungen in großem Umfang erworben hatten, bezahlen. Die Nationalstaaten stützten die Großbanken aufgrund ihrer vermeintlichen Systemrelevanz („too big to fail“). Gewinne wurden also privatisiert und Verluste vergesellschaftet. Dass dann auch noch mit den Verlusten und den eventuell noch drohenden Staatsbankrotten über hochdotierte Wetten auf den Finanzmärkten zusätzliche Renditen zu erzielen versucht wurde, stellt einen zusätzlichen Aspekt des ‚Fäulnischarakters‘ dieser Wirtschafts- und Finanzordnung dar. [18]
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Ökonomische Krisen werden im Kapitalismus mit einer Rückkehr zum wirtschaftlichen Wachstum versucht zu lösen - also mit genau der gleichen Medizin, die letztendlich zur Wirtschaftskrise geführt hatte. Wachstumsdenken führt zur Überproduktion, denn bezahlbarer Konsum ist begrenzt. Überproduktionskrisen führen in eine Rezession mit Folgen für die politische und kulturelle Stabilität. Rechtsextremismus und 'Wutbürger' sind typische Erscheinungen der Krisenhaftigkeit moderner kapitalistischer Gesellschaften.
Das Setzen auf grenzenloses Wirtschaftswachstum verkennt auch die ökologischen Grenzen unseres Planeten und vernichtet Schritt für Schritt die zivilisatorischen Lebensgrundlagen der Menschheit. Die bereits eintretende Klimakatastrophe, die Vermüllung der Erde sowie die Vernichtung der für die Ökologie dieses Planeten unabdingbaren Artenvielfalt sind Ausdruck einer prioritär Wachstums orientierten Wirtschaftsweise und Konsumorientierung.
Diese Kritik bezieht sich nicht nur auf die Verhältnisse des globalen Nordens sondern ebenfalls auf den kapitalistischen Entwicklungspfad in den Ländern des globalen Südens - so der Politikwissenschaftler und Aktivist Alexander Behr (2022, 29):
"Auch in vielen anderen Ländern des globalen Südens ist ein brutaler Klassenkampf im Gange. Die nationale Bourgeoisie bedient die Interessen transnationaler Konzerne. Kurzfristig kann sie sich dabei zwar auf eine wachsende Mittelschicht stützen, die ihre imperiale Lebensweise absichern will. Doch der hegemoniale Entwicklungspfad - ob staatsinterventionistisch wie in China oder neoliberal wie in Brasilien - ist zutiefst zerstörerisch und wird Ressourcenkonflikte in Zukunft weiter verstärken. Er gefährdet damit letztlich die Versorgungssicherheit aller Menschen."
Gier als psychologische Grundlage ökonomischen Handelns
Gier beschreibt eine Geisteshaltung und psychische Gestimmtheit, bei der ein Mensch rücksichtslos und egomanisch versucht, bei sich Werte und Ressourcen in Form von Geldäquivalenten, Grundstücken und Produktionsanlagen aufzuhäufen. Gier ist die psychische Grundstruktur und Motivationslage des neoliberalisierten Kapitalismus. Gier in Verbindung mit den Möglichkeiten spätkapitalistischer Strukturen hat dazu geführt, dass Ende des Jahres 2022 1,1% der Menschheit 45,8% des weltweiten Vermögens besitzt. Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung besaß hingegen nur 1,2% des weltweiten Vermögens. [19]
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Gier zeigt sich auch im massenhaften Versuch der Vermögenden, ihr zusammengerafftes Geld ohne Versteuerung ins Ausland zu schaffen – so thematisiert der Politikwissenschaftler Hans-Jürgen Burchardt (2017) im Interview die Kapitalflucht und den Steuerbetrug über Konten auf den Cayman Islands oder nach Panama:
„In den Panama-Papieren tauchten aber 28 deutsche Banken auf, darunter sechs der sieben größten Geldhäuser. Neben England, Schweiz und Luxemburg gehört Deutschland mit Platz acht zu den elf Ländern, die illegitime Finanzflüsse weltweit am stärksten begünstigen. Das geschätzte Vermögen von Ausländern in Deutschland, über die sie zuhause keine Rechenschaft ablegen müssen, beträgt circa drei Billionen Euro. Darunter ist auch viel Geld, das in Entwicklungsländern erwirtschaftet und von den dortigen Eliten ins Ausland geschafft wurde. Diese Fakten machen zweierlei deutlich: Armut - hier wie anderorts - beruht nicht auf einem Mangel an Ressourcen, sondern auf ungleicher Verteilung sowie legaler und illegaler Steuervermeidung. Und die deutsche und europäische Politik hat alle Möglichkeiten, dagegen vorzugehen.“ [20]
Die ökonomische Gier zeigt sich nicht nur auf individueller sondern auch auf kollektiv-kontinentaler Ebene, wo reiche Kontinente und Regionen ärmere Regionen und Erdteile noch über das existierende Ungleichheitsniveau ausbeuten wollen. So verlangt die EU im Zuge der durch die Weltbank und den IWF gesteuerten Liberalisierung und Deregulierung des Welthandels (‚Washington Consensus‘) von Ländern des Kontinents Afrika den Abbau von Schutzzöllen, wobei EU-Produzenten gleichzeitig EU-subventionierte landwirtschaftliche Produkte und US-Konzerne ihre subventionierte Produktion in einem neokolonialen Sinne auf den afrikanischen Markt werfen:
„Die europäischen Handelsabkommen mit afrikanischen Ländern pochen bisher auf eine radikale Marktöffnung Afrikas. Dies verführt dazu, die mit EU-Subventionen hochgetriebenen, landwirtschaftlichen Überschüsse in Afrika abzusetzen: So hat zum Beispiel in den letzten Jahren der Verkauf von europäischen Milchprodukten, Fleisch oder Geflügel auf afrikanischen Märkten deutlich zugenommen. Gegen diese oft hochsubventionierten Lebensmittel können die afrikanischen Kleinbauern - die Mehrheit der Erwerbsbevölkerung - nicht konkurrieren. Sie verlieren ihre Einkommensquelle und migrieren in die Städte. Dort erfahren sie, dass dank EU-Handelsverträge auch die wenigen lokalen Industrien bald mit weltmarktgestählten EU-Unternehmen im ruinösen Wettbewerb stehen werden und auf mehr Beschäftigung kaum zu hoffen ist. Wem ist es dann zu verdenken, wenn er auf die Bremer Stadtmusikanten hört, die uns einst lehrten: Etwas Besseres als den Tod finden wir überall! Wir müssen uns heute entscheiden, ob wir unsere Abkommen mit Afrika auf eine echte Partnerschaft ausrichten wollen oder ob wir die afrikanische Wirtschaft zu einem Ramschbasar deklassieren, der immer mehr Menschen zwingt, ihr Glück woanders zu suchen.“ [21]
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Nadège Compaoré (2017, 3) kritisiert in diesem Zusammenhang die Ausbeutung der afrikanischen Bodenschätze durch ausländische Minengesellschaften und Investoren („structural power imbalances in Africas mining sector“). Auch hier zeigt sich das Phänomen des ungleichen Tauschs (Senghaas 1974), bei dem Bodenschätze in den Ländern des Südens billigst eingekauft und fertig produzierte, technische Güter des Nordens teuer zurück verkauft werden. Die Politikwissenschaftlerin Compaoré fordert, dass der Mineralreichtum Afrikas zum Wohle der dort lebenden Menschen („Mineral wealth can be garnered to benefit its people“ (Compaoré 2017,5)) verwendet werde und fordert inklusive Partizipationsprozesse über das Einwirken von zivilgesellschaftlichen Gruppen und lokalen Kommunen.
Der Ökonom Franklin Obeng-Odoom (2020, 2021) analysiert das gleiche Phänomen hinsichtlich der Privatisierung von Land und des afrikanischen Land-Grabbings, bei dem die Menschen von ihrem Land, auf dem sie seit Generationen lebten und Landwirtschaft betrieben, vertrieben werden oder dort in Leibeigenschaft der Großgrundbesitzer geraten. Die Privatisierung von in Gemeineigentum befindlichen Landes im Rahmen kolonialer und postkolonialer Prozesse und Strukturen bezeichnet er als die „tragedy of the commons“ und fordert eine Dekolonialisierung des Landes in einem großen Maßstab. Hiermit meint er nicht die Nationalisierung bzw. Verstaatlichung von Land sondern dessen Vergesellschaftung, d.h. die angemessene Beteiligung an den Gewinnen und Landrechte für diejenigen, die dort arbeiten und produzieren sowie sich selbst organisieren. Obeng-Odoom betont die Wichtigkeit des Umgangs mit Land in der Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse und kapitalistischer Ökonomie aber auch für die Menschen selbst:
„ … land is not capital as in the conventional sense and land is not one thing, but rights and interests. It is, for many people, identity, another name for nature or spirit. Land is power.“ (Obeng-Odoom 2021)
Die negativen Folgen der Gier zeigen sich nicht nur in Bezug auf ärmere Gesellschaften, sondern durchdringen gerade hinsichtlich der Produktion von Waffen auch in brutaler und destruktiver Weise reichere Gesellschaften. Jedes Jahr werden in den USA Menschen in der Größenordnung einer mittelgroßen Stadt mit Schusswaffen umgebracht. Die Morde an US-Schulen an Schülern und Lehrern zeigen auf erschreckende Weise, wie sich die Waffenindustrie durchsetzen kann und Hürden für den Waffenerwerb durch Lobbytätigkeit, Kaufen von Spitzenpolitikern und großzügigen Wahlkampfspenden an die Regierenden gering gehalten werden.
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Die Sozialwissenschaftler Ulrich Brand und Markus Wissen (2017) machen deutlich, dass diese Form der kollektiven westlichen Gier und insbesondere der Bedürfnisstruktur der herrschenden und profitierenden Eliten in eine imperiale Lebensweise eingebunden ist. Imperiale Lebensweisen beruhen auf einer Mentalität, die davon ausgeht, dass ein Teil der globalen Gesellschaft berechtigt ist, von den Ressourcen, wie Arbeitskraft und Bodenschätze, des anderen Teils zu profitieren. Hierbei wird von den Profitierenden wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass ihr gutes Leben durch das schlechte Leben der anderen ermöglich werden könne. Ressourcenverschwendung, Umweltverschmutzung und Klimazerstörung werden für das eigene Lebensniveau in Kauf genommen. Die negativen Effekte werden aber zum großen Teil externalisiert, d.h. den ärmeren Teilen der Welt überlassen. Dies sei als hegemonialer Konsens in den Gesellschaften insbesondere des globalen Nordens aber auch im Denken der profitierenden und oftmals korrupten Eliten des globalen Südens verankert:
„Die imperiale Lebensweise ist ein wesentliches Moment in der Reproduktion kapitalistischer Gesellschaften. Sie stellt sich über Diskurse und Weltauffassungen her, wird in Praxen und Institutionen verfestigt, ist Ergebnis sozialer Auseinandersetzungen in der Zivilgesellschaft und im Staat. Sie basiert auf Ungleichheit, Macht und Herrschaft, mitunter auf Gewalt und bringt diese gleichzeitig hervor. Sie ist den Subjekten nicht äußerlich. Vielmehr bringt sie die Subjekte in ihrem Alltagsverstand (…) hervor, normiert sie und macht sie gleichzeitig handlungsfähig: als Frauen und Männer, als nutzenmaximierende und sich anderen überlegen fühlende Individuen, als nach bestimmten Formen des guten Lebens Strebende.“ [22]
Dies bedeutet dann auch, dass Gier und imperiale Lebensweise kein losgelöstes psychologisches Konstrukt bzw. Lebensstilelement sind, sondern in den strukturellen Bedingungen des Produzierens und des Warencharakters der erzeugten Produkte verankert sind. So viel anzuhäufen und zu konsumieren, wie möglich, ist Merkmal des kapitalistischen Gesellschaftssystems. Immer mehr besitzen, Krisen ausnutzen und die Profitrate vergrößern, auf Wirtschaftswachstum setzen, Mitmenschen als funktionales Humankapital zu behandeln, spekulative Gewinne erzielen, um das private Eigentum zu maximieren, sind Verhaltensweisen, die systemimmanent und Ausdruck eines allgemein anerkannten und medial verstärkten kapitalistischen Wertekonsensus sind.
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Hegemonie in diesem Sinne heißt nicht nur, dass manifester Herrschaftsdruck ausgeübt wird, um die vorherrschenden Verhältnisse zu stabilisieren, sondern auch dass eine latente Manipulation der Menschen stattfindet. Es gelingt denjenigen Herrschaftsschichten, die im globalen Norden übermäßig von ungehemmten Wirtschaftswachstum, aber auch in Krisenzeiten in Zeiten der Rezession, profitieren, auch in den Mittelschichten bis in die sozial abgestuften Schichten hinein ein Bewusstsein zu verankern, dass der Kapitalismus, Profitstreben, Naturverschleiß, Konsumdenken, Niedriglöhne und bedingungslose Orientierung am Wirtschaftswachstum unumstößliche Größen sind. In diesem Sinne analysiert Alexander Behr (2022, 57):
„Dies führt dazu, dass relevante Teile der Bevölkerung den herrschenden Verhältnissen zustimmen und sie als alternativlos empfinden. Endloses Wirtschaftswachstum, die Ausbeutung von Mensch und Natur sowie die Entwicklung ständig neuer Konsumgüter gelten als Garanten für Wohlstand, Prosperität und Sicherheit. Über das anzustrebende Konsumniveau herrscht ein weitreichender gesellschaftlicher Konsens: Es gilt als wünschenswert und normal, dass eine mittelständische Familie eines oder mehrere Autos besitzt, aus Modegründen regelmäßig neue Kleidung kauft oder mit dem Flugzeug in den Urlaub fliegt. Wer dies nicht tut, dem fehlen in der Regel die Mittel dafür – nur eine Minderheit reduziert aus freier Entscheidung das eigene Konsumniveau.“
Ein Beispiel ökonomischer Gier: Cargill – „the worst company in the world“ (Mighty Earth)
Der Konzern ‚Cargill Incorporated‘ ist ein multinationales Unternehmen mit dem Sitz in Minnesota (USA), dessen weltweiter Umsatz in 2019 von 113,5 MRD Dollar auf 177 MRD Dollar in 2023 gesteigert wurde. [ 23]
Nachfahren der Gründerfamilien Cargill und MacMillan besitzen etwa 85 Prozent des Unternehmens. Der Cargill-Konzern bietet verschiedene Produkte und Dienstleistungen an, die mit der Lebensmittelproduktion und -vermarktung in einem Zusammenhang stehen:
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Cargill Incorporated
· „baut Baumwolle, Weizen, Ölsaaten, Mais, Gerste sowie Hirse an und verkauft, transportiert, lagert und verarbeitet die Rohstoffe;
· stellt Futtermittel (und Zusatzstoffe) für Rinder, Schweine, Geflügel und Fische her, berät US-Bauern und bietet weltweit Risikomanagement-Dienstleistungen an;
· ist der größte Hersteller von Rinderhackfleisch und bratfertigen Hamburgern weltweit, einer der Hauptkunden ist McDonald's, für den Cargill auch die Chicken McNuggets herstellt;
· stellt Lebensmittel wie Kakao und Schokolade, Glasuren und Füllungen, Tortillas, Salz, Öle und Fette, Süßungsmittel, Fleisch- und Eiprodukte sowie hochverarbeitete Produkte her;
· stellt Lebensmittelzusatzstoffe wie Stärke, Proteine, Emulgatoren, Pektine, Carrageene, Lecithine und andere chemische Produkte her;
· stellt Beschichtungen für Pfannen und Backbleche, Zusatzstoffe für Kosmetika, Straßenbeläge, Biotreibstoffe, Straßensalz und Enteisungsmittel her.“ [24]
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Des Weiteren befasst sich Cargill mit Finanzdienstleistungen und stellt u.a. einen Hedge-Fonds (‚Black River Asset Management‘), der über zehn MRD Dollar an Vermögenswerten besitzt.
In der breiten Öffentlichkeit und auch bei den Konsumenten ist dieser Konzern kaum bekannt, da er auf den Produkten als Zulieferer nicht benannt wird. Produkte von Cargill stecken in zahlreichen Lebensmitteln, ohne dass dies ersichtlich wird.
Die NGO Mighty Earth hat sich nun kritisch mit diesem multinationalen Unternehmen auseinandergesetzt, das inzwischen (2023) ca. 160.000 Mitarbeiter in 70 Ländern aufweist. Der frühere Kongressabgeordnete und spätere Vorsitzende von Mighty Earth, Henry Waxman, erhebt eine umfassende Anklage gegen das aus seiner Sicht extrem geldgierig und unmoralisch handelnde Unternehmen:
„The people who have been sickened or died from eating contaminated Cargill meat, the child laborers who grow the cocoa Cargill sells for the world’s chocolate, the Midwesterners who drink water polluted by Cargill, the Indigenous People displaced by vast deforestation to make way for Cargill’s animal feed, and the ordinary consumers who’ve paid more to put food on the dinner table because of Cargill’s financial malfeasance – all have felt the impact of this agribusiness giant. Their lives are worse for having come into contact with Cargill.“ [25]
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Cargill sei wiederholt für den Verkauf minderwertigen und infizierten Fleisches bekannt geworden, finanziere die Zerstörung des Regenwaldes, z.B. in Brasilien oder in Bolivien, für den Sojaanbau und für Rinderweiden, betreibe ‚Land Grabbing‘ im großen Stil, und beziehe Produkte, z.B. Kakao-Bohnen, von afrikanischen Plantagen, die entführte Kindersklaven ausbeuten würden. [26]
Eine führende Menschenrechtsorganisation (International Labor Rights Fund (ILRF)) klagte bereits 2005 verschiedene Konzerne, u.a. Cargill, der massiven Verletzung von Kinderrechten an:
„A leading human rights organization and reputable civil rights firm filed suit against the Nestlé, Archer Daniels Midland, and Cargill companies today in Federal District Court in Los Angeles. The complaint alleges their involvement in the trafficking, torture, and forced labor of children who cultivate and harvest cocoa beans which the companies import from Africa. The suit was brought under two federal statutes, the Torture Victims Protection Act and the Alien Tort Claims Act.“ [27]
In den USA ist Cargill zudem mehrfach wegen der Verletzung der Luftreinheitsgesetze verklagt worden.
Das Unternehmen Cargill, das milliardenschwere Profite erwirtschaftet, ist ein multinationaler Agrarkonzern, der aus der Sicht von Mighty Earth für die Zerstörung ökologisch intakter Regionen und die Verwandlung in monokulturelle und chemisch zerstörte Gebiete verantwortlich ist:
„Cargill is America’s largest privately-owned company, surpassing the second place Koch Brothers by billions of dollars in annual revenues. Cargill is the corporate behemoth at the nexus of the global industrial agriculture system, a system that it has designed to convert large swaths of the planet into chemically dependent industrial scale monocultures to produce cheap meat, palm oil, and chocolate.“ [28]
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Internationale Wirtschaftsregime, wie der Washington Consensus, aber auch zwischenstaatliche Wirtschaftsabkommen würden solchen Unternehmen die ungehinderten umwelt- und menschenfeindlichen Konzernaktivitäten erleichtern. Insbesondere Klagerechte der Konzerne im Rahmen bilateraler Verträge stellen die ungehemmte Investitionstätigkeit der Großkonzerne sicher. Anstatt diese Konzerne zu regulieren und zu kontrollieren, wird ihnen die Welt zur freien Nutzung überlassen. Hierhinter steckt ein zerstörerisches ökonomisches Freiheitsverständnis, das in seiner strukturellen Absicherung dafür sorgt, dass multinationale Konzerne zu den Gewinnern der Globalisierung und die Mehrheit der Menschen sowie ihre natürlichen Lebensvoraussetzungen zu Globalisierungsverlierern werden. Dies erfährt eine Steigerungsdynamik, solange die globalen Machtverhältnisse nicht einschneidend verändert und keine sozioökonomische Transformation hin zu einer komplexen Neuordnung gelingt, die von der Mehrheit der Menschen gewollt und getragen wird.
Fazit: Ungezügelte Profitgier ist Ausdruck destruktiver ökonomischer und politischer Ordnungen im Interesse der Reichen und Mächtigen. Koloniale Strukturen, die der Machtausdehnung und der Profitmaximierung des globalen Nordens dienten, finden ihre Verlängerung und Modifizierung in den globalen Ordnungsstrukturen der postkolonialen Zeit. Derartige, als kapitalistisch zu bezeichnende, privatwirtschaftliche Ordnungen geraten aufgrund ihrer systemisch bedingten Tendenz zur Selbstdestruktion nach scheinbar stabilen Phasen immer wieder in gewaltige Krisenentwicklungen, von denen insbesondere die ärmeren Teile der Gesellschaft betroffen sind.
Investitionen in Wertschöpfung über Produktion und Dienstleistungen werden zunehmend abgelöst über den spekulativen Einsatz von finanziellen Ressourcen auf den internationalen Finanzmärkten. Es entstehen riesige Spekulationsblasen, die in keinem Verhältnis zur realen Wertschöpfung mehr stehen. Das Platzen dieser Blasen kann systemisch noch funktionierende Ordnungen zerstören und die Existenz von Millionen Menschen vernichten. Wenn dies vor allem negative Auswirkungen auf die ärmsten Staaten im globalen Süden hat, dann kann dort von einer Verschärfung der Verteilungskämpfe sowie von zunehmender Armutsmigration ausgegangen werden.
Die Tendenz zu immer größeren multinationalen Unternehmenskonzentrationen führt zu außerparlamentarischen ökonomischen Gegenmächten, die einen massiven Einfluss auf Entscheidungen von Regierungen und weiteren Institutionen haben. Am Beispiel des multinationalen Konzerns Cargill wurden die Schäden derartiger Konzernaktivitäten im ökologischen, politischen und menschenrechtlichen Bereich skizziert, so wie sie die internationale NGO Mighty Earth erfasst hat und kritisiert.
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Aber auch der ökonomischen und politischen Macht der Konzerne erwächst eine gegenhegemoniale Macht. Der Widerstand und die Proteste gegen die Neoliberalisierung in Form des Versuchs, problematische Freihandelsabkommen (MAI, TTIP, CETA, MERCOSUR …) zu installieren, zeigen den Konzernaktivitäten ihre Grenzen auf und lassen im erfahrbaren Transformationsprozess die Möglichkeiten einer gesellschaftlichen Neuordnung durchscheinen.
In diesem Sinne formulieren auch Brand/Wissen (2017) zusammenfassend:
„Die imperiale Lebensweise beruht auf Exklusivität, sie kann sich nur solange erhalten, wie sie über ein Außen verfügt, auf das sie ihre Kosten verlagern kann. Dieses Außen schwindet jedoch, denn immer mehr Ökonomien greifen darauf zu, und immer weniger Menschen sind bereit oder in der Lage, die Kosten von Externalisierungsprozessen zu tragen. Die imperiale Lebensweise wird dadurch zum Opfer ihrer eigenen Attraktivität und Verallgemeinerung.“ [29]
Anmerkungen zu Kapitel 1.1.1
[1] Marx/Engels (1848/1983, 27).
[2] Stiglitz (2019).
[3] Vgl. hierzu ausführlich u.a. Altvater (2006) und Wagenknecht (2008).
[4] Sabine Kurtenbach im Interview mit Jonas Seufert: https://www.fluter.de/politische-situation-in-suedamerika, 20.6.2019, 30.7.2019.
[5] Vgl. z.B. https://amerika21.de/video/129730/cia-verschwoerung-allende, 14.9.2015, 24.9.2019; insbesondere hier das Videointerview mit dem Lateinamerika-Experten Harald Neuber. Vgl. hierzu auch das Spiegel-Interview mit dem Dokumentarfilmer Patrizio Guzmán: https://www.spiegel.de/geschichte/40-jahre-pinochet-putsch-gegen-die-regierung-allende-nachts-hoerten-wir-die-schuesse-der-exekutionen-a-951404.html, 11.9.2013, 24.9.19.
[6] Vgl. Erhardt (2009).
[7] Vgl. u.a. Senghaas (1974).
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[8] Vgl. hierzu in den Einzelheiten über die Macht der Konzerne Bode (2018).
[9] Vgl. Lenin (1917/1970, 94f.).
[10] Vgl. hierzu Kapitel 2.7.
[11] Vgl. Bode (2018, 33ff.).
[12] Vgl. ausführlicher hierzu Brand/ Wissen (2017)
[13] Zur Kritik am Washington Consensus und der entsprechenden institutionellen Politik vgl. auch Stiglitz (2002, 2010).
[14] Stiglitz (2019).
[15] Stiglitz (2019b).
[16] Chomsky (2000, 50).
[17] Lenin (1917/1970, 133).
[18] Vgl. auch Altvater (2006) und Scherrer (2015).
[19] Vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/384680/umfrage/verteilung-des-reichtums-auf-der-welt/, 3.1.2024, 6.2.2024.
[20] Burchhardt (2017).[
21] Burchhardt (2017).
[22] Brand/ Wissen (2017, 45)
[23] Vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/199621/umfrage/umsatz-und-gewinn-des-agrarunternehmens-cargill/, o.D., 21.9.2019 and 2023: https://www.cargill.com/about/doc/1432242761261/2023-cargill-annual-report.pdf, undated, 7.2.2024.
[24] Kwasniewski (2019).
[25] In: https://stories.mightyearth.org/cargill-worst-company-in-the-world/index.html, o.D., 21.9.19.
[26] Vgl. hierzu die Quellenübersicht bei Mighty Earth: https://www.mightyearth.org/cargill_timeline, 9.7.2019, 20.9.2019.
[27] In: https://laborrights.org/releases/human-rights-watchdog-and-civil-rights-firm-sue-nestle-adm-cargill-using-forced-child-labor, 14.7.05, 21.9.19.[6] In: https://stories.mightyearth.org/cargill-worst-company-in-the-world/index.html, o.D., 21.9.19.[28] Brand/Wissen (2017, 15)
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1.1.2 Widerstand gegen den neoliberalen Marktradikalismus
1.1.2.1 Die WTO-Proteste in Seattle
Die 1999 durch die WTO veranstaltete Welthandelskonferenz in Seattle [1] an der Nordwestküste der USA wurde zunächst von friedlichen Kundgebungen und Demonstrationszügen mit rund 50.000 Teilnehmern begleitet, die aus den unterschiedlichsten Schichten und Weltregionen kamen:
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„Es ist ein buntes Volk, das den Mächtigen der Welt an diesem verregneten Morgen die Stirn bietet: Die Demonstranten, insgesamt fast 50 000, haben sich als Schildkröten oder Schmetterlinge kostümiert oder beschwören auf Regenmänteln den ‚Protest des Jahrhunderts‘. Farmer aus dem Mittleren Westen der USA sind ebenso dabei wie Regenwald-Schützer aus Frankreich, Greenpeace-Aktivisten aus Lateinamerika und Chinesen, die für Tibets Freiheit kämpfen. Schüler und Studenten skandieren den Namen jener Organisation, den einige, wie sie selber zugeben, vor kurzem noch gar nicht kannten: ‚Hey, hey, ho, WTO has to go!‘ Weg mit der Welthandelsorganisation!“ [2]
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Dann schlugen aber die zuvor durchweg friedlichen Proteste verschiedener globalisierungskritischer NGOs, darunter zahlreiche Gewerkschaftler, und engagierter Einzelpersonen von Seiten einiger militanter Kritiker der Welthandelsverhältnisse in Gewalt um. Sie griffen Delegierte an, blockierten Straßen und warfen Scheiben, u.a. von Mc Donalds und Nike, ein. Dies war allerdings, wie so häufig, eine kleine Minderheit, die sich nicht an die Aufforderung der Organisatoren hielt, gewaltfrei und kreativ zu protestieren. Das Ausmaß der gewalttätigen Aktionen wurde in den Medien anschließend in der Berichterstattung übertrieben, führte aber zu einer erhöhten Aufmerksamkeit in der Weltpresse und in den Nachrichtensendungen des Fernsehens.
Der Bürgermeister von Seattle verhängte eine nächtliche Ausgehsperre über die Innenstadt. Der Gouverneur des Staates Washington rief daraufhin den Notstand aus, und es wurde eine Bannmeile rund um den Tagungsort verfügt. Es wurde zudem die Nationalgarde und die Staatspolizei angefordert, deren Einsatz dann zu Übergriffen auch auf friedliche Demonstranten führte. [3]
Die Eröffnungszeremonie des WTO-Gipfels musste abgesagt werden, da für die Sicherheit der Delegierten nicht garantiert werden konnte. [4] Pressekonferenzen und erste WTO-Sitzungen konnten aufgrund der Blockade des Ministeriumsgebäudes nicht stattfinden. In den Eingängen des Konferenzgebäudes hatten sich Menschen aneinander gekettet.
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Die politische Motivation zur Beteiligung an den Protesten war sehr unterschiedlich und reichte von Auffassungen, die eine Beeinträchtigung nationaler Anliegen durch die Liberalisierung des Welthandels sahen, über die Kritik an der fehlenden Transparenz der WTO-Entscheidungsprozesse bis hin zu wesentlich radikaleren Analysen, die sich grundsätzlich gegen den Weltkapitalismus und die internationale Herrschaft riesiger Konzerne, aber nicht prinzipiell gegen globalisierte Verhältnisse wandten – so die eher sozialistisch orientierten Gegner der WTO-Aktivitäten:
„Die Entwicklung einer politischen Bewegung gegen den globalen Kapitalismus benötigt vor allem eine bewusste Erkenntnis dessen, dass der Kapitalismus und nicht der zunehmend globale Charakter der modernen Gesellschaft der wirkliche Feind ist. Kapitalistische Globalisierung – d.h. die Unterordnung der Menschen unter die Profitinteressen einiger hundert gigantischer transnationaler Unternehmen – kann nicht durch die Hinwendung zu einem historisch veralteten System von relativ isolierten und nicht untereinander abgestimmten Volkswirtschaften bekämpft werden.“ [5]
In Seattle wurde der erfolgreiche Widerstand gegen das ‚Multilaterale Abkommen über Investitionen‘ (MAI) fortgesetzt. Fast unbemerkt von der Weltöffentlichkeit sollte in den Jahren zuvor von Seiten der OECD versucht werden, den Investitionsschutz für multinationale Konzerne sogar über die Grenzen der OECD hinaus festzulegen. Dies hätte beispielsweise bedeutet, dass multinationale Konzerne eine nationale Regierung vor den umstrittenen und die staatliche Souveränität aushebelnden internationalen Schiedsgerichten auf Schadensersatz verklagen könnten, wenn ihre Investitionen, z.B. in Fracking, durch Umweltgesetze eines Nationalstaates behindert würden. Durch den entschiedenen Widerstand und die internationale Öffentlichkeitsarbeit verschiedener NGOs, u.a. der von Ralph Nader gegründeten Verbraucherschutz-Organisation ‚Publican Citizen‘, gelang es 1998 erfolgreich, dieses Ansinnen der Konzerne zu bekämpfen, das sich später wieder in bilateralen Verträgen einen Weg zu bahnen suchte. [6] [7]
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Einer der Teilnehmer an den WTO-Protesten von Seattle beschrieb die Kreativität der Widerstandsformen, wie sie in vorherigen Protesten in dieser Form nicht zu beobachten war:
„Einer der bemerkenswertesten Aspekte dieser Aktion war die Präsenz von Kunst, Theater, Tanz und Lyrik: ein wahres Fest des Widerstands. Die Demos wurden aufgelockert mit riesigen Puppen, Kostümen (u.a. 240 Meeresschildkröten), schönen Transparenten, StelzenläuferInnen, SängerInnen, TänzerInnen, RapperInnen, und das Straßentheater (koordiniert vom Bread and Puppet Theater) war das professionellste und effektivste, das ich je gesehen habe. Mensch konnte sogar Kunst aus der Luft betrachten: nach mehreren kleineren Demos vor dem 30.11. half eine Künstlerin den Leuten, mit ihren Körpern Buchstaben zu formen, sodass von oben die Worte ‚Rise Up‘ (steht auf) zu lesen waren.“ [8]
Die Proteste in Seattle bewirkten eine erhebliche Störung der WTO-Konferenz, die letztlich ihre wirtschaftspolitischen Ziele in Seattle nicht realisieren konnte. Vor allem aber hoben sie erstmals die Welthandelsorganisation und ihren neoliberalen Ansatz internationaler Wirtschaftspolitik in den Fokus einer breiteren Weltöffentlichkeit. Weltweit begannen sich nun Menschen damit zu beschäftigen, welchen Einfluss die durch die WTO unterstützten Welthandelsverträge und die Liberalisierung des Welthandels auf die Entwicklung ärmerer Weltregionen sowie auf die Umwelt haben würden.
Die WTO-Proteste in Seattle waren für den Politikwissenschaftler Ulrich Brand Ausdruck von sich fortsetzenden und intensivierenden gegenhegemonialen Bewegungen – so Brand (2005b, 100):
„‘Seattle‘ war ein erster internationaler Kristallisationspunkt sozialer Bewegungen nach Jahren politischer Lähmung. Während die Proteste in den 1980er Jahren gegen Weltbank und IWF von der metropolitanen Solidaritätsbewegung getragen wurden und sich vor allem gegen die neoliberalen Strukturanpassungsprogramme in peripheren Ländern richteten, agieren die Initiativen heute wirklich global.“
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1.1.2.2 Occupy Wall Street
Die antikapitalistische Bewegung ‚Occupy Wall Street‘ (OWS) entstand im September 2011 als eine Platzbesetzung mit Zelten in dem an die Wall Street direkt angrenzenden New Yorker Zuccoti Park in deutlicher Anlehnung an Platzbesetzungen im Zuge des ‚Arabischen Frühlings‘. Auch war die zuvor eingetretene Weltwirtschafts- und -finanzkrise ein wichtiger Hintergrund für die OWS-Proteste. Der Beginn der Occupy-Bewegung wurde möglich durch das Zusammenspiel verschiedener Gruppierungen und sozialer Netzwerke in den Medien, wie z.B. der konsumkritischen kanadischen Zeitschrift ‚Adbusters‘ oder des Hackerkollektivs ‚Anonymous‘, die zur Beteiligung an der globalisierungskritischen Platzbesetzung aufriefen. Die politische Intention richtete sich insbesondere gegen die Aktivitäten des internationalen Finanzkapitals. Auch wurde ein eigener (umkämpfter) Twitter Account @OccupyWallStNYC eingerichtet, über den mit großer Breitenwirkung kommuniziert wurde. Im Selbstverständnis der OWS-Bewegung sieht sie sich als basisdemokratische, multikulturelle, friedliche und Kapitalismus kritische Bewegung:
„Occupy Wall Street is a leaderless resistance movement with people of many colors, genders and political persuasions. The one thing we all have in common is that We Are The 99% that will no longer tolerate the greed and corruption of the 1%. We are using the revolutionary Arab Spring tactic to achieve our ends and encourage the use of nonviolence to maximize the safety of all participants.“ [9]
Die Platzbesetzung in New York führte zu weiteren Platzbesetzungen in den USA, z.B. in Portland und Oakland, sowie auch im Ausland, z.B. in Frankfurt vor dem Gebäude der Europäischen Zentralbank oder in Hamburg vor dem Gebäude der HSH Nordbank. In London gab es Platzbesetzungen an verschiedenen Orten. In Rom demonstrierten ca. 150.000 Menschen im Oktober 2011. In Spanien unterstützte die Graswurzelbewegung ‚iDemocracia real ya!‘ (‚Echte Demokratie Jetzt!‘) die zum 15.10.2011 weltweit ausgerufenen OWS-Proteste. In 82 Ländern und 911 Städten wurde mit mehreren Millionen Teilnehmer_innen demonstriert.[10]
Auch in New York kam es zu begleitenden Demonstrationen, z.T. unterstützt von verschiedenen Gewerkschaften. Die Zugänge zur New Yorker Börse und zu Goldman Sachs wurden blockiert, was zu Auseinandersetzungen mit der New Yorker Polizei und zu Verhaftungen führte.
Die Platzbesetzer verwalteten sich horizontal, d.h. unter Verzicht auf Hierarchien. Es fanden tägliche Versammlungen mit Reden und Beratungen auf dem zu seinem ursprünglichen Namen zurückbenannten ‚Liberty Plaza‘ statt. Forderungen wurden auf occupywallst.org gepostet oder in der Zeitschrift ‚Occupied Wallstreet Journal‘ veröffentlicht. Zahlreiche Prominente, wie z.B. Michael Moore, Susan Sarandon, Naomi Klein, Josef E. Stiglitz, Noam Chomsky und Immanuel Wallerstein, unterstützten OWS, hielten Reden, bekundeten öffentlich ihre Solidarität. Die Aussage „We are the 99 percent.“ wurde zum Slogan von OWS.
Die politischen Forderungen von OWS sind nicht einheitlich, zwar in der Tendenz antikapitalistisch, aber durch ein weites Spektrum sozialistischer bis anarchistischer Kritik an den Auswüchsen des Finanzkapitalismus gekennzeichnet. In diesem Kontext wurden insbesondere immer wieder Forderungen nach einer Regulierung des Bankensystems, Reichensteuern sowie Spekulationssteuern erhoben. In dem 2011 geposteten Manifest lässt sich immerhin folgendes zusammenfassendes Selbstverständnis entnehmen:
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„Wir sind hier friedlich versammelt, wie es unser Recht ist, um folgende Tatsachen bekannt zu machen... Sie haben uns mit illegalen Zwangsvollstreckungsmaßnahmen unsere Häuser weggenommen, ohne über die Originalhypothek zu verfügen. Sie haben sich ungestraft vom Steuerzahler aufkaufen lassen, und geben ihren Managern nach wie vor exorbitante Bonuszahlungen ... Sie haben Politikern, die dafür verantwortlich sind, sie zu regulieren, riesige Summen von Geld gewährt (...) Sie setzen die Ungleichheit und Diskriminierung am Arbeitsplatz fort, nach Alter, Hautfarbe, Geschlecht, Geschlechteridentität und sexueller Orientierung (...) Sie haben mit ihrer Fahrlässigkeit die Nahrungsmittelversorgung verseucht und die Landwirtschaft durch Monopolisierung untergraben. Sie haben Profit gemacht durch das Quälen, Einpferchen und die grausame Behandlung zahlloser Tiere, und diese Praktiken verbergen sie auch noch bewusst. Sie haben in ihrem Profitstreben absichtsvoll lebensgefährliche fehlerhafte Produkte nicht zurückgenommen (...) Sie versuchen fortwährend, Beschäftigte ihres Rechts auf Lohnverhandlungen und Verhandlungen zur Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen zu berauben. Sie haben beständig Arbeitsplätze ins Ausland verlagert, und das als Hebel benützt, um Lohn und Gesundheitsvorsorge bei den Arbeitern zu kürzen (...) Sie haben unser Privatleben als Ware verkauft (...) Die Liste ließe sich beliebig erweitern (...)“ [11]
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Im Winter 2011/2012 verebbte dann die eigentliche Occupy-Bewegung bzw. wurden auch die Zelte der im Winter weniger werdenden Protestierenden von der Polizei weggeräumt. Das letzte Occupy-Zeltlager verschwand wohl 2014 in Tel Aviv. [12] Es kam aber zu zahlreichen globalisierungskritischen Nachfolgeprojekten, und es waren wichtige Kontakte im Zuge der OWS-Bewegung entstanden, die zu weiteren Vernetzungen und Kooperationen führten. Die Social Media Accounts von OWS wurden weiterhin benutzt. [13]
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Ähnlich wie die Folgen der 1968er Bewegung werden die über OWS geprägten jungen Menschen ihren Weg durch die öffentlichen Institutionen, durch die Parteien und NGOs gehen und ihre Erfahrungen in die neuen Arbeitszusammenhänge und in ihr politisches Engagement einbringen. Selbst wenn derartige Bewegungen nur eine Zeit lang in der Weltöffentlichkeit präsent sind und sich in ihrer organisatorischen Eigenart auflösen, geht ihr Einfluss nicht verloren – so die deutsche Journalistin und Autorin Caroline von Eichhorn (2016):
„Aktivisten aus dem Ursprungslager im New Yorker Zuccotti Park beispielsweise engagieren sich im ‚Debt Collective‘, einer Organisation, die aufzeigt, wie viele Menschen unter Schulden leiden, und Streiks oder andere Aktionen dagegen organisiert. Viele Ideen der „99 Prozent“ kanalisieren sich wieder dort, wo sie auch vor und während Occupy schon waren: in der Politik. Wie bei Bernie Sanders, der für die Demokratische Partei als Bewerber um die US-Präsidentschaftskandidatur antrat. Wie bei den von Occupy inspirierten Parteien Podemos in Spanien und Syriza in Griechenland.“
1.1.2.3 G20-Proteste in Hamburg
Die G20-Proteste in Hamburg im Juli 2017, die insbesondere durch die gewalttätigen Exzesse im Hamburger Schanzenviertel bekannt wurden, bezogen sich auf ein G20-Gipfeltreffen in der Hansestadt. Im Zentrum der G20 stehen die wirtschaftlich stärksten und politisch einflussreichsten Industrie- und Schwellenländer sowie die EU. [14] Die G20-Staaten repräsentieren 85% der globalen Wirtschaftsleistung und drei Viertel des Welthandels. [15]
Im Selbstverständnis einer der maßgeblichen Akteure der G20, der Bundesrepublik Deutschland, bilden die G20-Gipfel der Regierungschefs sowie die mehrmals jährlich stattfindenden Treffen der Finanzminister und Notenbankchefs der G20 ein wichtiges ordnungspolitisches Regulierungsinstrument und eine wirkungsvolle Möglichkeit, weltwirtschaftliche Krisen zu bekämpfen – so ist auf der Homepage des deutschen Bundesfinanzministeriums zu lesen:
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„Die G20 besteht seit 1999 und wurde während der Finanzkrise 2008/2009 zum wichtigsten Forum für die wirtschaftspolitische Koordinierung auf globaler Ebene. Heute ist die G20 das bedeutendste Forum für internationale Ordnungspolitik und Regulierung. Die Zusammenarbeit der G20 hat maßgeblich zur Stabilisierung der Volkswirtschaften und der Finanzmärkte nach der Krise 2008/2009 beigetragen. Bis heute prägen die Folgen der Krise die Arbeit der G20. Zunehmend geht es aber auch darum, durch vorausschauende Zusammenarbeit mögliche neue Krisen zu vermeiden, aus Erfahrungen zu lernen und die Volkswirtschaften widerstandsfähiger zu machen.“ [16]
Auf dem G20-Gipfel 2017 in Hamburg wurden u.a. die Themen der Partnerschaft mit afrikanischen Ländern, Vertreibung, Migration und Flucht, Klimaschutz, Rechte der Frauen, Steuergerechtigkeit, Digitalisierung und die UN-Entwicklungsziele 2030 verhandelt. Einerseits bekannten sich die G20-Staaten zum Freihandel und wandten sich gegen nationalstaatlichen Wirtschaftsprotektionismus. Andererseits nahm die USA für sich in Anspruch, protektionistische Maßnahmen zum Schutze ihrer Wirtschaft vorzunehmen. Während Klimaschutz normalerweise über die Stärkung regenerativer Energieerzeugung definiert wird, betonte die USA des Weiteren auf dem Gipfel, dass sie andere Staaten von einer ‚sauberen‘ Nutzung von Kohle, Öl und Gas überzeugen wolle. Auch bestärkte damals unter der Trump-Regierung die USA ihren Willen, aus dem Pariser Klimaschutzabkommen auszusteigen, welches allerdings von den anderen G20-Staaten deutlich unterstützt wurde – inklusive China und Russland. [17]
Im Zentrum der Kritik an den G20-Staaten steht aus der Sicht von Organisationen, wie z.B. ATTAC, Campact oder Greenpeace, der fehlende Beitrag dieser Staaten zur Beseitigung der globalen sozialen Ungerechtigkeit, der Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum, Ressourcenausbeutung und Umweltverschmutzung sowie die Unterstützung von Freihandelsabkommen, die insbesondere den Konzerninteressen dienen würden.
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Am 5./6. Juli 2017 wurde ein Gegengipfel von der Heinrich-Böll-Stiftung, ATTAC und dem BUND veranstaltet, auf dem die Frage nach einem anderen Wirtschaftssystem im Vordergrund stand, das Armut und soziale Ungleichheit beseitigen würde. Auf diesem Gegengipfel fanden 70 Veranstaltungen statt, an denen etwa 1500 Interessierte teilnahmen. Am Vorabend des Gipfels fand ein Konzert für die Solidarität mit ärmeren Weltregionen ‚Global Citizen Festival‘ mit 12.000 Zuhörern statt. Die angemeldete Großdemonstration mit mehreren 10.000 Teilnehmern unter dem Motto ‚Grenzenlose Solidarität statt G20‘ zum Abschluss des Gipfels verlief friedlich. In den Gipfel-Tagen selbst, vor allem am 7./8. Juli, fanden jedoch insbesondere im Hamburger Schanzenviertel kriegsähnliche Szenen im Zuge der Proteste gegen den G20-Gipfel statt, die z.T. auch noch in den nächsten vier Tagen anhielten. Anhaltende Auseinandersetzungen zwischen Spezialeinheiten der Polizei und Gewaltbereiten führten zu einer aus der Kontrolle geratenen Gewaltspirale. Polizisten wurden mit Molotow-Cocktails, mit Zwillen und Eisenstangen angegriffen. Es gab ca. 200 verletzte Polizisten. Brennende Barrikaden wurden auf den Straßen angelegt. Es kam zu von schwarz gekleideten und maskierten bzw. vermummten Protestierern gelegten Bränden, zu vereinzelten Plünderungen von Geschäften. Autos wurden in Brand gesetzt. Wasserwerfer, Schlagstöcke und Pfefferspray wurden von Seiten der Polizei eingesetzt. Mehrere Hundert Menschen wurden festgenommen.
Einige Augenzeugenberichte im Originalton zu den Vorgängen:
„Am Nachmittag wirkte es an vielen Stellen noch wie ein Straßenfest. Auf der Reeperbahn saßen Leute vor den Läden und tranken; vielleicht auch, um ihre Geschäfte zu schützen. Erst gegen Abend eskalierte es immer wieder. Vor allem an den Brennpunkten rund um Fischmarkt, Messehalle, Sternschanze, Reeperbahn und Hafenstraße.“
„Als wir die Schanzenstraße entlangliefen, rannte uns ein Mann mit einem iPad entgegen. Dann sahen wir, dass ein Apple-Laden geplündert wurde. Eine Frau versuchte verzweifelt, die Tür zuzuhalten und rief: ‚Ihr nennt euch Antikapitalisten? Was für eine Scheiße!‘“
„Vielen Polizisten konnte man ansehen, dass sie übermüdet waren und Angst hatten. Es war für alle Beteiligten einfach scheiße.“
„Am Nachmittag war alles verhältnismäßig friedlich. Erst gegen 19 Uhr schaukelte sich die Stimmung auf dem Schulterblatt hoch bis zur puren Aggression. Da ging es absolut nicht mehr um Politik, sondern nur noch um die Entladung von Gewalt und Frust. Das war keine Kapitalismuskritik. Viele der Leute waren sehr jung, vielleicht 14 oder 15, maximal 20. Sie schienen die Gelegenheit zu nutzen, ohne Konsequenzen Scheiße zu bauen. Dazwischen legte der militante Block Feuer und entglaste Schaufenster. Da viele komplett in Schwarz gekleidet und vermummt waren, konnte man oft nicht sagen, wer zu wem gehört.“ [18]
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Hinsichtlich des Protests gegen den G20-Gipfel in Hamburg lag der mediale Fokus vor allem auf den gewalttätigen Ausschreitungen im Schanzen-Viertel. Hier zeigt sich die Problematik gewalttätiger Ausschreitungen im Kontext friedlicher Proteste in vollem Ausmaß:
· Der friedliche, diskursive und kreative Anteil von Protestformen der Mehrheit wird im Falle gewalttätiger Ausschreitungen einer Minderheit weniger beachtet und gerät zur Marginalie. Dies bietet interessierten Medien daher die Möglichkeit, von dem eigentlichen globalisierungskritischen Anliegen der Mehrheit der Demonstrierenden abzulenken, indem vor allem spektakuläre und die gesamte Bewegung herabsetzende Gewaltszenen gezeigt werden.
· Gewalttätiger Protest enthüllt zwar die angestaute Wut angesichts der fehlenden Problemlösungsfähigkeit bzw. des Unwillens vieler Regierungen, die soziale Ungerechtigkeit im globalen Maßstab, die notwendigen Schritte zur Friedenssicherung sowie die wirkungsvolle Klimapolitik zu beschließen. Andererseits zeigt sich auch von Seiten der gewaltförmig Protestierenden die Unfähigkeit, zu friedlichen Problemlösungsansätzen beizutragen. Widerstand und Protest sollte m.E. bereits die neue Qualität einer zukünftigen Gesellschaftsform hervor scheinen lassen. Dies ist im Werfen von Molotow-Cocktails, im Anzünden von PKWs, im Plündern von Geschäften oder im Werfen von Steinen auf Polizisten nicht zu erkennen. Eine derartige Widerstandsform ist auf seine Weise ähnlich inhuman wie die Gewalttätigkeit weltweiter Strukturen der Ungleichheit und in seiner Wirkung kontraproduktiv und abzulehnen.
· Aus dem Blick gerät durch die Wucht der medialen Berichterstattung die grundsätzliche Kritik an dieser Form der G-Diplomatie. Zwar werden Organisationen, wie die Afrikanische Union (AU), die Asiatisch-Pazifische Wirtschaftsgemeinschaft (APEC) und die Organisation Neue Partnerschaft für die Entwicklung Afrikas (NEPAD) zu den G20-Gipfeln eingeladen. Dennoch haben sie kein Stimmrecht. Die meisten Länder – insbesondere bis auf Südafrika alle afrikanischen Staaten – sind von der G-Diplomatie – sei es G7/G8 oder G20 – ausgeschlossen und müssen das akzeptieren, was ohne sie beschlossen wurde. Der richtige Ort für derartige Diskussionen und Entscheidungsprozesse wäre jedoch bei den zuständigen Gremien der Vereinten Nationen zu suchen – unter der Voraussetzung, dass hier zukünftig ein demokratischer und transparenter Ort für derartige Prozesse geschaffen würde. [19]
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Anmerkungen zum Kapitel 1.1.2
[1] Es handelte sich hier um die dritte Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation.
[2] https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-15188884.html, 6.12.1999, 5.11.2019.
[3] Vgl. https://www.graswurzel.net/gwr/2000/01/ein-wahres-fest-des-widerstands/, 1.1.2000, 5.11.2019.
[4] https://www.spiegel.de/politik/ausland/seattle-strassenschlachten-ueberschatten-wto-gipfel-a-54872.html, 1.12.1999, 5.11.2019.
[5] https://www.wsws.org/de/articles/1999/12/wto-d09.html, 9.12.1999, 5.11.2019.
[6] Vgl. https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-15188884.html, 6.12.1999, 5.11.2019.
[7] Hilfreich war letztlich hierbei, dass Frankreich sich im Dezember 1998 gegen Mai wendete.[8] Dieses Zitat stammt von Vivien Sharples, einer Aktivistin der NGO ‚War Resisters League‘, die u.a. die WTO-Proteste vorbereitet hatte. Vgl. https://www.wsws.org/de/articles/1999/12/wto-d09.html, 9.12.1999, 5.11.2019.
[9] In: http://occupywallst.org/, 28.10.2019, 6.11.2019.
[10] Vgl. https://www.bpb.de/politik/wirtschaft/finanzmaerkte/135540/occupy-bewegung?p=all, 9.5.2012, 6.11.2019.
[11] Manifest von 2011, in: https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/occupy-wallstreet-gegen-1-uebermacht-profiteure, o.D., 6.11.2019.
[12] Vgl. https://www.fluter.de/was-ist-aus-occupy-geworden, 9.9.2016, 6.11.2019.
[13] Die Zusammenstellung der Ereignisse wurde vorgenommen u.a. aufgrund der Dokumentationen auf http://occupywallst.org/, 28.10.2019, 6.11.2019, https://www.zeit.de/campus/2018-09/occupy-wall-street-protestbewegung-nordamerika-erlebnisse/seite-3, 2018, 6.11.2019; Vgl. https://www.bpb.de/politik/wirtschaft/finanzmaerkte/135540/occupy-bewegung?p=all, 9.5.2012, 6.11.2019, https://www.fluter.de/was-ist-aus-occupy-geworden, 9.9.2016, 6.11.2019, https://de.wikipedia.org/wiki/Occupy_Wall_Street, 28.9.2019, 67.11.2019 sowie https://www.nytimes.com/2014/09/18/nyregion/occupy-wall-streets-twitter-account-is-focus-of-lawsuit.html, 17.9.2014, 6.11.2019.
[14] Neben der EU (Vertreter der EU-Ratspräsidentschaft, der EU-Kommission und der Europäischen Zentralbank) gehören folgende Staaten zu G20: Argentinien, Australien, Brasilien, China, Deutschland, Frankreich, Vereinigtes Königreich, Indien, Indonesien, Italien, Japan, Kanada, Mexiko, Russland, Saudi Arabien, Südafrika, Republik Korea, Türkei und die USA. Vor den Gipfeln gibt es Treffen und Gespräche mit verschiedenen NGOs; auch sind transnationale Institutionen eingeladen, wie z.B. die WTO oder die Afrikanische Union.
[15] Vgl. https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/
Themen/Internationales_Finanzmarkt/G7-G20/G20-7292.html, 4.1.2019, 7.11.2019.
[16] In:https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/
Internationales_Finanzmarkt/G7-G20/G20-7292.html,4.1.2019, 7.11.2019.
[17] Vgl. http://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/251308/g20-gipfel-03-07-2017, 3.7.2017, 7.11.2019; https://www.tagesschau.de/inland/g-zwanzig-beschluesse-101.html, 9.7.2017, 7.11.2019; https://www.zeit.de/politik/2017-07/g20-gipfel-hamburg-live, 9.7.2017, 7.11.2019.
[18] In: https://www.vice.com/de/article/bjxvm3/eingekesselt-zwischen-plunderern-und-sek, 8.7.2017, 7.11.2019.
[19] Vgl. z.B. die Konzeption eines Demokratischen Weltparlaments auf der Ebene der Vereinten Nationen in Kap. 5.3
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Extra:
Ergänzender Artikel zum Buchtext
Widerstand gegen den Energy Charter Treaty (ECT)
von Klaus Moegling
26.10.2022, letzte Aktualisierung: 5.11.2022
Eine Handvoll junger Menschen aus Europa klagt gegen den Energie-Charta-Vertrag. Sie wollen verhindern, dass multinationale Energiekonzerne zukünftig Staaten, die sich in der sozialökologischen Transformation befinden, vor internationalen Schiedsgerichten verklagen können. Auch zahlreiche NGOs und mehrere EU-Regierungen kritisieren den Ende des Jahres auf europäischer Ebene zur Abstimmung stehenden Vorschlag der EU-Kommission eines modernisierten ECT.
(Inzwischen hat die deutsche Bundesregierung den Austritt aus dem Energie-Charta-Vertrag beschlossen. Allerdings sind noch 20 Jahre Klagen von Energie-Konzernen gegen sich sozialökologisch transformierende Staaten möglich (siehe unten))
Kaum bemerkt von der Öffentlichkeit unterzeichneten u.a. die EU-Staaten rechtsverbindlich 1994 einen 1998 in Kraft getretenen internationalen Vertrag, der insbesondere dazu diente, Investitions- und Handelssicherheit für multinationale Energiekonzerne zu schaffen, die damals in den rechtlich unsicheren Verhältnissen in Osteuropa und Zentralasien investieren wollten. Inzwischen sind dem Energy Charter Treaty (ECT) 51 Staaten aus Europa und Asien sowie die EU und EURATOM beigetreten. Des Weiteren bezieht sich der Vertrag – entgegen seiner ursprünglichen Intention – nun auch maßgeblich auf die energiewirtschaftliche Investitionstätigkeit innerhalb der EU. Der Vertrag, der das Risiko für eine Investitionstätigkeit im Bereich der Energiewirtschaft postsowjetischer Staaten vermindern sollte, führte vor allem zu Klagen gegen EU-Staaten in Milliardenhöhe. Besonders strittig ist hierbei die im Vertrag verankerte Funktion internationaler Sondergerichte, die zum Teil in den USA sitzen und EU-Recht nicht anerkennen. Sie entscheiden in intransparenten Verfahren, wenn ein Konzern einen Staat verklagt, der ökologische Reformen vornimmt, von denen sich dieser Konzern benachteiligt fühlt. So verklagte RWE den niederländischen Staat, da dieser den Kohleausstieg auf das Jahr 2030 vorziehen wollte. Auch die hohen Abfindungssummen des deutschen Staates für den schwedischen Konzern Vattenfall im Zuge des deutschen Ausstiegs aus den Kernkraftwerken sind vor dem Hintergrund des ECT zu sehen. So klagte beispielsweise auch der britische Ölkonzern Rockhopper Explorations den Staat Italien aufgrund verweigerter Bohrgenehmigungen vor der italienischen Küste (Region Abruzzen). Slowenien wurde verklagt, da es von Konzernen ein Gutachten zur Umweltverträglichkeit von Fracking verlangte. Bis heute sind 150 Investorenklagen vor dem Hintergrund des ECT bekannt. [1]
Der Absatz 16 des Vertrags über die Energiecharta legt die Bestimmungen zu den Sondergerichten fest:
„Ist ein Investor einer anderen Vertragspartei der Auffassung, daß eine Regierung ihren nach den Investitionsschutzbestimmungen zu erfüllenden Verpflichtungen nicht nachgekommen ist, dann kann der Investor vorbehaltlich der bedingungslosen Zustimmung der Vertragspartei im Hinblick auf die Beilegung entweder das nationale Gericht befassen oder eine internationale Schiedsstelle (ICSID, die Zusatzeinrichtung des ICSID, das UNCITRAL oder die Stockholmer Handelskammer) einschalten.“ [2]
Dies bedeutet, dass unter dem Vorwand des Investitionsschutzes Staaten mit Milliardenklagen multinationaler Energiekonzerne überzogen werden können, wenn sie konsequente Maßnahmen gegen die eintretende Klimakatastrophe ergreifen oder der Gefährlichkeit von AKWs und der fehlenden Entsorgung radioaktiven Materials begegnen wollen. Hierbei können nicht nur entstandene Kosten sondern auch entgangene Gewinne eingeklagt werden. Derartige Vertragsdetails werden nur selten in der Medienöffentlichkeit thematisiert. Die Berliner Zeitschrift ‚Der Tagesspiegel‘, auf die sich hier u.a. bezogen werden soll, war eine der wenigen Zeitschriften, die ausführlich über die Problematik des Energiecharta-Vertrags und die laufenden Verhandlungen im Jahr 2022 berichteten [3].
Europäische Regierungen fordern einschneidende Reformen des ECT
Die NGO ‚Investigate Europe‘ [4] berechnete, dass es zukünftig um ein Klagevolumen von ca. 345 Milliarden Euro (!) gegen EU-Staaten gehen werde. Hierbei ist in diese Berechnung insbesondere der geschätzte Wert von erschließbaren Öl- und Gasfeldern im europäischen Raum eingeflossen.
Regierungen würden bereits im Vorfeld gesetzlicher Regelungen mögliche Investorenklagen von Energieunternehmen berücksichtigen und ihre Gesetzgebung entsprechend anpassen. Die Sorge vor Investorenklagen würde daher die notwendigen Gesetze für eine konsequente Bekämpfung der Klimakrise verhindern.
Seit 2017 sind daher angesichts dieses Klagerisikos Forderungen europäischer Staaten nach einer einschneidenden Veränderung des Energiecharta-Vertrags erhoben worden. Die EU-Kommission verhandelte dann auch einen veränderten ECT und bezeichnete das neue Vertragswerk [5], das im Juni 2022 abgeschlossen wurde, als Verhandlungserfolg, da er nun den EU-Klimazielen angepasst sei. Doch verschiedene europäische Vertragsstaaten sahen dies anders. Zwar würden neue fossile Unternehmensinvestitionen zukünftig nicht mehr durch den Vertrag geschützt werden. Der Schutz gelte nun vor allem für Investitionen in Wasserstoff und erneuerbare Energien, aber bereits bestehende Investitionen in die Fossilwirtschaft würden noch weitere 10 bis 20 Jahre Investitionsschutz und damit verbunden die Klagemöglichkeit vor den fragwürdigen internationalen Schiedsgerichten besitzen. Investitionen in die Förderung von Gasvorkommen würden sogar noch bis 2040 geschützt sein. Dies wäre ein erhebliches Hindernis für die gerade in der nächsten Dekade zu leistenden Energiewende und den wirkungsvollen Kampf gegen die Klimakrise.
Problematisch ist auch im Modernisierungsvorschlag der EU-Kommission der zeitlich unbegrenzte Schutz von Kernkraftwerken, da die mit der zivilen Nutzung der Atomenergie verbundenen Probleme noch nicht gelöst sind (wenn dies überhaupt lösbar ist).
Aber auch den bisherigen Energie-Charta-Vertrag unterstützende Staaten, wie Japan und Großbritannien sowie Erdöl exportierende Staaten wie Kasachstan und Turkmenistan, wenden sich gegen den reformierten ECT der EU-Kommission [6]. Derartige auf Fossilwirtschaft und z.T. auf Atomindustrie basierende Staaten möchten überhaupt keine Veränderungen des ursprünglichen ECT vornehmen. So kündigt Japan an, den modernisierten Vertragsvorschlag der EU-Kommission zu blockieren.
Forderungen nach dem Austritt aus dem Energiecharta-Vertrag
Dementsprechend überlegen derzeit verschiedene europäische Staaten, aus dem internationalen Vertragswerk des ECT auszusteigen. Italien hat den ECT bereits 2016 aufgekündigt. Spanien und die Niederlande wollen ebenfalls voraussichtlich den ECT verlassen, Deutschland und Frankreich prüfen die Möglichkeit, den Vertrag auch unter den reformierten Bedingungen zu kündigen.
In einem offenen Brief von 78 internationalen Klimawissenschaftler:innen kritisieren diese den Reformentwurf und fordern u.a. von der EU-Kommission und dem Rat der EU einen Austritt aus dem Energie-Charta-Vertrag, da ansonsten aufgrund der staatlichen Maßnahmen gegen die Klimakrise eine Vielzahl von Investor-State-Dispute-Settlements (ISDS, also Klagen von Investoren vor internationalen Schiedsgerichten) zu erwarten seien – so die Wissenschaftler:innen:
„By maintaining in the modernised ECT the protection of foreign investment in existing fossil fuels, EU countries will have to choose between keeping the existing fossil fuel infrastructure running until the end of their lifetimes or facing new ISDS claims. Both options will jeopardise the EU climate neutrality target and the EU Green deal.“ [7]
Diese Kritik an dem Entwurf eines modernisierten Energiecharta-Vertrags wird von zahlreichen NGOs, wie z.B. dem Climate Action Network Europe (CAN) oder ATTAC geteilt. Bereits 2021 zählte die Süddeutsche Zeitung [8] in ihrem Bericht über den ECT Hunderte Wissenschaftler und mehr als 250 Mitglieder des Europäischen Parlaments, die einen Austritt aus dem ursprünglichen Vertrag fordern würden. Mehr als eine Million Menschen in Europa hatten im März 2021, bereits zwei Wochen nach deren Veröffentlichung, eine Petition [9] gegen den ECT unterschrieben.
Der modernisierte Energie-Charta-Vertrag muss nun im November 2022 einstimmig von den ECT-Vertragsparteien angenommen werden. Dies ist sicherlich fraglich, ob eine derartige Annahme des Entwurfs der EU-Kommission gelingen wird. Auch müssen hiernach der EU-Rat und das EU-Parlament dem Vertragsentwurf zustimmen. Des Weiteren müssten die nationalen Parlamente der Mitgliedsstaaten dem Vertrag zustimmen. Dies wäre ein Prozess, der sich noch Jahre hinziehen könnte. [10]
Im September 2021 hatte übrigens bereits der Europäische Gerichtshof (EuGH) ein Urteil gefällt, dass die Anwendung von Bestimmungen des Energiecharta-Vertrags auf Rechtsansprüche im innereuropäischen Verhältnis europarechtlich nicht zulässig sei. Die Klage innereuropäischer Gegnerparteien vor internationalen Schiedsgerichten sei nicht mit dem europäischen Recht vereinbar. Gegner des ECT würdigten daher das EuGH-Urteil als die Beerdigung des Vertragswerkes. Dennoch hielt dies Unternehmen und Schiedsgerichte nicht davon ab [11], weitere Klagen einzureichen bzw. zuzulassen.
Eine 17-jährige Klimaaktivistin von Fridays for Future klagt gegen den ECT.
Gemeinsam mit einigen anderen jungen europäischen Klimaaktivisten reichte die Schülerin Julia, die aus dem von der Klimakrise massiv betroffenen Ahrtal stammt, im Juli 2022 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Klage gegen zwölf europäische Staaten ein. Die Klage will erreichen, dass diese Staaten aus dem Energiecharta-Vertrag austreten. Eine französische Anwältin und mehrere NGOs unterstützen diese Klage.
Julia, die die katastrophalen Folgen der Klimakrise im Ahrtal selbst erfahren hat, ist der Auffassung, dass der Energiecharta-Vertrag den Kampf gegen die Klimakrise erschweren bzw. behindern würde. Er sei im Interesse der Fossilwirtschaft verfasst, auch in seiner modernisierten Form, und sei mit der notwendigen Energiewende im Sinne der Pariser Klima-Verträge unvereinbar. Die Klagemöglichkeit von Energie-Konzernen gegen Staaten in Milliardenhöhe stellt aus ihrer Sicht eine Verhinderung von staatlichen Maßnahmen zum Schutz des Klimas und damit auch eine massive Beeinträchtigung der Menschenrechte dar – so Julia:
„Ich habe das erlebt. Ich weiß, was Klimakrise macht. Also wenn so etwas passiert und nicht ausreichend gehandelt wird, was muss dann noch passieren? (…) Ich fühle mich direkt in meinen Menschenrechten verletzt.“ [12]
Austritt oder einschneidende Reform des ECT?
Der Austritt von Staaten aus dem Energiecharta-Vertrag, die mit der sozialökologischen Transformation angesichts der Klimakrise ernst machen wollen, scheint auf den ersten Blick ein plausibles Anliegen zu sein. Italien hat bereits 2016 diesen Schritt gewagt. Fakt aber ist, dass Italien, laut Vertrag, von 2016 an noch 20 Jahre von Fossilunternehmen verklagt werden kann, wenn Italien deren Investitionen behindere bzw. beeinträchtige. Ein Austritt europäischer Staaten würde also in den nächsten beiden, für die Bekämpfung der Klimakrise entscheidenden, Dekaden wenig ändern. Daher müsste m.E. eher eine deutlichere Überarbeitung des Energy Charta Treaty mit dem Ziel erfolgen, vor allem Investitionssicherheit für Energieunternehmen zu schaffen, die in erneuerbare Energien und in die zukünftige Wasserstoffwirtschaft investieren. Eine weitere Klagefrist für Fossilunternehmen vor Sondergerichten ist im Einklang mit europäischem Recht auszuschließen.
Der bisherige Modernisierungsvorschlag der EU-Kommission ist daher kritisch zu betrachten, da er zudem noch zwischen 10-20 Jahren Investitionssicherheit und die entsprechende Klagemöglichkeit vor internationalen Schiedsgerichten für die Fossilwirtschaft (Öl, Gas, Kohle) gewährleistet. Auch müsste das intransparente Klageverfahren zugunsten einer Klagemöglichkeit vor europäischen Gerichten beseitigt werden, die den Rechtsansprüchen des EuGH entsprechen. Eine weiterhin geltende Paralleljustiz widerspricht [13] europäischem Recht.
Es verwundert, dass über die genannten Aktivitäten im Widerstand gegen die Modernisierung des ECT kein größeres Protestpotenzial in der europäischen Bevölkerung ausgelöst wird – so wie es vor ein paar Jahren bei den weltweiten Protesten gegen die internationalen Investitionsschutz- und Handelsabkommen TTIP und CETA noch der Fall war.
Eine weitere Information [14] der internationalen Journalisten-NGO ‚Investigate Europe‘ könnte hier noch einmal als Weckruf wirken – nämlich,
· „dass an den Schiedsgerichten ein kleiner Zirkel von Anwälten tätig ist, die mitunter in den Verfahren mal als Schiedsrichter und mal als Anwalt fossiler Konzerne arbeiten. Im Gespräch mit ‚Investigate Europe‘ nennt ein Schiedsrichter dies unethisch. Die Gehälter der Schiedsrichter sind zudem nahezu unbegrenzt und werden auch aus Steuergeldern bezahlt.
· dass selbst Juristen das System der Schiedsrichter und des Energiecharta-Vertrags längst kritisch sehen. In Gesprächen mit ‚Investigate Europe‘ bezeichneten sie dieses als ‚russisches Roulette‘ sowie als ‚historischen Fehler‘.“
Die gegenwärtigen Ereignisse um den Krieg in der Ukraine scheinen die Öffentlichkeit sehr stark in ihrer Aufmerksamkeit zu fokussieren und von anderen drängenden Fragen abzulenken. Es ist zumindest zu hoffen, dass u.a. die Mitglieder des EU-Parlaments der Tragweite zukünftiger Beschlüsse hinsichtlich des Energiecharta-Vertrags weiterhin ihre kritische Aufmerksamkeit zuwenden. Wenn das EU-Parlament seine kürzlich beschlossene Resolution [15] zur Beendigung fossiler Energiewirtschaft und zur Stärkung erneuerbarer Energien ernst nimmt, dann kann es keine Klagemöglichkeit zwischen 10 und 20 Jahren hinnehmen, wenn Konzerne ihre an fossiler Energieproduktion orientierten Interessen beeinträchtigt sehen. Hier ist das EU-Parlament gefordert, sich nicht wieder – wie bei der Zustimmung zum Greenwashing der EU-Nachhaltigkeits-Taxonomie [16] – den Vorgaben der EU-Kommission mehrheitlich zu beugen.
Der ursprüngliche, noch geltende, Energy Charter Treaty ist der Versuch der neoliberalen politischen und ökonomischen Fraktion des Kapitalismus, Extra-Profite auf Kosten der Steuerzahler herauszuholen und gleichzeitig die Abkehr von der Nutzung fossiler Rohstoffe zu behindern. Hier handelt es sich um einen massiven Versuch der Privatisierung öffentlicher Gelder. Auch der modernisierte Vertragsentwurf ist noch z.T. von den Problemen des ursprünglichen Vertrags belastet. Wenn aber die Transformation des ECT nicht gelingt, würde sich an dieser Situation erneut die Unvereinbarkeit von Demokratie und ungebremstem Kapitalismus zeigen. Die Mehrheit der Bevölkerung würde sicherlich nicht einsehen wollen, warum sich Fossilkonzerne noch in der entscheidenden Phase sozialökologischer Transformation und der Bekämpfung der bereits eintretenden Klimakatastrophe mit Hilfe von intransparenten Klagen vor internationalen Schiedsgerichten auf ihre und nachfolgender Generationen Kosten bereichern können.
Fazit und offene Fragen
Meiner Meinung nach sollte eine radikale Modernisierung des Vertrags nach einem möglichen Veto des EU-Parlaments zum aktuellen Modernisierungsvorschlag der EU-Kommission versucht werden. Hierbei sollte ein Investitionsschutz für Ökologie feindliche Konzerne (Öl, Gas, Kohle) ausgesetzt werden. Auch dürften Investitionen in Kernkraftwerke zukünftig nicht mehr durch den modernisierten ECT geschützt werden, da hier weder die Entsorgungsmöglichkeit noch die Frage der Reaktorsicherheit geklärt sind.
Der Investitionsschutz darf sich nur auf Investitionen in die sozialökologische Transformation beziehen. Wenn eine derartige Modernisierung des ECT auf EU-Ebene nicht gelingt (was wahrscheinlich ist), sollten immer mehr Staaten aus dem Energiecharta-Vertrag aussteigen, bis dieser dadurch unwirksam wird bzw. kaum noch internationale Relevanz besitzt. Die Regierungen von Spanien, der Niederlande, Polens, Sloweniens sowie Italiens (bereits ausgetreten) haben bereits entsprechende Ankündigungen vorgenommen. Deutschland und Frankreich denken derzeit über einen Austritt nach. Voraussetzung hierfür ist, dass z.B. die europäische Gerichtsbarkeit sich gegen die europarechtliche Missachtung von Seiten der internationalen Schiedsgerichte durchsetzt und die Beendigung der Gültigkeitsklausel des ECT erreicht wird, die austretende Staaten noch zu 20 Jahren Investitionsschutz für Investitionen in fossile Energien verpflichtet ('Sunset-Klausel').
Anschließend ist auf globaler Ebene, z.B. unter dem Dach der UN, ein neuer Investitionssicherungsvertrag für Investitionen im Kampf gegen die eintretende Klimakatastrophe auszuhandeln, an dem alle UN-Staaten teilnehmen können. Dieser Vertrag müsste ohne die eine intransparente Paralleljustiz darstellenden internationalen Schiedsgerichte auskommen können. Im Konfliktfall müssten die nationale Gerichtsbarkeit und die zuständigen UN-Institutionen ausreichen, wenn ein Staat seinem Investitionsschutz nicht nachkommt. Hierbei ist auch über die Einrichtung eines multilateralen Gerichtshofs unter dem Dach der UN nachzudenken, im Rahmen dessen unabhängige und auf internationales Recht spezialisierte Richter Klagen gegen staatliche Verstöße gegen den Schutz von Klima-Investitionen verhandeln. [17]
Offene rechtliche sowie politisch zu klärende Fragen könnten sein:
* Die internationalen Schiedsgerichte erkennen das EuGH-Urteil von 2021 nicht an, das besagt, dass die zwischen europäischen Gegnern durchgeführten internationalen Schiedsgerichtsverfahren nach EU-Recht unzulässig sind. Welches Recht gilt nun?
* In diesem Sinne: Wie stark sind Staaten überhaupt an internationale Schiedsgerichtsverfahren gebunden, wenn deren Urteile EU-Recht und auch nationalem Recht widersprechen würden?
* Sind internationale Schiedsgerichte, deren Mitglieder überhaupt keine Richter sind und die intransparent entscheiden, überhaupt für Demokratien zulässig?
* Was passiert, wenn die EU zu keiner mehrheitsfähigen Auffassung kommt, ob sie den modernisierten Vertrag akzeptiert oder für einen Ausstieg plädiert?
* Wie kann eine Investitionssicherheit für Investoren auf internationaler Ebene initiiert und durchgesetzt werden, die in erneuerbare Energien investieren?
* Wie kann eine Diskriminierung von binnenländischen Investoren verhindert werden, die z.B. als Genossenschaften in Windparks investieren? Der ECT - auch die modernisierte Variante - schützt nur Konzerne aus anderen ECT-Staaten.
* In diesem Zusammenhang ist zu klären: Was sind überhaupt erneuerbare Energien? Auch Biogas, Biomasse? Wasserstoff? Was ist mit Techniken wie z.B. 'Carbon capture' und 'Carbon storage'?
* Inwieweit ist ein neuer auf regenerative Energien ausgerichteter ökologischer Investitionssicherungsvertrag mit der Nachhaltigkeits-Taxonomie der EU kompatibel, die in einem umstrittenen Verfahren die Nachhaltigkeit von Kernkraft und Gas unter bestimmten Voraussetzungen festlegt? (Dies wird allerdings von Österreich vor dem EuGH beklagt.)
* Was bedeutet die vorgesehene Ausweitung des ECT auf ca. 40 weitere Staaten in Afrika und Südostasien für die Zukunft dieser Länder, von denen viele Staaten Entwicklungsländer sind?
* Müsste nicht der Investitionsschutz für Investitionen der Fossilindustrie auch aus anderen internationalen Investitionsschutz- und Handelsverträgen herausgenommen werden, wie z.B. bei CETA?
* Und letztlich: Müsste die Entwicklung eines ökologisch orientierten Investitionssicherungsvertrags nicht eine dringende Angelegenheit der UN sein, wenn der künftig geltende Energiecharta-Vertrag gegen die Klimaschutzziele der Vereinten Nationen verstoßen und deren Umsetzung behindern sollte? Sollten die UN nicht initiativ für die Einrichtung eines qualifizierten, unabhängigen und an transparenten Verfahren interessierten multilateralen Gerichtshof werden, der Investitionsstreitigkeiten verhandelt?
Dies alles sind m.E. wichtige Fragen, die es im politischen Diskurs zu klären gilt, wenn am 22.11.2022 die ECT-Vertragsstaaten ihre Entscheidung zum Modernisierungsvorschlag der EU-Kommission gefällt haben. Die umfassende Tragweite und Vielschichtigkeit eines derartigen Vertrags dürfte deutlich gemacht haben, dass bei neuen Vertragsverhandlungen verantwortungsvoller mit dem Blick auf die Klimaentwicklung und damit verbunden auch mit den sozialen Verwerfungen umgegangen werden muss, die letztlich ein derartiger Investitionsschutz- und Handelsvertrag auslösen kann. [18]
(Dies ist ein überarbeiteter und aktualisierter Artikel, der ursprünglich in einer früheren Fassung in Telepolis unter dem Titel ‚Julia gegen den Energiecharta-Vertrag‘ publiziert wurde. In: Telepolis, https://www.heise.de/tp/features/Julia-gegen-den-Energiecharta-Vertrag-7317343.html, 23.10.2022, 24.10.2022.)
Anmerkungen:
[1] Vgl. zur Anzahl der Investorenklagen in Anmerkung 1: https://endfossilprotection.org/sites/default/files/2022-06/2022-06-21%20Letter%20from%20climate%20scientists%20to%20EU%20leaders.pdf, o.D., entnommen 26.10.2022, vgl. zu den Beispielen für Klagen u.a. https://www.energiezukunft.eu/politik/italien-verliert-energiecharta-prozess-und-soll-oelkonzern-millionen-zahlen/, 26.8.2022, 26.10.2022.
[2] Text der Energiecharta: https://www.energycharter.org/fileadmin/DocumentsMedia/Legal/ECT-de.pdf, 1.10.1996, 26.10.2022.
[3] Vgl. z.B. Schulz, Florence (2022): Ringen um die Energiecharta. In: https://background.tagesspiegel.de/energie-klima/ringen-um-die-energiecharta, 21.6.2022, 21.10.2022 u. Schmidt, Nico (2022): Fliehkräfte in der Energiecharta wachsen. In: https://background.tagesspiegel.de/energie-klima/fliehkraefte-in-energiecharta-wachsen, 18.8.2022, 21.10.2022.
[4] Vgl. https://www.investigate-europe.eu/de/2021/energiecharta-vertrag/, Februar 2021, 26.10.2021.
[5] https://www.euractiv.com/wp-content/uploads/sites/2/2022/06/Agreement-in-principle-ECT_FS.pdf?_ga=2.172897254.419498057.1666437145-801624528.1643693634, 24.6.2022, 26.10.2022.
[6] Vgl. https://www.sueddeutsche.de/politik/energiecharta-klimaziele-schiedsgerichte-klagen-1.5223327, 4.3.2021, 21.10.2021.
[7] Vgl. https://endfossilprotection.org/sites/default/files/2022-06/2022-06-21%20Letter%20from%20climate%20scientists%20to%20EU%20leaders.pdf, o.D., 26.10.2022.[8] Vgl. https://www.sueddeutsche.de/politik/energiecharta-klimaziele-schiedsgerichte-klagen-1.5223327, 4.3.2021, 21.10.2021.
[9] Vgl. https://www.energiezukunft.eu/politik/austritt-unausweichlich/, 12.3.2021, 26.10.2022.
[10] Vgl. Schmidt, Nico (2022): Fliehkräfte in der Energiecharta wachsen. In: https://background.tagesspiegel.de/energie-klima/fliehkraefte-in-energiecharta-wachsen, 18.8.2022, 21.10.2022.
[11] Vgl. https://background.tagesspiegel.de/energie-klima/eugh-erklaert-energiecharta-vertrag-fuer-nicht-anwendbar, 3.9.2021, 26.10.2022.
[12] Nonninger, Bruno (2022): Julia aus dem Ahrtal klagt in Straßburg gegen den Klimaschutz. In: https://www.swr.de/heimat/eifel-ahr/warum-die-17-jaehrige-julia-aus-dem-ahrtal-in-strassburg-klagt-100.html, 22.7.2022, 26.10.2022.
[13] Vgl. hierzu https://www.windkraft-journal.de/2022/10/19/energiecharta-vertrag-ect-ermoeglicht-fossilen-konzernen-gegen-die-energiewende-zu-klagen/180736, 19.10.2022, 21.10.2022.
[14] Vgl. https://www.investigate-europe.eu/de/2021/energiecharta-vertrag/, Februar 2021, 26.10.2022.
[15] Vgl. https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/B-9-2022-0461_EN.html, 11.10.2022, 26.10.2022.
[16] Vgl. die kritische Analyse zur von der EU-Kommission vorgestellten und u.a. vom EU-Parlament mehrheitlich beschlossenen Nachhaltigkeits-Taxonomie: Moegling, Klaus (2022): Ist der Slogan "Atomkraft? – Nein danke!" jetzt zukunftsfeindlich?
https://www.heise.de/tp/features/Ist-der-Slogan-Atomkraft-Nein-danke-jetzt-zukunftsfeindlich-6346228.html, 3.2.2022, 26.10.2022.
[17] Vgl. hier die entsprechenden Vorschläge in: Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (o.D.): Investitionsschutz. In: https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Artikel/Aussenwirtschaft/investitionsschutz.html, o.D., 4.11.2022.
[18] Die NGO PowerShift ruft zu Eingaben an die Bundesregierung auf, damit Deutschland aus dem ECT aussteigt. Diese Aktion wird international und mit Bezug auf weitere nationale Regierungen durchgeführt. Dauer der Aktion: Bis zum 31.12.2022. Vgl. https://power-shift.de/exit-ect/, o.D., 5.11.2022.
1.2 Politische Krisen: Krise der UN, Rückzug der Demokratien und Wiederkehr autoritärer Herrschaftsformen
Thomas Hobbes berühmter Ausspruch „Homo homini lupus est“ [1], deckt sich mit der in den Realismustheorien vertretenen Einschätzung internationaler Beziehungen, die von der Raubtiermentalität der Staaten ausgeht, die in einer chaotischen und ungelenkten weltpolitischen Situation, also ohne eine übergreifende ordnende Hand, übereinander herfallen würden. Als Konsequenz müssten dann alle Staaten bis ins Unendliche in gegenseitiger Konkurrenz aufrüsten, um andere als gefährlich eingestufte Staaten abschrecken bzw. besiegen zu können. Hobbes Lösung zur Beendigung des chaotischen Zustands innerhalb einer Gesellschaft war ein starker Herrscher bzw. eine starke staatliche Macht, die den „bellum omnium contra omnes“– „Krieg aller gegen alle“ – beenden würde. Überträgt man diese Einschätzung auf internationale Verhältnisse, so müsste hier eine starke Zentralgewalt auf der weltpolitischen Ebene gefordert werden, der sich alle Staaten per Vertrag unterwerfen würden. Allerdings widerspricht diese Forderung dem immer noch in der Charta der Vereinten Nationen dominant verankerten nationalstaatlichen Souveränitäts-Gebot, das den UN nur eingeschränkte Handlungsmöglichkeiten einräumt. Auch ließe sich dies nur vertretbar legitimieren, wenn die UN-Entscheidungsstrukturen tatsächlich demokratischen Anforderungen entsprächen.
Anspruch und Wirklichkeit der Vereinten Nationen
Die United Nations Organization (UNO) sollte von ihrem Gründungsverständnis her tatsächlich zur lenkenden Macht der internationalen Beziehungen werden, im Rahmen derer über internationale Aushandlungsprozesse auf diplomatischem Wege vertretbare Kompromisse in Konfliktsituationen gefunden werden sollten. Dies entspräche dann dem Zugang der Institutionalismustheorie, die von einem institutionalisierten Interessensausgleich auf der internationalen Ebene ausging – so wie es in der Präambel der UN-Charta zugrundegelegt wurde.
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„WIR, DIE VÖLKER DER VEREINTEN NATIONEN – FEST ENTSCHLOSSEN, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat,
unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen,
Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können,
den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit zu fördern,
UND FÜR DIESE ZWECKE Duldsamkeit zu üben und als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben, unsere Kräfte zu vereinen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren,
Grundsätze anzunehmen und Verfahren einzuführen, die gewährleisten, daß Waffengewalt nur noch im gemeinsamen Interesse angewendet wird, und internationale Einrichtungen in Anspruch zu nehmen, um den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt aller Völker zu fördern – HABEN BESCHLOSSEN; IN UNSEREM BEMÜHEN UM DIE ERREICHUNG DIESER ZIELE ZUSAMMENZUWIRKEN.“ [2]
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Die Zunahme von Kriegen unterschiedlichster Form, die Klimakatastrophe, weltweite Ungerechtigkeit in der Eigentums- und Vermögensverteilung, der Hunger in der Welt, aber auch die Notwendigkeit zur Bekämpfung von Pandemien erfordern eine starke, demokratisch organisierte und leistungsfähige UN im Interesse aller Völker. Die UN dienen jedoch – so die im weiteren Verlauf zu begründende These – aufgrund ihrer undemokratischen und oligarchischen Organisationsstruktur vor allem der Interessendurchsetzung der als fünf ständige Mitglieder im Sicherheitsrat vertretenen Atommächte, was den in der Charta-Präambel festgelegten Grundsätzen deutlich widerspricht.
Die UN-Vollversammlung repräsentiert fast alle Staaten und müsste eigentlich die zentrale Entscheidungsmacht darstellen. Doch ein wesentliches Merkmal des Demokratiedefizits der Vereinten Nationen ist bereits in der Rekrutierung der Mitglieder der Vollversammlung angelegt: Es handelt sich bei den Mitgliedern der UN-Vollversammlung um keine demokratisch gewählten Delegierten, sondern um diplomatische Beamte der einzelnen Nationen, die weisungsabhängig sind. Auch die weltpolitischen Beschlüsse der UN-Vollversammlung haben nur empfehlenden Charakter. Derartige Entscheidungen und Resolutionen der UN-Generalversammlung sind völkerrechtlich nicht bindend.
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Der Sicherheitsrat und dort vor allem die mit einem Veto-Recht ausgestatteten ständigen Mitglieder sind das eigentliche Machtorgan, ohne dass die USA, Russland, die VR China, England sowie Frankreich über ein dies legitimierendes demokratisches Mandat verfügen würden. Ihre Macht ist gesetzt und resultiert aus dem Ausgang des 2. Weltkriegs als Siegermächte. Durch ihr Veto-Recht ist der Sicherheitsrat häufig in kontroversen Fragen blockiert und beschlussunfähig, da hier noch keine universalistische Orientierung, sondern vor allem die Ausrichtung der UN-Politik an nationalen geostrategischen Interessen vorliegt. Hinzu kommt, dass der UN-Sicherheitsrat nicht repräsentativ ist, d.h. große Nationen, wie z.B. Indien oder Brasilien, nicht vertreten sind. [3]
Die Politikwissenschaftler James Cockayne (UK) und Christoph Mikulaschek (USA) sehen den Silocharakter voneinander getrennter institutioneller Bereiche und die institutionellen Revierkämpfe zwischen den verschiedenen Institutionen („institutional silos and turf Wars“) als eine wesentliche Ursache für die fehlende Effizienz der UN hinsichtlich der Lösung transnationaler Problemstellungen. Sie sprechen hier die Konkurrenz zwischen der UN-Generalversammlung und dem UN-Sicherheitsrat am Beispiel des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus an:
„An example of the challenges of overcoming these institutional barriers to improved response to transnational security challenges is counterterrorism. The twenty-four different parts of the UN system engaged in counterterrorism have repeatedly been the subject of structural reform proposals. While the coordination and cooperation among the counterterrorism bodies has recently improved, none of the far-reaching structural reform proposals has been implemented thus far. One of the reasons underlying the structural reform deadlock is an ongoing struggle between the Security Council and the General Assembly over control of the UN’s counterterrorism program. Only when such turf wars can be resolved will the UN improve its capacity to respond to transnational security challenges.“ (Cockayne/Mikulaschek 2008, 4)
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Des Weiteren überlässt das Prinzip nationalstaatlicher Souveränität sowie die damit verbundene Nicht-Einmischungspolitik in innere Angelegenheiten den einzelnen Nationen bzw. deren Regierungen die Entscheidung, ob sie die ‚Human Rights‘ respektieren oder ihre Bevölkerungen unterdrücken. Alle Versuche scheiterten bisher, die UN-Charta eindeutig im Sinne des bisher umstrittenen ‚responsibility to protect‘ zu reformieren. Es gibt noch kein allgemein anerkanntes völkerrechtliches Mandat für die UN, bei massiven Verstößen gegen die Menschenrechte, z.B. hinsichtlich des allem überzuordnenden Freiheitsrechts und des Rechts auf körperliche Unversehrtheit aktiv zu werden. Auch gibt es kein UN-Mandat, bei der Vernichtung für die Menschheit unverzichtbarer ökologischer Ressourcen, z.B. hinsichtlich der Regenwälder, bei der fehlenden Vorsorge gegen die Ausbreitung Menschheit gefährdender Viren auch gegen das Votum einer unterdrückenden, gefährdenden bzw. zerstörenden nationalen Regierung in innere nationalstaatliche Angelegenheiten einzugreifen.
Zudem dürfte für eine Neuorientierung der UN nicht förderlich sein, dass die USA der größte Geldgeber der Vereinten Nationen sind. 22% des UN-Kernbudgets werden von den USA bestritten [4], die mit ihrem Geldfluss auch konkrete Politik betreiben, wie z.B. das Zurückziehen der US-UNESCO-Gelder im Falle einer gegen die Interessen der USA gefällten Entscheidung [5] oder das Streichen der Gelder für UN-Aktionen gegen den Klimawandel belegen.
Es ist zu bezweifeln, ob die Vereinten Nationen in dieser Verfassung aufgrund der strukturellen Demokratiedefizite derzeit noch als ernstzunehmender Akteur im Rahmen einer wirkungsvollen Friedens- und Sicherheitsarchitektur mit konfliktpräventiver Funktion, wie es in Artikel 1 der UN-Charta festgelegt ist, anzusehen sind. [6]
Nur eine radikal-demokratische Reform der UN und damit verbunden eine Neuordnung der internationalen Beziehungen im Rahmen der Vereinten Nationen können hier entgegensteuern. [7]
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Artikel 1 der UN-Charta
„Die Vereinten Nationen setzen sich folgende Ziele:
1. den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken und internationale Streitigkeiten oder Situationen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen oder beizulegen;
2. freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln und andere geeignete Maßnahmen zur Festigung des Weltfriedens zu treffen;
3. eine internationale Zusammenarbeit herbeizuführen, um internationale Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art zu lösen und die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen;
4. ein Mittelpunkt zu sein, in dem die Bemühungen der Nationen zur Verwirklichung dieser gemeinsamen Ziele aufeinander abgestimmt werden.“ [8]
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Auch werden die Vereinten Nationen zunehmend von regionalen Bündnissen, z.B. im Falle des Syrien-Kriegs Russland und die Türkei, sowie durch die ‚Club Governance‘ (G 7/8 oder G 20) unterlaufen, bei denen sich einflussreiche Staaten verselbstständigen und sich nicht an die Grundsätze der UN-Charta halten bzw. die Einflussmöglichkeiten anderer Staaten hintertreiben.
Der langjährige UNO-Berichterstatter und Journalist Andreas Zumach wendet sich in diesem Zusammenhang dagegen, von der UNO als einen einzigen Akteur zu sprechen, der wie eine Person oder eine homogene Regierung handele. Dies verkenne, dass die Vereinten Nationen aus einer Vielzahl nationalstaatlicher Akteure bestünden, die – mit unterschiedlichem Gewicht – ihre Interessen durchzusetzen versuchen – so Zumach (2021, 14):
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„Tatsächlich bestimmen die Mitgliedsstaaten das Handeln der UNO. Ob sich die UNO überhaupt um ein Problem kümmert oder nicht, ob sie dabei erfolgreich ist oder scheitert – das ist immer das Ergebnis der Interessen von Mitgliedsstaaten, die sich bei den Entscheidungen des Sicherheitsrates, der Generalversammlung oder anderer Gremien und Institutionen des UNO-Systems entweder durchsetzen oder nicht. Allerdings setzen sich die Mitgliedsstaaten mit hohem politischem, wirtschaftlichem und militärischem Gewicht besonders häufig durch und bestimmen das Handeln der UNO. Diese Tatsache sowie der Umstand, dass einige dieser übergewichtigen Mitgliederstaaten, insbesondere die USA, die UNO-Charta und andere Bestimmungen des Völkerrechts in den letzten Jahren in besonders eklatanter Weise gebrochen haben, ohne dass diese Verstöße irgendwelche Folgen hätten, haben inzwischen bei vielen langjährigen Befürwortern der UNO zur resignativen bis zynischen Abkehr geführt.“
Allerdings plädiert Zumach entgegen dieser resignativen Abwendung von der UNO im Laufe seines Buches – angesichts der durchaus feststellbaren friedenpolitischen Leistungen der UNO in den letzten 75 Jahren – für eine strukturelle Reform der UNO und eine konsequente Demokratisierung der Vereinten Nationen.
Hierbei müssten m.E. auch die Interessen des Globalen Südens, so unterschiedlich sie sind, eine deutlichere Berücksichtigung finden. Auch wenn die USA dies nicht wahrhaben wollen, befindet sich die internationale Politik auf dem Weg zu einer multipolaren Struktur. Der Globale Süden ist sich seiner kolonialen Vergangenheit und der noch immer in diesem historischen Zusammenhang wirkenden postkolonialen Struktur durchaus bewusst. Dieser historische Kontext spiegelt sich auch in den Machtverhältnissen des UN-Sicherheitsrats wieder, in dem kein einziger Staat des Globalen Südens Mitglied im Kreis der mit Macht ausgestatteten ständigen Mitglieder ist. Der Globale Süden wird zwar vom Globalen Norden sowie China und der Russischen Föderation vor allem wegen seiner Bodenschätze hofiert, aber Welthandels- und internationale Entscheidungsstrukturen sprechen eine andere Sprache. Doch es lägen erhebliche Chancen in einer verstehenden, achtungsvollen und partnerschaftlichen Berücksichtigung des globalen Südens – so die im Umgang insbesondere mit afrikanischen Staaten erfahrenen Politikwissenschaftler Johannes Plagemann und Henrik Maihack (2023, 23):
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„Ein besseres Verständnis der Unterschiede in der Wahrnehmung der internationalen Politik zwischen dem Globalen Süden und dem Westen wird drängender, je mehr der Westen an seiner Dominanz verliert. Die Menschheitsaufgabe der Klimakrise kann in einer multipolaren Welt nicht durch den Westen allein gelöst werden. Neue politische Allianzen zwischen globalem Norden und Süden werden notwendig, um globale Krisen zu lösen. Zumal eine multipolare Welt zumindest das Potenzial für eine gleichberechtigtere und damit demokratischere internationale Ordnung bietet. Die ist auch im langfristigen Interesse der deutschen und europäischen Außenpolitik. Wir müssen den Blick der Länder des Globalen Südens auf die internationale Politik besser verstehen, denn es lohnt sich. Dort, wo wir bislang vor allem Risiken sehen, warten eigentlich Chancen.“
„The future belongs to patriots“ – oder die Vergangenheit?
Die Rede des US-Präsidenten Donald Trump im September 2019 vor der 74. UN-Generalversammlung machte die bewusst im nationalchauvinistischen Sinne vorgenommene Schwächung der UN ebenfalls deutlich. Trump wagte es, den Vertretern der Vereinten Nationen ihre Legitimität im Sinne einer multilateralen Verständigungsgemeinschaft abzusprechen, indem er formulierte:
„If you want freedom, take pride in your country,“ Trump fuhr fort, „If you want Democracy, hold on to your sovereignty. If you want peace, love your nation. Wise leaders always put the good of their own people and their own country first.“ Und: “The future does not belong to globalists. The future belongs to patriots.“ [9]
Hier wiederholte er seine bereits zuvor vor den UN vorgebrachte provokative Aussage, dass die Zukunft nicht dem Weltbürgertum sondern den nationalstaatlichen Patrioten gehöre. Demokratie könne nur im nationalstaatlichen Rahmen erhalten werden. Nur Menschen, die ihre Nation lieben, würden automatisch zum Frieden in der Welt beitragen. Geschichtsvergessener kann man sich wohl nicht äußern. Immer waren national-patriotische Einstellungen und nationalistisch gefütterte Emotionen Begleiterscheinung und massenpsychologisch hergestellte Motivation zwischenstaatlicher Kriege.
Klugheit in der politischen Führung besetzt er mit dem Nationalchauvinismus ihrer politischen Führer, vergleichbar mit dem „America first“. Dass Trump sich dies in seiner Funktion als US-Präsident vor den Vereinten Nationen erlauben konnte, ist Ausdruck der zu beobachtenden Schwächung der Vereinten Nationen, die sich gegen eine derartige Verhöhnung ihres eigenen Anspruchs hinsichtlich der Multilateralität und Völkerverständigung nicht wirkungsvoll wehren kann.
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Auch die nationalstaatliche Demokratie ist in der Krise
Doch nicht nur auf der Ebene der Vereinten Nationen lassen sich Demokratiedefizite feststellen, auch zahlreiche Nationalstaaten mit ehemals demokratischem Selbstanspruch sind in der Krise.
Bereits vor mehreren Jahrzehnten kritisierte der deutsche Sozialwissenschaftler Tilman Evers (1991, 3f.) zutreffend das Demokratiedefizit traditionell repräsentativ organisierter Demokratien:
„Dazu zählen Politikverdrossenheit und Vertrauensschwund in der Bevölkerung, Zurichtung politischer Inhalte auf Wahltermine und Medienöffentlichkeit, Ausblendung längerfristiger und programmatisch ‚querliegender’ Themen, Parteidisziplin statt Diskussions- und Lernoffenheit, hierarchische Binnenstrukturen und Ämterpatronage, Aushöhlung des Parlaments zugunsten der Exekutive und Kompetenzbehauptung statt Problemlösung.“
Der britische Sozialwissenschaftler Colin Crouch publizierte erstmals 2004 seinen weit verbreiteten Essay über die Postdemokratie [10]. Die westlichen Demokratien seien auf dem Weg zu einem postdemokratischen Zustand, in dem Demokratie nur noch formal vorhanden sei. Demokratie werde vor allem formal über Wahlen organisiert, bei denen vor allem über das entschieden werde, was PR-Agenturen, welche die Parteien beraten, für relevant halten. Der Staat verzichte zunehmend auf Interventionen in die Wirtschaft und überlasse der Ökonomie und den dahinter stehenden, profitierenden 'Eliten' die wesentlichen gesellschaftlichen Entscheidungen. Während sich die nationalen Demokratien kaum weiter entwickelt hätten, unfähig zur internationalen Zusammenarbeit seien, entwickelte sich die internationale Verflechtung der Konzerne im Zuge der fortgeschrittenen Globalisierung weiter:
„Ich sage nicht, dass es die Demokratie nicht mehr gibt. Aber ich sage, dass wir uns auf einen Zustand zubewegen, den ich Postdemokratie nenne. Damit meine ich eine Situation, in der zwar alle Institutionen der Demokratie weiterbestehen – und teilweise sogar gestärkt werden –, aber gleichzeitig die politische Energie aus ihnen entwichen ist. Sie sind nur noch leere Hüllen. (…) Die Probleme, die sich heute der Politik stellen – ob Umweltschutz, die Verknappung der Ressourcen, die Kontrolle über die globalisierte Wirtschaft –, lassen sich mit den Instrumenten der nationalen Demokratie nicht mehr fassen. Das geht einfach nicht mehr, das ist sinnlos. Daraus entsteht eine Frustration, die zum Verlust politischer Energie führt.“ (Crouch 2008)
Demokratie in einem idealen Sinne als partizipative Politikform vollziehe sich kaum noch im repräsentativen Politiksystem, sondern zeige sich eher in sozialen Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen, die noch am ehesten Widerstand gegen die geballte Macht der Konzerne leisten würden. Crouch sieht das Stadium der Postdemokratie noch nicht erreicht, ist aber der Auffassung, dass die westlichen Demokratien auf dem Weg zu einer Postdemokratie seien und stellt die gegenwärtige Entwicklung kritisch infrage:
„Die Frage ist: Sehen wir Demokratie nur als formalen Prozess von Wahlen, aus denen Regierungschefs hervorgehen? Oder sehen wir darin auch eine Kultur von Debatten, zulässiger Kritik, von zivilen Rechten und der Sorge über Ungleichheit jeder Art? Mit Letzterem könnte es schwierig werden.“ (Crouch 2008)
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Natürlich ist zu fragen, ob man alle westlichen Demokratien in dieser Weise undifferenziert betrachten kann oder ob man nicht zwischen den einzelnen politischen Systemen unterscheiden müsse. Dennoch ist anzuerkennen, dass die repräsentative Demokratie ein Partizipationsproblem hat, das zu einer fehlenden Identifikation mit der Demokratie als System führen kann.
Daher ist in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit zu diskutieren, Formen repräsentativer Demokratie mit Elementen direkter Demokratie, wie Bürger- und Volksbegehren sowie Volksentscheide, in eine sinnvolle Balance zu bringen. Werden allerdings Formen direkter Demokratie zu mächtig, dann entwerten sie demokratische Wahlen, die gewählten Parlamente und deren Repräsentanten. Auch stellt sich die Frage, ob Volksabstimmungen immer die besseren politischen Lösungen bringen oder nicht auch im Falle von Manipulation, Hetze und Demagogie zu fragwürdigen Entscheidungen führen. Findet hingegen direkte Demokratie nur mit hohen Hürden oder alibihaft statt, dann fühlen sich die Bürger zwischen den Wahlen oftmals übergangen und abgehängt. Es wird hierbei die Chance zu demokratischer Aktivierung und Mitbestimmung vertan.
Diese Überlegungen zur fehlenden Balance direkter und indirekter Demokratieformen lassen sich im Übrigen auch auf die Vereinten Nationen übertragen. Auch hier ist auf globaler Ebene ein Defizit an Mitbestimmungsmöglichkeiten für die Weltbürger_innen festzustellen.
Aufgrund der fehlenden Mitbestimmungsmöglichkeit, der Abgehobenheit vieler Parlamentarier und der Unzufriedenheit mit vielen parlamentarischen Entscheidungen hat sich in den letzten Jahrzehnten in vielen vorwiegend repräsentativen Demokratien eine schleichende Politik(er)verdrossenheit verbunden mit einem Hang zur Wahl rechtspopulistischer Parteien und Politiker eingestellt.
Hieran hat sich in diesen Demokratien, wie z.B. Deutschland, Japan oder Frankreich, auch nur wenig in den letzten Jahren geändert – abgesehen von den aufgrund der Corona-Pandemie vorübergehend vorgenommenen Einschränkungen der Grundrechte. Einschneidende Änderungen hat es allerdings in einer Reihe ehemaliger repräsentativer Demokratien gegeben, die sich deutlich in die Richtung einer autokratischen Staatsform entwickeln, wie z.B. die Türkei, die Philippinen, Ungarn und Russland. Mit der erneuten Wahl von Trump zum US-Präsidenten und den die Meinungsfreiheit einschränkenden Maßnahmen seiner Regierung scheint auch die USA auf diesem Weg zu sein. Andere Staaten, die noch nie als demokratische Staaten zu bezeichnen waren, wie z.B. China, bauen die digitale Kontrolle über ihre Bürger zunehmend aus und treten in die staatliche Entwicklungsphase einer digitalen Autokratie ein.
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Der Transformations-Index der Bertelsmann-Stiftung (BTI), der seit 2006 für 129 Entwicklungs- und Schwellenländer erhoben wird, weist einen Rückgang demokratischer Strukturen und eine Zunahme nationaler Autokratien aus:
„Immer mehr Menschen leben nicht nur in Ungleichheit, sondern auch in repressiven Regimen. Aktuell werden 3,3 Milliarden Menschen autokratisch regiert, so viele wie noch nie seit Start der Untersuchung. Ihnen stehen 4,2 Milliarden Menschen gegenüber, die in Demokratien leben. Von den 129 untersuchten Entwicklungs- und Transformationsländern stuft der BTI 58 als Autokratien und 71 als Demokratien ein. 2016 betrug das Verhältnis noch 55 zu 74. Aber es ist weniger die leicht steigende Zahl von Autokratien, die bedenklich stimmt. Problematisch ist, dass in immer mehr Demokratien Bürgerrechte beschnitten und rechtsstaatliche Standards ausgehöhlt werden. Ehemalige Leuchttürme der Demokratisierung wie Brasilien, Polen oder die Türkei gehören zu den größten Verlierern im BTI.“ [11]
Auch der EIU-Demokratie-Index der ‚Economist Intelligence Unit Limited‘-Gruppe zeigt für 2023 im Vergleich zu den Jahren zuvor eine ähnliche Tendenz bei den untersuchten Staaten an. Weniger als 8% der Weltbevölkerung würden danach in einer vollwertigen Demokratie leben. Ca. 40% der Weltbevölkerung hingegen leben in autoritären Staaten. Die andere Hälfte der Weltbevölkerung lebe in ‚flawed democracies‘ oder hybriden Systemen, die nur Ansätze der Demokratie aufweisen, aber mit undemokratischen Strukturen durchmischt bzw. mit deutlichen Defekten versehen seien.
(Economist Intelligence Unit Limited (2024)).
Gesellschaftsveränderung nur über eine mehrdimensionale Stärkung der Demokratie
Trotz diesem derzeitig feststellbaren Rückzug der Demokratien im weltweiten Kontext soll an der Idee der Demokratie als geeigneter gesellschaftlicher Lebensform und staatlicher sowie transnationaler Herrschaftsform festgehalten werden. Dies bezieht sich auch auf die Ökonomie. Gerade hier ist das vorhandene Demokratiedefizit - auch in den noch als weitgehend als demokratisch eingeordneten Staaten - ebenfalls vorhanden.
Nur in Demokratien lassen sich die Menschenrechte, wie z.B. Gesinnungs- und Meinungsfreiheit, verwirklichen. Nur in Demokratien müssen demokratisch engagierte Menschen im Anschluss an der Teilnahme an einer Demonstration nicht in der Angst leben, am nächsten Morgen verhaftet zu werden. Nur in Demokratien kann es gelingen, den Willen und die Bedürfnisse unterschiedlicher Bevölkerungsteile im Rahmen von Beteiligungsverfahren und politischen Kompromissen angemessen zu berücksichtigen.
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Weder rechtspopulistisch legitimierte und autokratische Herrschaftsformen noch traditionell linke Vorstellungen eines autoritären sozialistischen Staats im Übergang zum Kommunismus (‚Diktatur des Proletariats‘) sind geeignet, die gegenwärtigen und zukünftigen Probleme der Menschheitsentwicklung und gesellschaftlicher Entwicklung zu bewältigen. Nur über eine weitere Demokratisierung im nationalen, regionalen und globalen Kontext ist eine gesellschaftliche Veränderung zu mehr Frieden und zu weniger Kriegen zu erzielen. Hier ist dem Ansatz der Liberalismustheorie der internationalen Beziehungen zuzustimmen, die u.a. davon ausgeht, dass Staaten, denen es gelungen ist, ihre Interessensunterschiede und Konflikte friedfertig und demokratisch auszutragen, auch international eher zu Verhandlungen und Kompromissbildungen neigen als autokratische oder sogar diktatorische Staaten.
Natürlich sind kapitalistische Gesellschaftsstrukturen sowie die hiermit in Verbindung stehende Profitgier der Menschen sozial zu bändigen und systemisch einzuhegen, damit sie die Demokratie nicht unterlaufen. Insbesondere die Praxis eines neoliberalisierten und entfesselten Kapitalismus und das Konzept der Demokratie passen nicht zueinander. Es besteht hier ein offenkundiger Widerspruch zwischen dem Interesse (und der Gier) einiger weniger sehr reicher Menschen und dem Wille der Mehrheit an ein auskömmliches und selbstbestimmtes Leben.
‚Fassadendemokratie‘ und ‚Tiefer Staat‘?
Häufig wird in letzter Zeit kritisiert, Demokratien seien zu Fassadendemokratien degeneriert, die existieren könnten, weil sie für diejenigen, die sich hiervon nicht täuschen ließen, einen überwachenden ‚Tiefen Staat‘ bereithielten. Typisch für die im Widerspruch zueinander stehende Verbindung aus neoliberalisiertem Kapitalismus und einem nur formalen Anspruch auf demokratische Strukturen seien zunächst systemische Tendenzen hin zu Scheindemokratien bzw. Fassadendemokratien.
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Der Psychologe Rainer Mausfeld (2017) beschreibt die Fassadendemokratie wie folgt:
„Die großen politischen Entscheidungen werden zunehmend von Instanzen und Akteuren bestimmt, die nicht der Kontrolle der Wähler unterliegen. Während also die Hülse einer repräsentativen Demokratie weitgehend formal intakt erscheint, wurde sie ihres demokratischen Kerns nahezu vollständig beraubt. Demokratie birgt also für die eigentlichen Zentren der Macht keine Risiken mehr.“
Sicherlich sind Demokratien auch immer von ihrer Entleerung und Aushöhlung bedroht. Insbesondere sind sie auf das politische Interesse, das Engagement und die Zivilcourage ihrer Bürger_innen angewiesen. Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit und gerät unter dem Einfluss interessierter Kreise und profitierender Machteliten in Gefahr, zu einer Fassadendemokratie zu degenerieren, wenn ihre Bürger_innen das Interesse an ihr verlieren, sozial und ökonomisch abgewertet, zum Objekt raffinierter Medienpropaganda werden bzw. nicht die notwendigen Bildungsmöglichkeiten erhalten. Dann wäre es auch naheliegend, die Fassadendemokratie mit einem „Tiefen Staat“ zu verbinden, der von im Hintergrund (in der Tiefe) agierenden, für die Öffentlichkeit weitgehend unsichtbaren Kräften gesteuert wird. [12] Die Verbindung aus Fassaden-Demokratie und ‚Tiefer Staat‘ könne aufgrund subtiler Manipulationsmechanismen seiner Bürger funktionieren. Würden einzelne gesellschaftliche Gruppen das Konzept der Fassadendemokratie dennoch durchschauen, könne dann Systemstabilität über eine zunehmend repressiver werdende Ordnung und eine auf durchgehender Kontrolle basierende innere Sicherheitsarchitektur im Zuge des ‚Tiefen Staats‘ gewährleistet werden.
Ob die westlichen Demokratien bereits oder noch als Fassadendemokratien und als ‚Tiefer Staat‘ in diesem Sinne bezeichnet werden können, hängt meines Erachtens vom Ausgang der politischen Auseinandersetzungen zwischen den sich engagierenden Bürger_innen und den politischen und ökonomischen ‚Eliten‘ ab, die auf der Seite der wirtschaftlich Mächtigen stehen. Wie diese Auseinandersetzungen ausgehen werden, ist bislang noch nicht entschieden. So zeigten beispielsweise die in dieser Zeit überall auf der Welt stattfindenden Massenproteste erste Wirkungen, z.B. im Bereich der Klimapolitik, aber auch im Bereich gesellschaftlicher Herrschaft, politischer Disziplinierung und sozialer Benachteiligung, bis die Corona-Pandemie und deren Beschränkungen die Wirksamkeit der Protestbewegungen deutlich verminderte.
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Die – trotz aller noch vorhandenen Defizite – am weitesten entwickelten westlichen Demokratien, wie z.B. die skandinavischen Staaten oder auch Staaten wie Frankreich, Deutschland oder Großbritannien, als Fassadendemokratien oder als ‚Tiefen Staat‘ bezeichnen zu wollen, ist aus meiner Sicht gegenwärtig nicht gerechtfertigt und übertrieben: Weder im historischen Vergleich gab es, noch im interkulturellen Vergleich gibt es mehr Möglichkeiten zur demokratischen Partizipation und Mitbestimmung, ohne dass eine Verfolgung und eine Bedrohung von staatlicher Seite zu befürchten ist. Eine pauschale und abwertende Gleichsetzung von allen westlichen Demokratien über deren Einschätzung als Fassadendemokratie gekoppelt mit einem ‚Tiefem Staat‘ halte ich für eine fatale Fehleinschätzung. [13]
Dies bedeutet dennoch nicht, dass nicht auch die Staaten mit demokratischem Selbstanspruch von systemischer Regression bedroht sind und auf erhebliche systemische Verbesserungen angewiesen sind, um ihr bisheriges Partizipationsniveau zu halten oder noch zu verbessern. Auch diese Staaten und ihre Bevölkerungen stehen unter dem Verwertungsdruck des internationalen Kapitals, dem die Partizipation der Bürger_innen lästig wird, wenn diese sich beispielsweise gegen Klimazerstörung oder gegen die Verwüstung ihrer Region zum Abbau von Bodenschätzen zu wehren beginnen.
Die Kritik an Diskrepanzen zwischen politischem und ökonomischem System sowie an der unvollendeten demokratischen Durchdringung gesellschaftlicher Strukturen ist berechtigt und muss im Detail analysiert werden. Dennoch bedeutet dies nicht, dass alle Erfolge vorhergehender Generationen im Kampf um demokratische Rechte pauschal abzuwerten sind. Auch eine alles vernichtende Kritik derjenigen Gesellschaften, die sich um eine Demokratisierung bemühen, hilft wenig und ist destruktiv.
Auch wenn der ehemalige deutsche Bundespräsident Joachim Gauck einem eher konservativen Lager hinzu zu rechnen ist, enthält seine Einschätzung der Demokratie als Herrschaftsform Lebenserfahrungen in zwei Gesellschaftssystemen, die wertschätzend zu beachten sind:
"Ich weiß nämlich aus eigener Erfahrung, was es heißt, keine Menschen- und Bürgerrechte zu besitzen, keine Versammlungs- und Meinungsfreiheit, keine unabhängigen Gerichte, keine selbstverwalteten Interessensvereinigungen, keine Freiheit der Medien. Ich wünschte die jungen Menschen und diejenigen, die nie in Unfreiheit leben mussten, könnten eine liberale Demokratie neu oder oder wieder zu ihrer inneren Überzeugung machen. Denn wir, die Bürger, sind es doch, die Freiheit entweder verspielen oder verteidigen und bewahren. Mag sie auch nicht frei von Mängeln sein, so bleibt die Demokratie doch die beste Regierungsform, die wir kennen, und weltweit Zufluchts- und Sehnsuchtsziel der Unterdrückten." (Gauck 2024)
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Die historischen Erfahrungen mit dem sogenannten Realsozialismus weisen auf keine sinnvollen gesellschaftlichen Alternativen hin. Alle auf der realsozialistischen Diktatur einer Staatsmacht basierenden Gesellschaften sind bereits historisch vielfach widerlegt, führten sie doch jedes Mal weg von dem angestrebten ‚Reich der Freiheit‘ und hin zum Reich der stalinistischen oder maoistischen Massenvernichtung und Freiheitsberaubung. Über autoritäre Politikstrukturen, Repression und staatlich organisierte Exklusion lässt sich keine humanere Gesellschaft organisieren. Über die massive Einschränkung von Freiheit wird keine Freiheit in gesellschaftlicher Verantwortung entstehen, sondern nur Unterdrückung. Hier soll daher die Auffassung vertreten werden, dass eine Eindämmung und Transformation des enthemmten Kapitalismus, eine sozialökologische Gesellschaftsentwicklung, die am Gemeinwohl orientiert ist, und eine friedliche globale Gemeinschaft nur über ein Mehr an zivilgesellschaftlicher, ökonomischer und nationaler sowie transnationaler Demokratie und einer entsprechenden Veränderung von Entscheidungsstrukturen möglich werden wird [14].
Hierbei muss auch die Frage nach der ökonomischen Partizipation bzw. nach dem privaten Besitz an den Produktionsmitteln gestellt werden. Die Erfahrungen in den Staaten sowjetischer Prägung haben einerseits gezeigt, dass es kontraproduktiv und ökonomisch äußerst fragwürdig ist, jeglichen Privatbesitz und jede Form marktwirtschaftlicher Betätigung zu verbieten. Weder die Aufgaben der Allokation, Produktion, Distribution noch des zufriedenstellenden Warenangebots konnten auf diese Weise gelöst werden, so dass die Bedürfnisse der Menschen hier nicht gedeckt werden konnten. Andererseits werden die westlichen Demokratien massiv von den ökonomischen Interessen riesiger Kapitalzusammenballungen bedroht. Insbesondere multinationale Konzerne versuchen in Verbindung mit dem hinter ihnen stehenden Finanzkapital die Demokratien und rechtsstaatlichen Strukturen über ihre Marktmacht, ihren Lobbyismus, über Korruption und über internationale Handelsverträge auszuhebeln. Begleitet wird dies von einer überbordenden internationalen Finanzspekulation, deren Umfang ein Vielfaches der globalen ökonomischen Wertschöpfung ausmacht. Allenfalls ein radikal transformierter Kapitalismus, der die Konzerne reguliert, Marktbeherrschungen durch Konzerne verhindert und multinationale Konzerne entflechtet, aufteilt und sie auf gemeinwohlorientierte Ziele und Praktiken hin gesetzlich verpflichtet, und der die internationale Finanzspekulation beendet, ist kompatibel mit tatsächlich umgesetzten demokratischen Politikstrukturen.
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Ob man eine derartige Wirtschaftsform, die Kleinunternehmertum, mittelständige Unternehmen mit betriebsdemokratischen Strukturen, marktwirtschaftliches Agieren im überschaubarem Rahmen, verkleinerte, z.T. verstaatlichte Konzerne sowie Formen solidarischer Ökonomie und Ökogemeinschaften beinhaltet, noch Kapitalismus nennen kann, ist allerdings fraglich. Wahrscheinlich würde dies ein neu bearbeitetes Verständnis und die Begrifflichkeit des ‚demokratischen Sozialismus‘, des ‚Ökosozialismus‘ oder einer ‚ökosozialen Marktwirtschaft‘, bei der ein weiterhin zu demokratisierender Staat seine Verantwortung regulierend wahrnimmt, richtiger ausdrücken. Auf jeden Fall würde eine gemeinwohlorientierte Ökonomie mit verkraftbaren marktwirtschaftlichen Elementen besser zu einer partizipatorischen Demokratie passen, die allerdings repräsentative und direktdemokratische Strukturen in eine noch bessere Balance bringen müsste, als dies bisher in der Regel der Fall ist.
Demokratie als Herrschaftsform ist im Sinne des 1865 von einem Rassisten ermordeten US-Präsidenten Abraham Lincoln die Herrschaft der Bevölkerung, durch die Bevölkerung und für die Bevölkerung. [15] Und hierbei sind nicht die 1% die Bevölkerung, sondern eher wohl die 99% der Weltbevölkerung gemeint.
Die Beteiligung der 99% an den Erfolgen der Ökonomie und deren Partizipation in der Demokratie müssen hierbei prinzipiell übereinstimmen. Die gesellschaftlichen Bereiche der Ökonomie und des politischen Systems sollten demokratischen Normen verpflichtet sein. Ökonomisches und politisches System dürfen nicht in einen systemischen Widerspruch zueinander geraten. Wäre dies der Fall, dann würde eine repräsentative Wahldemokratie mehr und mehr zu einer demokratischen Spielwiese geraten, deren Freiräume dann eingeschränkt werden würden, wenn die Ökonomie in die Krise gerät.
1.2.1. Demonstrationen und Proteste gegen die extreme Rechte in westlichen Demokratien
‚Remigration‘ und nordafrikanischer ‚Musterstaat‘
In westlichen Staaten lässt sich ein Aufkommen der politischen Rechten und auch rechtsextremer Bewegungen feststellen. Auch ist dies u.a. in Deutschland der Fall. Dies hängt einerseits mit der Unzufriedenheit in größeren Teilen der Bevölkerung mit der Regierungspolitik zusammen, bei der sich zunehmend Menschen sozial abgehängt fühlen. Andererseits wirken hier auch ökonomische und politische Faktoren, die von nationaler Politik nur zum Teil zu beeinflussen sind. Insbesondere die Komplexität vieler globaler Problemlagen – von der Klimakrise, über militärische Eskalationen und der Intransparenz der Finanzmärkte – stärkt den Wunsch nach einfachen Lösungen, welche die extreme Rechte scheinbar bietet.
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Der prozentualer Aufstieg der zunächst rechtsnationalen ‚Alternative für Deutschland‘ (AfD) bis hin zur stärksten Partei – nach aktuellen Umfragen sowie auch der Wahl im Februar 2025 – in einzelnen ostdeutschen Bundesländern, z.B. Thüringen oder Sachsen, schien daher unaufhaltbar. Je rechtsradikaler sich die Partei entwickelte, desto größer war ihr Wahlerfolg.
Dann outete sich die führende Partei gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit mit einer völkisch-ethnischen Unterscheidung zwischen ‚Biodeutschen‘ und Menschen mit Migrationshintergrund bzw. Migranten durch ein geleaktes Geheimtreffen in einer Potsdamer Villa.
Dort nahmen – laut dem Recherche-Zentrum Correctiv – rechtsnationale Politiker von der AfD, der Werte-Union und zwei CDU-Politiker sowie rechtsextreme Unternehmer und Influenzer an der Tagung teil. Ein Correctiv-Mitarbeiter nahm verdeckt teil und sicherte die Vorgänge.
Im Fokus des u.a. mit führenden AfD-Mitgliedern besetzten Treffens stand ein sogenannter ‚Masterplan‘ zur Rückführung von Millionen Migranten (‚Remigration‘), auch Deutscher mit Migrationsherkunft, ‚nicht assimilierter Personen‘ sowie von unbequemen Menschen, die sich gegen die Deportationspläne sperren. Insbesondere der Redebeitrag des rechtsradikalen Aktivisten und Autors, Martin Sellner, dem langjährigen Sprecher der ‚Identitären Bewegung Österreich‘, überschritt deutlich die bisher immer noch viel zu häufig akzeptierten roten Linien des rechtspopulistischen Diskurses – so Correctiv über Sellners verfassungsfeindlichen Redebeitrag:
„Sellner ergreift das Wort. Er erklärt das Konzept im Verlauf des Vortrages so: Es gebe drei Zielgruppen der Migration, die Deutschland verlassen sollten. Oder, wie er sagt, „um die Ansiedlung von Ausländern rückabzuwickeln“. Er zählt auf, wen er meint: Asylbewerber, Ausländer mit Bleiberecht – und „nicht assimilierte Staatsbürger“. Letztere seien aus seiner Sicht das größte „Problem“. Anders gesagt: Sellner spaltet das Volk auf in diejenigen, die unbehelligt in Deutschland leben sollen und diejenigen, für die dieses Grundrecht nicht gelten soll.“ [16]
Einerseits sollten Migranten deportiert werden und andererseits alle diejenigen, die sich dieser ‚Remigration‘ widersetzen würden:
„Eine Idee ist dabei auch ein „Musterstaat“ in Nordafrika. Sellner erklärt, in solch einem Gebiet könnten bis zu zwei Millionen Menschen leben. Dann habe man einen Ort, wo man Leute „hinbewegen“ könne. Dort gebe es die Möglichkeit für Ausbildungen und Sport. Und alle, die sich für Geflüchtete einsetzten, könnten auch dorthin.“ [17]
Sellners ‚Masterplan‘ wurde von den Teilnehmern positiv aufgenommen und weitere Redebeiträge bezogen sich konkretisierend hierauf.
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Öffentlicher Aufschrei in der Republik
Nach dem Bekanntwerden der Recherchen von Correctiv kam es zu einem öffentlichen Aufschrei in Deutschland und zu einem Einsetzen von Massendemonstrationen gegen den organisierten Rechtsextremismus und insbesondere gegen die AfD: Innerhalb von drei Wochen fanden Anfang 2024 Proteste mit mehreren Millionen Teilnehmern statt, z.B. in Berlin mit 500 veranstaltenden Organisationen und Hamburg mit 180.000 Teilnehmern. In München demonstrierten 100.000 Teilnehmer. Die TAZ berechnet die Teilnehmerzahl der bis zum Februar 2024 erfolgten Anti-AfD-Demonstrationen mit ca. drei Millionen Teilnehmern (nach Veranstalterangaben: vier Mill. Tn). [18]
Erinnerungen an die 68er-Zeit und dem damaligen Kampf für mehr Demokratie wurden wach. Die Menschen gingen erstmals seit 1989 wieder massenhaft auf die Straße und setzen sich für die Grundwerte des Grundgesetzes ein, die eine diskriminierende Unterscheidung der Bevölkerung verbieten. [19] Dies wurde in den Leitmedien als längst fällige symbolische Handlung dargestellt, die ein Ausdruck des Funktionierens der Demokratie sei.
Die AfD hingegen zeigt gefakte Fotos von halb leeren Plätzen, obwohl in der Regel der Platz für die demonstrierenden Menschenmengen kaum ausreichte. Auch will sich die AfD mit der Bezeichnung der Potsdamer Tagung im Landhaus Adlon als ‚privates Treffen‘ herausreden. Dennoch verliert der persönliche Referent von Alice Weidel umgehend seinen Job. Daher folgert Robert Pausch in ‚Die Zeit‘:
„Für eine Partei, die für sich in Anspruch nimmt, die schweigende Mehrheit zu vertreten, stellt es eben doch ein ernst zu nehmendes strategisches Problem dar, wenn eine lautstarke Mehrheit dagegen aufsteht und auch rein zahlenmäßig die Verhältnisse einmal geraderückt: 25.000 Teilnehmer demonstrierten auf dem Höhepunkt der rechten Mobilisierung im Pegida-Jahr 2015, zwischen einer und anderthalb Millionen Menschen waren es, je nach Zählweise, allein am vergangenen Wochenende.“ [20]
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Auf den Anti-AfD-Demonstrationen bzw. Demos gegen den Rechtsextremismus nahmen auch immer wieder Bundestagsabgeordnete und Regierungsmitglieder der Ampelparteien und Teilen der Opposition im Bundestag teil. Hierbei könnte deren Motivation auch im Ausschalten einer unliebsamen Parteienkonkurrenz und in der werbenden Anbiederung an die Demonstrierenden liegen. Ebenfalls wird des Öfteren kritisch eingewendet, dass gerade ihre Entscheidungen doch oftmals auch Ursache der AfD-Wahlerfolge gewesen seien. Würden die verantwortlichen Politiker eine Politik entwickeln und umsetzen, die den Interessen der Bürger entsprechen würden, dann wäre auch der Aufstieg der AfD nicht möglich gewesen. So der Journalist Philipp Fess (2024) in Telepolis:
„Das nahezu totale Tabu über dem Thema Migration hat dazu beigetragen, dass nur die politischen Randkräfte sich noch über den Horizont des gesellschaftlich Sanktionierten wagen. Die Rechten ergründen sozusagen im strammen Alleingang das Niemandsland hinter den Gedankenverboten.“ [21]
Demonstrationen Ausdruck einer revitalisierten Demokratie?
Die Frage ist nun, ob es sich bei den derzeitigen Anti-AfD-Demonstrationen um mehr als nur eine identitätswirksame Selbstvergewisserung progressiver Milieus handelt. Möglicherweise werden die Demonstrationen von Woche zu Woche kleiner, bis nur noch das Häufchen Aktivisten übrig bleibt, das auch ansonsten gegen die AfD demonstriert.
Der Mitarbeiter der Magdeburger ‚Arbeitsstelle Rechtsextremismus‘, David Begrich, sieht in den Anti-AfD-Demonstrationen einerseits eine wichtige Klarstellung und Kontrastierung gegenüber rechtsextremer Politik, andererseits ist er der Auffassung, dass sich eine Brechung des ansteigenden AfD-Erfolgs nur durch eine längerfristige Aktivitätsperspektive erreichen lasse:
„Ich glaube, man darf sich nicht die Illusion machen, dass diese Demonstrationen die rechten Dominanzräume aufbrechen. (…) Dafür bräuchte es die Überführung dieser Demonstrationen in ein kleinteiliges langfristiges Engagement vor Ort.“ [22]
In jedem Fall müsse den Menschen klar werden, dass es mit den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg und auch den Kommunalwahlen in Mecklenburg-Vorpommern im Jahr 2024 um das Ganze gehe – es stelle sich die Frage: „Gelingt es der AfD so etwas wie eine Initialzündung für eine autoritär formierte rechte Gesellschaftsordnung in Ostdeutschland vom Zaun zu brechen?“ Die extreme Rechte betrachte Ostdeutschland als Experimentierfeld für ihre gesellschaftspolitischen Konzepte und es müsse vor allem den Unentschlossenen jetzt klar sein, dass es „um Alles“ gehe. [23]
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Heike Kleffner vom ‚Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e.V.‘ macht im gleichen Interview deutlich, dass es im Osten Deutschlands noch mehr Mut als in Westdeutschland brauche, um gegen die rechtsextreme Dominanz in vielen Orten auf die Straße zu gehen. Durch die Demonstrationen gegen die AfD sei erstmals seit dem Eintreten der Corona-Pandemie die „rechtsextreme Dominanz im öffentlichen Raum“ gebrochen worden. In Orten, wie in Zwickau oder Stralsund, hätten Tausende Demonstranten gezeigt, dass es nicht die extreme Rechte ist, welche die Mehrheit darstellt und es auch demokratische Gegenbewegungen hierzu gäbe. Dies sei auch sehr wichtig für die Unentschiedenen, die sich bisher nicht trauen würden, ihre Meinung gegen eine rechtsextreme Hegemonie im Alltag zu äußern. [24]
In diesem Sinne kann es sich also durchaus bei den derzeitigen Demonstrationen um eine Stärkung der Demokratie durch basisdemokratische Aktivitäten handeln. Der Schwäche der parlamentarischen Demokratie, fast keine Mitbestimmungs- und Aktionsformen auf Bundesebene im Sinne direkter Demokratie zu ermöglichen, werden die derzeit erlebbaren massenhaften Versammlungen und Kundgebungen gegen die extreme Rechte entgegengesetzt. Und: Es geht nicht primär um die Kritik an einzelnen Politikern oder regierenden Parteien sondern um ein Engagement für die Demokratie und die grundlegenden Verfassungsinhalte.
Die Frage ist allerdings, wie lange das Antisymbol AfD den brüchigen Zusammenhalt in der gesellschaftlichen Mitte stärkt. Wann schlägt die Entsolidarisierung in Zeiten gesellschaftlicher Anspannung und spaltender Ressourcenkämpfe wieder durch? Der Einschätzung einer zukünftig auslaufenden Anti-AfD-Bewegung stehen allerdings der Fakt der in 2024 anstehenden Landtags- und Kommunalwahlen sowie natürlich die bereits im öffentlichen Fokus stehende nächste Bundestagswahl entgegen. Hier wird das Thema des Rechtsradikalismus und der AfD weiterhin in der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen. Die vorgezogene deutsche Bundestagswahl hatte nun zum Ergebnis, dass die AfD mit Abstand zur zweitstärksten Partei aufgestiegen ist. Mehr als jeder 5. Wahlberechtigte wählte 2025 die AfD. Die Frage ist, wie die Wahlen vier Jahre später ausgehen werden. Wenn es der AfD gelingt, in den Bundesländern oder gar auf Bundesebene in Regierungsverantwortung zu kommen, hat dies gravierende Kompetenzen für die Gerechtigkeit und die Lebensqualität in Deutschland. Da werden sich die Kritiker, die das aktuelle parlamentarische System als ‚Fassadendemokratie‘ bezeichnen, noch nach der Republik vor einem etwaigen Siegeszug der AfD zurücksehnen.
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„Nie wieder 1933!“
Es stellt sich nun die Frage, ob die zahlreich gezogenen Parallelen und Vergleiche zwischen heute und dem Beginn der Nazizeit vor 1933 tatsächlich zutreffen oder eine unzulässige Überspitzung darstellen. Niklas Nelle (2024) zweifelt zu Recht an, dass es sich um eine identische Situation handele:
„Dennoch stehen wir aktuell nicht „kurz vor 1933“, dem Jahr der Machtübergabe, des Verbots der Gewerkschaften, der Bücherverbrennungen, der Gründung des KZ Dachau und der Einführung des „Ariernachweises“.
Ab 1933 konnten Jüdinnen und Juden nicht mehr als Beamte oder öffentliche Angestellte arbeiten. Innerhalb weniger Wochen wurde damals die Opposition ausgeschaltet, Minderheiten drangsaliert und das deutsche Volk auf das nationalsozialistische Projekt eingeschworen. So weit sind wir 2024 nicht. Und trotzdem ist das kein Grund zur Entwarnung.“ [25]
Zu klären und genau hinzuschauen ist allerdings zukünftig hierauf: Kann die Politik der AfD mit der Politik des Faschismus und seiner extremen Formen des deutschen Nationalsozialismus gleichgesetzt werden oder ist eine differenziertere Analyse notwendig? Handelt es sich bei der AfD um eine faschistische Partei oder um eine nationalchauvinistisch-bürgerliche Partei mit einzelnen rechtsextremen Mitgliedern? Von der Beantwortung dieser Fragen hängt dann auch ab, inwieweit die AfD und auch ihre inzwischen umbenannte Jugendorganisation ‚Junge Alternative‘ uneingeschränkt weiterhin agieren dürfen bzw. einzelnen als faschistisch beurteilten Mitgliedern die Wählbarkeit entzogen werden sollte. Denn: Aus der historischen Erfahrung von Weimar heraus ist das Konzept der ‚Wehrhaften Demokratie‘ sehr bewusst im bundesdeutschen Grundgesetz verankert worden, um die Demokratie gegen ihre erklärten Feinde zu schützen. Allerdings ist hierbei zu berücksichtigen, dass ein Verbot der AfD durch das Bundesverfassungsgericht das mächtigste Instrument wäre, das der bundesdeutsche Staat zur Verfügung hätte. Daher sind auch Schritt für Schritt restriktive Instrumente einzusetzen, die unterhalb des Parteienverbots angesiedelt sind, die allerdings auch wieder ausgesetzt werden könnten, wenn sich die AfD nachweisbar in eine andere Richtung entwickeln würde.
Konsequenzen aus dem Erstarken rechtsradikaler Kräfte und insbesondere der AfD
Das Erstarken der extremen Rechten ist kein bundesdeutsches Phänomen, sondern lässt sich derzeit überall in Europa beobachten. Daher sind die folgenden Überlegungen, zumindest zum Teil auch auf andere europäische Staaten zu beziehen.
Die Konsequenzen hinsichtlich einer politischen Reaktion auf das Anwachsen der extremen Rechten beziehen sich insbesondere auf eine ‚gute Politik‘ der verantwortlichen Regierungen, aber auch auf ein permanentes Engagement von unten.
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Zunächst einmal gilt es, sich in der Öffentlichkeit und auch in Bildungsinstitutionen argumentativ – differenziert und faktengestützt – mit den recht simplen Forderungen der AfD auseinanderzusetzen, so dass deutlich wird, dass die AfD-Forderungen die vorhandenen nach wesentlich komplexeren Lösungsansätzen verlangenden Probleme nicht lösen können. Die von der AfD geforderte Renaissance der fossilen Energieträger steht beispielsweise in einem Gegensatz zu den politischen Handlungsnotwendigkeiten, die sich aus der immer drängender werdenden Klimaproblematik ergeben; die Forderung nach der Reaktivierung der Atomkraftwerke blendet die permanente Gefahr von Störfällen, die extremen Kosten und die fehlende Entsorgungsmöglichkeit aus; der geforderte Abbau von Sozialleistungen verstärkt gesellschaftliche Spaltungen und geht zu Lasten von Benachteiligten etc.
Maßnahmen der wehrhaften Demokratie
Die bis 2025 amtierende Bundesinnenministerin Faeser schlug in Reaktion auf rechtsextremistisch motivierte Morde (u.a. in Hanau), auf den geplanten Putsch der 'Reichsbürger' sowie vermutlich auch in Reaktion auf die Gespräche in der Potsdamer Villa zur Remigration Millionen Deutscher folgende Maßnahmen im Sinne der Wehrhaften Demokratie vor [26]:
· Eine Früherkennungseinheit, die rechtzeitig gegen Fake-Accounts und KI-gesteuerter Fehlinformation vorgehen kann;
· die Verschärfung der Waffengesetze für Rechtsextremisten;
· die Aufdeckung und Austrocknung von Finanzquellen rechtsextremer Organisationen durch den in seiner Kompetenz hier zu stärkenden Verfassungsschutz;
· eine Änderung des Grundgesetzes, um das Bundesverfassungsgericht gegen Demokratiefeinde zu schützen;
· die Verhinderung der Ein- und Ausreise von Rechtsextremisten;
· ein verschärftes Disziplinarrecht für den öffentlichen Dienst, um leichter Rechtsextremisten aus dem Dienst entfernen zu können.
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Hier scheint man mit dem Konzept der 'wehrhaften Demokratie' ernst machen zu wollen. Die Frage ist, wie weit eine Demokratie hier gehen darf, damit sie sich in der Gegenwehr gegen Verfassungsfeinde nicht selbst abschafft. Der in Deutschland lange Zeit praktizierte Extremistenerlass (‚Berufsverbote‘), der sich einst vorwiegend gegen die Linke richtete, wurde als undemokratisch und rechtswidrig vom Europäischen Gerichtshof verboten. Er musste von der deutschen Regierung zurückgenommen werden. Auch die Gefahr der Ausweitung der Überwachung und Bespitzelung durch Staatsorgane birgt die Gefahr einer schleichenden Entdemokratisierung in sich. Dies bedeutet, dass die Balance zwischen Maßnahmen einer wehrhaften Demokratie und der Notwendigkeit, hierdurch die demokratischen Strukturen nicht zu beschädigen, sorgfältig austariert werden muss.
Demonstrationen gegen das Erstarken rechtsradikaler Parteien und Gruppierungen bilden eine basisdemokratische Gelegenheit, sich symbolisch Ausdruck zu verleihen und das Zusammengehörigkeitsgefühl in der noch demokratisch gesonnenen gesellschaftlichen Mehrheit zu stärken. Auch üben sie einen nicht zu unterschätzenden Druck auf regierende Politiker_innen auf allen Ebenen aus, Koalitionen und organisierte Zusammenarbeit mit der AfD weiterhin abzulehnen (‚Brandmauer‘). Dennoch müssten Demonstrationen auch in ein systematisches und längerfristiges Engagement vor Ort überall und insbesondere dort münden, wo bislang rechtsradikale Gruppierungen noch die Deutungshoheit im öffentlichen Raum haben.
Es gilt allerdings vor allem für die gewählten Verantwortlichen auf allen Ebenen, eine ‚gute‘ Politik zu machen, die nicht den Bedürfnissen und Interessen der Menschen widerspricht – so die TAZ:
„Es ist auch die von vielen Krisen bestimmte Weltlage, die Menschen dazu bringt, die AfD zu wählen. Das Gefühl der Schwäche des Nationalstaats, die Klimakrise, die Angst der Mittelschicht, abzusteigen. All das führt ja nicht nur in Deutschland zu einem Aufstieg der Rechtspopulisten und lässt sich nicht einfach wegdemonstrieren.“ [27]
Dies bedeutet also auch, sinnvolle, realisierbare und menschlich vertretbare Lösungen für die Migrationsproblematik zu schaffen. Denn in der langen Tabuisierung und Vernachlässigung dieser Thematik liegt ebenfalls das Erfolgsrezept der AfD begründet.
Vor allem gilt es, positive Zukunftsvorstellungen zu entwickeln, die konkret und nachvollziehbar sind und zeigen, wie eine multikulturelle Gesellschaft demokratisch und gerecht weiterentwickelt werden kann und Menschen unterschiedlicher Herkunft hierbei friedlich zusammen leben können.
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1.3 Versuche der Weltbeherrschung und hegemonial verursachter internationaler Krisen
Das Konzept der Hegemonie in den internationalen Beziehungen kann als extreme Form unilateraler internationaler Politik durch eine Weltmacht verstanden werden, die ihre chauvinistischen und geostrategischen Interessen skrupellos durchzusetzen versucht, und steht, genauso wie das Festhalten an absoluter staatlicher Souveränität, dem eigentlichem Grundgedanken der Vereinten Nationen radikal entgegen – so Gareis/Varwick (2014, 348):
„Es hängt also stark von den theoretischen Leitbildern in den betreffenden Staaten ab, ob eine unilaterale oder multilaterale Strategie als Erfolg versprechend angesehen wird. Die Vereinten Nationen können nur dann eine wichtige Rolle in der internationalen Politik spielen, wenn ihre Mitgliedsstaaten auf multilaterale Strategien zur Bewältigung der Probleme und Herausforderungen setzen, d.h. ein Erfolg der Vereinten Nationen ist äußerst voraussetzungsreich. In der realen Welt zeigt sich, daß diese Voraussetzungen nicht immer gegeben sind. Zu selten sind die Mitgliedsstaaten bereit, die Vereinten Nationen an die Spitze ihrer außenpolitischen Prioritäten zu setzen und vor allem ihr Verständnis von der Außenpolitik ‚souveräner‘ Staaten zu ändern.“
Der Versuch hegemonialer Herrschaftsausübung wurde insbesondere von Antonio Gramsci kritisch analysiert [28] und in späteren politikwissenschaftlichen Arbeiten zeitgenössischer Autoren [29] weiter bearbeitet. Hierbei steht der Versuch des kapitalistischen Westens im Fokus, und hier insbesondere der geostrategischen Interessen der USA, die Weltpolitik militärisch abgesichert zu dominieren und gezielt militärische Aggression einzusetzen, um die politische und ökonomische Hegemonie im globalen Kontext durchzusetzen.
Hiermit verbunden ist die medial vermittelte Herstellung eines dominanten Bewusstseins in der Bevölkerung des beherrschenden Staates oder Staatenverbunds, dass diese Dominanz berechtigt, völkerrechtskonform und gerecht ist. Es kommt hierbei im Mainstream dieser Gesellschaften zu einer Identifikation mit dem Hegemon und zu einem fehlenden Unrechtsbewusstsein hinsichtlich der Dominanz des Hegemons. Hierbei findet eine Unterteilung in die guten und als frei empfundenen Staaten und die als negativ und unfrei wahrgenommenen Staaten statt, welche dämonisiert und abgewertet werden. Kritik an der eigenen Staatlichkeit ist hierbei unerwünscht und kann zur Abwertung und Ausgrenzung der sich gegen die hegemonial erzeugten Einstellungen wendenden Person bzw. Gruppierung führen. Hegemoniale Herrschaft findet also nicht nur in Strukturen sondern auch über Identifikationen und politischen Einstellungen statt.
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Dieses Konzept lässt sich allerdings auch in regional-hegemonialer Hinsicht auf andere Akteure, wie z.B. China, Saudi-Arabien, Iran, Türkei und Russland, übertragen, die ständig bestrebt sind, zumindest ihren regionalen Machtbereich auszuweiten und ihre politischen und ökonomischen Interessen dort hegemonial durchzusetzen.
Inwieweit die EU ebenfalls regional-hegemoniale Interessen militärisch durchsetzen und absichern will, hängt davon ab, inwieweit sich die EU als Friedensmacht begreift oder ob sie als 'Global Player' auf der militärischen Ebene mitwirken will. [30]
Im Rahmen einer hegemonial bestimmten Herrschaftsordnung findet innergesellschaftlich eine Identifizierung mit Mainstream-Konzepten statt, die medial inszeniert und von den Herrschenden initiiert werden, um in der Bevölkerung ein Bewusstsein zu erzeugen, das mit der ‚Identifikation mit der Entfremdung‘ bezeichnet werden kann. Im Fall einer internationalen Dominanz kann dies auch als imperiales Bewusstsein umschrieben werden. [31]
Der politische Aktivist Ralph Nader macht ebenfalls den gesellschaftlichen Mechanismus transparent, bei dem beispielsweise der in der Regierungszeit von Bush jun. angestrengte und vom damaligen UN-Generalssekretär Kofi Annan als völkerrechtlich illegal bezeichnete zweite Irak-Krieg [32] nur einen wirkungslosen zivilgesellschaftlichen Widerstand erfuhr:
“When the president beats the drums of war, the dictatorial side of American politics begins to rear its ugly head. Forget democratic processes, congressional and judicial restraints, media challenge, and the facts. All of that goes out the door. It’s the president, stupid – plus the clique that surrounds him and the vested interests that reflexively support him. Dissenting Americans may hold rallies in the streets, but their voice is drowned out by the bully pulpit.” [33]
Als Stellvertreterkriege interessierter Hegemonen könnten nun beispielsweise der Korea-Krieg in den fünfziger Jahren, der Vietnam-Krieg, die Luftangriffe auf Serbien in Ex-Jugoslawien, der von Bush-Junior und einer Militärallianz geführte Irak-Krieg sowie die Katastrophen in Afghanistan und im Jemen beispielhaft genannt werden. Hier handelte es sich um von u.a. den NATO-Staaten inszenierte Kriege, die als illegal und völkerrechtswidrig zu bezeichnen sind. [34] Bei allen diesen Kriegen lagen kein einstimmiges Votum des UN-Sicherheitsrats sowie kein Selbstverteidigungsfall im Sinne der UN-Charta einer angegriffenen Nation vor, die einen internationalen Bündnisfall und eine UN-Intervention auslösen können.
Beim Krieg in der Ukraine handelt es sich um eine gemischte Form des Krieges. Einerseits versuchte die Russische Föderation ihren hegemonialen Anspruch auf die Ukraine über ihre militärische Invasion umzusetzen. Andererseits handelt es sich hierbei auch um den Krieg des Hegemons mit einem globalen Anspruch, den Vereinigten Staaten, gegen einen Regionalhegemon, die Russische Föderation, der seinen Einflussbereich vergrößern will. Die Ukraine geriet also in den Interessenskonflikt zweier Großmächte, die ihren hegemonialen Anspruch durchzusetzen versuchen – durchaus mit ökonomischen und geostrategischen Eigeninteressen. Eine entsprechende Propaganda mit gezielten Fake News, Täter-Opfer-Umkehrungen und gezielten Manipulationen sollten für das entsprechende Bewusstsein der hegemonial Beherrschten sorgen.
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Nachdem die NATO sich offiziell 40 Jahre als Verteidigungsbündnis gegenüber den Staaten des Warschauer Pakts verstanden hatte, hätte sie sich nun eigentlich angesichts des Wegfalls der vermeintlichen Bedrohung auflösen müssen. Der Gegner war abhanden gekommen. Allerdings verlief die tatsächliche Entwicklung in eine andere Richtung – so der Politikwissenschaftler und Friedensforscher Peter Strutynski (2008, 222f.):
„Militärs, die wie jede andere Berufsgruppe ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Sicherung ihrer Besitzstände haben, reagierten auf den weltpolitischen Epochenumbruch sehr kreativ mit der Konstruktion neuer Risiken. In der NATO-Erklärung von Rom wurden sie exakt beschrieben: Die illegale Weitergabe von Massenvernichtungsmitteln gehörte ebenso dazu wie die Gefahr durch terroristische Anschläge, die Ausbreitung von Kriminalität oder die Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Rohstoffe sowie die Störung des freien Welthandels.“
Dies alles sind aber vorwiegend militärische Interventionsgründe, die von der gegenwärtigen UN-Charta nicht legitimiert sind.
USA und China als absteigende und aufsteigende Hegemone
Derzeit sieht die USA, als eher ökonomisch absteigender Hegemon, ihre Stellung insbesondere gegenüber China bedroht. China hat – trotz der zu kritisierenden Menschenrechtssituation und der Einschränkung demokratischer Freiheiten – eine enorme ökonomische, soziale und politische Erfolgsgeschichte hinter sich, die über mehrere Jahrzehnte reicht. Dies gelang China mit einem anderen Politik- und Ökonomie-Modell als dies die USA für sich umsetzt. China besteht aus einer Mischung aus zentralstaatlicher Planung und Kontrolle verbunden mit marktwirtschaftlichen Elementen. China ist in die Welthandelsorganisation aufgenommen worden, obwohl eine Zentralregierung mit einer Staatspartei herrscht, die die Wirtschaftsentwicklung lenkt. Es gibt in China einen staatlich verabschiedeten 5-Jahresplan und eine Regulierung des Kapitalverkehrs. Gleichzeitig gibt es aber auch ein Spektrum an halbstaatlichen Konzernen, privatwirtschaftlich geführten Unternehmen und Joint Venture-Unternehmenskooperationen, bei denen westliche Unternehmer und chinesische Unternehmer zusammen investieren, produzieren und vermarkten. China hat inzwischen die zweithöchsten Rüstungsinvestitionen – nach den USA – baut das internationale Handelsprojekt der ‚Neuen Seidenstraße‘ auf und intensiviert seinen weltpolitischen und ökonomischen Einfluss, u.a. in Afrika, Südamerika und Europa. [35]
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Die USA reagiert nun wohl auf diese zunehmend bedeutender werdende Rolle Chinas und hinsichtlich ihrer eigenen ökonomischen Abwertung bereits in der ersten Amtsperiode von Trump und auch 2025 in seiner 2. Amtsperiode mit der Fortsetzung eines Handelskrieges, bei dem sie einseitig Schutzzölle gegen China mit der Begründung verhängt, Chinas Exporte würden die US-Wirtschaft benachteiligen. Die berechtigte Frage ist, ob die hiernach folgende Eskalation gegenseitiger Schutzzölle und Handelsblockaden der Anfang auch einer militärischen Auseinandersetzung sein wird – so folgert Listl bereits Jahre zuvor (2019, 72f.):
„Sollten die USA mit ihrem Handelskrieg gegen den strategischen Hauptfeind China ihr Ziel nicht erreichen, China massiv zu schwächen, um die US-Hegemonie aufrecht zu erhalten, bliebe die nächste Eskalationsstufe z.B. die Blockade der Seewege, auf denen China einen großen Teil seines Außenhandels realisiert, der nach Trumps Auffassung den US-Interessen entgegensteht.“
Hinzu kommt, dass die USA bereits dabei ist, China militärisch einzukreisen. Rings um China herum hat die USA 20 Militärstützpunkte eingerichtet, sind Raketensysteme installiert, US-Flugzeugträger und U-Boote sind im Pazifik in der Nähe Chinas stationiert.[24] Es ist zu hoffen, dass sich die chinesische Staatsführung intelligenter verhält und die Möglichkeiten von internationalen Verhandlungslösungen wahrnimmt. Auch ein diplomatisches Gegenwirken der UN sowie der EU wäre hier gefragt. [37]
Dennoch darf es im Rahmen einer sich kritisch verstehenden Politikwissenschaft und Soziologie nicht zu einem einseitigen Blick auf die verschiedenen politischen Systeme kommen. Natürlich ist die Kritik an der neoimperialistischen Politik westlicher Bündnissysteme und westlicher Hegemonialabsichten berechtigt und lässt sich mit vielfachen historischen Beispielen belegen. Der CIA geführte Sturz von demokratisch gewählten Regierungen in Persien sowie in Chile sind z.B. historische Belege hierfür. Aber genauso der 3. Golfkrieg mit dem völkerrechtswidrigen Einfall einer militärischen Staatenallianz um die USA sowie die nicht durch einen UN-Beschluss legitimierten NATO-Luftangriffe in Ex-Jugoslawien sind Beispiele hierfür. Genauso ist der kritische Blick auf Staaten wie die VR China und Russland zu lenken. Auch dort ist der Zusammenhang zwischen innerer Verfasstheit und militärpolitischer Aggression ohne Illusionen zu thematisieren.
Hier stehen Versuche regionaler Hegemonie und militärischer Aggression im Fokus, wie sie Russland beispielsweise in der Ukraine oder in Syrien ausübt. Nachweisbar haben – laut Amnesty International – russische Kampfflugzeuge Krankenhäuser, Märkte und Moscheen in Syrien bombardiert. [38] Der russische Angriff auf die Ukraine im Jahr 2022 und danach wurde genauso erbarmungslos geführt wie Russlands Angriffe z.B. in Tschetschenien und Syrien.
China weitet seinen hegemonialen Machtbereich beständig kompromisslos aus. Hier ist zunächst die Überwältigung, brutale Besetzung und kulturelle Zerstörung Tibets zu nennen. Dann sind die vertragswidrige Gleichschaltung Hongkongs und die weitgehende Vernichtung des dortigen demokratischen Systems zu nennen, die mit zahlreichen Verhaftungen und der militärisch abgesicherten Zerschlagung der zivilgesellschaftlichen Opposition verbunden war. Genauso gehört der die Menschenrechte massiv verletzende Umgang mit den Uiguren in der Provinz Xinjiang, die zunehmend aggressivere Rhetorik gegenüber Taiwan sowie die militärischen Aktivitäten im südchinesischen Meer zu diesen Hegemonialansprüchen. Äußerst gefährlich ist der Versuch Chinas, Taiwan als chinesische Provinz zu bezeichnen und die ‚Wiedervereinigung‘ anzustreben. Wenn China das von den USA protegierte Taiwan militärisch angreift, droht die Gefahr eines dritten Weltkriegs.
Natürlich sind in der politischen Bilanz Chinas auch die erheblichen Erfolge des chinesischen Systems und der chinesischen Staatsführung hinsichtlich der wirtschaftlichen Besserstellung des Bevölkerungsdurchschnitts zu sehen. Auf der anderen Seite wiegen aber die innerchinesischen Menschenrechtsverletzungen und die totale (digitale) Kontrolle chinesischer Bürger schwer. [39]
Die Gesellschaftswissenschaften müssen die Missstände überall schonungslos aufdecken, dürfen sich keine fragwürdigen Bündnispartner suchen, gegenüber denen aus falsch verstandener Loyalität Menschenrechtsverletzungen sowie das Brechen des Völkerrechts verschwiegen werden. Der kritische Blick darf nicht nur auf den westlichen Kapitalismus gerichtet sein, sondern muss auch seine Aufmerksamkeit nach Osten und auf gefährliche Entwicklungen im globalen Süden richten.
Dies gilt genauso für die internationale Friedensbewegung, die nur dann glaubwürdig ist, wenn sie keine Unterschiede im kritischen Zugang zu Staaten und Staatenverbünden macht, wenn diese in gefährlicher Weise ihr Militärpotenzial ausweiten, immer gefährlichere Waffen entwickeln, völkerrechtlich übergriffig sind und ihre Bevölkerungen unterdrücken.
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Sicherlich müssen hierbei auch historische Entwicklungen und Kontextualisierungen berücksichtigt werden. So muss sich auch in die Sicherheitsinteressen bedrängter Staaten hineinversetzt werden, die nicht zur NATO gehören. Hier war es sicherlich kontraproduktiv, dass die NATO immer näher – entgegen vorheriger Zusicherungen – an die Westgrenze Russlands vorgerückt ist, ohne Russland das gleiche Angebot einer NATO-Mitgliedschaft zu unterbreiten. Dies hatte Reaktionen in Russland und die dortige Stärkung nationalistischer Kräfte und des militärisch-ökonomischen Komplexes zur Folge. Auch muss das Sicherheitsinteresse Chinas verstanden werden, dass sich zunehmend von US-Militärstützpunkten und Kampfschiffflotten umgeben sieht.
Der wiedergewählte US-Präsident Trump will nicht verstehen, dass sein "Make America great again" unzeitgemäß ist und dass eine Neuordnung internationaler Beziehungen heraufzieht, die ohne das Hegemonialbestreben der USA auskommt. Der zunehmend scheiternde ehemalige US-Hegemon trifft nun auf eine wachsende Multipolarität, bei der verschiedene Weltregionen ihre Mitentscheidungsrechte machtvoll und z.T. auch in gegenseitiger Konkurrenz mit aggressiven Durchsetzungsstrategien einzufordern beginnen. China und Indien mit insgesamt ca. drei Milliarden Menschen, Südamerika, die Afrikanische Union, der arabische Raum sowie die Europäische Union lassen sich immer weniger durch die USA dominieren und suchen nach neuen Machtbalancen und Wegen internationaler Verständigung.
Es muss daher darauf insistiert werden, dass internationale Sicherheit prioritär durch internationale Zusammenarbeit, durch Diplomatie und die Kontrolle gestärkter und demokratisierter Vereinter Nationen hergestellt werden kann. Nicht internationale Aufrüstung ist das Gebot der Stunde sondern eine miteinander in nachvollziehbaren Schritten vorgenommene Abrüstung aller Waffensysteme. Und dies muss gerade angesichts des Ausbruchs der Russischen Föderation aus der bestehenden internationalen Sicherheitsarchitektur sowie der gegen das Völkerrecht gerichteten Aussagen und Maßnahmen des US-Präsidenten Trump in seiner zweiten Amtszeit gefordert werden: Der Krieg in der Ukraine darf nicht für eine weitere Aufrüstungsspirale instrumentalisiert werden, sondern sollte der Anlass für verstärkte Abrüstungsverhandlungen angesichts der durchaus vorhandenen nuklearen Gefährdungslage sein.
Auch der brutale Überfall der Hamas auf Israel am 7.10.2023 und die folgende unbarmherzige militärische Reaktion des israelischen Militärs im Auftrag einer rechtsgerichteten Regierung mit Zehntausenden toten Zivilisten auf palästinensischer Seite zeigen noch einmal auf dramatische Weise die Notwendigkeit rechtzeitiger Verständigung zwischen gegnerischen Seiten und auch einer übergeordneten weltpolizeilichen Macht mit Eingriffsrechten, die demokratisch organisiert und kontrolliert ist.
Anmerkungen Kapitel 1.2 - 1.3
[1] „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.“[
2] Präambel der UN-Charta (1945).
[3] Vgl. zur Kritik am UN-Sicherheitsrat auch v. Sponeck (2019).
[4] Vgl. Bernstein (2017, 4).
[ 5 ] In diesem Fall: Die Anerkennung Palästinas als UNESCO-Mitglied.
[6] Vgl. hierzu auch Kapitel 1.3.
[7] Vgl. z.B. zur Kampagne zu einem demokratischen Weltparlament (Leinen/Bummel 2017) sowie Kap. 5 des vorliegenden Buches.
[8] Entnommen aus https://www.unric.org/de/charta, o.D., 17.8.2018.
[9] Zitate entnommen aus: https://www.upi.com/Top_News/US/2019/09/24/Trump-at-UN-General-Assembly-The-future-belongs-to-patriots/4441569319785/?ur3=1, 24.9.19, 24.9.19. [10] Crouch, Colin (2004): Post-Democracy. A Sociological Introduction. Cambridge: Polity Press Ltd.
[11] Bertelsmann-Stiftung (2018).
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[12] Vgl. Mausfeld (2017), vgl. auch Wernicke (2017).
[13] Vgl. ausführlicher zu diesem Begründungszusammenhang Moegling (2020a)
[14] vgl. Kapitel 5.
[15] Democracy is „Government is of the people by the people and for the people“, https://www.quora.com/What-was-Abraham-Lincolns-definition-of-democracy, 12.3.2016, 17.11.2019.
[16] Correctiv (2024): Geheimplan gegen Deutschland. https://correctiv.org/aktuelles/neue-rechte/2024/01/10/geheimplan-remigration-vertreibung-afd-rechtsextreme-november-treffen/, 10.1.2024, 11.2.2024.
[17] Correctiv (2024): Geheimplan gegen Deutschland. https://correctiv.org/aktuelles/neue-rechte/2024/01/10/geheimplan-remigration-vertreibung-afd-rechtsextreme-november-treffen/ ,10.1.2024
[18] https://taz.de/Protestwelle-gegen-Rechtsextremismus/!5991343/, 9.2.2024, 11.2.2024.
[19] Vgl. auch Angele, Michael (2024): Anti-AfD-Demos: Ein Hauch von 1968 auf den Straßen. In: Der Freitag, https://www.freitag.de/autoren/michael-angele/ein-hauch-von-68-auf-den-strassen, Ausgabe 5/2024.
[20] Pausch, Robert (2024): So viel Mitte war nie. In: Die Zeit, vom 8.2.2024, S.1.
[ 21] Philipp Fess (2024): Die AfD und Tabus in der Debatte: Warum die politische Mitte versagt. In: Telepolis, https://www.telepolis.de/features/Die-AfD-und-Tabus-in-der-Debatte-Warum-die-politische-Mitte-versagt-9624676.html?seite=all, 10.2.2024, 10.2.2024.
[22] Zitat aus dem Podcast-Interview von Ebru Taşdemir mit Heike Kleffner und David Begrich: Umgang mit der AfD: helfen Demos, Parteiverbote oder Bündnisse? https://www.freitag.de/autoren/podcast/podcast-zum-umgang-mit-der-afd-helfen-demos-parteiverbote-oder-buendnisse, o.D., 11.2.2024, 09:55-10:23.
[23] Vgl. die entsprechenden Aussagen von David Begrich im Podcast-Interview von Ebru Taşdemir mit Heike Kleffner und David Begrich: Umgang mit der AfD: helfen Demos, Parteiverbote oder Bündnisse? https://www.freitag.de/autoren/podcast/podcast-zum-umgang-mit-der-afd-helfen-demos-parteiverbote-oder-buendnisse, o.D., 11.2.2024, 19:10ff..
[24] Vgl. die entsprechenden Aussagen von Heike Kleffner im Podcast-Interview von Ebru Taşdemir mit Heike Kleffner und David Begrich: Umgang mit der AfD: helfen Demos, Parteiverbote oder Bündnisse? https://www.freitag.de/autoren/podcast/podcast-zum-umgang-mit-der-afd-helfen-demos-parteiverbote-oder-buendnisse, o.D., 11.2.2024, 10:45ff.
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[25] Kersten Augustin (2024): Kleiner, aber feiner werden. In: TAZ, https://taz.de/Demos-gegen-rechts/!5987599/, 9.2.2024, 11.2.2024.
[26] Vgl. https://www.tagesschau.de/inland/faeser-rechtsextremismus-108.html, 9.2.2024, 13.2.2024.
[27] https://taz.de/Proteste-gegen-Rechtsextreme/!5987699/, 4.2.2024, 11.2.2024.
[28] Vgl. die Auswahl der sogenannten Gefängnishefte bei Gramsci (1979) und die 10-bändige Reihe der Gefängnisbriefe bei Gramsci (2012) in der Neuauflage.
[29] Vgl. zu neueren Varianten im Verständnis von Hegemonie bei Mouffe/ Laclau (1985), Brand (2003, 2005), Winter (2003) oder Eis (2018).
[30] Vgl. ausführlicher hierzu Kapitel 5.4.
[31] Vgl. Brand (2005a, 9ff.) sowie Brand/Wissen (2017).
[32] Vgl. die Aussagen von Annan unter https://rp-online.de/politik/ausland/kofi-annan-irak-krieg-war-illegal_aid-9259853, 24.7.2018.
[33] Nader (2004, 219).
[34] Vgl. im Überblick der insbesondere von Seiten der USA angestifteten und durchgeführten illegalen Kriege, welche die UN-Ordnung unterliefen z.B. bei Ganser (2017).
[35] Vgl. hier die Argumentation bei Listl (2019) und Crome (2019, 13ff.).
[36] Vgl. noch weitergehender hierzu Listl (2019, 73ff.).
[37] Vgl. Crome (2019, 69).
[38] Vgl. Amnesty International (2015)
[39] Vgl. ausführlicher im Kapitel 2.7
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1.4 Militärische Krisen und Rüstungspolitik
1.4.1 Das Wachstum des militärischen
Gewaltpotenzials
1.4.1.1 Waffenexporte und der militärisch-ökonomische Komplex
Es ist nachvollziehbar, dass – solange noch kein stabiles und sicheres internationales System über die Vereinten Nationen existiert, solange hochgerüstete Staaten mit aggressiven geostrategischen Absichten vorhanden sind - Staaten bzw. Staatenverbünde trotz des Vorrangs der Diplomatie und internationalen Verständigung auch ein notwendiges Minimum an Wehrfähigkeit besitzen wollen. Waffensysteme, die vorwiegend zur Verteidigung dienen, wie z.B. Flugabwehrsysteme, sind akzeptable Produkte einer öffentlich kontrollierten Rüstungsindustrie. Die Produktion von Waffen sollte jedoch in Demokratien unter staatliche Kontrolle genommen werden und nicht in privatwirtschaftlichen Händen liegen, da sich ansonsten ein militärisch-ökonomischer Komplex mit verhängnisvollen Interessensverflechtungen entwickelt.
Ein kapitalistisch agierender militärisch-ökonomische Komplex soll hier als eine Ökonomie des Todes angesehen werden, die über militärische Aufrüstung, eine Steigerung von Waffenexporten und häufig brutale Zerstörung gesellschaftlicher Ordnungen in Form von Kriegen unterschiedlichster Art Renditen für ihre Anteilseigner erzeugt. [1] Eigentlich müsste von einem militärisch-ökonomischen-politischen Komplex gesprochen werden, da es die Politiker sind, die Kriegsentscheidungen fällen und Rüstungsausgaben kontrollieren. Rüstungsunternehmer, Kriegsherren, Rüstungslobbyisten und staatstragende Politiker bilden in der Regel – seien es nun formale Demokratien oder offene Diktaturen – eine Einheit mit oftmals miteinander kompatiblen Interessen. Oder anders formuliert: Ohne die medial geschürte Angst vor dem Gegner, ohne kriegerische Auseinandersetzungen, d.h. ohne das massenhafte Sterben von Menschen in den Kriegsgebieten, lassen sich in der Rüstungsindustrie keine nennenswerten Gewinne erzielen. Dies bedeutet, dass internationale tragfähige Abkommen zur Friedenssicherung nicht im Interesse der Rüstungsindustrie und der mit ihr verbundenen militärischen Führung sowie der kooperierenden (und hin und wieder auch profitierenden) Politikern sein können.
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Hierbei darf nicht unerwähnt bleiben, dass nicht nur die Generalität, die Banken- und die Konzernchefs, Regierungspolitiker zum militärisch-ökonomischen Komplex gehören, sondern auch die Arbeitnehmer in der Rüstungsindustrie sowie die Berufssoldaten in den Armeen. Beide Gruppierungen haben existenzielle Interessen am Funktionieren einer privatwirtschaftlich organisierten und auf Wachstum setzenden Rüstungsindustrie und identifizieren sich weitgehend mit deren Zielen und Strukturen bzw. verlangen allenfalls noch eine zusätzliche Effizienzsteigerung.
Der damals scheidende US-Präsident Dwight D. Eisenhower – als Republikaner wahrlich kein politisch links stehender Kritiker des Systems – warnte bereits 1961 in einer Fernsehansprache vor dem militärisch-industriellen Komplex, der aus seiner Sicht dabei sei, die demokratische Staatsform mit seinem Einfluss zu unterlaufen. Eisenhower warnte eindringlich vor dem entdemokratisierenden Einfluss des militärisch-industriellen Komplexes:
„In the councils of government, we must guard against the acquisition of unwarranted influence, whether sought or unsought, by the military-industrial complex. The potential for the disastrous rise of misplaced power exists and will persist.
We must never let the weight of this combination endanger our liberties or democratic processes.“ [2]
Die Interessen des militärisch-ökonomischen Komplexes – Waffenexporte in Spannungsgebiete als Ausdruck moralischer Unterentwicklung
Greta Thunberg warf den auf dem UN-Klimagipfel vertretenen Staats- und Regierungschefs 2019 mit ihrem empörten „How dare you?!“ ihre Ignoranz und Untätigkeit angesichts der eintretenden Klimakrise vor. Müsste man nicht den gleichen empörten Vorwurf heute der Waffenindustrie machen und in der politischen Öffentlichkeit gegen die Regierungsvertreter erheben, die Waffenexporte in Spannungsgebiete genehmigen: „Wie können Sie es wagen!?“?
Ist die menschengemachte Klimakrise nicht z.T. vergleichbar mit den Waffenexporten in Spannungsgebiete? Die Klimakrise und ethisch nicht zu rechtfertigende Waffenexporte stellen ein globales Phänomen dar, das durch den Menschen verursacht wird. Auch in der durch Waffenexporte beschleunigten Destruktion von Gesellschaftssystemen gibt es Kippunkte und Rückkoppelungseffekte, wie dies ebenfalls bei der krisenhaften Entwicklung des Weltklimas der Fall ist. Letztlich bleiben eine sich steigernde Destruktionsdynamik mit Toten und Verletzten, mit Failed States, einer zerstörten Umwelt sowie zertrümmerten Gebäuden und Einrichtungen übrig.
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Beides – Klimakrise und durch globalen Waffenexport verschärfte Kriegssituationen – entstehen aus dem gleichen Zustand moralischer Unterentwicklung, aus der gleichen unreifen Geisteshaltung, aus der heraus alles, was eine Rendite einbringt, trotz der massiven Zerstörung von Lebensgrundlagen dennoch realisiert wird.
Gier als Ausdruck moralischer Unterentwicklung, ökonomische und politische Motive spielen eine zentrale Rolle beim Export von Rüstungsgütern in Spannungsgebiete. Hierbei sollen unter der Bezeichnung ‚Spannungsgebiete‘ alle Staaten und Regionen gemeint sein, in denen entweder zwischenstaatliche Kriege, asymmetrische Konflikte sowie massive staatlich organisierte Menschenrechtsverletzungen und staatlich organisierter Terror sowie Bürgerkriege drohen oder bereits existieren.
Es gibt allerdings eine einzige Ausnahme, wo Waffenexporte in Spannungsgebiete sinnvoll sind: Wenn ein Staat durch einen mächtigeren Staat angegriffen wird und alle Verhandlungsangebote vergebens sind, dann kann es legitim sein, den angegriffenen Staat sehr dosiert mit Waffenlieferungen zu unterstützen (und gleichzeitig die diplomatischen Bemühungen aufrecht zu erhalten bzw. sogar noch zu verstärken). Die russische Invasion in die Ukraine stellt einen solchen Konfliktfall dar, der zu legitimen Waffenexporten in die Ukraine führte. Hierbei wäre es wichtig gewesen, eine verbindliche und prinzipiengeleitete ‚rote Linie‘ für die Waffenexporte zu formulieren, also was geliefert werden darf und was nicht. Auch sollten dies prioritär Waffen sein, wie Abwehrsysteme zum Abschuss angreifender Kampfjets oder Waffen zur Abwehr von Drohnenangriffen, sowie Waffen zur Abwehr angreifender Panzer. Waffen, die primär zum Angriff gegen den angreifenden Staat im Landesinnern verwendet werden können, z.B. der Luft-Boden Marschflugkörper ‚Taurus‘, verwendet werden können, wie Raketen mit weiter Reichweite sowie nuklear zu bewaffnende Kampfjets, müssten hier jenseits der friedenspolitisch vertretbaren Entscheidungen liegen.
Zu den ökonomischen Motiven des Rüstungsexportes auch in Spannungsgebiete lässt sich feststellen, dass die Rüstungsindustrie wachsende Renditen verzeichnet, steigende Aktienkurse notiert, bei Anlegern besonders nachgefragt ist und sich gerade in Krisenzeiten in einem sicheren Verwertungszusammenhang befindet. [3]
Die genehmigenden Politiker_innen wiederum geben vor, Arbeitsplätze und Technologietransfer sichern zu wollen, haben z.T. ebenfalls ökonomische Interessen (‚Drehtüreffekt‘), stehen unter dem massiven Lobbydruck der Rüstungsindustrie und handeln aus dem Kalkül geostrategischer Interessen heraus.
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Offiziell positioniert sich in Deutschland beispielsweise jeder politisch Verantwortliche, Wähler wirksam, gegen die Waffenexporte in Spannungsgebiete, da die nationale und internationale Rechtslage bzw. entsprechende Verordnungen hier inzwischen öffentlich wahrnehmbare Barrieren markieren. Auch sind Waffenexporte in Spannungsgebiete nicht populär. Die überwiegende Mehrheit (mehr als drei Viertel) der deutschen Bevölkerung lehnt – abgesehen von den Waffenexporten in die sich verteidigende Ukraine – Waffenexporte in Spannungsgebiete ab. [4]
Abgesehen von der Ausnahme, bei der aus Solidarität mit einem angegriffenen Staat gehandelt wird, spielen neben den ökonomischen Motiven geopolitische Motive beim Waffenexport eine Rolle. Waffen bekommen vor allem diejenigen, von denen sich die genehmigenden Politiker im Falle ihres militärischen Sieges einen Vorteil erhoffen. Manchmal werden sogar beide gegeneinander kämpfende Kriegsparteien gestärkt, wenn deren geostrategische Schwächung dem Interesse der Waffen liefernden Nationen entspricht. Die Waffenlieferungen sowohl an den Iran als auch an den Irak von Seiten der USA und auch durch die damalige UDSSR während des ersten Golfkriegs sind ein Beispiel hierfür. Das zynische Kalkül, beide Seiten zu schwächen, ließ einen Krieg eskalieren, dem etwa eine Million Menschen zum Opfer fiel. [5]
Welche konkreten rechtlichen Barrieren wurden nun im Zuge langanhaltender Proteste und deutlicher Kritik an Waffenexporten in Spannungsgebiete errichtet? Dieser Frage soll im nächsten Abschnitt der Untersuchung zunächst für die internationale Ebene und dann für die nationalen Rechtsgrundlagen der Genehmigungspraxis nachgegangen werden. Anschließend wird gefragt, wie wirkungsvoll diese Regelungen für die tatsächliche Praxis der Waffenexporte in Spannungsgebiete sind.
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Internationale Regelungen, um Waffenexporte in Spannungsgebiete zu verhindern
Regelungen der Vereinten Nationen
Der UN-Vertrag über den Waffenhandel (Arms Trade Treaty – ATT), der im April 2013 von der UN-Generalversammlung verabschiedet und 2014 wirksam wurde, ist eindeutig. Die Vertragsstaaten verpflichten sich, ein transparentes und wirksames Kontrollsystem für konventionelle Waffenexporte zu installieren. Ein Vertragsstaat darf laut Artikel 6, Absatz 3 des ATT
„keinerlei Transfer von konventionellen Waffen (…) genehmigen, wenn er zum Zeitpunkt der Entscheidung Kenntnis davon hat, dass die Waffen oder Güter bei der Begehung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, schweren Verletzungen der Genfer Abkommen von 1949, Angriffen auf zivile Objekte oder Zivilpersonen, die als solche geschützt werden, oder andere Kriegsverbrechen im Sinne völkerrechtlicher Übereinkünfte, deren Vertragspartei er ist, verwendet werden würden.“ [6]
Das Problem hierbei ist, dass bisher nicht alle UN-Mitglieder den ATT ratifiziert haben: 116 Staaten haben bis zum Februar 2025 den Vertrag ratifiziert bzw. sind ihm beigetreten („state parties“), von 26 Staaten, die den Vertrag unterschrieben haben, steht dies noch aus („Signatories that are not yet States Parties“), 53 Staaten haben noch nicht unterzeichnet („States that have not yet joined the treaty“) (Stand Februar 2025) [7]. Waffenexporteure, wie Russland und Iran, haben den ATT-Vertrag noch nicht unterzeichnet. Die USA hatten ihm zugestimmt, ihn aber noch nicht ratifiziert, so dass er für sie völkerrechtlich nicht gültig war. Trump bekräftigte dann im Jahr 2019, dass die USA den Vertrag nicht ratifizieren würden: „Amerikaner leben nach amerikanischen Gesetzen, nicht nach Gesetzen anderer Länder“. [8]
Aber auch die Biden-Administration hatte keine Schritte unternommen, den ATT zu ratifizieren – so Rachel Stohl (2022):
„Unfortunately, the Biden administration has been frustratingly and disappointingly silent on the ATT despite support for the treaty appearing in the Democratic Party’s platform and numerous promises to review the agreement and the U.S. role in it. This decision sits firmly in the executive branch’s hands; no congressional action is required to recommit to the treaty. (…) President Biden need only send a letter to the UN stating that it will fulfill its responsibilities as a signatory and be bound by the object and purpose of the treaty, which are to reduce human suffering and ensure a responsible, accountable, and transparent arms trade.“
Auch von der zweiten Amtsperiode von Donald Trump ist wohl nicht zu erwarten, dass die USA den ATT unterzeichnen, ratifizieren und dem Vertrag damit beitreten.
Deutschland hat den ATT ratifiziert, damit ist der Vertrag für Deutschland völkerrechtlich verbindlich. Mit China, Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Großbritannien haben Staaten das Abkommen unterzeichnet, die zu den zehn größten globalen Waffenexporteuren gehören. China trat dem ATT relativ spät bei, er wurde mit dem Bestätigungsschreiben der UN im Oktober 2020 rechtsgültig.
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Somit lässt sich festhalten, dass zwei der führenden Waffenexporteure, USA und Russland, sich noch nicht entschlossen haben bzw. sich verweigern, dem ATT rechtsverbindlich beizutreten. Auch wenn weitere maßgebliche Waffenexporteure, wie z.B. Deutschland, China oder Frankreich, dem ATT-Vertrag beigetreten sind, kann er seine Wirksamkeit nur sehr eingeschränkt entfalten, bis zumindest alle ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates bereit sind, sich u.a. dem Exportverbot von Waffen in Krisenregionen und Spannungsgebiete anzuschließen.
Des Weiteren muss kritisiert werden, dass der ATT keine Regelungen zu verbindlichen Kontrollen und Sanktionen enthält. Es wird lediglich an die Nationalstaaten appelliert, die Anforderungen des ATT in nationales Recht zu überführen und die rechtlichen Grundlagen sowie die Genehmigungspraxis und die Art, den Umfang und Zielort der Waffenexporte auf freiwilliger Basis an das ATT-Sekretariat der Vereinten Nationen weiterzuleiten. Dies soll durch den Anreiz finanzieller Förderung durch das ATT-Sponsorship Programme und den ATT Volantary Trust Fund unterstützt werden.
Allerdings muss festgestellt werden, dass diese Anreize nicht wirkungsvoll genug sind, da auch ATT-Unterzeichnerstaaten, wie z.B. Frankreich, Deutschland, Großbritannien, China und Italien, in Spannungsgebiete – ohne dass dort eine Unterstützung einer Selbstverteidigung im Sinne der UN-Charta vorliegt – Waffen exportieren. Amnesty International (o.D.) führt hier z.B. die importierenden Staaten, wie z.B. Saudi-Arabien, Israel und Ägypten an. Beispielsweise hat die deutsche Bundesregierung im Januar 2024 den Verkauf von 150 Iris-T-Raketen an Saudi-Arabien genehmigt, obwohl dieses Land am Krieg im Jemen maßgeblich beteiligt ist. Ein weiteres Beispiel für den Verstoß gegen den ATT sind die Waffenlieferungen im Wert von 230 Millionen Euro im Jahr 2024 in die Türkei, welche völkerrechtswidrig die syrischen Kurdengebiete militärisch angreift (Kirlidokme 2024).
EU-Regelungen
Auch auf der Ebene der Europäischen Union haben wir ebenfalls entsprechende Regelungen, die den Waffenexport in Spannungsgebiete strikt untersagen und über den Waffenexport insgesamt Kontrolle ausüben wollen.
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Im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU (GASP) wurde ein sogenannter „Gemeinsamer Standpunkt des Rates“ 2008 (in Fortschreibung und erneutem Beschluss 2019) entwickelt. [9] Hierbei wird zunächst betont, dass die Mitgliedsstaaten Anträge auf Waffenexport oder auf den Export von Waffentechnologie vor dem Hintergrund internationaler Vereinbarungen zu prüfen haben. Dies sind in erster Linie Bündnisverpflichtungen gegenüber der EU und der UN, die sich u.a. aus Übereinkünften zu verhängten Sanktionen, der Nicht-Verbreitung von Nuklearwaffen, dem Verbot von Antipersonen-Minen (Ottawa-Übereinkunft) sowie dem Verbot chemischer und biologischer Waffen ergeben (Art. 2 (1) des „Gemeinsamen Standpunkts des Rates“). Im Art. 2 (2) werden acht Kriterien für die Zusage bzw. die Ablehnung des Waffenexports festgelegt. Insbesondere bei einem Verstoß eines Staates gegen die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht ist eine Exportgenehmigung in ein Endbestimmungsland zu versagen. Wenn ein Risiko besteht, dass die exportierten Rüstungsgüter und Militärtechnologien zur internen Repression in dem Empfängerland führen würden, wenn dort schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen und Verstöße gegen das geltende Völkerecht vorgenommen würden oder zu erwarten sind, wenn bewaffnete Konflikte im Innern und mit anderen Staaten hierdurch verschärft würden, wenn eine unerwünschte Haltung zum Terrorismus bestehe, dann müsse die Exportgenehmigung verweigert werden. Auch wenn eine Abzweigung von Militärtechnologie zu erwarten und das Risiko eines Weiterexports von Rüstungsgütern in unsichere und risikobehaftete Drittstaaten zu erwarten sei, müsse der Rüstungsexport verweigert werden.
Mit diesen Formulierungen bewegt sich der Beschlussrahmen auf der Ebene des UN-Vertrags für Waffenexporte (ATT).
Probleme ergeben sich allerdings, wenn die Bestimmungen des Artikels 2 (1) und 2 (2) in einen Widerspruch zueinander treten. Unwägbar und offen bleibt die staatliche Genehmigungspraxis, wenn aufgrund von Bündnisverpflichtungen eine Lieferung von Rüstungsgütern als notwendig erachtet wird, obwohl diese Waffen dann zur Unterdrückung der eigenen Bevölkerung, der Aggression im Nachbarstaat oder für die direkte Lieferung an kriegsführende Parteien in Spannungsgebieten eingesetzt werden. Hier wären sicherlich beispielsweise die deutschen Waffenlieferungen in die Türkei, nach Saudi-Arabien sowie die Waffenlieferungen von Frankreich und Italien im Libyen-Konflikt zu nennen. Auch die USA und Russland liefern weltweit Waffen an ihre an militärischen Konflikten beteiligten Bündnispartner, ohne dass dies durch Regulierungen der UN-Charta legitimiert ist.
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Der auf Waffenexporte spezialisierte Journalist Wolf-Dieter Vogel verweist zudem darauf, dass der ‚Gemeinsame Strandpunkt des Rates‘ keine Rechtsverbindlichkeit im Sinne einer EU-Verordnung besitze. [10] Offensichtlich belässt man bewusst einen erheblichen Entscheidungsspielraum für die Mitgliedsstaaten bei dem Export von Rüstungsgütern. Die fehlende Rechtsverbindlichkeit der Beschlüsse sowie die potenziell in einen Widerspruch zueinander tretenden Bestimmungen von Art. 2 (1) und 2 (2) bieten dann auch eine ungünstige Voraussetzung für Sanktionen gegenüber EU-Staaten, die sich nicht an die Vereinbarung des Rates zu Waffenexporten in Spannungsgebiete bzw. in die Menschenrechte missachtenden Staaten halten.
Nationalstaatliche Regelungen am Beispiel Deutschlands
Jeder Staat hat seine eigenen Regelungen zur Frage der Waffenexporte, die unterschiedlich streng bzw. nachlässig gestaltet sein können. Es soll hier am Beispiel Deutschlands demonstriert werden, inwieweit dort welche normativen Erwartungen an den Waffenhandel formuliert werden. Diese werden dann in einem nachfolgenden Schritt – genauso wie für die globale und die europäische Ebene – überprüft, inwieweit Anspruch und Realität zusammenfinden können.
Die Beschränkungen des Waffenexports aus Deutschland in andere Staaten beziehen sich zunächst auf das grundsätzliche Friedensgebot des Artikels 26 (1) und der Ansprüche des Artikels 26 (2) des deutschen Grundgesetzes, in dem die Herstellung von Waffen und der Waffenexport als genehmigungspflichtig deklariert werden („Zur Kriegsführung bestimmte Waffen dürfen nur mit der Genehmigung der Bundesregierung hergestellt, befördert und in Verkehr gebracht werden.“ (GG Art. 26 (2)).
Beispielsweise im Koalitionsvertrag von 2017 berief sich die damalige Bundesregierung u.a. auf den ATT, den ‚Gemeinsamen Standpunkt des Rates‘ der EU, das Außenwirtschaftsgesetz (AWG) und das Kriegswaffenkontrollgesetz (KrWaffKontrG) und legte für sich restriktiv hinsichtlich des Waffenexports fest:
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„Die Beachtung der Menschenrechte im Empfängerland spielt bei der Entscheidungsfindung eine hervorgehobene Rolle. Wenn hinreichender Verdacht besteht, dass die zu liefernden Rüstungsgüter zur internen Repression oder zu sonstigen fortdauernden und systematischen Menschenrechtsverletzungen missbraucht werden, wird eine Genehmigung grundsätzlich nicht erteilt.“ [ 11]
Neben der Einhaltung der Menschenrechte ist das zweite entscheidende Kriterium die Frage nach der friedenspolitischen Zuverlässigkeit bzw. der Gefährdung des zwischenstaatlichen Friedens durch das Empfängerland:
„Nach § 6 KrWaffKontrG besteht kein Anspruch auf Erteilung einer Genehmigung für die Ausfuhr von Kriegswaffen. Diese ist zwingend zu versagen, wenn die Gefahr besteht, dass die Kriegswaffen bei einer friedensstörenden Handlung verwendet, völkerrechtliche Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt werden oder aber der Antragsteller nicht die für die Handlung erforderliche Zuverlässigkeit besitzt.“ [12]
Eigentlich sind diese Regelungen genügend restriktiv und verantwortungsvoll formuliert. Dennoch kritisiert auch hier Wolf-Dieter Vogel, dass diese Formulierungen eher Ansprüche und keine rechtlich verbindlichen Regelungen darstellen („Die deutschen Rüstungsexportrichtlinien sind nicht rechtsverbindlich“ [13]). Diese Kritik lässt sich m.E. zwar auf Regelungen in einem Koalitionsvertrag sowie auf den Bundesexportbericht beziehen, aber weder auf das AWG noch auf das KrWaffKontrG, die Gesetzescharakter besitzen und auf deren Grundlagen im Falle von Verstößen die Strafverfolgung eingeleitet werden kann bzw. müsste.
Der offizielle Weg zu einer Waffenexportgenehmigung sieht eine Voranfrage eines Rüstungsunternehmens bei dem Ministerium für Wirtschaft und Energie über die Möglichkeit eines Waffenexports bzw. Exports von Rüstungsgütern vor. Das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA), eine Oberbehörde des Bundeswirtschaftsministeriums, ist an der Kriegswaffenkontrolle beteiligt, dem regelmäßig Kriegswaffenbestände und Bestandsveränderungen zu melden sind. Maßgeblich für die Genehmigung einer Voranfrage ist – neben einer politischen Einschätzung des Empfängerlandes – eine lange und detaillierte Waffenliste, die definiert, welche Gerätschaften der Exportkontrolle unterliegen (Ausfuhrliste zur Außenwirtschaftsverordnung).
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Falls die Voranfrage eines Rüstungsunternehmens abschlägig beschieden wird, wird das Projekt zumindest auf diesem offiziellen Weg in der Regel nicht weiter verfolgt. Wird die Voranfrage positiv beschieden, dann kann der Waffenexport in der Regel erfolgen. Ein Waffenexport, der außerhalb Europas zu Staaten erfolgen soll, die nicht zur NATO oder vergleichbaren Staaten angehören oder die als problematische Staaten gelten, führt bei entsprechender politischer Bedeutung zur Verhandlung vor dem Bundessicherheitsrat (BSR), einem Kabinettsausschuss, der von der Bundeskanzlerin bzw. dem Bundeskanzler geleitet wird und in dem u.a. mehrere Bundesminister sitzen. Dort wird u.a. unter Ausschluss der Öffentlichkeit über entsprechende Anträge auf Waffenexport verhandelt. Die Sitzungen des Bundessicherheitsrats sind geheim. Es wird weder ein Sitzungsdatum noch eine Tagesordnung im Vorhinein bekannt gegeben. Erst im Nachhinein wird nach erfolgter Entscheidung der Bundestag informiert. Allerdings untersteht der Bundessicherheitsrat nicht der parlamentarischen Kontrolle des Bundestags. Er entscheidet über Waffenlieferungen in der Regel autonom und ist der Bundesregierung nur verpflichtet, wo dies gesetzlich festgelegt ist. Hierbei stehen die Waffenexportgenehmigungen in einem Zusammenhang mit der deutschen Sicherheitspolitik und ihrer strategischen Ausrichtung, so wie dies der Bundessicherheitsrat und die Bundesregierung für sich definieren.
Auch wird der Ermessensspielraum für den Bundesssicherheitsrat auch weiterhin dadurch belassen, dass transnationale Sanktionspolitik und Bündnisverpflichtungen aufgrund zwischenstaatlicher Verträge (KrWaffKontrG § 27 [14]) zu beachten sind. So sind nach dem Artikel 3 des Nordatlantikvertrags der NATO (1949) die Vertragsstaaten verpflichtet: „Um die Ziele dieses Vertrags besser zu verwirklichen, werden die Parteien einzeln und gemeinsam durch ständige und wirksame Selbsthilfe und gegenseitige Unterstützung die eigene und die gemeinsame Widerstandskraft gegen bewaffnete Angriffe erhalten und fortentwickeln.“
Ein weiteres Problem ist, dass das deutsche Waffenkontrollgesetz in einem partiellen Widerspruch zur Handhabung europäischer Rechtsnormen steht. Es gibt immer noch keine wirksame Kontroll- und Sanktionspolitik auf europäischer Ebene aufgrund des rechtsunverbindlichen Charakters der betreffenden EU-Regelungen. Dadurch wird der Waffenexport aus Deutschland in andere EU-Staaten ermöglicht, die wiederum Waffenexporte in Spannungsgebiete tolerieren. Hierdurch wird die Ausfuhr aus dem betreffenden EU-Land in Drittländer, zu denen dann auch Spannungsgebiete gehören können, ermöglicht.
Zwar wurden im Jahr 2015 von der Bundesregierung Richtlinien für Post-Shipment-Kontrollen formuliert, bei denen u.a. in Zusammenarbeit mit dem Bundeswirtschaftsministerium, insbesondere dem Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA), der Endverbleib der exportierten Waffen im Empfängerland kontrolliert werden soll. Das Problem hierbei stellt sich zunächst im Prinzip der exemplarischen Überprüfung und des fehlenden Personals für vollständige Überprüfungen sowie mit dem Blick auf die Einlösung von Handelsinteressen dar, wenn dort formuliert wird:
„Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie und die Rüstungszusammenarbeit mit Drittländern dürfen durch das System der Post-Shipment Kontrollen nicht gefährdet werden.“ [15]
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Dementsprechend gibt es auch keine wirksame Handhabe gegenüber Direktinvestitionen von Rüstungskonzernen in Spannungsgebieten oder wenn in einen vermeintlich sicheren Staat außerhalb der EU und der NATO investiert wird. Wenn beispielsweise ein deutscher Technologietransfer nach Australien erfolgt, dort eine Waffenfabrik bzw. eine Munitionsfabrik in Zusammenarbeit mit einem deutschen Rüstungskonzern gebaut wird, ist aufgrund der entsprechenden Aussagen der australischen Regierung und der bereits getätigten Lieferungen nicht gesichert, dass diese dort produzierten Waffen nicht auch in Spannungsgebiete exportiert bzw. dort von dem beteiligten, Waffen produzierenden Staat eingesetzt werden.[16] Wenn in Südafrika von einem deutschen Rüstungskonzern eine Munitionsfabrik gebaut wird, dann muss man sich nicht wundern, wenn mit deutschem Know How im Jemen-Krieg getötet wird.
Die Realität der Waffenexporte
Es soll hierbei bereits etwas früher in der Datenanalyse angesetzt werden, um die Entwicklung über einen längeren Zeitraum verfolgen und die Veränderungen im Laufe der Zeit im Zusammenhang mit politischen Ereignissen feststellen zu können.
Das schwedische Friedensforschungsinstitut SIPRI (Stockholm International Peace Research Institute) stellte bereits in seinen im Frühjahr 2018 veröffentlichten Bericht fest [17], dass der internationale Waffenhandel in den letzten fünf Jahren im Vergleich zu 2008 bis 2013 um 12% zugenommen habe. Hierbei belegte die Rüstungsindustrie der USA mit 34% Marktanteil (plus 25% Waffenverkäufe im Vergleich) den ersten Rang waffenexportierender Nationen. Die Verträge hierfür wurden unter der Regierung des Friedensnobelpreisträgers Obama unterzeichnet. Zweitgrößtes Exportland war Russland (minus 7,1% Waffenverkäufe), dann folgten Frankreich (plus 27%) sowie Deutschland (minus 14%) und China (plus 38%). Die Rüstungsindustrien dieser fünf Staaten waren für 74% aller Waffenverkäufe von 2012-2017 verantwortlich. Nahezu jede dritte verkaufte Waffe wurde in Staaten des Mittleren Ostens geliefert, welche die Zahl ihrer Waffenimporte in diesem Zeitraum verdoppelt hatten. Jede zweite US-Waffe wurde hierbei wiederum in den Mittleren Osten verkauft. Die Waffenverkäufe der deutschen Rüstungsindustrie in den mittleren Osten stiegen in dieser Zeit um 109%.
Im Jahr 2019 besaßen die USA bereits einen Waffenexportanteil von 36% und die Waffenexporte waren im Zeitraum 2015-2019 um 76% höher als die Exporte des Zweitgrößten Exportland Russland (minus 7,1% Waffenverkäufe) (SIPRI 2020a).
Insgesamt waren im globalen Kontext die jährlichen Waffenverkäufe im Vergleich zu 2002 bis zum Jahr 2018 um 42% gestiegen. Hierbei führten in der Skala der Waffen produzierenden Unternehmen fünf US-Konzerne:
„For the first time since 2002, the top five spots in the ranking are held exclusively by arms companies based in the United States: Lockheed Martin, Boeing, Northrop Grumman, Raytheon and General Dynamics. These five companies alone accounted for $148 billion and 35 per cent of total Top 100 arms sales in 2018. Total arms sales of US companies in the ranking amounted to $246 billion, equivalent to 59 per cent of all arms sales by the Top 100. This is an increase of 7.2 per cent compared with 2017.“ [18]
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Die meisten Waffen wurden nach Indien verkauft (Spannungen mit China und Pakistan). Saudi-Arabien, das aktiv zur Destabilisierung des Mittleren Ostens beiträgt und zerstörerische militärische Einsätze im Jemen fliegt, war zweitgrößter Importeur von Waffen (Verdreifachung seiner Waffeneinkäufe in den analysierten fünf Jahren). Hiernach folgten Ägypten, die Arabischen Emirate und China.
China verringerte seine Importe, da es zunehmend selbst Waffen produziert. Die Steigerung der Waffenexporte Chinas (38%) bezieht sich vor allem auf Pakistan, Algerien und Bangladesch.
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„Seit 2003 hat die Bundesregierung ihre Beziehungen zu Saudi-Arabien stetig ausgebaut. Ziel der Bundesrepublik war und ist vor allem die Förderung des Außenhandels, doch hatten einige der neueren Geschäfte eine klare sicherheitspolitische Dimension. Bisheriger Höhepunkt der von mittlerweile drei deutschen Regierungen betriebenen Zusammenarbeit war der geplante Verkauf von 270 Leopard-Kampfpanzern in das Wüstenkönigreich. Vor dem Hintergrund des Arabischen Frühlings war dieses Geschäft jedoch höchst problematisch. Dies betraf zunächst einmal die Ausstattung der bestellten Panzer. Es handelt sich um den Leopard 2A7–+, der für die Aufstandsbekämpfung in bewohntem Gebiet umgerüstet ist und sich damit vor allem für die Niederschlagung von Unruhen im Inland eignet.“ [19]
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Dies bedeutet eindeutig, dass die Waffenlieferungen trotz politischer Diskussionen und anderslautender politischer Statements der jeweiligen Regierungen fast durchweg in Spannungsgebiete erfolgten. Die Ökonomie des Todes wächst mit jedem Spannungsherd – so Pieter Wezeman, Senior Researcher des ‚SIPRI Arms and Military Expenditure Programms‘:
“Widespread violent conflicts in the Middle East and concerns about human rights have led to political debate in Western Europe and North America about restricting arms sales (…) Yet the USA and European states remain the main arms exporters to the region and supplied over 98 per cent of weapons imported by Saudi Arabia.” [20]
Der Rüstungsexport in Spannungsgebiete hat oftmals massive militärische Unterdrückung der Zivilbevölkerung durch die verschiedenen Kriegsparteien (siehe Syrien oder Sudan) bis hin zum rassistisch unterlegten Versuch des Genozids zur Folge, wie z.B. aktuell in Myanmar (Birma) in Bezug auf die muslimische Volksgruppe der Rohingyas oder 1994 in Ruanda hinsichtlich des Massenmords an der Bevölkerungsgruppe der Tutsis durch Hutu-Milizen.
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Auch die 2023/2024 erfolgte völkerrechtswidrige Bombardierung des Gaza-Streifens mit Zehntausenden Toten insbesondere in der palästinensischen Zivilbevölkerung, in unverhältnismäßiger Reaktion auf den vorherigen brutalen Angriff der Hamas auf israelisches Gebiet, erfolgte mit westlichen Waffen.
Auch Daten von SIPRI (2020) machen deutlich, dass die USA, Russland, Frankreich, Deutschland und China, die fünf größten globalen Waffenexporteure, Waffen überall hin exportieren – unabhängig davon, ob es sich hierbei um Spannungsgebiete handelt.
SIPRI (2023) verweist nun auf eine Trendwende hinsichtlich der regionalen Verteilung der Waffenimporte. Insbesondere europäische Staaten steigerte ihre Waffenimporte, was sicherlich in einer Verbindung mit den wachsenden Spannungen mit Russland im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine steht:
„Imports of major arms by European states increased by 47 per cent between 2013–17 and 2018–22, while the global level of international arms transfers decreased by 5.1 per cent. Arms imports fell overall in Africa (–40 per cent), the Americas (–21 per cent), Asia and Oceania (–7.5 per cent) and the Middle East (–8.8 per cent)—but imports to East Asia and certain states in other areas of high geopolitical tension rose sharply. The United States’ share of global arms exports increased from 33 to 40 per cent while Russia’s fell from 22 to 16 per cent, according to new data on global arms transfers published today by the Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI).“
Die Zahlen des schwedischen Friedensforschungsinstituts SIPRI machten für den Zeitraum von 2015-2019 deutlich, dass die Rüstungsexporte beständig stiegen. Hiervon waren auch die Rüstungsexporte in Spannungsgebiete nicht ausgenommen:
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Tab. 1: The 10 largest arms exporter and importers [21]
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Arms exports 2015-2019 Arms imports 2015-2019
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Rank Country Share in % Country Share in %
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1 USA 36 Saudi Arabia 12
2 Russia 21 India 9.2
3 France 7.9 Egypt 5.8
4 Germany 5.8 Australia 4.9
5 China* 5.5 China 4.3
6 UK 3.7 Algeria 4.2
7 Spain 3.1 South Korea 3.4
8 Israel 3.0 United Arab
Emirates (UAE) 3.4
9 Italy 2.1 Iraq 3.4
10 South Korea 2.1 Qatar 3.4
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Ab 2022 ist die angegriffene Ukraine zum drittgrößten
Waffenimporteur aufgestiegen (SIPRI 2023a)
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* China's arms exports are most likely to be set higher, as no traceable international insight into Chinese arms exports is available .
Die Tab. 1 macht deutlich, dass die USA und Russland bis 2019 mit Abstand die größten Waffenexporteure waren, die für mehr als die Hälfte aller Waffenexporte verantwortlich sind (57%). Hierbei lassen sich weder diese beiden Staaten noch auch die acht folgenden Länder im Ranking der Exporteure von den internationalen Waffenexportverboten in Bezug auf Krisen- und Spannungsgebiete abhalten. Fast alle weltweit führenden, Waffen importierenden Staaten befanden sich in Spannungsgebieten bzw. sind in Kriege und asymmetrische militärische Konflikten verwickelt (bis auf Australien).
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So stiegen die Waffenexporte in das Spannungsgebiet des Mittleren Osten im Vergleich der Jahre 2010-2014 mit dem Zeitraum von 2015-2019 um 61% (!). [22]
Insbesondere Syrien, Jemen und Libyen sind in dieser Zeit Kriegsschauplätze, auf denen vorwiegend mit aus den USA und aus Europa (incl. Russland) importierten Waffen Kriege geführt werden.
SIPRI (2023) zeigt nun, dass inzwischen die von der russischen Invasion betroffene Ukraine die größten Waffenimportsteigerungen aufweist und 2022 zum drittgrößten Waffenimporteur wurde:
„From 1991 until the end of 2021, Ukraine imported few major arms. As a result of military aid from the USA and many European states following the Russian invasion of Ukraine in February 2022, Ukraine became the 3rd biggest importer of major arms during 2022 (after Qatar and India) and the 14th biggest for 2018–22. Ukraine accounted for 2.0 per cent of global arms imports in the five-year period.“
Für den Zeitraum von 2019 bis 2023 veränderte sich das Verhältnis hinsichtlich der Exporte schwerer Waffen erheblich (Tab. 2).
Tab. 2: Die 10 größten Exporteure schwerer Waffen und prozentuale Veränderungen (SIPRI 2024)
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Exportierendes Prozentualer Anteil % am Prozentualer Anteil % am Prozentualer Wechsel Wechsel Land weltweiten Export schwerer weltweiten Export schwerer von 2014-2018 zu
Waffen 2019-2023 Waffen 2014-2018 2019-2023
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USA 42 34 17
Frankreich 11 7,2 47
Russland 11 21 -53
China 5,8 5,9 -5,3
Deutschland 5,6 6,3 -1,4
Italien 4,3 2,2 86
Großbritannien 3,7 4,1 -14
Spanien 2,7 2,7 -3,3
Israel 2,4 3,1 -25
Südkorea 2,0 1,7 12
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Im Zuge des Kriegs in der Ukraine konnten die Rüstungsunternehmen in den Vereinigten Staaten ihre Waffenexporte im Vergleichszeitraum deutlich erhöhen. Die Exporte von schweren Waffen, wie Panzern, Artillerie und Raketensystemen, erhöhten sich von 34% auf 42% prozentualem Anteil am Welthandel. Auch die Exporte aus Frankreich und Italien erhöhten sich erheblich. Gleichzeitig sanken die russischen Exporte im Zuge der westlichen Sanktionspolitik um 53% von 21% auf 11% prozentualem Anteil am Welthandel mit schweren Waffen.
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Beispiel Libyen
Seit dem Sturz des Gaddhafi-Regimes 2011 befand sich Libyen in einer politisch äußerst instabilen Lage. Lange Jahre fand eine militärische Auseinandersetzung zwischen den Truppen des Generals Haftar und den Regierungstruppen der Regierung von al Sarradsch statt, immer wieder von kurzen Waffenstillständen unterbrochen. Trotz eines vom UN-Sicherheitsrat verhängten Waffenembargos, das auch noch einmal im Juni 2020 verlängert wurde, wurden von verschiedenen Staaten Waffen in das Spannungsgebiet geliefert. Die Türkei entsendete syrische Söldner, Waffen und Drohnen, um al Sarradsch zu unterstützen. Auch Katar unterstützt die Regierungstruppen. Russland, die Arabischen Emirate sowie Saudi Arabien unterstützte Haftar. Russland entsendete u.a. Söldnertruppen aus privaten russischen Militärfirmen nach Libyen.[23] Aber auch innerhalb der NATO und der EU gingen die Unterstützungsleistungen in eine unterschiedliche Richtung. Während die an der Ausbeutung libyscher Gasvorkommen interessierte Türkei al Sarradsch militärisch absicherte, wurde dieser ebenfalls von Italien mit der Lieferung von Militärausrüstung unterstützt, das ebenfalls Interesse an der Ausbeutung der Erdölfelder vor der libyschen Küste und dem Zurückhalten von Flüchtlingen hat. Italien hat hier eine längere Tradition, da Italien bereits al-Gaddafi Militärhubschrauber geliefert hatte, die er dann 2011 gegen seine revoltierende Bevölkerung einsetzte. Frankreich befindet sich, gemeinsam mit Russland, auf der Seite des Generals Haftar. Beide Staaten wiederum haben Interessen hinsichtlich der Sicherung Milliarden umfassender Aufträge, des Angebots eines Zugangs zum libyschen Energiemarkt, des Zurückdrängens von Islamisten sowie der Nutzung libyscher Mittelmeerhäfen. Alle Beteiligten haben hierüber hinaus geostrategische Interessen und wollen ihren Einfluss im arabischen Raum stärken. [24]
Während Deutschland zu internationalen Verhandlungsgesprächen zur Durchsetzung eines Waffenembargos einlädt, werden im Hintergrund von der deutschen Bundesregierung Waffenlieferungen im großen Umfang an Staaten genehmigt, die selbst wiederum Waffen in das libysche Konfliktgebiet liefern – so genehmigte die Bundesregierung seit Beginn des Jahres 2019 Rüstungsexporte im Wert von mehr als 1,3 Milliarden Euro in Staaten, die den Libyen-Krieg anheizen. [25]
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Aufgrund der ökonomischen und geostrategischen Interessen wird sich über alle geltenden Bestimmungen des Waffenexports hinweggesetzt. Selbst ein einstimmig vom UN-Sicherheitsrat verhängtes Waffenembargo zeigt kaum eine Wirkung.
Im Jahr 2023 beschreiben Böhm/Nahr (2023) die Lage in Libyen wie folgt:
„Seit dem Sturz des Langzeitdiktators Muammar al-Ghadhafi im Jahr 2011 herrscht in Libyen nahezu ununterbrochen Krieg. Milizenbosse, Politclans und fremde Söldner kämpfen in dem riesigen, dünn besiedelten Wüstenland um Macht und Öl. Jüngst musste sich Hamudas Chef, der international anerkannte Ministerpräsident Dbaiba, seines Konkurrenten Fathi Bashagha erwehren, der das Amt ebenfalls beansprucht und dabei vom mächtigen, ostlibyschen Warlord Khalifa Haftar unterstützt wird. (…) Dbaiba-treuen Kämpfern gelang es im letzten Sommer, den Angriff zurückzuschlagen. Seither herrscht Ruhe. Zum ersten Mal seit Jahren schweigen die Waffen. Die lokalen Kriegsparteien in Libyen sind müde, und ihre internationalen Unterstützer aus der Türkei, Russland, dem Westen und dem Golf sind mit anderen Dingen beschäftigt. Jüngst war sogar der CIA-Chef im Land, um zwischen den verfeindeten Politikern im Osten und im Westen des Landes zu vermitteln. (…) Libyen ist gespalten, es gibt zwei Parlamente, zwei Ministerpräsidenten, eine Vielzahl bewaffneter Gruppen, und die ursprünglich für Dezember 2021 angesetzten Wahlen wurden auf unbestimmte Zeit verschoben.“
Eine UN-Resolution 2702 des Sicherheitsrats vom 30.10.2023 fordert weiterhin das Abhalten freier, allgemeiner Wahlen für Libyen und drückt ihre Sorge um die Sicherheitslage in Libyen und ihre destabilisierende Wirkung in Bezug auf Nachbarstaaten aus.
Zusammenfassend lässt sich feststellen: Das Beispiel des libyschen Staates zeigt, wie massive Militärinterventionen, Waffenexporte an unterschiedliche Gruppierungen verbunden mit geostrategischen und ökonomischen Interessen ein Land langfristig zerstören können. Libyen befindet sich auch 2024 noch im Status eines 'failed States‘ und es bleibt abzuwarten, ob eine zukünftige Durchführung von Wahlen zu einer Einigung und Stabilisierung des Landes führen können.
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Waffenexporte in Spannungsgebiete aus der EU
Auch hier soll eine zeitlich längerfristige Perspektivierung eingenommen werden.
Im Jahr 2012 erhielt die Europäische Union den Friedensnobelpreis. Im gleichen Jahr war die EU hingegen massiv an der Produktion und am Export von Waffen und anderen Rüstungsgütern beteiligt. Trotz der Regelungen des ATT und des ‚Gemeinsamen Standpunkts des Rats der EU‘ wurden aus der EU massiv Waffen gezielt in Spannungsgebiete geliefert:
„Von 51 autoritären Regimen weltweit bekamen 43 europäische Rüstungsgüter geliefert. Von 47.868 beantragten Exportlizenzen wurden nur 459 zurückgewiesen. Alleine die deutschen Rüstungsexporte in die sechs Staaten des Golf-Kooperationsrates – unter ihnen Saudi Arabien und Bahrain – beliefen sich im Jahre 2012 auf 1,42 Milliarden Euro!“ [26]
Doch auch nach 2012 entwickelte sich dies nicht anders. Neben Deutschland sind vor allem Frankreich, GB, Spanien und Italien am Waffenexportgeschäft beteiligt. Ihr Anteil am Waffengeschäft betrug 22.6%, knapp ein Viertel der weltweiten Waffenexporte – so eine Anfrage 2020 der Linken im Europaparlament. Hierbei gehen die Exporte vorrangig in Spannungsgebiete, wie Saudi-Arabien, die Türkei, Ägypten, Libyen, die Vereinigten Emirate oder Algerien. [27]
Die Ansprüche des „gemeinsamen Standpunkts der EU“ scheinen nicht zu greifen. Wenn Bündnisverpflichtungen und eigene geopolitische und ökonomische Interessen im Raum sind, wird der „Gemeinsame Standpunkt“ zur Makulatur bzw. umgangen.
Auch Regulierungen hinsichtlich des Exports von Gütern, die sowohl zivil als auch militärisch nutzbar sind („EU Dual-Use Regulation“), kamen bis zum jetzigen Zeitpunkt aufgrund von Meinungsverschiedenheiten in den Europäischen Gremien noch nicht zustande. Bei diesen zweifach verwendbaren Gütern handelt es u.a. um elektronische Produkte wie Störsender, die z.B. zur Störung des Internets und des Handy-Empfangs auch gegen die eigene Zivilbevölkerung eingesetzt werden können. Genauso können Militärlastwagen durch das Anbringen einer Lafette und eines Maschinengewehrs militärisch aufgerüstet werden.
Hingegen arbeitet die EDA (European Defense Agency) im Rahmen der Permanent Structured Cooperation (PESCO) hinsichtlich der Koordination der europäischen Rüstungsbemühungen bereits nach eigenen Angaben zumindest mit Hochdruck. Die EDA soll zwar u.a. nur für die Unterstützung der innereuropäischen Forschung und Entwicklung von Militärtechnologie zuständig sein. Dies vollzieht sich in einem finanziellen Rahmen von PESCO, bei der sich die beteiligten EU-Staaten verpflichtet haben, ihre Investitionen in Verteidigungsgüter um 20% zu erhöhen. Hierbei entzieht es sich aber der Kompetenz und Kontrolle der EDA, wenn eine derart entwickelte Technologie auch Gegenstand von Rüstungsexporten in Drittstaaten wird.
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Die hierauf folgende Entwicklung hinsichtlich der europäischen Militärkooperation kann diese Problematik noch verschärft abbilden. Die derzeit auf EU-Ebene aufgrund des Antrags der Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik im Dezember 2017 auf den Weg gebrachte sogenannte ‚Europäische Friedensfazilität‘ (EFF) (European Peace Facility, EPF) gibt vor, vor allem die EU-Entwicklungszusammenarbeit von Kosten für die Sicherheitsarchitektur in Afrika zu entlasten, indem ein Fonds von 10,5 MRD € außerhalb des regulären EU-Haushalts u.a. hierfür bereitgestellt werden solle.
Die EFF sieht explizit – neben dem Angebot militärischer Ausbildung – den Export von Waffen, Munition und Sicherheitstechnik vor.
„Derzeit verfügt die EU nur über begrenzte Kapazitäten für eine Beteiligung an militärischen oder verteidigungspolitischen Maßnahmen wie Kapazitätsaufbau und Bereitstellung von Ausbildung, Ausrüstung oder Infrastruktur. Die EFF wird zum Ausbau der Kapazitäten von Streitkräften in Partnerländern zur Friedenssicherung, Konfliktverhütung und Bewältigung von Sicherheitsbedrohungen beitragen. Zum Beispiel wird der Erfolg militärischer Ausbildungsmissionen der EU manchmal dadurch infrage gestellt, dass die Partner wegen oftmals nur sehr rudimentärer Ausrüstung oder Infrastruktur aus dem Gelernten nur unzureichenden Nutzen ziehen können. Die EFF wird es der EU ermöglichen, umfassende Unterstützung durch integrierte Pakete zu leisten, die Ausbildung, Ausrüstung und andere Formen der Unterstützung vorsehen können. So wird es den Partnern leichter gelingen, Krisen und Sicherheitsbedrohungen aus eigener Kraft zu bewältigen.“ [28]
Zwar könnte die beabsichtigte Trennung von Entwicklungszusammenarbeit und Militärausgaben tatsächlich positive Effekte für den tatsächlichen Umfang der zivilen Entwicklungszusammenarbeit haben, dennoch ist dies nicht ohne Risiken. Insbesondere besteht eine Gefahr darin, dass diese Milliarden auch dazu dienen, Waffenexporte in Drittstaaten zu finanzieren, die erstens als Krisengebiete anzusehen sind und zweitens keine sicheren Endverbleibsstaaten sind, d.h. selbst diese Waffen weiter in Spannungsgebiete weiterleiten bzw. verkaufen. [29]
Dies wäre dann eine neue Qualität auch der offiziellen EU-Außen- und Sicherheitspolitik, wenn Waffenlieferungen offen in Drittstaaten bzw. Krisengebiete geliefert werden könnten.
Die EFF wird derzeit auf EU-Ebene diskutiert und der Ausgang der Entscheidung war eine Zeit lang noch offen. Dann wurden aber aus den Mitteln der EFF in den Jahren 2022 und 2023 u.a. auch die militärischen Unterstützungsleistungen für die Ukraine finanziert (Bundesregierung 2023).
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Deutsche Waffenexporte in Spannungsgebiete
Im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts wurden aus Deutschland Rüstungsgüter im Wert von knapp 17 MRD € exportiert. Im gleichen Zeitraum wurden Rüstungsgüter von ca. 63 MRD € durch die Bundesregierung für die zukünftigen Exporte genehmigt. [30] Hierbei lässt auch das Jahr 2019 eine ergiebige Rendite für die Zukunft erwarten.
Tab. 3: Licenses for arms exports from Germany [31]
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Number and value of individual
licenses for military equipment
granted by the German government 2018 in € billion 2019 in € billion
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Total 11,142 individual approvals 11,479 individual licenses
€ 4.82 € 8.02
-------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------to NATO states, EU states
and NATO-equivalent states € 2.28 € 4.48
-------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
to third countries € 2.55 € 3.53
------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------to developing countries € 0.37 € 1.35
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to developing countries that Egypt (€ 0, 8),
qualify as areas of tension Indonesia (€ 0,2),
India (€ 0,93),
Pakistan (€ 0,63),
Morocco (€ 0, 61)
-------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Inzwischen ist die Ukraine das wichtigste Bestimmungsland von deutschen Waffenexporten
(vgl. Tab. 4) für das Jahr 2024)
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Tab. 3 macht deutlich, dass zunächst der Wert der Rüstungsexporte aus Deutschland von 2018 auf 2019 extrem gestiegen ist (von 4,82 auf 8,02 MRD €). Des Weiteren sind ungefähr 44% der Rüstungsexporte in Drittländer gegangen, die entweder selbst Spannungs- und Krisengebiete sind oder in denen ein Endverbleib von Waffen nicht kontrolliert werden kann. Aber auch selbst der Endverbleib von exportierten Waffen in EU-Staaten ist nicht gesichert. So sind aus Italien bis ins Jahr 2019 von der Rheinmetall-Tochter produzierte Waffen an die im Jemen kämpfende Saudi-Koalition geliefert worden.
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Auch die Rüstungsexporte in Entwicklungsländer haben sich deutlich erhöht. Hierbei werden auch Rüstungsexporte an mit zwischenstaatlichen Spannungen bzw. Menschenrechte verletzende Staaten aus Deutschland vorgenommen.
Die Gesamtzahl und der Wert der Einzelgenehmigungen, die durch das Bundeswirtschaftsministerium und den Bundesssicherheitsrat vorgenommen werden, sind nicht gleichzusetzen mit den tatsächlich getätigten Ausfuhren von Rüstungsgütern. Dennoch geben sie einen Einblick in die zukünftig in den nächsten Jahren zu erwartenden Rüstungsexporte. Hierbei handelt es sich bei Rüstungsexporten nicht nur um Waffen. Es sind z.B. auch Lastwagen, Boote und Minenräumgeräte dabei. Hierbei kann dies leicht umgerüstet bzw. unterstützend bei kriegerischen Aktivitäten eingesetzt werden.
Zu den Einzelgenehmigungen kommen noch Sammelgenehmigungen für 2019 ungefähr im Wert einer halben MRD € hinzu. Der größte Anteil der Genehmigungen für Rüstungsgüter bezieht sich auf Panzerfahrzeuge und Militärlaster (3,06 MRD €) [32]
In den Jahren 2023 und 2024 wurden dann gegenüber den Vorjahren die Ausfuhrgenehmigungen für Rüstungsgüter noch einmal massiv gesteigert. So wurden 2023 schon 12.13 MRD € und 2024 bereits 13,2 MRD € (bis 17.12.2024) an Genehmigungen für Rüstungsexporte aus Deutschland aufgrund der militärischen Unterstützung der Ukraine erteilt.
Tab. 4: Die 10 Staaten mit den höchsten kumulierten Werten für genehmigte Rüstungsexporte aus Deutschland (1.1. bis 17.12.2024) [33]
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Rank Country Summe Einzelgenehmigungswert und Meldewert Allgemeine Genehmigung Nr. 33 in Euro
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1 Ukraine 8.137.164.112
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2 Singapur 1.217.944.022
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3 Algerien 558.719.786
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4 Vereinigte Staaten 298.518.591
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5 Türkei 230.842.622
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6 Indien 224.037.084
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7 Tschechien 189.581.537
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8 Israel 161.067.512
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9 Vereinigtes Königreich 152.462.666
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10 Vereinigte Arabische Emirate 146.585.330
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Allein die Positionen 5, 8 und 10 machen die Problematik der deutschen Rüstungsexporte anhand des hier verwendeten Beispiels für 2024 deutlich. Des Weiteren ist insbesondere von Ägypten die Unterstützung der Saudi-Koalition im Jemen-Krieg bekannt, so dass hier deutsche Waffen eingesetzt werden dürften, obwohl es ein von Deutschland unterstütztes internationales Waffenexportembargo für den Jemenkrieg gibt.
In den Jahren zuvor dominierten des Weiteren Rüstungsexporte an die im Jemen beteiligten Kriegsparteien der Saudi-Koalition – so der Politikwissenschaftler und Publizist Markus Bickel im Jahr 2018:
„Obwohl das Europaparlament bereits 2016 ein Ende der Waffenlieferungen an die am Konflikt beteiligten Länder forderte, erteilt die Bundesregierung ungerührt weiter Exportgenehmigungen. In den vergangenen drei Jahren winkte der Bundessicherheitsrat allein an Saudi-Arabien Militärgüter im Wert von über einer Mrd. Euro durch. Ägypten erhielt Rüstungsexporte im Wert von 850 Mio. Euro und die Vereinigten Arabischen Emirate in Höhe von 474 Mio. Euro.“ [34]
Die Waffenexporte in die Ukraine werden dann später von der Bundesregierung mit dem Selbstverteidigungsrecht der Ukraine begründet und mit der Verpflichtung der UN-Staaten, ein angegriffenes Mitglied der UN militärisch zu unterstützen. Insgesamt wurden der Ukraine Unterstützungsleistungen (Stand 2023) seit der russischen Invasion am 24.2.2022 von bereits 14 MRD € in Form von Waffen, direkter Zahlung oder humanitärer Unterstützung geleistet (Bundesregierung 2023b). Bis zum Februar 2024 hat sich die Unterstützung der Ukraine in Form von Waffen, direkten Zahlen und humanitärer Hilfe bis auf 30 Milliarden Euro erhöht. Damit ist Deutschland der zweitgrößte bilaterale Unterstützer der Ukraine nach den USA seit dem 24.2.2022, dem Datum des russischen Überfalls auf die Ukraine (Deutsche Botschaft Stockholm, 2024).
Allein 2023 wurde von der Bundesregierung ein neuer Rekord an Rüstungsexportgenehmigungen im Wert von rund 12,1 Milliarden € aufgestellt. Das Bundeswirtschaftsministerium teilte mit, dass sich die Genehmigungen zu 6,44 Milliarden € auf Kriegswaffen und 5,76 Milliarden € auf sonstige Rüstungsgüter, wie z.B. gepanzerte Fahrzeuge, bezogen. Mit 4,44 Milliarden € war die Ukraine wiederum das Hauptempfängerland. 2024 ist dann die Ukraine mit 8,1 MRD Genehmigungen weiterhin das Land mit den weitaus größten deutschen Exportgenehmigungen für Rüstungsgüter (Tab. 4). Die Ukraine wurde hierbei mit einem Nato-Land vergleichbar behandelt (Handelsblatt 2024).
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Beispiel der Waffenexporte in die Türkei
Die in einem Jahr genehmigten Rüstungsexporte sind nicht gleichzusetzen mit den in diesem Jahr tatsächlich stattfindenden Rüstungsexporten. Zwar ist seit dem Einmarsch der Türkei in Syrien der Bundessicherheitsrat zurückhaltend hinsichtlich der Genehmigung von Waffenlieferungen dorthin, dennoch erhielt das NATO-Land Türkei z.B. im Jahr 2019 Rüstungsgüter von nahezu 350 Millionen € aus Deutschland geliefert. [35] Entschuldigend wird von Regierungsseite in solchen Fällen jeweils angeführt, dass es sich um ältere Genehmigungen handele, die erfüllt werden müssten. Im Jahr 2024 sind es jedoch schon wieder für ca. 231 Millionen € von der deutschen Bundesregierung erteilte Genehmigungen für Rüstungsexporte in die Türkei (vgl. Tab. 4).
Mit der Türkei liegt derzeit ein aggressiver Staat vor, der mehrfach völkerrechtswidrig außerhalb seiner nationalen Grenzen militärisch eingegriffen hat (Syrien, Irak, Libyen). Des Weiteren liegen schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen im Inland vor (willkürliche Verhaftungen von Regimegegnern, lange Haft ohne rechtsstaatliche Verurteilung, fragwürdige Rechtsprechung, Ausschaltung und Verbot von Teilen der Opposition). Wenn die deutsche Regierung es ernst mit dem ATT der UN und dem Gemeinsamen Standpunkt des Rates der EU sowie mit den in den deutschen Gesetzen und Vereinbarungen formulierten Rechtsansprüchen meinen würde, dann würde sie – aufgrund der sich verschärfenden Lage im Zusammenhang mit der Türkei – gegebene Genehmigungen zum Waffenexport in die Türkei konsequent zurückziehen.
Wenn die Türkei mit Leopard 2-Panzern von Rheinmetall die syrischen Grenzen überschreitet und mit deutschen Waffen dort hiermit und mit anderen aus Deutschland stammenden Waffen die kurdische Bevölkerung bekämpft, dann ist der Bundesregierung vorzuwerfen, dass sie hier nicht rechtzeitig die Zeichen der Zeit erkannt hat und sich der Bezichtigung einer Mittäterschaft nur schwerlich entziehen kann. Auch ist zukünftig mit dem Argument einer gemeinsamen NATO-Mitgliedschaft kritischer umzugehen. Solange die NATO aus geostrategischen Gründen einen das Völkerrecht verletzenden Staat in seinen Reihen duldet, kann die gemeinsame NATO-Mitgliedschaft kein hinreichendes Argument für Waffenlieferungen innerhalb des NATO-Bündnisses mehr sein.
Bereits in den ersten vier Monaten des Jahres 2020 hatte Deutschland wieder bereits knapp eine halbe Milliarde Waffen exportiert (40% mehr als im gleichen Zeitraum 2019). Hierbei sind dual zu nutzende Rüstungsgüter noch nicht einbezogen.
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Die damalige Linken-Politikerin (und jetzige BSW-Politikerin) und ehemalige Bundestagsabgeordnete Sevim Dağdelen forderte nach einem Bericht des ‚Spiegels‘:
„ ‚Die Ausfuhr von nahezu 40 Prozent mehr Kriegswaffen als im Vorjahreszeitraum in einer Welt, in der die Konflikte jeden Tag zunehmen, ist völlig unverantwortlich‘, sagte Dağdelen, die abrüstungspolitische Sprecherin ihrer Fraktion ist. ‚Gerade mit den Kriegswaffenexporten an Ägypten und die Türkei mästet die Bundesregierung die Konflikte in und am Mittelmeer und verletzt damit sogar die eigenen laxen Rüstungsexportrichtlinien in eklatanter Weise.‘ Wer sein eigenes Bekenntnis, international mehr Verantwortung zu übernehmen, ernst nehmen würde, müsse die Exporte von Kriegswaffen in alle Welt stoppen.“ [36]
Interessanterweise werden zahlreiche Staaten nun in der Waffenexportliste Deutschlands nicht mehr gelistet – u.a. auch die Türkei – mit dem Hinweis, man könnte hierdurch Rüstungsunternehmen identifizieren, die dorthin geliefert hätten. Die Einstufung dieser Staaten als Verschlusssache würde zum Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen der beteiligten Rüstungsfirmen vorgenommen. Dies macht zukünftig natürlich die Identifizierung und Kontrolle von Rüstungsexporten zunehmend schwieriger und kann als ein problematisch zu bewertender Erfolg der Lobbytätigkeit der Rüstungsindustrie angesehen werden.
Die Exporte in die Türkei waren die ersten Waffenlieferungen, die von der Bundesregierung zur Geheimsache erklärt wurden und wohl auch nur durch einen Fehler veröffentlicht wurden – so Dağdelen in einem Papier der Links-Fraktion [37]
„Auf der Homepage des Bundeswirtschaftsministeriums wurde allerdings – vermutlich aus Versehen – eine parlamentarische Antwort veröffentlicht, wonach die Türkei im vergangenen Jahr insgesamt Kriegswaffen für 345 Millionen Euro aus Deutschland erhalten hat, was mehr als ein Drittel der gesamten deutschen Kriegswaffen in Höhe von 824 Millionen Euro ausmacht. Schon 2018 war Erdogan mit 242,8 Millionen Euro Rekordhalter unter den Empfängern deutscher Kriegswaffenexporte (770,8 Millionen Euro). Auch in den Monaten Januar bis April 2020 gehört sie zu den zehn Hauptempfängerstaaten. Vor dem Hintergrund der zahlreichen völkerrechtswidrigen Angriffskriege der Türkei in Syrien und aktuell im Norden Iraks sind die Waffenlieferungen besonders verwerflich.“
Wie aktuell das Interesse an Waffenimporten von Seiten der Türkei ist, zeigt das Feilschen um den NATO-Beitritt Schwedens in 2024 im Zusammenhang mit Handelsvereinbarungen zur Anschaffung von Kampfjets von Seiten der Türkei (Meinardus, 2024).
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Im Jahr 2024 wurden von der deutschen Bundesregierung für ca. 230 Millionen Euro Rüstungsgüter für die Türkei genehmigt (vgl. Tab. 4), obwohl sie militärische Angriffe auf das kurdische Rojava vornimmt.
Auch benutzt die Türkei auch Waffenimporte zum Ausbau des eigenen militärischen Know-hows und zur Entwicklung und Produktion eigener Waffen, die sie wiederum in Spannungsgebiete exportiert, u.a. Lieferung türkischer Drohnen (Bayraktar TB2) und Panzerfahrzeuge in die Ukraine und Lieferung elektronischen Materials für Kriegswaffen zur im Krieg mit der Ukraine befindlichen Russischen Föderation (Pehlivan, 2023). Des Weiteren kaufte die Türkei das russische Luftabwehrsystems S-400 und düpierte hiermit die USA, die am Verkauf ihres eigenen Abwehrsystems interessiert waren (Marz, 2023).
Beispiel der Waffenexporte zur Krieg führenden Allianz im Jemen
Der sich nun seit vielen Jahren hinziehende Krieg im Jemen, einem der ärmsten Länder der Welt, hat zum Teil interne Gründe, aber ist auch zunehmend zu einem Stellvertreterkrieg zwischen der Saudi-Emirate-Koalition und dem die Houthis unterstützenden Iran geworden.[38] Der UN-Sicherheitsrat hat sich auf die Seite der Saudi-Allianz gestellt und 2015 einseitig in seiner Resolution 2216 ein Waffenembargo für die Houthis beschlossen. Hingegen werden der Gegenseite weitgehend unvermindert Waffen geliefert. Die UN-Resolution 216 ist die Grundlage für die Blockade des Jemen und die militärischen Maßnahmen der Allianz aus Saudi-Arabien, den Emiraten und unterstützt von westlichen Staaten.
Die drei größten Waffenexporteure an die im Jemen Krieg führende Saudi-Allianz sind die USA, Frankreich und Großbritannien.
Auch Deutschland ist an einem Export von Waffentechnik in das Spannungsgebiet beteiligt: Es fanden z.B. Lieferungen von in Deutschland (Mecklenburg-Vorpommern) produzierten 33 Patrouillenboote an Saudi Arabien statt, die vor der Küste zur Durchsetzung der Houthi-Blockade eingesetzt werden. Die Argumentation der Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD), dies seien nur Patrouillenboote, wird durch den militärisch relevanten Einsatz als Blockadeboote und natürlich der Möglichkeit, nachträglich z.B. mit Maschinengewehren bewaffnet zu werden, widerlegt. [39]
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Insgesamt hat Deutschland seit Anfang 2019 nach Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums für ca. 1,2 MRD € Waffen an die im Jemen Krieg führende Saudi-Koalition genehmigt (insgesamt 224 Lieferungen). Hiermit verstößt die Bundesregierung gegen ihren eigenen Koalitionsvertrag, in dem der Stopp der Waffenlieferungen an die am Krieg im Jemen Beteiligten vereinbart wurde.
In einer Pressemitteilung der Zeitschrift ‚Die Zeit‘ werden die Daten differenziert zusammengefasst:
„Demnach wurden allein an Ägypten innerhalb von 15 Monaten 21 Waffenlieferungen für 802 Millionen Euro erlaubt. Für die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) waren es 76 Genehmigungen im Gesamtwert von 257 Millionen Euro. An drei weitere Mitglieder des Bündnisses – Bahrain, Jordanien und Kuwait – gingen Waffenexporte für zusammen 119 Millionen Euro.“ [40]
Allein für Saudi-Arabien wurde der Waffenlieferungsstopp in 2019 weitgehend eingehalten.
Im Jemen-Krieg gibt es insbesondere aufgrund der permanenten Bombardierungen des Jemen von Seiten der Saudi-Allianz Tausende von Opfern insbesondere unter der Zivilbevölkerung. Auch hierbei kamen westliche Waffen sowie Waffen aus Deutschland zum Einsatz. Inzwischen wurden durch Waffengewalt über 100.000 Menschen im Jemen getötet. Der Journalist Jacob Reimann macht 2020 den Umfang der Bombardierung deutlich:
„Massaker an der Zivilbevölkerung vonseiten der Saudi-Emirate-Koalition stehen seit jeher auf der Tagesordnung: Immer wieder wurden Schulen, Hochzeiten, Beerdigungen, Marktplätze, Flüchtlingsboote, Krankenhäuser und Moscheen vorsätzlich bombardiert. Insgesamt flog die Koalition in über fünf Jahren bereits 21.259 Luftschläge gegen den Jemen – im Schnitt über elf Angriffe pro Tag. Da die Koalitionäre – bis auf Ägypten – nur über rudimentäre eigene Rüstungsindustrien verfügen, sind sie in der Begehung ihrer Kriegsverbrechen auf die Komplizenschaft überwiegend westlicher Waffenexporteure angewiesen. Nach den USA, Frankreich, Russland und Großbritannien ist Deutschland hierbei auf Platz 5 der Hauptexporteure an die acht Koalitionäre in den Jahren des Krieges.“ [41]
Aber die meisten Opfer starben aufgrund der See- und Grenzblockade durch das Abschneiden der jemenitischen Bevölkerung von der Versorgung mit Lebensmitteln sowie von Medikamenten. Allein in den Jahren 2015 bis Ende 2019 sind im Jemen-Krieg, laut der internationalen NGO ,Save the Children‘ 85.000 Kinder im Alter unter fünf Jahren verhungert. [42]
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Es ist den Mitgliedern im UN-Sicherheitsrat vorzuwerfen, dass sie aufgrund ihrer eigenen geostrategischen Interessenslagen und der teilweisen Verwicklung in den Jemen-Krieg nicht bereit sind, hier eine neutrale und mit intervenierenden Maßnahmen verbundene Resolution zu entwerfen. Die 2015 verabschiedete Resolution 2216 des UN-Sicherheitsrats wirkte hingegen im Sinne einer einseitigen Stellungnahme im Interesse Saudi-Arabiens u.a. und lieferte die Grundlage für die Blockade und die militärischen Maßnahmen Saudi-Arabiens in Verbindung mit einer Allianz aus den Vereinigten Arabischen Emiraten und westlichen Mächten zu Lasten der jemenitischen Bevölkerung:
„Da die Versorgung des Jemen fast völlig Import-abhängig ist, bedeutet diese UN-Resolution insbesondere die Legitimierung einer totalen Versorgungsblockade. Kein Treibstoff; keine Lebensmittel; kein trinkbares Wasser; keine Medizin. Nahezu Null von all dem, was man selbst im Jemen zum bloßen Überleben braucht.
Nach dem üblichen Verständnis des Völkerrechts ist eine solche Blockade glasklar ein Kriegsverbrechen. Mit der Resolution 2216 legitimiert die UN einen Völkermord – den seit 2015 von der SAC mit massiver Unterstützung der USA, Großbritanniens und Frankreichs systematisch betriebenen Völkermord im Jemen. Was heißt: Die UN selber schafft ihr eigenes Fundament, das Völkerrecht, ab“ (Meggle 2019)
Westlichen Staaten, wie z.B. Deutschland, ist des Weiteren vorzuwerfen, dass sie noch im Jahr 2022 weitere Waffenlieferungen an den Kriegs führenden Staat Saudi-Arabien lieferten und damit dazu beitrugen, den Krieg im Jemen noch zu verlängern.
Der aus Deutschland stammende Konzern ‚Rheinmetall‘ war an den Waffengeschäften mit der Saudi-Koalition massiv beteiligt. Bis 2019 lieferte er Fliegerbomben aus seiner italienischen Tochterfirma RWM Italia an die Saudis, die im Jemen-Krieg gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt wurden. Hierdurch erklären sich entsprechende Bombenfunde aus deutscher Abstammung im Jemen. Erst 2019 wurden diese Waffenlieferungen aus Italien auf Intervention der italienischen Regierung hin verboten. [43]
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Die Greenpeace-Studie zu deutschen Waffenexporten kommt gerade anlässlich derartiger Unternehmensaktivitäten zu folgendem Schluss:
„Diese Beispiele von Rüstungskooperationen, der Gründung von Tochterfirmen in Drittstaaten und deutschem Technologie- und Knowhow-Transfer offenbaren Regelungslücken in der deutschen Rüstungsexportgesetzgebung und in den dazugehörigen Verfahren. Diese betreffen den Export von technischer Unterstützung und Knowhow sowie die Kontrollmöglichkeiten bei Investitionen deutscher Rüstungsunternehmen in den Aufbau ausländischer Produktionskapazitäten. Diese Regelungslücken sind auch nach der Überarbeitung der Politischen Grundsätze vom Juli 2019 nicht geschlossen worden.“ [44]
Zwar beklagen die UN die Situation im Jemen durchaus mit richtigen Zahlen, sind aber selbst Teil des Problems und aufgrund der Interessenslage im UN-Sicherheitsrates nicht in der Lage, wirksamere Konsequenzen aus diesen Einschätzungen zu ziehen bzw. die Resolution 2216 zurückzunehmen. Im Jemen offenbart sich nicht nur die Rücksichtslosigkeit hegemonialer Interessensdurchsetzung sondern auch die Misere der Vereinten Nationen im vollen Umfang. Die Vereinten Nationen haben sich durch die Resolution 2216 einseitig festgelegt, sind daher weder fähig, wirksam bei der Wiederherstellung einer gesamtstaatlichen Ordnung zu helfen, noch einen mäßigenden Einfluss auf die Krieg führenden Parteien mit dem Ziel auszuüben, eine den Menschen helfende Neuordnung des ‚Failed State‘ Jemen einzuleiten.
Hierbei ist es müßig, die Frage zu erörtern, wer denn nun der eigentliche Verursacher dieses Krieges gewesen sei. Dies war ein Wechselspiel von Reaktionen und Vorfällen durch alle an dem Krieg beteiligten Akteure. Sicherlich sind sowohl der Iran als auch Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und die mit Waffenlieferungen, Logistik und Ausspähung unterstützenden Westmächte sowie die innerhalb Jemens wirkenden Gruppierungen an der Verschärfung des Konflikts beteiligt. Es ist zu hoffen, dass es den UN – trotz der bisher recht erfolglosen Vermittlungsversuche und der destruktiven Resolution 2216 – dennoch gelingt, einen mäßigenden Einfluss auf alle Kriegsparteien auszuüben. Es geht darum, eine UN-kontrollierte Flugverbotszone einzurichten, medizinische Versorgung und die Versorgung mit Nahrungsmitteln sicher zu stellen und ggf. Blauhelmsoldaten mit einem robusten Mandat in das umkämpfte Gebiet zu schicken, um die Kriegsparteien auseinanderzuhalten. Die Angriffe im Spätsommer 2019 auf die Ölanlagen in Saudi-Arabien verweisen auf die Eskalationsmöglichkeiten dieses Konflikts – zumal, wenn hier westliche Interessen berührt werden.
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Im Frühjahr 2022 gelang es zwar, unter der Vermittlung des UN-Sonderbeauftragten eine zeitlich limitierte Waffenruhe im Jemen zu erreichen, die allerdings im Oktober 2022 nicht verlängert werden konnte. Seit dem Ausbruch des Kriegs im Jemen sind zu diesem Zeitpunkt nach UN-Schätzungen 380.000 Menschen an direkten und indirekten Folgen des Krieges gestorben.
Eine internationale Geber-Konferenz versuchte, die Not der vom Krieg betroffenen Bevölkerung zu lindern. Jedoch kamen von den 4.3 MRD benötigten US-Dollar nur 1.2 MRD US-Dollar an Zusagen zusammen, wobei man natürlich auch noch nicht weiß, ob diese Zusagen auch tatsächlich eingelöst werden. Auch bleibt der Widerspruch, einerseits eine der Kriegsparteien, Saudi-Arabien, militärisch u.a. mit Waffenlieferungen zu unterstützen und andererseits mit der Jemen-Hilfe die Kriegsfolgen zu lindern. Wirkungsvoller wäre sicherlich eine durchgreifende diplomatische Initiative sowie eine Wiederaufbauhilfe, die von einem Waffenstillstand und einem nachfolgenden Friedensvertrag mit einvernehmlichen Regulierungen begleitet wird.
Inzwischen mischen sich die vom Iran unterstützten (und gelenkten) Houthis in den Krieg zwischen Israel und der Hamas ein, indem sie die Schiffe des Israel unterstützenden Westens im Roten Meer mit Raketen angreifen. Als Reaktion hierauf wurden u.a. Anfang Februar 2024 36 Ziele im Jemen mit Luftangriffen einer von den USA geführten Allianz bombardiert. Getroffen wurden Waffenlager, Lenkflugkörpereinrichtungen und Antischiffsraketen. Beteiligt waren – neben den USA und Großbritannien - Australien, Bahrain, Kanada, Dänemark, die Niederlande und Neuseeland.
Inzwischen schicken die jeminitischen Huthi-Rebellen im Gegenzug 2024 Raketen nach Israel und greifen die internationalen Schiffahrtswege im Roten Meer an.
Diese Ereignisse machen deutlich, wie ein zunächst regionaler militärischer Konflikt, der nicht bewältigt wurde, sich zunehmend ausweitet und immer weiter eskaliert. Dies gilt für den Krieg im Jemen genauso wie für den Krieg in der Ukraine sowie den Nahostkonflikt zwischen Israel und den palästinensischen Organisationen.
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Militärisch-ökonomischer Komplex und Drehtüreffekte
Die größten Rüstungskonzerne sind in den USA angesiedelt. Die fünf umsatzstärksten Rüstungskonzerne stammen aus den USA. Dort ist der militärisch-ökonomische Komplex auch überdurchschnittlich einflussreich - hängen doch hohe Renditen und eine Menge Arbeitsplätze davon ab.
Tab. 5: Die 10 weltweit größten Waffenproduzenten (nach Umsatz in Millionen US-Dollar) (zusammengestellt nach SIPRI 2024a, 9)
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Rang
2023 2022 | Unternehmen | Staat | I Umsatz | I Veränderung I
für Rüstungsgüter* von 2022 zu 2023 in %
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| 1 1 | Lockhead Martin Corp. | United States | 60.810 | -1,6
| 2 2 | RTX | United States | 40.660 | -1,3
| 3 3 | Northrop Crumman Corp. | United States | 35.570 | +5,8
| 4 4 | Boeing | United States | 31.100 | +2,0
| 5 5 | General Dynamics Corp. | United States | 30.200 | +3,2
| 6 6 | BAE Systems | United Kingdom | 29.810 | +2,3
| 7 9 | Rostec** | Russia | 21.730 |+49
| 8 8 | AVIC | VR China | 20.850 | +5,6
| 9 7 | NORINCO | VR China | 20.560 | -2,7
| 10 10 | CETC | VR China | 16.050 |+13
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* SIPRI: „Rüstungseinnahmen“ beziehen sich auf Einnahmen aus dem Verkauf von Rüstungsgütern und -dienstleistungen an militärische Kunden im In- und Ausland. Rüstungsgüter und -dienstleistungen werden von SIPRI als Güter und Dienstleistungen definiert, die speziell für militärische Zwecke bestimmt sind und entsprechende Technologien umfassen. Rüstungsgüter sind militärspezifische Ausrüstung; sie umfassen keine Güter für allgemeine Zwecke wie Kraftstoff, Büroausstattung und Uniformen.
** SIPRI: Rostec ist eine Holdinggesellschaft ohne direkte Fertigungskapazitäten und würde daher normalerweise nicht zu den Top 100 gehören (siehe Anmerkung b). Das Unternehmen wurde in die Rangliste 2023 aufgenommen, da für fast alle anderen russischen Rüstungsunternehmen keine Daten vorliegen. Einige der Unternehmen, für die keine Daten mehr verfügbar sind, werden von Rostec kontrolliert und waren in früheren Top-100-Rankings vertreten: High Precision Systems, KRET, Russian Electronics, Russian Helicopters, United Aircraft Corp., United Engines Corp. und UralVagonZavod.
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Zur Rüstungsindustrie gehören ebenfalls Ausrüstungsfirmen, private militärische Forschungsinstitute, und Unternehmen, die auf den militärischen Transport spezialisiert sind. Auch hier gibt es zahlreiche Verbindungen zwischen Politik und Rüstungswirtschaft – Richard B. ‚Dick‘ Cheney war das prominenteste Beispiel eines den Irak-Krieg befördernden US-amerikanischen Spitzenpolitikers [45], dessen einstige Firma Halliburton über entsprechende Ausrüstungs- und Transportaufträge profitierte. Hierbei handelte es sich nach Perlo-Freeman/Sköns (2008) um den Vorgang der Vorteilsnahme über ein öffentliches Amt mit Affinitäten zur Korruption. [46]
Das „System offener Drehtüren“ gibt es in allen Nationalstaaten. Dies lässt sich auch am Beispiel Deutschlands belegen, bei dem ehemalige Entscheider im politischen System, insbesondere ehemalige Mitglieder des Bundesssicherheitsrats, in die Rüstungsindustrie wechseln sowie ehemalige hochrangige Offiziere in die Rüstungsindustrie.
Dirk Niebel (FDP), Beratertätigkeit für Rheinmetall, der Wechsel von Franz Josef Jung (CDU) in den Aufsichtsrat von Rheinmetall oder die Ernennung des ehemaligen Staatssekretärs im Bundeswirtschaftsministerium, Georg Wilhelm Adamowitsch (SPD), zum langjährigen Hauptgeschäftsführer des hauptsächlich mit Lobbyismus befassten Bundesverbands der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV) sind Beispiele dieses verhängnisvollen Drehtüreffekts. [47]
Ein weiteres prominentes Beispiel ist der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr (2000-2002) der frühere Luftwaffengeneral Harald Kujat. Er war nach seiner Zeit als höchstrangiger deutscher Soldat und Bindeglied zwischen Bundeswehr und Bundesregierung Vorsitzender des NATO-Militärausschusses (2002-2005). Er wurde 2019 Aufsichtsratsvorsitzender des Rüstungsunternehmens Heckler & Koch. [48] Zur Erinnerung: Heckler & Koch waren es, die illegalerweise 5000 G36-Sturmgewehre in den von einem Embargo versehenen Bezirk Mexikos (Guerrero) geliefert hatten. Mit diesen Waffen wurden dann u.a. 2014 die Lehramtsstudenten ermordet, die auf dem Weg zu einer Demonstration gegen die Verschmelzung von mexikanischer Politik und organisierter Kriminalität waren. [49]
Auch wenn Harald Kujat sich in letzter Zeit mehrfach 2023/2024 in der Öffentlichkeit für eine Beendigung der aus seiner Sicht aussichtslosen Kriegshandlungen in der Ukraine einsetzte und für Verhandlungen plädierte, heißt dies nicht, dass er gegen Waffenlieferungen in die Ukraine eintritt – so Kujat 2024 im Interview mit der Berliner Zeitung:
„Ob das seit Monaten diskutierte 61-Milliarden-Dollar-Hilfspaket in Washington überhaupt genehmigt werde, sei nicht absehbar. Die EU habe ‚einiges zustande gebracht bisher‘, könne den Rückgang der amerikanischen Unterstützung aber nicht wettmachen. Trotzdem sei es wichtig, ‚dass das fortgesetzt wird. Das ist ja das, was der Bundeskanzler auch erreichen will. Wir müssen der Ukraine die Sicherheit geben, dass diese Unterstützung nicht abbricht.‘ “ (Fasbender, 2024)
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Kriege als Konjunkturhilfen
Kriege werden gern von Krieg führenden Politikern und einigen affirmativen Wirtschaftswissenschaftlern als Konjunkturhilfen für die heimische stagnierende Wirtschaft ausgegeben. Joseph Stiglitz (2008) [50] tritt Auffassungen entgegen, Kriege wären letztlich als Konjunkturprogramm geeignet, und fordert, die wahren Kosten von Kriegen transparent zu machen:
„Anfang des Jahres 2003 hieß es von der US-Regierung, der Irak-Krieg werde nur 50 bis 60 Milliarden Dollar kosten. War dies lediglich ein Irrtum, waren die Politiker also schlicht zu optimistisch? Erstens setzte man zu Beginn lediglich die Kriegskosten im engeren Sinne an, also die operativen Ausgaben. Ignoriert wurden die Kriegskosten im weiteren Sinne, wie zum Beispiel die Zinszahlungen auf Kriegskredite, die Kosten zur Pflege von Kriegsinvaliden und Veteranen oder Geld für die Geheimdienste. (…) Man muss auch bedenken, was man mit den drei Billionen Dollar Kriegsausgaben alles für die Konjunktur hätte tun können. Zum Beispiel amerikanische Infrastruktur aufbauen anstatt irakische zu zerstören. Vom ökonomischen Standpunkt her sind Krieg und massenhafte Zerstörung das schlechteste Konjunkturprogramm.“
Auch wäre es sicherlich mehr als zynisch, das massenhafte Leiden und Sterben von Menschen auf einer lediglich ökonomischen Ebene diskutieren zu wollen. Dies wäre dann wohl Ausdruck einer Weltsicht, die einen Vorrang ökonomischer Prioritäten vor den Notwendigkeiten der Humanität einräumen würde: Zerfetzte Menschen, Kinder, die ihre Eltern verlieren und Eltern, die ihre toten Kinder in den Armen halten, als Opfer ökonomischer Interessen im Spektrum von privatwirtschaftlichem Profitstreben bis hin zur volkswirtschaftlichen Erwartung einer Konjunkturhilfe durch die boomende Rüstungsindustrie im Kriegsfall.
Dennoch zeigen die zu Beginn des Jahres 2025 angestrebten Deals der Trump-Administration mit der Ukraine, um sich die Seltenen Erden der Ukraine vertraglich zu sichern, wie auch im militärischen Spannungsfall ökonomische Interessen zulasten humanitärer Erwägungen eine Rolle spielen.
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Die Rolle privater Militärfirmen und Sicherheitsdienste
Zunehmend spielen auch private Militär- und Söldnerfirmen als Teil des militärisch-ökonomischen Komplexes eine Rolle in militärischen Konflikten. Hier agierten, z.B. in Afghanistan und Pakistan, private Söldnertruppen im Auftrag der USA gegen sich durch Rauschgifthandel finanzierende Terrorgruppen. Manchmal werden sie auch gegen Staaten eingesetzt. Moisés Naím beschreibt diese relativ neue Rüstungsindustriesparte in seinem Buch „The End of Power“:
“Often starting as small companies out of anonymous office parks in the outskirts of London or suburban Virginia, firms such as Blackwater (now renamed Academia), MPRI, Executive Outcomes, Custer Battles, Titan, and Aegis took on key roles in different military operations. Some were bought by larger firms, some went out of business, and some remained independent. Among other recent opportunities, private military firms have found a market for their services in protecting commercial vessels from Somali pirates. Mercenaries, with all the ancient associations of the word, have turned into a booming and diverse industry.” [51]
Der staatliche und auch der privatwirtschaftliche Einsatz von Söldnern privater Sicherungs- bzw. Militärfirmen birgt noch größere Risiken z.B. bezüglich des Einhaltens des Kriegsrechts, wie der Genfer Konvention oder der Haager Landkriegsordnung.
Die Tötung von 17 Zivilisten im Irak durch Söldner von ‚Blackwater‘ im September 2008 [52] warf ein Schlaglicht auf die Aktivitäten privater Militär- und Söldner-Firmen und führte zu breiter geführten Diskussionen über die Legitimität staatlicher Kooperation mit derartigen Unternehmen, die vor allem aus den USA und dem United Kingdom stammen.
Die allseits bekannte ‚Wagner-Gruppe‘ ist hingegen eine Militärfirma mit direkten Kontakten zur Putin-Regierung, die im Rahmen der russischen Invasion besonders brutal kämpft und die für zahlreiche Kriegsverbrechen verantwortlich ist. Die Söldner-Truppen der russischen Wagner-Gruppe sind für ein extrem robustes Handeln und ein verdecktes Vorgehen bekannt. Besonders kurios ist der Versuch der Wagner-Gruppe, sich in einem Putschversuch im Juni 2023 gegen ihren eigenen Auftragsgegner, die Regierung der Russischen Föderation, zu wenden. Dies endete letztendlich nach dem gescheiterten Putschversuch mit dem Absturz des Flugzeugs, mit dem die Spitze der Wagner-Gruppe flog und damit auch getötet wurde.
Aber auch andere Institutionen und Organisationen, wie z.B. multinationale Konzerne, einige NGOs und Intergovernmental Organizations (IGOs) arbeiten mit militärischen Sicherungsfirmen zusammen. Der Markt hierfür hat hohe Wachstumsraten. [53]
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Söldnertum bzw. privat bezahlte Militärdienste gab es in der Geschichte bereits seit langem, doch die heutigen privaten Militärdienste sind nach Perlo-Freeman/Sköns (2008, 2f.) durch die Spezifik ihrer organisatorischen Eingebundenheit gekennzeichnet:
“One of the main differences between the current private providers of military services and private military organizations in the past is the corporatization of military services. The services are now provided by private firms, operating as businesses to increase value for their shareholders, and many of them are part of bigger multinational corporations.”
Söldner privater Sicherungsfirmen bzw. Militärfirmen werden gern von Regierungen hochentwickelter Staaten eingesetzt, da sie im Umgang mit technisch hochspezialisierten Gerät versierter sind und gefallene Angehörige von Militärfirmen für weniger öffentliche Aufmerksamkeit sorgen. Söldner können auch hinter den Fronten eingesetzt werden. Sie sind daher auch im Kampf gegen terroristische Gruppen ‚flexibler‘, d.h. z.T. unter Umgehung nationalen und internationalen Rechts, im Sinne von Geheimarmeen mit illegitimen Aufträgen einsetzbar. Auch entspricht der Übergang zu privaten Militärfirmen dem Trend zum kostensparenden, gewinnsteigernden und risikoärmeren Outsourcing in einem neoliberalen Sinne.
Relativierung des staatlichen Gewaltmonopols
Der Putschversuch der russischen Wagner-Gruppe und der damit verbundene Marsch auf Moskau in 2023 zeigten, wie dem staatlichen Gewaltmonopol auch in einem autoritären Staat eine Konkurrenz durch eine immer mächtiger werdende Söldner-Organisation entstehen kann.
Der Einsatz von Söldnern privater Sicherungsfirmen ist allerdings auch in westlichen Demokratien hochproblematisch, da er das Gewaltmonopol demokratisch legitimierter Regierungen relativiert bzw. unterläuft:
“While a key principle of modern states is that they alone have the exclusive legitimacy to exercise violence – the state monopoly of violence – the reliance on private companies for its execution increases the distance between decision making and implementation of force, creating an intermediate actor with its own private, profit-maximizing goals. This thus challenges both the ability of government to exercise direct control over the use of force and the accountability of security providers to the electorate.“ [54]
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Die SIPRI-Forscher Perlo-Freeman/Sköns (2008, 17) fassen daher die Problematik privater Militärfirmen wie folgt treffend zusammen:
“The continuing expansion of the private military services industry raises many issues. The view that outsourcing is economically efficient can be challenged on a number of grounds, not least when these services are provided in operationally deployed contexts. The involvement of private companies in assisting military operations in armed conflict situations such as Iraq also raises serious concerns about the democratic accountability of armed forces, the status of civilian contractors in military roles, and the political influence of companies that have a vested interest in the continuation of the conflict.”
Der Frankfurter Politikwissenschaftler Tim Engartner bezieht sich auf die Unterschiedlichkeit demokratischer Zielsetzungen eines Staates und dem betriebswirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Denken in seiner Konsequenz für eine angeblich vom Parlament kontrollierte Armee. Im Zuge eines Ausverkaufs staatlicher Dienstleistungen und Institutionen, wie z.B. der Post oder der Bundesbahn, gerate auch das Militär in den Blick von staatlichen Privatisierungsanstrengungen in einem neoliberalen Sinne:
„Wie bei Privatisierungen in anderen vormals staatlich verantwortbaren Bereichen bleibt die Interessensdivergenz zwischen Gewinnerzielungsabsichten auf der privaten und Gemeinwohlverpflichtungen auf der öffentlichen Seite bestehen. Kurzfristig zu hebende Einsparpotenziale können die Preisgabe parlamentarischer Kontrolle und die damit verbundene Entdemokratisierung nicht rechtfertigen. Andernfalls läuft ein leidlich demokratischer Staat Gefahr, sicherheitsrelevante Informationen preiszugeben und Entscheidungen, die eines der kostbarsten Güter überhaupt – das Gut ‚Frieden‘ – betreffen, privaten Unternehmen anheimzustellen.“
(Engartner 2018, 13) 55]
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Zivilgesellschaft als Angriffsziel
Eine weitere Eskalationsstufe kriegerischer Auseinandersetzungen liegt in der gezielten Bombardierung zivilgesellschaftlicher Institutionen. Die gewaltsamen Angriffe und Massenmorde in militärischen Konflikten machen auch nicht vor den Institutionen der Bildung und vor Kindern und Lehrern halt – so die Organisation „World Vision“ im Rahmen ihrer – u.a. von UNICEF getragenen – Initiative „Safe Schools Declaration“:
„In den letzten zehn Jahren hat sich die Anzahl der gewaltsamen Konflikte fast verdoppelt, was dazu führt, dass weltweit jedes vierte Kind keine Schule besucht. Das Ausmaß der Angriffe auf Bildungseinrichtungen ist erschreckend: der aktuell veröffentlichte Bericht ‚Education Under Attack 2018‘ dokumentiert zwischen 2013 und 2017 mehr als 12.700 Angriffe auf Bildungseinrichtungen, bei denen mehr als 21.000 Lernende und Lehrende verletzt oder getötet wurden. Mehr als 1.000 Angriffe (gezielt oder als „Kollateralschaden“) auf Schulen wurden jeweils in der Demokratischen Republik Kongo (allein 639 hiervon in der Kasai Region in den Jahren 2016/2017), in Israel und den Palästinensischen Gebieten, in Nigeria und im Jemen dokumentiert. Zwischen 500 und 999 Angriffe auf Schulen wurden sowohl in Afghanistan als auch im Südsudan, in Syrien und in der Ukraine verzeichnet.“ [56]
Diese Problematik verschärft sich, wenn militante Gruppen bewusst gerade Schulen und Krankenhäuser nutzen, um den gegnerischen Angriffen zu entgehen. Dementsprechend werden Schulen, Krankenhäuser und Krankentransporte zunehmend zum Zielobjekt militärischer Angriffe mit dem Argument, dass sich feindliche Kämpfer unter deren Schutzschirm verstecken bzw. von dort agieren würden.
Im Zuge der russischen Aggression gegen die Ukraine werden ebenfalls gezielt zivile Objekte angegriffen. Nicht nur die Energieversorgung der Ukraine wurde 2022/2023 zum Zielobjekt der russischen Raketenangriffe sondern auch Schulen, Krankenhäuser und Wohnbezirke. Der Internationale Strafgerichtshof hat des Weiteren im März 2023 den russischen Präsidenten wegen der Mitverantwortung bei der Entführung Tausender ukrainischer Kinder und deren Freigabe zur Adoption an russische Eltern strafrechtlich verurteilt. Putin kann ab jetzt in allen Staaten, die den IStGH anerkennen, theoretisch verhaftet werden. Auch ist dies natürlich ein wichtiger symbolischer Akt, dass niemand über dem Gesetz stehen darf. Die entsprechenden Konsequenzen dieses Sachverhalts für den Krieg im Irak, für den ehemaligen US-Präsidenten Bush jun. dürften auf der Hand liegen. Ebenfalls muss die Tötung von über 1000 israelischen Zivilisten und in Reaktion darauf die Tötung von Zehntausenden palästinensischen Zivilisten – u.a. Tausenden Kindern, Jugendlichen und Frauen – möglichst zeitnah nach der Beendigung des Krieges im Nahen Osten Gegenstand der internationalen Gerichtsbarkeit werden.
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Fazit: Der an privatwirtschaftlicher Profitmaximierung orientierte militärisch-ökonomische Komplex soll nicht als ‚normale‘ Ökonomie sondern als destruktive Wirtschaftsform vor dem Hintergrund der existierenden politischen Strukturen, als eine Ökonomie des Todes, aufgefasst werden. Waffenlieferungen in Spannungsgebiete, massiver Lobbyismus, Kriege als Konjunkturhilfen und privatwirtschaftliche Kriegsführung mit hohen Renditen verweisen auf einen zynischen Umgang mit der Tatsache massenhaften Sterbens der von der Kriegsführung betroffenen Zivilbevölkerung. Spekulation mit Aktien von Rüstungsbetrieben im Zusammenhang mit militärischen Konflikten und Kriegen, wie am Beispiel der russischen Invasion 2022 in der Ukraine und den damit verbundenen Aufrüstungszusagen westlicher Regierungen, führen zu hohen Profiten von Kriegsgewinnlern. Der rechtzeitige Kauf von Aktien der Rüstungskonzerne führte zu hohen Gewinnsteigerungen, die mit dem Leid vom Krieg betroffener Menschen erzielt wurden.
Im nächsten Kapitel wird analysiert, wie der militärisch-ökonomische Komplex mit der Unterstützung der Politik sich weiterhin durchsetzt und eine neue Rüstungsspirale zur zunehmenden Unordnung der Welt beitragen wird.
Anmerkungen zum Kapitel 1.4.1.1
[1] Im weiteren Verlauf dieses Kapitels wird sich u.a. auf die Ausführungen bei Moegling (2020b) zu Waffenexporten in Spannungsgebieten gestützt, und es werden Teile dieses Beitrags in modifizierter Form übernommen.
[2] Eisenhower, Dwight (1961)
[3] Vgl. zur Effizienz von Investitionen in die Waffenindustrie: Stocker, Franz (2020)
[4] So lehnen beispielsweise nach einer 2019 veröffentlichten Greenpeace-Umfrage 81% den Waffenexport in am Jemen-Krieg beteiligte Länder ab. Vgl. https://www.dw.com/de/umfrage-deutsche-gegen-waffenexporte/a-49169332, 13.6.2019, 18.2.21. Laut einer weiteren repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov lehnen 64 Prozent der Befragten Waffenexporte generell ab. 80 Prozent der Befragten votierten gegen Waffenlieferungen in Kriegs- und Krisengebiete. 83% der Befragten lehnten den Export von Rüstungsgütern in die Türkei ab. Vgl. https://www.welt.de/newsticker/news1/article176788904/Umfragen-Deutliche-Mehrheit-der-Deutschen-ist-gegen-Verkauf-von-Waffen-an-andere-Staaten.html, 29.5.2018, 18.2.21.
[5] Nepo, Sara, 2012, Der Iran-Irak-Krieg 1980-1988. Die Balancepolitik der Großmächte. In: file:///C:/Users/Klaus_neu/Downloads/2222-2770-1-PB.pdf, 1.3.2013.
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[6] ATT der UN, in deutscher Übersetzung abgedruckt in: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (Hrsg.) 2020, 49ff.
[7] Angaben nach https://thearmstradetreaty.org/treaty-status.htmlentnommen, Stand: 26.2.2025.
[8] https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-04/nra-waffenhandel-usa-donald-trump-un-vertrag-att-waffenexport, 29.5.20.[9] Der komplette „Gemeinsame Standpunkt der Rates“ (2008/ 2019) siehe Anlage 2 im Rüstungsexportbericht 2019, a.a.O., S.43ff.
[10] Vogel (2015)
[11] Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (Hrsg.) (2020), 6.
[12] Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (Hrsg.) (2020), 10.
[13] Vogel (2015), o.S.
[14] Vgl. https://www.gesetze-im-internet.de/krwaffkontrg/__27.html, in der letzten Änderung vom 27.6.2020.
[15] Eckpunkte für die Einführung von Post-Shipment- Kontrollen bei deutschen Rüstungsexporten. In: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (Hrsg.) (2020, 42f). Hierbei muss angemerkt werden, dass die Bundesrepublik Deutschland 2019 ihrer eigenen Beurteilung nach das einzige EU-Land war, das überhaupt systematische Post-Shipment-Kontrollen versucht hat. Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (Hrsg.) (2020, 14).
[16] Vgl. Wälterlin, Urs, (2018).
[17] Vgl. http://www.zeit.de/news/2018-03/12/mehr-waffenimporte-in-den-mittleren-osten-und-nach-indien-180312-99-441610, 12.3.18 und https://www.sipri.org/news/press-release/2018/asia-and-middle-east-lead-rising-trend-arms-imports-us-exports-grow-significantly-says-sipri, 13.3.2018.
[18] Vgl. die Angaben bei SIPRI auf https://www.sipri.org/media/press-release/2019/global-arms-industry-rankings-sales-46-cent-worldwide-and-us-companies-dominate-top-5;
9.12.19, 9.12.19.
[19] Steinberg (2013).
[20] SIPRI (2018).
[21] SIPRI Yearbook (2020a, 13).
[22] Vgl. SIPRI (2020, 12).
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[23] Vgl. Knipp (2020).
[24] Vgl: Libyen: Der grenzenlose Konflikt? In: https://www.daserste.de/information/politik-weltgeschehen/weltspiegel/libyen-180.html, 19.1.20., 21.2.21.
[25] Vgl. Salzen, v. (2020).
[26] Die Linke im Europaparlament, 2020, Waffenexporte/ Rüstungsexporte. In:https://www.dielinke-europa.eu/de/article/8988.waffenexporte-ruestungsexporte.html, o.D. [27] Vgl. SIPRI (2020a, 13)
[28] Europäische Friedensfazilität. Ein außerbudgetärer EU-Fonds für die Friedensförderung und die Stärkung der internationalen Sicherheit. In: https://op.europa.eu/de/publication-detail/-/publication/b678ff59-7f34-11e8-ac6a-01aa75ed71a1/language-de/format-PDF, 13.6.2018, 21.2.21
[29] Vgl. zur kritischen Untersuchung der EPF: Bergmann/Furness (2019) sowie: Europäische Militär-Fazilität birgt erhebliche Risiken für den Frieden. Presserklärung von ‚Ohne Rüstung leben‘ zusammen mit 17 weiteren Organisationen. In: https://www.ohne-ruestung-leben.de/nachrichten/article/offener-brief-europaeische-militaer-friedens-fazilitaet-erhebliche-risiken-329.html, 8.10.19
[30] Vgl. Deutschland exportiert deutlich mehr Kriegswaffen. In: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-07/waffenexporte-ruestungsindustrie-kriegswaffen-deutschland, 14.7.20, 21.2.21.
[31] Alle Zahlen tabellarisch zusammengestellt aus: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (Hrsg.) (2020, 8 u. 22).
[32] Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (Hrsg.) (2024):
Vorläufige Rüstungsexportzahlen für das Jahr 2024 veröffentlicht und Rüstungsexportbericht für das Jahr 2023 verabschiedet. In:
https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Pressemitteilungen/2024/12/20241218-vorlaeufige-ruestungsexportzahlen-2024-ruestungsexportbericht-2023.html#:~:text=Dezember%202024%20sind%20nach%20vorl%C3%A4ufigen,Euro%20f%C3%BCr%20sonstige%20R%C3%BCstungsg%C3%BCter%20zusammen. 18.12.2024.
[33] Alle Zahlen tabellarisch zusammengestellt nach Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (Hrsg.) (2020,8 u. 22).
[34] Bickel (2018, o.S.)
[35] Türkei erhält mehr als ein Drittel der deutschen Waffenexporte. dpa-Meldung vom 23.6.20, in: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/tuerkei-erhielt-mehr-als-ein-drittel-der-deutschen-waffenexporte-a-52c320a4-147c-4b92-8a35-9fcfe1dd27a8, 23.6.20.
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[36] Türkei erhält mehr als ein Drittel der deutschen Waffenexporte. dpa-Meldung vom 23.6.20, in: a.a.O., 23.6.20.
[37] Links-Fraktion, Geschäft mit Kriegswaffen boomt. In: https://www.sevimdagdelen.de/geschaeft-mit-kriegswaffen-boomt/, 16.7.20, 22.2.21
[38] Vgl. ausführlicher zum Jemen-Krieg bei Reimann (2020b).
[39] Vgl. Bickel (2018, o.S.).
[40] Rüstungsexporte: Deutschland liefert Rüstungsgüter für 1,2 Milliarden an Jemen-Allianz, In: https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-04/ruestungsexporte-jemen-krieg-deutschland-allianz, 1.4.20.
[41] Reimann (2020b, o.S.).
[42] Vgl. https://www.mena-watch.com/im-jemen-sind-bis-zu-85-000-kinder-verhungert/, 8.10.2019.
[43] Vgl. Nassauer 2019.
[44] Greenpeace (Hrsg.) (2020, 29).
[45] Der ehemalige US-Vizepräsident Cheney war von 2001-2009 Vizepräsident des Konzerns Halliburton, der über seine Firmen als Ausrüster und Transportunternehmer vom in dieser Zeit stattfindenden 2. Irak-Krieg profitierte.
[46] “Furthermore, a long-term contracting relationship can lead to the ‘capture’ of the contracting process by the private firms and even to corruption. The close relationship between contractor and customer can create a ‘revolving door’ between government and industry, with senior personnel often moving from one to the other, and can result in a high degree of lobbying power for firms intimately connected with government activity.” (Perlo-Freeman/Sköns 2008, 15).
[47] Vgl. Vogel (2015, o.S.).
[48] Vgl. Danner (2019); inzwischen ist übrigens Kujat einem Machtkampf zweier Großanleger zum Opfer gefallen und musste diese Position wieder verlassen.
[49] Vgl. Eglau (2019).
[50] Das folgende Zitat entstammt einem 2008 von Stephan Kaufmann in der Berliner Zeitung geführten Interview mit Joseph Stiglitz (Stiglitz 2008).
[51] Naím (2014, 118).
[52] Vgl. Perlo-Freeman/Sköns (2008, 1).
[53] Vgl. Perlo-Freeman/Sköns (2008, 2).
[54] Perlo-Freeman/Sköns (2008, 13).
[55] Vgl. hierzu auch das entsprechende Kapitel ‚War sells‘: Die Bundeswehr. im Buch von Engartner (2016, 109ff.).
[56] https://www.worldvision.de/pressemitteilungen/2018/05/22/safe-schools-declaration,o.D., 23.5.18.
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1.4.1.2 Die Wiederkehr der Rüstungsspirale
Mit Hilfe der Realismustheorie internationaler Beziehungen lässt sich rechtfertigen, dass ein Staat beständig aufrüsten müsse, um sich gegen einen potenziell feindlichen Staat verteidigen bzw. diesen abschrecken zu können. Dieser andere Staat wiederum nutzt das gleiche Argument einer Bedrohungslage, um seinerseits militärisch aufzurüsten. Hier herrscht ein Denken vor, dass Sicherheit nur um den Preis militärischer Stärke erreichbar sei. Dies wird mit der Auffassung legitimiert, dass derjenige, der für den Frieden ist, sich für den Krieg wappnen müsse. Auch sei zum Aufbau von Verhandlungsdruck in der internationalen Diplomatie der Rückhalt eines hochgerüsteten Militärs von Vorteil. Hierdurch aber entsteht eine einsetzende und sich steigernde Aufrüstungsdynamik zwischen den Staaten und Militärblöcken mit allen humanen, politischen, ökologischen und ökonomischen Folgen und Risiken, die dies mit sich bringt.
Im Krieg in der Ukraine wird beispielsweise des Weiteren argumentiert, dass Friedensverhandlungen erst sinnvoll seien, wenn die russische Armee geschlagen bzw. weitgehend zurückgedrängt worden sei. Diese Verhandlungen müssten dann aus einer militärisch möglichst starken Position heraus erfolgen. Daher werden eine Eskalation von Waffenlieferungen in die Ukraine und eine Steigerung der Waffenproduktion gefordert.
Insbesondere US-Konzerne profitieren hier von neuen Rüstungsaufträgen. Auch Deutschland hat in diesem Zusammenhang 2022 ein Sondervermögen für Rüstungsausgaben im Wert von 100 Milliarden Euro beschlossen. Entsprechend reagiert die für die militärische Aggression in die Ukraine hauptverantwortliche Russische Föderation, baut ihre Volkswirtschaft mehr und mehr zur Kriegswirtschaft um und steigert damit die eigene Waffenproduktion, was wiederum zu weiteren Aufrüstungsforderungen in westlichen Staaten führt. Es werden 2004/2005 nicht nur 2% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für die europäischen NATO-Staaten, sondern bereits 3,5% und auch 5% des BIP gefordert. Für Deutschland würden 5% bereits ca. 40% des Staatshaushaltes ausmachen. Die Eskalationsspirale entwickelt sich im Rahmen dieses auf Krieg fixierten Denkens kontinuierlich weiter und führt zu einer Ausweitung und Intensivierung der Kriegshandlungen mit unabsehbaren Folgen.
Eine Rüstungsspirale muss nicht zwangsläufig eintreten
Die erfolgreichen Abrüstungsverhandlungen des ausgehenden 20. Jahrhunderts im Rahmen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE, ab 1995 OSZE) [1], an denen auch die USA, Kanada und die damalige Sowjetunion teilnahmen, zeigen, wie es über Diplomatie und Gespräche gelingen kann, einen größeren Teil der konventionellen und atomaren Waffen zu vernichten sowie auch den ‚Human Rights‘ zu einem Durchbruch zu verhelfen. Die Voraussetzung hierfür war u.a. die zivilgesellschaftliche Unterstützung durch eine breitangelegte, das Engagement von Millionen Menschen umfassende transnationale Friedensbewegung. Die bereits 1975 im Rahmen der KSZE-Schlussakte vorgenommenen Vereinbarungen über die Einhaltung von Menschenrechten, freien Wahlen, freien Meinungsäußerungen etc. führten wiederum zu zahlreichen sich zivilgesellschaftlich engagierenden Helsinki-Gruppen und allmählich zu einer politischen Öffnung der Warschauer Pakt-Staaten. Die wiederaufgenommenen INF-Verhandlungen (Intermediate Range Nuclear Forces) im Rahmen der KSZE hatten 1987 einen Vertrag über die Vernichtung landgestützter nuklearer Mittelstreckenraketen zum Ergebnis. Der Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) wurde von 22 Regierungschefs der Warschauer Pakt- und der NATO-Staaten signiert.
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Das Ergebnis hiervon wiederum war bis Ende 1995 der Wegfall von ca. 50.000 konventionellen Angriffswaffensystemen (Panzer, Artillerie, Angriffshubschrauber und Kampfflugzeuge, die in Europa stationiert waren). Des Weiteren wurden in der Folge des Helsinki-Dokuments von 1992 kriegspräventive und friedenssichernde Maßnahmen zwischen den unterzeichnenden Staaten vereinbart. [2] Personen, die behaupten, eine Rüstungskontrolle und eine Abrüstung im großen Stil könnten grundsätzlich nicht gelingen, sei dieser historische Verhandlungserfolg in den 70er, 80er und 90er Jahren entgegengehalten. Gesellschaftliche Ordnungen im Bereich von Militär- und Sicherheitspolitik können sich durchaus verändern, wenn ein entsprechender gesellschaftlicher Druck entsteht. Hierdurch schien die Tür zu einer grundlegenden Neuordnung und einer damit verbundenen Friedensdividende einen großen Spalt geöffnet zu sein.
Auch die Gegenkräfte wurden aktiv …
Doch auch die Gegenkräfte hinsichtlich einer friedenstiftenden Neuordnung machten in dieser Situation des Wechsels mobil. Der militärisch-ökonomische Komplex und seine Unterstützer in der Politik können natürlich kein Interesse an einer Beseitigung von Aufrüstungsprogrammen haben, da hierdurch ein lukratives Geschäftsmodell entfallen würde sowie national-chauvinistische geostrategische Optionen nicht mehr durchsetzbar sein würden.
In den letzten Jahren hat sich daher aufgrund der politisch gewollten medialen Inszenierung internationaler Feindbilder und vorhandener geostrategischer und ökonomischer Interessen eine neue globale Rüstungsspirale entwickelt, die zur Einlösung der enormen Renditen der Rüstungsindustrie führen konnte.
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Mit der völkerrechtswidrigen Intervention der US-geführten Truppen in den Irak, dem völkerrechtswidrigen Überfall der Türkei auf die Kurdengebiete im nordöstlichen Syrien, der ebenfalls völkerrechtswidrigen Besetzung der Krim durch Russland, der militärischen Invasion Russlands in der Ukraine sowie dem Versuch, zumindest Teile der östlichen und südöstlichen Regionen der Ukraine abzuspalten, dem völkerrechtswidrigen Stellvertreterkrieg des Irans mit Saudi-Arabien im Jemen, der zunehmenden Aggressivität Chinas (Hongkong, Taiwan, südchinesisches Meer), dem Expansionsbestreben Israels sowie den Kriegen in Syrien und in Libyen konnte aufgrund regionaler hegemonialer Interessen eine neue Rüstungsspirale initiiert werden, anstatt primär Konflikte mit diplomatischen Mitteln zu lösen. In diesem Kontext stehen die weiteren Aufrüstungsbemühungen der USA und Russlands sowie der Versuch von Seiten der USAund der NATO, die Natomitglieder hinsichtlich des staatlichen Militärbudgets auf zumindest 2% des Bruttoinlandsprodukts zu verpflichten. Dies bedeutete für Deutschland fast eine Verdoppelung des Rüstungsetats. [3] Inzwischen werden noch weitergehende Forderungen gestellt.
Der 2024 zum republikanischen Präsidentschaftskandidat gewählte Ex-US-Präsident eskalierte im Februar 2024 in unverantwortlicher Weise im Sinne von Schutzgelderpressung die internationale Situation – so die Berichterstattung von CNN (2024):
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“ ‚NATO was busted until I came along,‘ Trump said at a rally in Conway, South Carolina. ‚I said, ‘Everybody’s gonna pay.’ They said, ‘Well, if we don’t pay, are you still going to protect us?’ I said, ‘Absolutely not.’ They couldn’t believe the answer.‘
Trump said ‚one of the presidents of a big country‘ at one point asked him whether the US would still defend the country if they were invaded by Russia even if they ‚don’t pay.‘
‚No, I would not protect you,‘ Trump recalled telling that president. ‚In fact, I would encourage them to do whatever the hell they want. You got to pay. You got to pay your bills.‘
President Joe Biden said Sunday that Trump ‚is making it clear that he will abandon our NATO allies‘ and outlined the potential consequences of Trump’s comments.“ (Sullivan 2024)
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Dies muss man sich einmal klar machen: Trump würde Putin ermutigen, westliche Staaten zu überfallen, wenn sie nicht zumindest 2% oder mehr des Bruttoinlandsproduktes in den NATO-Etat einzahlen würden. Hierbei ist mit zu bedenken, dass von den westlichen Aufrüstungsinvestitionen insbesondere US-amerikanischen Rüstungsunternehmen profitieren würden. Ein klarer Fall von internationaler Schutzgelderpressung.
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Die Rüstungsspirale wird über die mediale und manipulative Konstruktion von Feindbildern beschleunigt (z.B. wechselseitig USA und Russland, Iran und USA, Saudi Arabien und Iran, USA und China), indem unterstellt wird, der jeweils andere würde die militärische Überlegenheit in einem Waffensektor anstreben, sich nicht an internationale Vereinbarungen zur Waffenkontrolle halten, eine grundsätzlich feindselige und vertrauensunwürdige Haltung einnehmen, die falsche Ideologie bzw. Religion haben und einen Angriffskrieg planen oder bereits durchführen. [4]
Der Krieg in der Ukraine hat die globale Rüstungsspirale drastisch intensiviert. Des Weiteren lässt sich in den letzten Jahren eine Zuspitzung der Konkurrenz zwischen China und den USA erkennen. Dort dürfte auch in naher Zukunft ein erhebliches globales Konfliktpotenzial liegen, da China zunehmend im geopolitischen, ökonomischen und militärischen Bereich zu den USA aufschließt bzw. in Teilbereichen bereits eine Überlegenheit erreicht hat.
Die weltweite Rüstungsspirale in Zahlen
Die Fakten sehen wie folgt aus: Insgesamt steigen die Rüstungsausgaben in den letzten Jahren weltweit. Das schwedische Forschungsinstitut SIPRI ermittelte für 2017 einen Anstieg der weltweiten Rüstungsausgaben auf 1,739 Billionen Dollar (2018: 1,83 Bill., 2019: 1,9 Bill.). Das Militärbudget der USA beträgt 2018 ein Drittel aller weltweiten Rüstungsausgaben (649 Milliarden Dollar gegenüber 2017: 610 Milliarden Dollar) und liegt damit um das 2,7-fache vor dem Zweitplatzierten China (228 Milliarden). China hat in 2017 seinen Rüstungsetat um 5,6%, Indien um 5,5% und Saudi-Arabien sogar um 9,2% gesteigert.
2021 stiegen die weltweiten Rüstungsausgaben deutlich über zwei Billionen Dollar (2,113 Billionen). Die fünf größten Rüstungsinvestoren waren die USA, China, Indien, Großbritannien und Russland. Sie hatten einen Anteil von 62% an den weltweiten Rüstungsausgaben (SIPRI 2022).
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Russlands Rüstungsausgaben verringerten sich 2017 um 20% gegenüber dem Vorjahr (2017: 66,3 Milliarden Dollar) und noch einmal 2018 um weitere 3,5%. Die Ursache für die Abnahme der russischen Rüstungsausgaben lag in ökonomischen Schwierigkeiten begründet. Allerdings hatte Russland in den vergangenen Jahren seine Armee modernisiert und immer wieder in verschiedenen militärischen Konflikten erprobt. Auch sind die russischen Kosten für Waffensysteme und Personal wesentlich niedriger anzusetzen als in den westlichen Staaten, so dass diese Zahlen nicht ohne Weiteres vergleichbar sind.
Allerdings stiegen dann die russischen Militärausgaben 2019 wieder um 4,5% auf über 65 MRD Dollar. [5] Auch 2021 hat Russland sein Militärbudget noch einmal um knapp 3% erhöht und verwendet in 2021 4,1% seines Bruttoinlandsprodukts für Rüstungsausgaben (SIPRI 2022).
Die russischen Rüstungsausgaben erhöhten sich dann 2023/2024 noch einmal erheblich im Zuge des Kriegs der Russischen Föderation in der Ukraine – so schätzt SIPRI (2024)
„dass die geplanten Militärausgaben Russlands im Jahr 2024 mit 12 765 Milliarden Rubel (rund 140 Milliarden US-Dollar) real um 29 Prozent höher ausfallen würden als im Jahr 2023, was 7,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und 35 Prozent der gesamten Staatsausgaben entspricht.“
Gleichzeitig und in eindeutiger Reaktion auf den russischen Angriff hat die Ukraine ihre Verteidigungsausgaben für 2022 drastisch erhöht – so SIPRI 2023c:
„Die Militärausgaben der Ukraine erreichten im Jahr 2022 44,0 Milliarden Dollar. Mit 640 Prozent war dies der höchste Anstieg der Militärausgaben eines einzelnen Jahres, der jemals in den SIPRI-Daten verzeichnet wurde. Infolge dieses Anstiegs und der kriegsbedingten Schäden an der ukrainischen Wirtschaft stieg die militärische Belastung (Militärausgaben als Anteil am BIP) von 3,2 Prozent im Jahr 2021 auf 34 Prozent des BIP im Jahr 2022.“
Deutschland lag 2017 mit leichter Steigerung auf Platz 9 der weltweiten Rüstungsskala (47, 2 Milliarden Dollar), stieg für 2018 auf Rang 8 (plus 3,8% Rüstungsausgaben) und in 2019 auf Rang 7. Die Ausgaben aller Nato-Staaten für Rüstung betrugen 2017 52% aller globalen Rüstungsausgaben (ca. 900 Milliarden Dollar Militärausgaben der NATO-Staaten). Dies steigerte sich für 2018 auf 53% und für 2019 auf 54% (1035 MRD Dollar) der weltweiten Rüstungsausgaben. [6]
Der Verteidigungsetat für 2024 sieht für Deutschland eine Addition des normalen Verteidigungshaushaltes und des Sondervermögens vor – so das Bundesverteidigungsministerium (2024):
„Gegenüber dem Vorjahr ist der Verteidigungsetat 2024 um 1,83 Milliarden Euro gestiegen. Mit 51,95 Milliarden Euro aus dem Verteidigungshaushalt und rund 19,8 Milliarden Euro aus dem Sondervermögen Bundeswehr können auch dieses Jahr weitere wichtige Investitionen in bestmögliches Material und Ausrüstung für die Truppe erfolgen.“
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Somit hat Deutschland 2024 mit einem Verteidigungshaushalt, der über 70 Milliarden Euro beträgt, die 2%-Grenze des BIP deutlich überschritten.
China rüstet ebenfalls massiv auf. China schließt parallel zu seiner wachsenden ökonomischen Macht militärisch zunehmend zur USA auf und es wird geschätzt, dass sich China in ca. zehn Jahren auf dem gleichen Rüstungslevel wie die USA befindet, wenn diese Entwicklung vergleichbar weitergeht.
Die Rüstungsausgaben für 2020 in absoluten Zahlen sowie als prozentualer Anteil an den weltweiten Ausgaben und vergleichend zwischen 2011 und 2020 finden sich in Tabelle 5.
Tab. 6: Rüstungsausgaben im internationalen Vergleich
(zusammengestellt nach SIPRI 2021, 2022, 2023c, 2025)
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State 2020 in US $ Change in % World share in % and
billion and (change (2011-2020) (share of nat. GDP in %)
2019-2020 in%)
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1 United States 778 (+4.4) -10 39 (3.7)
2 China (252) (+1.9) +76 (13) ((1.7)
3 Indien 72.9 (+5.5%) +34 3.7 (2.9)
4 Russland 61.7 (+2.5) +26 3.1 (4.3)
5 United 59.2 (+2.9) -4.2 3.0 (2.2)
Kingdom
6 Saudi Arabien (57.5) (-10%) +2.3 (2.9) (8.4)
7 Deutschland 52.8 (+5.2) +28 2.7 (1.4)
8 Frankreich 52.7 (+2.9%) +9.8 2.7 (2.1)
9 Japan 49.1 (+1.2) +2.4 2.5 (1.0)
10 Südkorea 45.7 (4.9) +41 2.3 (2.8)
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Total
Insgesamt (weltweit) : 1.981 US $ trillion
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Anteil der NATO-Staaten | 1.103 Bill. | USA, UK, Deutschland, Frankreich, Italien u. Kanada: 90% (995 MRD $) der NATO-Ausgaben und knapp 50% der weltweiten Rüstungsausgaben
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SIPRI (2022): „Die gesamten weltweiten Militärausgaben steigen 2021 real um 0,7 Prozent auf 2113 Milliarden Dollar. Die fünf größten Geldgeber im Jahr 2021 sind die Vereinigten Staaten, China, Indien, das Vereinigte Königreich und Russland, auf die zusammen 62 Prozent der Ausgaben entfallen“.
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SIPRI (2023c): "Die weltweiten Militärausgaben stiegen im Jahr 2022 real um 3,7 Prozent und erreichten damit einen neuen Höchststand von 2240 Milliarden Dollar. Die Militärausgaben in Europa verzeichneten im Jahresvergleich den stärksten Anstieg seit mindestens 30 Jahren."
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SIPRI (2025): "Die weltweiten Militärausgaben stiegen 2024 real um 9,4 Prozent auf 2718 Milliarden US-Dollar. Dies ist der höchste jemals vom SIPRI verzeichnete weltweite Gesamtwert und das zehnte Jahr in Folge mit einem Anstieg."
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China baut inzwischen eigene Flugzeugträger, Überschallkanonen, Spezial-Torpedos und Tarnkappen-Jets. Obwohl China betont, dass seine Rüstung ausschließlich zu Zwecken der Landesverteidigung gilt, baut China auf den künstlich aufgeschütteten Inseln im südchinesischen Meer, das auch von anderen umliegenden Staaten beansprucht wird, Militärbasen aus. So kritisierte der US-Verteidigungsminister James Mattis während einer Konferenz in Singapur im Juni 2018:
„Auch, wenn China das Gegenteil behauptet: Die Stationierung dieser Waffensysteme hat militärische Gründe und dient der Einschüchterung und Gewalt.“ [7]
Es würden chinesische Bomber auf den Inseln landen, neben Flugabwehrraketen gäbe es auch Raketen, die zum Angriff auf Schiffe im Umkreis von bis zu 550 Meilen in der Lage wären. [8]
Das größte konventionelle Raketenpotenzial besitzt inzwischen China. Auch besitzt China ein großes Arsenal von Kampfdrohnen und ist inzwischen der weltweite größte Exporteur derartiger Drohnen. China weitet – genauso wie dies die USA öffentlich erklären – Fähigkeiten zur Aufklärung und Einwirkung auf den Weltraum, z.B. hinsichtlich der Zerstörung gegnerischer Satelliten, aus. [9]
China hebt hierbei kontinuierlich seinen Rüstungsetat an, so SIPRI (2023c):
„China blieb der zweitgrößte Militärausgeber der Welt und gab 2022 schätzungsweise 292 Milliarden Dollar aus. Das sind 4,2 Prozent mehr als im Jahr 2021 und 63 Prozent mehr als im Jahr 2013. Chinas Militärausgaben sind in 28 aufeinanderfolgenden Jahren gestiegen.“
Der kenianische Arzt Bonventure Machuka (2025) zieht Bilanz über die Auswirkungen von Waffenhandel und Aufrüstung in afrikanischen Staaten. Konflikte, wie im Sudan, zwischen Tigray und Äthiopien, in der Sahel-Zone oder im Jemen würden durch ausländische Mächte angeheizt, so dass die Voraussetzungen für die Afrikanische Union für eine wirkungsvolle Friedensvermittlung erschwert würden:
"Das globale Wettrüsten wird durch den geopolitischen Wettbewerb zwischen den Großmächten angeheizt und schadet den Entwicklungsländern durch Stellvertreterkonflikte. Sudan und Jemen sind Paradebeispiele, wo Waffenlieferungen der Staaten des globalen Nordens Konflikte verlängert haben.(...) Die Folgen sind Massenvertreibungen, Hungersnöte und eine Verschlechterung der Lebensbedingungen.
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Die wirtschaftlichen Auswirkungen des Waffenhandels auf Entwicklungsländer sind erheblich. Eine Studie des Journal of Public Health Policy zeigt, dass Militärausgaben Ressourcen von lebenswichtigen Sektoren wie Gesundheit und Bildung abziehen und so Entwicklung und öffentliches Wohlergehen untergraben.
In ähnlicher Weise betont Amnesty International, dass die für Waffenimporte bereitgestellten Mittel oft auf Kosten von Infrastruktur- und Armutsbekämpfungsinitiativen gehen, wodurch Millionen Menschen keinen Zugang zu lebenswichtigen Dienstleistungen haben. Das Wettrüsten stärkt zudem autoritäre Regime in den Entwicklungsländern."
Hinzu kommt in den afrikanischen Staaten das Problem der Korruption, dschihadistische Einflüsse sowie Unfähigkeit staatlicher Institutionen und verantwortlicher Politiker, was für die Unzufriedenheit der Bevölkerungen sorgt. Insbesondere der Handel mit Kleinwaffen in den afrikanischen Staaten wirkt sich destabilisierend und gefährlich für die Bevölkerungen aus (Machuka 2025).
SIPRI (2025) schlüsselt die weltweiten Militärausgaben von ca. 2,7 Billionen Dollar zusammenfassend für das Jahr 2024 wie folgt auf:
"Die gesamten Militärausgaben machten 2024 2,5 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus. Die fünf Länder mit den höchsten Militärausgaben im Jahr 2024 waren die Vereinigten Staaten, China, Russland, Deutschland und Indien, auf die zusammen 60 Prozent der weltweiten Militärausgaben entfielen. Die Militärausgaben der USA beliefen sich 2024 auf 997 Milliarden US-Dollar, während die Chinas auf schätzungsweise 314 Milliarden US-Dollar geschätzt wurden. Die Militärausgaben Russlands stiegen 2024 um 38 Prozent auf geschätzte 149 Milliarden US-Dollar, was 7,1 Prozent des russischen BIP entspricht. Die Ukraine war 2024 der achtgrößte Militärausgabenposten mit einem Anstieg der Ausgaben um 2,9 Prozent auf 64,7 Milliarden US-Dollar, was 34 Prozent ihres BIP entspricht. Die gesamten Militärausgaben in Europa stiegen 2024 um 17 Prozent auf 693 Milliarden US-Dollar."
2.700.000.000.000 $ (!): Wie viel Menschen könnte man mit diesem ungeheuren Finanzvolumen vor dem Verhungern retten? Wie wirkungsvoll könnte man mit diesem Geld der Klimakrise präventiv und eindämmend begegnen? Wie viel sinnvolle Infrastrukturmaßnahmen, Bildungsinvestitionen und Investitionsanreize für die Ökonomie ließen sich hiermit finanzieren?
Die Gefahr eines Atomkriegs steigt
Nukleare Abrüstungsverträge werden aufgekündigt. Gleichzeitig wird derzeit nicht nur verstärkt in den konventionellen Waffenbereich, sondern auch in die Nuklearstreitkräfte und nuklearen Waffentechnologien investiert; es droht ebenfalls eine neue atomare Rüstungsspirale – so die Pressemitteilung von ICAN Germany anlässlich der Münchener Sicherheitskonferenz bereits 2018:
„Das Friedensforschungsinstitut SIPRI in Stockholm warnt vor den gigantischen Modernisierungsprogrammen der Atomwaffenstaaten. Allein die USA wollen nach Angaben des Haushaltsbüros des US-Kongresses innerhalb von zehn Jahren über 400 Milliarden US-Dollar für ihr Atomwaffenarsenal ausgeben. Auch Russland investiert massiv in seine Nuklearstreitkräfte und testet neue Interkontinentalraketen. China, Pakistan und Indien rüsten ebenfalls atomar auf. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat vergangene Woche angekündigt, die Ausgaben für Unterhalt und Erneuerung der französischen Nuklearwaffen fast zu verdoppeln – auf sechs Milliarden Euro pro Jahr, insgesamt 37 Milliarden über die nächsten sieben Jahre. Zudem hat mit Nordkorea jüngst auch die Zahl der Staaten weiter zugenommen, die Atomwaffen besitzen. Das alles vollzieht sich in einem höchst instabilen sicherheitspolitischen Umfeld. Nie zuvor gab es zwischen so vielen Atomwaffenstaaten so große Spannungen. Es gibt derzeit keinen Atomwaffenstaat, der sich nicht in einer Krisen- oder Konfliktsituation befindet.“ [10]
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Insbesondere mit der von China, Russland und den USA vorangetriebenen Entwicklung von Hyperschalldrohnen und -raketen ist eine neue Dimension im Rüstungswettlauf erreicht. Aufgrund der Schnelligkeit und der Manövrierfähigkeit der z.B. mit 32.000 km/h fliegenden und mit nuklearen Sprengköpfen bestückbaren russischen Marschflugkörper ist eine Abwehr im Falle eines Angriffs faktisch unmöglich. [11]
Nicht nur die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats bauen beständig nach zunächst erfolgten Abrüstungen ihr atomares Aufrüstungsprogramm aus – auch hinsichtlich einer flexibleren und begrenzteren Anwendung. Auch äußerst instabile Staaten, wie Pakistan, Israel, Nordkorea und Indien, besitzen aufgrund der Weitergabe der atomaren Technologie durch die ständigen Sicherheitsratsmitglieder bereits die Atombombe. Weitere als problematisch einzuschätzende Staaten, wie z.B. der Iran, stehen 2025 an der Schwelle zur Atomtechnologie.
Wenn radikale Religionsausübungen, politische Ideologien, ökonomische Interessen sowie Vorstellungen geostrategischer Hegemonie in bestimmten Weltregionen aufeinander treffen, führt der Besitz der Atomtechnologie bzw. von Wasserstoffbomben zu einer globalen Bedrohung, deren Folgen unabsehbar sind.
Auch Konflikte zwischen China und Indien sowie Indien und Pakistan (Kaschmir-Konflikt) stellen unkalkulierbare Gefährdungen zwischen Nuklearmächten dar, die z.T. auch nur unzureichend und intransparent im multilateralen System kooperieren. [12]
Eine neue Gefährdung besteht in der Ankündigung z.B. des US-Präsidenten Donald Trump, kleinere Atombomben entwickeln zu lassen und in militärischen Konflikten einzusetzen. ‚Mini-Nukes‘ wären für einen ‚begrenzten Atomschlag‘ im Sinne taktischer Atomwaffen einsetzbar. [13] Da die geplanten ‚Mini-Atomwaffen‘ hinsichtlich ihrer Vernichtungskraft noch immer Städte in der Größe von Hiroshima und Nagasaki zerstören können, wird mit diesen Ankündigungen lediglich die atomare Rüstungsspirale weiter aktiviert und dann auch die Hemmschwelle für den Einsatz von Atomwaffen verringert – so auch US-Präsident Trump schon 2016 im Wahlkampf: „If we have nuclear weapons why can‘t we use them?“ [14]
Auch von russischer Seite wurde 2022, 2023 und 2024 im Zuge des Krieges in der Ukraine dem Westen mehrfach mit nuklearen Angriffen gedroht und die Atomwaffen auf Einsatzbereitschaft geschaltet.
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Auch die Europäische Union hat massive nukleare Aufrüstungspläne für die Zukunft. Hier steht das "Future Combat Air System" (FCAS) im Mittelpunkt, das ein komplexes System bestehend aus neuartigen und nuklear bestückbaren Kampfflugzeugen begleitet von Drohnenschwärmen in Satelliten gestützter Vernetzung mit Streitkräften auf dem Land und dem Wasser beinhaltet. Das neue Kampfflugzeug der 6. Generation ist ein Tarnkappenbomber, der auch mit Fähigkeiten zum Cyber-Krieg ausgerüstet und mit einer Gefechts-Cloud und mit Hilfe künstlicher Intelligenz mit den anderen Kampfsystemen vernetzt ist. Der Entwicklungskosten dieses europäischen Militärprojekts, das bis 2040 einsatzbereit sein soll, allerdings noch in Konkurrenz zu einem zweiten vergleichbaren europäischen Aufrüstungsprojekt („Tempest“) steht, werden auf 100 MRD Euro geschätzt. Die Anschaffungskosten werden auf 500 MRD Euro geschätzt. [15]
Antipersonenminen – ein schreckliches Kriegserbe
2017 wurden weltweit 1,7 Billionen Dollar für die Herstellung von Waffen eingesetzt. 2018 waren es schon 1,82 Billionen Dollar, 2019 1,917 Billionen Dollar und 2022 bereits 2,24 Billionen Dollar
(vgl. Tab. 6). Die internationale Aufrüstung und die damit verbundene Gefährdungslage nehmen wieder zu.
Ein schreckliches Instrument gewalttätiger Auseinandersetzungen und gefährlicher Aufrüstung ist in Antipersonen-Minen zu sehen. Zwar gab es 1999 mit der ‚Ottawa-Konvention‘ einen ersten Durchbruch bei dem internationalen Verbot der Anwendung, Weitergabe und Entwicklung von Anti-Personen-Minen, dennoch haben die größten Minenlieferanten USA, Russland und China den Vertrag noch nicht unterzeichnet.
Derzeit gibt es in über 70 Ländern zwischen 70 und 110 Millionen Landminen in Form von Anti-Personen- oder Fahrzeugminen, die im Boden verborgen vor allem eine Gefahr für die Zivilbevölkerung darstellen. Diese Situation hat sich seit der Zeit zwischen 2003 und 2016 für 2025 kaum verändert. [16]
Es sind zukünftig dreistellige Milliarden Dollarbeträge notwendig, um die Landminen zu beseitigen – wenn dies überhaupt vollständig gelingen kann.
Die International Campaign to Ban Landmines (ICBL) (2024), ein Zusammenschluss von ca. 1400 NGOs mit dem Ziel, über die Verbreitungswege und die Opfer von Landminen aufzuklären, fasst die Zahlen für 2023 zusammen:
"The Landmine Monitor 2024 report describes the widespread impact antipersonnel mines have on civilian populations even decades after they were laid. In 2023, at least 5,757 casualties of landmines and explosive remnants of war (ERW) were recorded. Civilians made up 84% (4,335) of all recorded casualties, where the military or civilian status was known. Children accounted for 37% (1,498) of civilian casualties, where the age group was recorded."
Ende 2024 genehmigte der damalige US-Präsident Biden - neben dem Einsatz weitreichender Waffen gegen Russland - ebenfalls die Lieferung von Antipersonen-Minen an die Ukraine, um den russischen Vormarsch zu stoppen bzw. zu verlangsamen. Auch setzte Russland dichte Felder von Antipersonen-Minen in der Ostukraine ein, um einen ukrainischen Gegenangriff zu erschweren.
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Drohende Eskalation durch Hyperschallwaffen [17]
Die sich u.a. in Kaliningrad befindlichen russischen, nuklear bestückbaren und mit Tarnkappentechnik versehenen Iskander-Hyperschallraketen können in wenigen Minuten z.B. Deutschland erreichen. Dies stellt eine bedrohliche Entwicklung dar und ist eine unverantwortliche Maßnahme der Regierung der Russischen Föderation, die es deutlich zu kritisieren gilt. [18]
Im Krieg in der Ukraine wurden erstmals in 2023 und 2024 auch Hyperschallraketen von der russischen Seite - von Kampfjets abgefeuert - eingesetzt und sind nur schwer abzuwehren:
„Die Hyperschallrakete Ch-47M2 Kinschal („Dolch“) ist einer der furchterregendsten Neuzugänge der russischen Luftwaffe. Die etwa acht Meter langen Raketen fliegen extrem schnell und extrem hoch, bleiben dabei nach russischen Angaben aber manövrierfähig. Sie sind nach Einschätzung der Nato im März mit herkömmlicher Flug- oder Raketenabwehr kaum abzufangen. AS-24 Killjoy (‚Spielverderber‘) hat das westliche Bündnis die neue russische Waffe getauft.“ [19]
Allerdings behauptet die ukrainische Führung, dass sie jüngst mehrere russische Kinschal-Raketen mit Hilfe des Patriot-Abwehrsystems abgeschossen habe, auch wenn dies nicht einfach gewesen sei. [20]
Nun droht die Gegenreaktion der USA und der NATO, indem sich die Anzeichen verdichten, dass auch in Europa, beispielsweise in Deutschland oder in Polen Hyperschallraketen (‚Dark Eagle‘, Bezeichnung: Long Range Hypersonic Weapon) stationiert werden sollen. [21]
Für 2026 ist inzwischen die Stationierung weitreichender Raketensysteme unter US-Kommando in Deutschland geplant. Hierbei sollen auch US-Hyperschallraketen stationiert werden.
Diese Waffen bewegen sich deutlich schneller als Mach 5 (= über 6000 km/Std.), tragen lenkbare Gleitflugkörper, die mit den bisherigen Techniken nur schwierig abgefangen werden können. Eine Reaktion ist aufgrund der hohen Fluggeschwindigkeit, der großen Variabilität der Gleitflugkörper und deren tiefer Anflugphase unterhalb des Radars mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Die derzeit in der letzten Testphase befindlichen US-Hyperschallraketen sind mit konventionellen Sprengköpfen bestückt, könnten aber auch im Sinne von ‚dual use‘ mit nuklearen Sprengköpfen umgerüstet werden. Die NATO dementiert dies zwar, aber wie glaubhaft ist dies in einem eskalierenden Konfliktfall – zumal die russischen Hyperschallraketen nach russischen Angaben ebenfalls nuklear bestückbar sind?
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Bei einem Softwarefehler bzw. einer Eigendynamik oder einem fehlerhaften Verhalten der KI ist weder die Abwehr noch die umfassende Prüfung einer angemessenen Gegenreaktion möglich. Bereits konventionell ausgerüstete Hyperschallraketen können einen Atomkrieg auslösen. Sie sind als Kampfmittel im Sinne eines Enthauptungsschlags konzipiert, um also die gegnerische Regierungsspitze auszuschalten, wenn sie sich in oberirdischen Gebäuden aufhält. Wie ein derart angegriffener Staat, der nuklear bewaffnet ist, reagieren wird, kann man sich denken.
Daher wurde gerade angesichts der gegenwärtigen aggressiven globalen Situation und der (drohenden) Stationierung von Hyperschallwaffen Ende 2023 ein Appell gegen die nukleare Aufrüstung auf den Weg gebracht und die Rückkehr zu Abrüstungsverhandlungen eingefordert. [22]
Hierbei ist die deutsche Bundesregierung der Adressat. es wird von der Bundesregierung ein Veto gegen die zukünftige Stationierung von Hyperschallraketen sowie ein Eintreten für die Wiederbelebung bzw. Weiterentwicklung von Verträgen zur nuklearen Abrüstung gefordert. So wird von der Bundesregierung u.a. die Unterzeichnung des bereits völkerrechtlich gültigen Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) gefordert, der dann auch die nukleare Teilhabe Deutschlands beenden würde.
Zum Ausstieg aus der Abschreckungslogik
Natürlich ist keine Naivität angebracht. Hinter der militärischen Eskalation stehen politische und ökonomische Interessen. Die unheilvolle Verbindung von ökonomischen Interessen des militärisch-industriellen Komplexes, geostrategischen Interessen, völkisch-religiösen Ideologien und autoritärem Profilierungsgehabe unter Druck stehender (meist männlicher) Politiker führt zu einer fortwährenden Verschärfung der globalen Sicherheitslage. Doch bei einem nuklearen Inferno sind alle Verlierer – auch die Milliardäre, die Ideologen und die Kriegsherren auf allen Seiten.
Militärische Verstöße und Aggressionen werden derzeit in der Regel mit noch härteren Gegenangriffen beantwortet, anstatt aus der Abschreckungs- und Bestrafungslogik auszusteigen und den Verhandlungsweg auch unter Einschaltung der Vereinten Nationen und weiterer multilateralen Institutionen, wie z.B. der OSZE, zu wählen.
Die österreichische Nobelpreisträgerin Bertha von Suttner (1843-1914) kritisierte die Uneinsichtigkeit und Dummheit der Kriegstreiber und der Politik der Abschreckung und eskalierender Bestrafungsaktionen. Sie schreibt in diesem Zusammenhang sehr treffend:
"Keinem vernünftigen Menschen wird es einfallen, Tintenflecken mit Tinte, Ölflecken mit Öl wegputzen zu wollen - nur Blut, das soll immer wieder mit Blut ausgewaschen werden."
[23]
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Einsatz Künstlicher Intelligenz (KI) in militärischen Konflikten
Eine neuere Gefahr besteht in dem Einsatz künstlicher Intelligenz über Mensch-Roboter-Systeme, z.B. beim Einsatz von Kampfdrohnen und der Auswertung des Filmmaterials über intelligente Algorithmen, um in diesen Aufnahmen Menschen als Grundlage von Angriffen schnell zu erkennen und zu unterscheiden. [24] Hier gibt es bereits NGOs, die diese Entwicklung kritisch verfolgen bzw. zum Protest hierzu aufrufen, wie z.B. die US-Bürgerrechtsorganisation Electronic Frontier Foundation (EFF) und das International Committee for Robot Arms Control (ICRAC).
Laut der EFF [25] habe das US-Verteidigungsministerium bereits 2017 7,4 Milliarden US-Dollar in die Entwicklung Künstlicher Intelligenz für militärische Zwecke investiert. Besonders problematisch werde es, wenn Drohnen Kriterien, wie z.B. Rassenzugehörigkeit oder Hautfarbe, selbstständig zur Unterscheidung von Menschen benutzen würden – so Kate Conger und Dell Cameron (2018) auf der EFF-Homepage:
“Maven was tasked with using machine learning to identify vehicles and other objects in drone footage, taking that burden off analysts. Maven’s initial goal was to provide the military with advanced computer vision, enabling the automated detection and identification of objects in as many as 38 categories captured by a drone’s full-motion camera, according to the Pentagon. Maven provides the department with the ability to track individuals as they come and go from different locations.
Artificial intelligence is already deployed in law enforcement and military applications, but researchers warn that these systems may be significantly biased in ways that aren’t easily detectible. For example, ProPublica reported in 2016 that an algorithm used to predict the likelihood of recidivism among inmates routinely exhibited racial bias.”
In der internationalen Kampagne „Campaign to Stop Killer Robots“ sind bereits über 60 Nicht-Regierungsorganisationen zusammengeschlossen, die sich gegen tötende und mit Hilfe künstlicher Intelligenz ausgestattete Kampfmaschinen wenden:
„Bisher hat noch kein Staat vollautomatische Waffensysteme eingesetzt, aber das könnte sich ändern. Großmächte wie die USA, Russland und China bereiten sich bereits darauf vor, „Killer-Roboter“ im Gefecht einzusetzen. Grund könnte die Angst sein, bei einem möglichen zukünftigen Wettrüsten nicht mithalten zu können. Obwohl die Bundeswehr bislang ausschließt, solche Systeme zu erwerben, und ohnehin der Bundestag einem Einsatz zustimmen müsste, muss die deutsche Verteidigungspolitik sich darauf einstellen, dass deutsche Soldaten eines Tages solchen Systemen gegenüberstehen könnten.“ [26]
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Das International Committee for Robot Arms Control (ICRAC) fordert das Verbot und die Entwicklungskontrolle in Bezug auf autonom entscheidende Killer-Maschinen bzw. Killer-Roboter, da Großmächte wie Russland, China und die USA mit großem Tempo an der Entwicklung dieser Waffen arbeiten würden. Thompson Chengeta (ICRA) fordert daher auf einem UN-Hearing:
“Finally, human control over critical functions of weapon systems and a ban on fully autonomous weapon systems are two sides of the same coin. States are urged to focus on the requirement of human control rather than technical definitions of autonomy. Further, States must move towards negotiation of a legally binding instrument on this issue.” [27]
Der Informatiker und KI-Spezialist Karl H. Bläsius (2024) sieht insbesondere im Zusammenhang mit KI eine bedrohliche Entwicklung von nuklearen Waffensystemen. KI werde zur schnellen Erkennung angesichts immer schnellerer und schwieriger zu ortender Raketen mit nuklearer Trägerlast zwischengeschaltet, da die Menschen mit dem Vorgang des Wahrnehmens, Entscheidens und Befehlen in derart kurzer Zeit überfordert seien. Wenn aber KI letztendlich Ausschlag gebend für einen nuklearen Gegenangriff sei, dann bestehe die Gefahr eines ‚Atomkriegs aus Versehen‘. Die KI könne nie zu 100% sichere Aussagen treffen und verfüge auch nicht über moralische und ethische Maßstäbe so wie es bei verantwortlichen Menschen der Fall sein könnte.
Zusammenfassend lässt sich feststellen: Anstatt abzurüsten, wächst die Rüstungsspirale weiter. Hierbei bilden nachweisbar die USA, was den Umfang der Rüstungsausgaben betrifft, die treibende Kraft. Aber auch große Staaten wie China, Russland und Saudi-Arabien erhöhen ihre ohnehin hohen Rüstungsausgaben beständig offen oder verdeckt weiter. Die Ukraine sieht sich gezwungen, massiv aufzurüsten. Der russische Krieg in der Ukraine zeigt, wie sich ein Staat, hier Russland, aggressiv entwickelt, wenn er durch seine erheblichen Rüstungsinvestitionen sich im Zuge einer neoimperialistischen Ideologie, die mit völkischen Motiven unterlegt ist, mächtig genug fühlt, einen Nachbarstaat zu überfallen.
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Insbesondere die Gefahr eines nuklear ausgetragenen Konflikts wächst, wenn Nuklearwaffen weiter verbreitet und über die Entwicklung von Mini-Nukes bzw. im Sinne taktischer Atomwaffen einsetzbar erscheinen. Dies hat der Krieg in der Ukraine noch einmal deutlich vor Augen geführt. Hierbei wird derzeit aus der Verbindung von KI und modernisierten Waffensystemen eine besonders gefährliche Entwicklung eingeleitet, die auch bereits im Krieg in der Ukraine ihre Erprobung erfährt. Auch die Stationierung von Hyperschallraketen, die nuklear bestückbar sind, stellt in diesem Kontext eine besondere Gefahr dar.
Dies alles steht in einem Gegensatz zu den Bemühungen, über diplomatische Mittel, Kompromissfindung und im Sinne einer gemeinsamen globalen Perspektive den Frieden zu bewahren bzw. zu erreichen. Zudem fehlen diese Billionenbeträge der Menschheit für sinnvollere Ausgaben im Sinne einer hierfür zu verwendenden Friedensdividende im Abrüstungsfall, wie z.B. für die Bekämpfung der Klimakatastrophe, für präventive Reaktionen auf Hungerkatastrophen, für den Kampf um sauberes Wasser oder die Beseitigung globaler sozialer Ungerechtigkeit.
Anmerkungen Kapitel 1.4.1.2
[1] Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (Organization for Security and Cooperation in Europe, OSCE).
[2] Es wurde u.a. das Konfliktverhütungszentrum (KVZ) sowie das KSZE-Forum für Sicherheitskooperation (FSK) in Wien eingerichtet.
[3] Vgl. https://www.wdr.de/tv/applications/daserste/monitor/pdf/2017/manuskript-milliardenschwere-aufruestung.pdf, S.1, o.D., 5.4.2018.
[4] Vgl. ausführlicher Kap. 1.4.1.5.
[5] https://www.tagesschau.de/ausland/sipri-ruestungsausgaben-111.html, 27.4.20, 17.8.21
[6] In: http://www.rp-online.de/politik/ausland/ruestungsausgaben-steigen-weltweit-usa-spitzenreiter-aid-1.7550249, o.D., 2.5.18, vgl. Tab.1. sowie https://www.dw.com/de/sipri-deutschland-steigert-r%C3%BCstungsausgaben-deutlich/a-53231450, 26.4.20, 17.3.21.
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[7] Wurzel (2018).
[8] Vgl. Wurzel (2018).
[9] Vgl. hierzu Schiltz (2021).
[10] In: https://www.icanw.de/neuigkeiten/msc-abschreckungspolitik-treibt-welt-an-den-abrgund/, 15.2.2018, 3.3.2018.
[11] Vgl. hierzu Rötzer (2019).
[12] Vgl. Saalmann (2021)
[13] Vgl. https://motherboard.vice.com/en_us/article/a3nnaa/trump-tiny-nukesZitat, 5.3.2018.[14] In: https://www.telegraph.co.uk/news/2016/08/03/donald-trump-asked-why-us-cant-use-nuclear-weapons-if-he-becomes/, 5.3.2018.
[15] Vgl. Monroy (2021) und Wagner (2021)
[16] Vgl. für 2003: https://www.landmine.de/fileadmin/user_upload/pdf/Publi/broschuere2003.pdf, 24.7.2018 und im Vergleich für 2016: https://handicap-international.de/sites/de/files/faktenblatt_landminen_3-2016.pdf, 24.7.18.
[17] Der Abschnitt zu den Hyperschallwaffen ist an Moegling (2024b) orientiert.
[18] Vgl. https://www.welt.de/politik/ausland/article176090499/Iskander-Russland-stationiert-Raketen-in-Kaliningrad-Reichweite-bis-nach-Berlin.html, 5.5.2018., 22.1.2024.
[19] https://www.rnd.de/politik/nato-russische-hyperschallrakete-kinschal-ist-kaum-abzufangen-PERKBT3XRA5X6YQEG6DYAUFAJ4.html, 10.5.2022, 22.1.2024.
[20] Vgl. Rugalla, Lukas (2024): Masse statt „Wunderwaffe“? Wie Russland die Kinschal-Raketen im Ukraine-Krieg einsetzt. In: https://www.fr.de/politik/russland-kinschal-raketen-wunderwaffe-ukraine-krieg-angriff-putin-92757841.html, 4.1.2024, 21.1.2024.
[21] Vgl. u.a. folgende Quellen hierzu: https://www.thedrive.com/the-war-zone/43051/army-revives-cold-war-nuclear-missile-unit-to-deploy-new-long-range-weapons-in-europe, 10.11.2021, 21.1.2024;
https://www.imi-online.de/2021/12/16/die-neue-nachruestung/, 16.12.2021, 21.2.2024; https://www.hessenschau.de/panorama/hyperschallwaffen-in-mainz-kastel-der-kalte-krieg-kehrt-zurueck-nach-wiesbaden,airbase-kastel-hyperwaffen-100.html, 13.1.2022, 20.1.2021; https://www.fr.de/rhein-main/wiesbaden/wiesbaden-alte-befuerchtungen-91277511.html, 2.2.2022, 20.1.2024.
[22] Der Appell wurde von Bernhard Trautvetter zusammen mit den Erstunterzeichner*innen initiiert: https://www.change.org/p/gegen-die-atomare-bedrohung
[23] Aus: Bertha von Suttner "Die Waffen nieder", S.218 - Livi Verlag 2022 (mein Dank gilt Ulrike Koushan für den Hinweis auf dieses aussagekräftige Zitat.)
[24] Vgl. z.B. das US-amerikanische ‚Projekt Maven‘, bei dem laut New York Times und Taz Google-Mitarbeiter mit dem US-Verteidigungsministerium kooperieren: http://www.taz.de/Googles-Zusammenarbeit -US-Militaer/!5510134/, 3.6.2018.
[25] Vgl. den Beitrag von Conger/Cameron (2018).
[26] Adani (2018).
[27] https://www.icrac.net/icrac-statement-at-the-april-2018-ccw-gge/, 9.4.2018, 4.6.2018.
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Wechsel des Mediums:
Video-Vortrag:
Waffenexporte in Spannungsgebiete
https://www.youtube.com/watch?v=Te7QS0-oyns
1.4.1.3 Umwelt, Militär und Krieg
Ein über lange Zeit vernachlässigter Aspekt von Aufrüstung und militärischer Aktivitäten liegt in der massiven Umweltzerstörung, die weltweit durch das Militär und insbesondere während und nach Kriegen verursacht werden. Aber auch im Regelbetrieb militärischen Alltags und militärischer Übungen ist das Militär der größte institutionelle Emittent von Klimagasen. Zusätzlich sind die bei der Produktion von Waffen anfallenden Umweltzerstörungen und Emissionen hinzuzurechnen.
Die Vergiftung und Zerstörung der Umwelt mit schwerwiegenden Folgen für Menschen, Tiere und Pflanzen kommen erst jetzt am Rande der aktuellen Proteste der Umwelt- und der Friedensbewegung allmählich an die Öffentlichkeit. Doch der norwegische Friedensforscher Johan Galtung hat diesen Aspekt bereits 2004 weitsichtig thematisiert:
„Eine Sache ist der Schaden, der dem Ökosystem zugefügt wird, eine andere die Verstärkung des allgemeinen kulturellen Codes der Herrschaft über die Natur, die auch ein Teil des Vergewaltigungssyndroms ist. Unzählige Millionen von Menschen schauen sich nicht nur an, wie Menschen getötet und verwundet werden, sondern auch wie die Natur zerstört wird und in Flammen aufgeht. Der Krieg ist legitimiert, der Schaden, den er anrichtet, wird vielleicht beklagt, nicht jedoch seine Legitimation.“ [1]
Geschichte militärbedingter Umweltzerstörung
Die militärbedingten Eingriffe in die Umwelt und die legitimatorische Selbstverständlichkeit der Naturvernichtung im Rahmen von militärischen Konflikten und zur militärischen Nutzung fanden jedoch bereits vor Hunderten von Jahren statt. Ökologische Zerstörungen durch Militär wurden früher nur selten als Bedrohungen angesehen; ökonomische und geostrategische Zielsetzungen hatten Priorität. So kritisiert bereits z.B. der römische Naturkundler Plinius der Ältere im 1. Jahrhundert n. Chr. die Abholzung der Wälder und die Verwüstung der Landschaften in Italien, Spanien und Nordafrika, um für den Handel und den Krieg u.a. Holz, Kupfer und Eisenerz zu gewinnen:
„Man durchgräbt die Erde auf der Jagd nach Reichtum, weil die Welt nach Gold, Silber, Elektron und Kupfer verlangt – dort der Prunksucht zuliebe nach Edelsteinen und Färbemitteln für Wände und Holz, anderswo um des verwegenen Treibens willen nach Eisen, das bei Krieg und Mord sogar noch mehr geschätzt wird als das Gold.“ [2]
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Die Folgen dieser massiven Eingriffe in die Natur zeigen sich noch bis heute beispielsweise in der Verkarstung großer Teile der italienischen und spanischen Berglandschaft.
Später war der Kolonialismus mit weiteren Umweltzerstörungen und Eingriffen in ökologisch angepasste und funktionierende Systeme der Subsistenzwirtschaft verbunden: Indigene Bauern wurden in den eroberten Gebieten von ihrem Land vertrieben. Eine intakte Umwelt wurde oftmals aufgrund des militärischen Eingreifens der Kolonialmächte zu einer monokulturellen und einseitig ausgerichteten Plantagenwüste.
Die beiden Weltkriege verwandelten zahlreiche Regionen in eine zerstörte und mit Waffenresten verseuchte Landschaft.
Nach Schätzungen des Fraunhofer Instituts liegen ungefähr 1,6 Millionen Tonnen konventionelle Kampfmittel und ca. 200.000 Tonnen chemische Kampfmittel auf den Meeresböden der Ost- und Nordsee. Seeminen, Bomben, Giftgasgranaten rosten, werden porös und geben ihre giftige Ladung in die Umwelt frei, so dass über die Fische das Gift in die menschliche Nahrungskette gerät. [3]
Die beiden Atombombenabwürfe auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki im August 1945 bewirkten neben einer Viertelmillion Toten allein 1945 bis heute die radioaktive Verseuchung dieser Regionen sowie zahlreiche Krebstote und mit genetischen Defekten geborene Kinder.
Es wurden bereits 1961 Pflanzenschutzmittel in Vietnam nach Anordnung durch den US-amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy eingesetzt, um den Vietcong die Deckung im entlaubten Regenwald zu nehmen und deren Reisfelder zu zerstören. Ab Februar 1967 wurde das Pflanzengift ‚Agent Orange‘ zur Entlaubung des vietnamesischen Regenwalds und zur Zerstörung der Reisfelder des Vietcong im Rahmen des größten Chemie-Angriffs der Geschichte im Vietnam-Krieg eingesetzt. Das darin enthaltene Dioxin konnte bis heute nicht entfernt werden und ist für massive Krebserkrankungen und Gendefekte in Vietnam verantwortlich. Insgesamt wurden von der US-Armee 70 Millionen Liter Herbizide aus der Luft über Vietnam mit verheerenden Folgen für die Natur und die Gesundheit der Menschen versprengt. [4]
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Aktuelle Umweltzerstörung durch Militär und Krieg
Die ‚Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen‘ (ICAN), die 2017 den Friedensnobelpreis erhielt, geht von ca. 2000 Atomwaffentests mit der Sprengkraft von 29.000 Hiroshima-Bomben aus, die unter der Erde, im Wasser und über dem Boden durchgeführt wurden. Die Atomwaffenversuche sind verantwortlich für eine umfangreiche radioaktive Verseuchung verschiedener Regionen sowie heute für ca. 2,4 Millionen Krebstote. So führten die USA von 1945 – 1992 insgesamt 1032 Test durch. Von der Sowjetunion wurden allein in Semipalatinsk in der kasachischen Steppe zwischen 1949 und 1991 456 sowjetische Nuklearwaffentests durchgeführt. [5]
Niemand weiß allerdings genau, wie viel Millionen Menschen tatsächlich aufgrund insbesondere der überirdischen Tests an Krebs erkrankten und starben. Die Organisation ‚Internationale Ärzte für die Verhütung eines Atomkriegs‘ (IPPNW) setzt die Opferzahlen im Rahmen ihrer Studie ‚Bedrohung des Lebens durch radioaktive Strahlung‘ noch höher als ICAN an. Die vom Münchner Biochemiker Prof. Roland Scholz geleitete Studie kommt bereits 1997 zum Ergebnis,
„dass allein die äußere Strahlenbelastung durch den Bomben-Fallout weltweit 3 Millionen zusätzliche Krebstote bis zum Jahr 2000 verursachen könnte. Hinzu kämen die Folgen der Inkorporation von Radionukliden durch Nahrung und Atemluft. Durch diese interne Strahlung könne es noch zusätzliche 30 Millionen Opfer geben.“ [6]
Brennende Ölquellen im Zuge von militärischen Auseinandersetzungen im arabischen Raum, z.B. im Irak-Krieg, sorgten für eine massive CO2-Verschmutzung der Biosphäre. Ein weiteres Beispiel hierfür sind die brennenden Ölquellen Saudi-Arabiens im Rahmen des Jemen-Kriegs.
Aber insbesondere die 30-jährige Bombardierung des Iraks ist hier zu nennen, im Rahmen dessen Hundertausende von Einsätze von Kampfflugzeugen mit Tod bringender Bombenlast und massiver Umweltzerstörung erfolgten. Die USA und ihre Verbündeten töteten über 30 Jahre hinweg insgesamt 2,7 Millionen Menschen im Zuge des 2. und 3. Golfkrieges und den nachfolgenden Einsätzen und Maßnahmen, im Durchschnitt pro Tag 270 Menschen.[7] Des Weiteren kam es zu massiven ökologischen Schäden durch Bombardierungen, Anzünden von Ölanlagen sowie dem Einsatz von Uran-Munition (DU, depleted uranium) – so der Journalist Jacob Reimann (2021, o.S.):
„Am 24. Februar 1991 begannen die USA die Bodeninvasion Kuwaits und konnten innerhalb weniger Tage das gesamte Land zurückerobern. Auf dem Rückzug befindliche irakische Truppen setzten Dutzende Ölanlagen in Brand und öffneten kuwaitische Ölterminals, wodurch im Persischen Golf eine verheerende Umweltkatastrophe ausgelöst wurde. (…)
Die USA haben 1991 im Irak 320 Tonnen radioaktive DU-Munition verschossen. Die Krebsraten schossen in die Höhe. Wie schon bei der chemischen Kriegsführung der USA in Vietnam mittels Agent Orange werden auch von DU die Kleinsten am härtesten getroffen: In nur zehn Jahren kam es in Basra zu einer Versiebzehnfachung der Zahl von Missbildungen bei Neugeborenen. (….) Die USA haben durch ihre DU-Munition geradezu eine neuartige Klasse des menschlichen Elends und des Leids erschaffen.“
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Hierüber hinaus: Wenn US-Truppen ein besetztes Gebiet verlassen, hinterlassen sie oftmals ein ökologisches Desaster, das schwerwiegende Folgen für die Gesundheit der dort noch lebenden Menschen hat. Die US-Armee darf nach ihrem eigenen Statut keine Materialien zurücklassen, so dass alles, was nicht mitgenommen wird, in sogenannten ‚Burn-Pits‘ verbrannt wird. Das sind große Gruben, in denen u.a. Ölrückstände, chemischer Abfall, Sprengstoff, Batterien, Farbe, Autowracks in Flammen aufgehen. Die Feuer brennen oft noch Wochen, nachdem die US-Truppen sich zurückgezogen haben. Durch die entstehenden Emissionen werden Giftpartikel in die Umwelt ungefiltert herausgelassen, was seine Auswirkung auf die Menschen und die Umwelt hat. Das Grundwasser wird verseucht, Krebs- und Lungenerkrankungen und vermehrte Fehlgeburten treten im Umfeld der ‚Burn-Pits‘ auf. Auch diejenigen, die das Feuer anfachen, die US-Soldaten, haben eine erhöhte Krebsrate und Lungenerkrankungen. [8]
Doch nicht nur im Irak wurde Uran-Munition eingesetzt. Auch die u.a. im ehemaligen Jugoslawien von der NATO verwendete Uran-Munition vergiftete die Umwelt und sorgte dort für radioaktiv verstrahlte Gebiete. Radioaktive Munition wurde auch im Irak und heute in Syrien eingesetzt, insbesondere für Panzer brechende Angriffswaffen. Als Folge kommen gehäuft Kinder mit massiven Missbildungen auf die Welt, sind oft nicht überlebensfähig.
Die langjährig in Damaskus akkreditierte Korrespondentin Karin Leukefeld berichtet über die Gesundheitsfolgen von Uranmunition aus abgereicherten Uran, das – neben seiner unmittelbar zerstörerischen Wirkung – hochgiftig für Umwelt, Tiere und Menschen, auch für zukünftige Generationen, ist:
„Die Folgen der von den USA und ihren Verbündeten in mehreren Golfkriegen eingesetzten abgereicherten Uranmunition haben noch heute die Familien im Südirak und westlich von Bagdad, in Falluja zu tragen. Unzählige Kinder werden tot oder mit schweren Missbildungen geboren: mit offenem Rücken, zusammengewachsenen Beinen, außenliegender Blase, einem Auge oder auch gar keinem Auge, offenen Schädeln, um nur einige Beispiele zu nennen.“ [9]
Auch in Syrien wird Uranmunition eingesetzt. Hierbei verbrennt bei einem Beschuss das Uran bei bis zu 5000 Grad Celsius zu Nanopartikeln, die 100 Mal kleiner als rote Blutkörperchen sind, und fällt als radioaktiver Feinstaub zu Boden, der die Umwelt kontaminiert. [10]
Der russische Überfall und der Krieg in der Ukraine ab dem Februar 2022 brachten ebenfalls massive Mitweltzerstörungen mit sich, welche die Menschen, die Gebäude und die Infrastruktur sowie die Biosphäre betreffen. Tausende Detonationen durch Bomben- und Raketenangriffe, Sprengungen, explodierende Treibstofflager, die Gefahr des Austritts von Radioaktivität durch angegriffene Atomkraftwerke, umfangreiche CO2-Emissionen durch das Betreiben tausender Militärfahrzeuge und Kampfjets, zerstörte Landschaften und vermintes Gelände sind das Ergebnis dieses Krieges.
In einer Studie von de Klerk et al (2023) wurde ermittelt, dass innerhalb eines Kriegsjahres in der Ukraine von beiden Kriegsparteien ungefähr soviel CO2-Emissionen emittiert wurden wie im gleichen Jahr insgesamt in Belgien. Es handelte sich hierbei um 119 Millionen Tonnen CO₂-Äquivalente. [11]
Stuart Parkinson und Linsey Cottrell (2022) fassen des Weiteren ihre Studie zur Klimaschädigung durch Militär und Kriege wie folgt zusammen:
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„If the world’s militaries were a country, this figure would mean they have the fourth largest national carbon footprint in the world – greater than that of Russia. This emphasises the urgent need for concerted action to be taken both to robustly measure military emissions and to reduce the related carbon footprint – especially as these emissions are very likely to be growing in the wake of the war in Ukraine.“ [12]
Susanne Aigner (2022) fügt in ihrem Bericht über die ökologischen Folgen des Ukraine-Kriegs diesen Schäden und Zerstörungen noch eine weitere Bedrohung hinzu:
„Daneben gibt es noch andere Arten radioaktiver Verseuchungen, eine geht auf den Krieg im Donbass zurück: Seit Kriegsbeginn 2014 wurden dort die alten Kohleschächte nicht mehr ordnungsgemäß ausgepumpt und gewartet. Infolge dessen wurden rund 200 Minen überflutet, die teilweise mit nuklearen Sprengungen gegraben wurden, so dass sich Chemikalien wie Quecksilber und Arsen im Grundwasser ausbreiten. Wie Messungen des ukrainischen Umweltministeriums bereits 2016 ergaben, lagen in der gesamten Region die Strahlungswerte in den Brunnen um ein Zehnfaches über dem Grenzwert.“ [13]
Olena Melnyk und Sera Koulabdara (2024) gehen davon aus, dass ca. ein Drittel des ukrainischen Bodens durch den Krieg mit giftigen Stoffen wie Blei, Kadmium, Arsen und Quecksilber kontaminiert ist. Böden und ihr fruchtbarer Anteil würden über Tausenden von Jahren gebildet und nun innerhalb weniger Jahre im Krieg vergiftet und unbrauchbar für die Landwirtschaft gemacht. [14]
Der Krieg in der Ukraine hinterlässt eine zerstörte Mitwelt, für welche die Russische Föderation Milliarden Euro Reparationen zu zahlen hat, wobei dann letztlich hier nur der oberflächliche Schaden reparierbar wäre. Die tiefen Eingriffe in die menschliche Gesundheit aufgrund der eingeatmeten Emissionen, des Trinkens belasteten Wassers und der zu ertragenden Strahlung sind nicht mit Geld bezahlbar.
Der ungarische Klimaforscher Bálint Rosz (2025) fasst die durch den Krieg in der Ukraine verursachten CO2-Emissionen der ersten zwei Jahre des Ukraine-Kriegs bis zum Februar 2024 zusammen und vergleicht dies mit
jährlichen Emissionen von 90 Millionen Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor:
"As more and more experts are trying to point out, the Russia-Ukraine war is also causing significant environmental and climate damage. The latter could be a particularly worrying development, as human civilisation itself is fighting its own war on climate change. According to preliminary estimates by De Klerk and colleagues, during the first 24 months of the war (from 24 February 2022 to 23 February 2024), military activities and the destruction of related infrastructure resulted in significant excess greenhouse gas (GHG) emissions, further exacerbating global climate change. Cumulative emissions over this period are estimated to be around 175 million tonnes of carbon dioxide equivalent (tCO2e), equivalent to the annual emissions of an advanced industrialised country."
Aber das Militär ist nicht nur im militärischen Einsatzfall, also im Krieg, sondern auch im militärischen Alltagsbetrieb, d.h. in noch kriegsfreien Regionen, einer der größten globalen Umweltverschmutzer. So schreibt Markus Gelau (2018) am Beispiel des US-Militärs:
„Offiziell werden auf den weltweit 1.000 Militärbasen täglich 320.000 Barrel Öl verbraucht. Hauptsächlich verursacht durch die sich ständig im Einsatz befindlichen 285 Kampf- und Versorgungsschiffe der US-Navy. Ebenso rund 4.000 Kampfflugzeuge, 28.000 gepanzerte Fahrzeuge, 140.000 sonstige Fahrzeuge, über 4.000 Hubschrauber, mehrere Hundert Transportflugzeuge und 187.493 Transportfahrzeuge (alle Zahlen aus 2012).
Zudem werden ausgemusterte Schiffe samt hochgiftiger Ladung zumeist nicht fachgerecht abgebaut und entsorgt, sondern auf hoher See einfach mit Torpedos und Raketen bombardiert und versenkt. Mindestens 109 Mal soll dies zwischen 1999 und 2012 so praktiziert worden sein. Nur 64 Schiffe wurden im selben Zeitraum verschrottet und recycelt“. [15]
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Allein in den USA gibt es im Kontext militärischer Übungsgelände nach Pentagon-Angaben ca. 39.000 verseuchte Gegenden, deren Dekontaminierung Hunderte Milliarden Dollar kosten würde. [16]
Auch Deutschland ist beispielsweise von dieser Problematik nicht ausgenommen. Das zeigen die massiven Waldbrände auf dem ehemaligen Übungsgelände der DDR-Armee und der Bundeswehr mit der damit verbundenen Gefahr weiterer explodierender Munition in Mecklenburg-Vorpommern sowie die immer noch auftretenden Bombenfunde in deutschen Großstädten.
Der Friedens- und Umweltaktivist Bernhard Trautvetter sieht das weltweite Militär als einen der gefährlichsten institutionellen Klimaschädiger an, das bereits im Normalbetrieb massive Schäden verursacht – ganz abgesehen vom Kriegsfall:
„Ein Eurofighter verbrennt pro Flugstunde circa 3.500 kg Treibstoff, wobei circa 11 Tonnen CO2 entstehen. (…) Ein Panzer verbraucht je nach Gelände pro 100 km circa 500 Liter Treibstoff.“ [17]
Man geht von Klimaschädigungen allein des US-Militärs in einer Größenordnung dreier Staaten aus – so das Ergebnis einer Anfrage von Wissenschaftlern an die ‚Defense Logistic Agency‘:
„Die Wissenschaftler ermittelten auf Basis dieser Daten, dass die US-Streitkräfte, wenn sie ein Nationalstaat wären, der 47. größte Emittent von Treibhausgasen in der Welt wären, wenn man nur die Emissionen aus der Kraftstoffnutzung berücksichtigen würde. Damit würde das US-Militär alleine mehr Emissionen verursachen als Portugal, Schweden oder Dänemark.
Im Jahr 2017 benötigte das US-Militär jeden Tag etwa 42,9 Millionen Liter Öl, dabei wurden mehr als 25 Millionen Tonnen Kohlendioxid emittiert. Die US-Luftwaffe kaufte im selben Jahr Treibstoffe im Wert von 4,9 Milliarden US-Dollar, die Marine 2,8 Milliarden US-Dollar, gefolgt von der Armee mit 977 Millionen US-Dollar und den Marines mit 36 Millionen US-Dollar, wodurch mehr klimawirksame Gase emittiert wurden als von den meisten mittelgroßen Länder.“ [18]
In einer Studie von Dr. Start Parkinson (Scientists for Global Responsibility) wurde nicht nur von den direkten CO2-Emissionen beim Transport und bei Übungen ausgegangen, sondern es wurden auch die Emissionen bei der Waffenproduktion, dem Bau der Infrastruktur und den Lieferketten einbezogen. Für die mit Abstand größte Armee berechnete Parkinson für das Jahr 2017 340 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente, und dies dürfte derzeit nicht weniger geworden sein. Für die globale Situation berechnete Parkinson, dass 5,5% der der weltweiten CO2-Emissionen auf das Militär aller Nationen zurückgehen. Hierbei ist der Kriegsfall noch nicht einberechnet. Man kann also annehmen, dass der Prozentsatz der weltweiten CO2-Emissionen, die durch Militär verursacht werden, wesentlich höher ist. [19]
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Parkinson (2020) resümiert die notwendigen Konsequenzen anhand seiner Ergebnisse zum ökologischen Fußabdrucks des Militärs wie folgt:
„The key to real reductions in military carbon emissions is thus to shrink the huge military budgets around the world – which totalled more than $1,800 billion in 2018. (…) And the key to shrinking these budgets is to reduce military tensions. So, rather than looking for new, lower carbon ways to fight wars, our governments should be prioritising measures such as diplomacy, international disarmament treaties, fair trade, poverty alleviation and, of course, reductions in carbon emissions right across the economy. Only then can we confidently achieve a more secure world.“
Ein weiteres Problem stellt sich mit der ökologischen Kontaminierung durch Landminen dar. Die Vereinten Nationen schätzen, dass in den vergangenen Jahrzehnten mehr als 100 Millionen Landminen in über 70 Ländern gelegt wurden. [20] Derartige Gegenden z.B. im ehemaligen Jugoslawien, in der Demokratischen Republik Kongo, in Vietnam, Kambodscha oder Tschetschenien sind somit Kampfmittel verseucht und langfristig weder für Wohnungsbau oder Landwirtschaft nutzbar, da deren Beseitigung teuer und auch nur über einen längeren Zeitraum hinweg Schritt für Schritt erfolgen kann.
Zum gemeinsamen Interesse von Umwelt- und Friedensbewegung
Diese Bilanz könnte mit zahlreichen weiteren Beispielen (Einsatz von Streumunition durch Saudi-Arabien im Jemen, Fassbomben des syrischen Militärs, gesunkene sowjetische Atom-U-Boote in der Ostsee, CO2-Emissionen durch Militärbewegungen zu Luft und am Boden …) fortgeführt werden und zeigt:
Die Umwelt- und Friedensbewegung haben einen gemeinsamen substanziellen Schnittpunkt. Die Forderung nach einer Beendigung der Umweltzerstörung durch Militär und Kriege sollte sowohl von der Umweltbewegung als auch der Friedensbewegung als zentrale Forderungen an die Politik adressiert werden.
Diese Einschätzung wird nochmals dadurch unterstützt, dass das Militär nicht nur Ursache von Klimaschädigung ist, sondern auch die eintretende und in einem Zusammenhang mit kapitalistischen und geostrategischen Interessen stehende [21] Klimakrise wiederum die weitere Ursache für militärisch auszutragende Konflikte und die Zerstörung politischer Systeme gerade in den ärmeren Regionen der Welt sein wird – so Michael T. Klare (2015), Professor für Frieden und Weltsicherheit am Hampshire College in Massachusetts:
„Die stärksten und reichsten Staaten, insbesondere in den gemäßigteren Klimazonen, dürften mit diesen Belastungen besser zurechtkommen. Hingegen wird die Zahl der gescheiterten Staaten wohl dramatisch anwachsen, was zu gewaltsamen Auseinandersetzungen und regelrechten Kriegen um die verbleibenden Nahrungsquellen, landwirtschaftlich nutzbaren Böden und bewohnbaren Flächen führen wird. Große Teile des Planeten könnten also in Zustände wie jene geraten, die wir heute in Libyen, Syrien und dem Jemen vorfinden. Manche Leute werden bleiben und um ihr Überleben kämpfen; andere werden abwandern und so gut wie sicher auf wesentlich gewaltsamere Formen jener Feindseligkeit stoßen, die Einwanderern und Flüchtlingen in ihren Zielländern heute schon entgegenschlägt. Somit würde es unausweichlich zu einer weltweiten Epidemie von Bürgerkriegen und anderen gewalttätigen Auseinandersetzungen um Ressourcen kommen.“ [22]
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Dies bedeutet demnach, dass die weltweiten Militäraktivitäten sowohl Ursache als auch Folge von Umweltzerstörung sein können.
Dementsprechend fordert der Friedensaktivist Karl-Heinz Peil (2019, 13) (Bundesausschuss Friedensratschlag): „Für die Friedensbewegung gilt es (…), dass nur durch drastische Abrüstung globale Nachhaltigkeit und Ressourcenschutz ermöglicht wird.“ [23]
Dies gilt genauso für die Umweltbewegung, welche die ökologische Gefährdung von Seiten des Militärs sowohl in Friedens- als auch in Kriegszeiten deutlicher in ihren Aufmerksamkeitsfokus nehmen müsste. Wenn eine Aufrüstung Deutschlands und der EU im Sinne der NATO-Anforderungen (2% des BIP für Militärausgaben) vollzogen wird, dann fehlt dieses Geld für die existenziell notwendige Bekämpfung der Klimakrise – so der internationale Friedensnetzwerker Rainer Braun und der Umweltpolitiker Michael Müller (2018):
„Wir leben aber in einem unfertigen Frieden, in dem soziale Unterschiede und ökologische Risiken zunehmen. Hunger, Elend und Umweltzerstörung erzeugen eine Gewalt, die Kriege auslösen kann. Zusätzlich fast 30 Milliarden Euro fürs Militär würden der Modernisierung der Infrastruktur, dem sozialen Wohnungsbau, der Entwicklungszusammenarbeit oder im Kampf gegen den Klimawandel fehlen.
Geld muss in die 17 Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 und das Pariser Klimaabkommen fließen, um die Erderwärmung möglichst nahe bei 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Das sind Investitionen, die für den Frieden unverzichtbar sind.“ [24]
In diesem Zusammenhang ist auch die Frage der Finanzierung einer Beseitigung der durch Militär verursachten Umweltschäden zu stellen. Hierzu müssten – neben den verursachenden Kriegsparteien – auch die Produzenten in der Rüstungsindustrie herangezogen werden. Gerade für die Rüstungsindustrie ist ja nicht vertretbar, dass eine Privatisierung der (erheblichen) Gewinne bei gleichzeitiger Vergemeinschaftung der Kosten auf den Staat und den Steuerzahler hin erfolgt. Eine derartige Externalisierung von Kosten und die Internalisierung von Gewinnen in der Rüstungsindustrie sind nicht mehr länger hinnehmbar. Es ist überhaupt nicht einsichtig, warum beispielsweise die Hersteller von Tellerminen nicht auch für deren Beseitigung und für Schadensersatzforderungen der Opfer aufkommen sollten.
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Vor allem die Ausklammerung des Militärs als Klimaschädiger aus dem Kyoto-Protokoll und dem Versuch, dies auch in den Pariser Verträge in der Unverbindlichkeit zu belassen, insbesondere auf Druck der USA [25], verweist des Weiteren auf die internationale Dimension der Problematik. Hier sind die Vereinten Nationen gefragt, die Umweltproblematik im Zusammenhang mit dem Militär und den Kriegseinsätzen verbindlicher in den Bestand der internationalen Klima-Verträge aufzunehmen. Dies dürfte ihnen leichter fallen, wenn ein entsprechender zivilgesellschaftlicher Druck, z.B. über die Fridays-for-Future-Bewegung und die Ostermarsch-Bewegung bzw. weitere Aktivitäten der Friedensbewegung aufgebaut wird.
Insbesondere sollte hierbei auf das Missverhältnis von Militärausgaben und Investitionen in den Umweltschutz aufmerksam gemacht werden, welches Ausdruck eines problematischen Bewusstseinsstand der politisch Herrschenden ist und natürlich auch den Interessen der Rüstungsindustrie entgegenkommt. Der Friedensaktivist Bernhard Trautvetter (2019a) hat dies für Deutschland eindrucksvoll in Zahlen dokumentiert:
„Auch in Deutschland wird die indirekt umweltgefährdende Wirkung der Rüstung schon beim Blick auf den Bundeshaushalt unmittelbar klar: Der Ansatz für die sogenannte Verteidigung erreichte 2019 einen neuen Rekord, indem er sprunghaft von circa 38,5 Milliarden Euro auf 43,2 Milliarden Euro anstieg. Der Ansatz für Umwelt, Naturschutz und sogenannte nukleare Sicherheit stieg von knapp 2 Milliarden Euro auf knapp 2,3 Milliarden Euro. Das Verhältnis von Militärausgaben und dem Etat, der unter anderem die Kosten für Umwelt aufführt, beträgt circa neunzehn zu eins.“
An die Wahlbürger_innen ist entsprechend zu appellieren: Keine Partei mehr zu wählen, die sich nicht ökologisch eindeutig positioniert; keine Partei mehr zu wählen, die für die Ausweitung des Rüstungsetats und des Waffenhandels eintritt, auch wenn dies mit dem Arbeitsplatzargument unterstützt wird; keine Partei zu wählen, die bereit ist, sich an völkerrechtswidrigen Kriegen zu beteiligen, die immer sowohl gegen die Menschen als auch gegen die Umwelt gerichtet sind.
Des Weiteren: Wenn die erstarkende internationale Umweltbewegung, die derzeit vor allem von der jüngeren Generation getragen wird, über den Zusammenhang zwischen Militär, Krieg und Umweltzerstörung Kontakt zur Friedensbewegung aufnimmt, sich mit dieser vernetzt, dann wird ihre langfristige gesellschaftliche Relevanz weiterhin zunehmen. Wenn dann auch noch der Zusammenhang zwischen der vorwiegend durch ein ungebremstes Profitstreben und durch geostrategische Interessen ausgelösten Umweltzerstörung, gewalttätig ausgetragenen Verdrängungskonflikten und der Migration von fliehenden Menschengruppen thematisiert wird, dann könnte langfristig einer derartigen gesellschaftlichen Bewegung möglicherweise noch eine größere systemische Bedeutung zukommen, als dies bei der 1968er-Bewegung der Fall war.
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Anmerkungen zum Kapitel 1.4.1.3
[1] Galtung (2004).
[2] Sonnabend (2010).
[3] Vgl. Fraunhofer Institut (2018).
[4] Vgl. Langels, Otto (2017): Der größte Chemieangriff der Geschichte. https://www.deutschlandfunkkultur.de/agent-orange-im-vietnamkrieg-der-groesste-chemie-angriff.932.de.html?dram:article_id=378270, 7.2.17, 9.7.19.
[5] Vgl. ICAN (o.J.).
[6] Aus: https://www.ippnw.de/atomwaffen/humanitaere-folgen/atomtests/artikel/de/millionen-krebstote-durch-atomtests.html, ohne Datum, 13.7.2019.
[7] Vgl. Reimann (2021)
[8] Vgl. hierzu Leukefeld (2019, 162f.)
.[9] Leukefeld (2019, 163).
[10] Vgl. Leukefeld (2019, 164) über eine von Frieder Wagner vorgenommene Analyse der
Wirkungsweise Uranmunition.
[11] Vgl. de Klerk, Lennard et al (2023), in: https://climatefocus.com/wp-content/uploads/2022/11/clim-damage-by-russia-war-12months.pdf, 1.6.2023, 25.6.2023.
[12] Parkinson, Stuart/Cottrell, Linsey (2022): Estimating the Military’s Global Greenhouse Gas Emissions. In: https://www.sgr.org.uk/publications/estimating-military-s-global-greenhouse-gas-emissions, 10.11.2022, 6.3.2024.
[13] Vgl. Aigner, Susanne (2022): Krieg in der Ukraine schädigt die Umwelt nachhaltig. In: Info-sperber, Krieg in der Ukraine schädigt die Umwelt nachhaltig - https://www.infosperber.ch/umwelt/luft-klima/krieg-in-der-ukraine-schaedigt-die-umwelt-nachhaltig/, 16.5.2022, 16.5.2022.
[14] Olena Melnyk/Sera Koulabdara (2024): Kriegsfolgen: Ein Drittel der ukrainischen Fläche sind bereits vergiftet. In: Telepolis, https://www.telepolis.de/features/Kriegsfolgen-Ein-Drittel-der-ukrainischen-Flaeche-ist-bereits-vergiftet-9643928.html?seite=all, 2.3.2024, 2.3.2024.
[15] Gelau (2018).
[16] Vgl. Braun (2019, 4).
[17] Vgl. Trautvetter (2021, o.S.)
[18] Vgl. Krebs (2019)
[19] Vgl. hierzu die von Anika Limbach referierten Studienergebnisse von Parkinson unter: https://www.freitag.de/autoren/anika-limbach/klimabilanz-von-kriegen-wie-hoch-sind-die-globalen-co2-emissionen-des-militaers, 22.6.2023, 23.6.2023.
Die Studie von Parkinson findet sich unter: Article from Responsible Science journal, no.2; advance online publication: 8 January 2020, https://www.sgr.org.uk/resources/carbon-boot-print-military-0, 8.1.2020, 26.6.2023.
[20] In: https://handicap-international.de/sites/de/files/faktenblatt_landminen_3-2016.pdf, 12/2015, 30.11.2019.
[21] Vgl. ausführlicher zum Zusammenhang von Kapitalismus und Klimazerstörung bei Klein (2012, 2019).
[22] Klare (2015).
[23] Peil (2019).
[24] Braun/Müller (2018), vgl. hierzu auch den von Michael Müller (Vorsitzender der Naturfreunde Deutschlands, NFD) im Dezember 2018 gehaltenen Vortrag auf dem 25. Friedensratschlag in Kassel (Müller 2019).
[25] Vgl. Braun (2019): a.a.O., 3.
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1.4.1.4 Asymmetrische Kriegsformen und die ‚Neuen Kriege‘
Parallel zu den traditionellen Kriegen, bei denen sich einzelne Staaten bzw. Staatenallianzen gegenseitig bekämpfen (‚symmetrische Kriege‘), finden seit geraumer Zeit veränderte Formen kriegerischer Auseinandersetzung statt. Terroristische Anschläge, Guerillakriege, Cyber-Attacken, Bürgerkriege, die Bevölkerung ausbeutende und beherrschende Regime von Warlords sowie rassistisch-religiöse Ausschreitungen führen zu dauerhaften militärischen Auseinandersetzungen nicht nur in den Peripherien, sondern auch zunehmend in den kapitalistischen Metropolen. Der Krieg kommt mit einem veränderten Gesicht in die Wohlstandzonen auch in Form terroristischer Bedrohung und durch Massenfluchten wieder zurück.
Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler (2014) unterscheidet zwischen symmetrischen und asymmetrischen Kriegen. Der klassische Staatenkrieg, bei dem im Auftrag eines territorial eingrenzbaren Nationalstaates Armeen gegeneinander antreten, die tendenziell mit gleichen Militärstrategien vorgehen und an den gleichen militärischen Prinzipien, z.B. dem Versuch in einer Entscheidungsschlacht den Gegner zu besiegen, orientiert sind, wird als symmetrischer Krieg bezeichnet. Asymmetrische Kriege sind durch die Ungleichheit hinsichtlich der militärischen Strategie, durch den gravierenden Unterschied in der militärischen Stärke sowie das Unterlaufen der Regelungen des Westfälischen Friedens gekennzeichnet, der auf symmetrische Konflikte ausgerichtet ist und z.B. auch zwischen einen Umgang mit Kombattanten (Armeeangehörigen) und Nicht-Kombattanten (Zivilbevölkerung) mit Regelungen für den Kriegsfall unterscheidet. Münkler (2002, 2004) prognostiziert für das 21. Jahrhundert vor allem drei Typen gewalttätiger Auseinandersetzungen, die bereits jetzt zunehmend neben die traditionellen Kriegsformen treten und als ‚asymmetrische‘ Kriege zu bezeichnen sind:
„Ressourcenkriege an der Peripherie“: An den Rändern der Wohlstandszonen entwickeln sich lokale bis regionale Konflikte, bei denen Warlords mit ihren Söldnern in Verbindung mit international organisierter Kriminalität einerseits und multinationalen Konzernen andererseits die militärische Gewalt über ein eingegrenztes Gebiet erkämpfen, um die dort befindlichen Rohstoffe, wie z.B. Diamanten, Erdöl oder Tropenhölzern, auszubeuten. Gleichzeitig wird hierbei die heimische Bevölkerung unterworfen und in die Arbeitssklaverei gedrängt, um die Profite, die aus dem Verkauf der Rohstoffe resultieren, noch zu erhöhen. Als Beispiel hierfür können Diamantenminen im Kongo sowie der Opiumanbau in von den Taliban beherrschten Regionen in Afghanistan genannt werden.
Ressourcenkriege sind nur schwierig mit Hilfe der bisherigen Mittel auszutrocknen und zu beenden, da Sanktionen oftmals auf die Zivilgesellschaft der betroffenen Region verlagert werden und Ressourcenkriege in der Regel mit der globalen Schattenwirtschaft verbunden sind – so Münkler (2004, 1):
„Diese Ressourcenkriege finanzieren sich durch so genannte offene Kriegsökonomien, also ihre Verknüpfung mit den Kapital- und Warenströmen der Weltwirtschaft. Die Folge dessen ist, dass diese Kriege nicht infolge wirtschaftlicher Erschöpfung zu Ende gehen bzw. die an ihnen Beteiligten mit wachsender Erschöpfung friedensbereit werden, sondern der auf kleiner Flamme geführte Krieg (low intensity war) selbst das ökonomische Schwungrad darstellt.“
Oftmals geben die kriminellen Banden sich einen legitimen Anstrich, indem sie religiöse oder andere kulturelle Differenzen bzw. entsprechende Diskriminierungen als Beweggrund ihrer Aktivität ideologisch vorgeben.
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„Pazifizierungskriege“: Hierbei wird sich von Seiten der Wohlstandsmächte, vor allem den USA bzw. von den USA angeführten Allianzen, in regionale Konflikte, z.B. auch in Ressourcenkriege, eingemischt. Auch die Verhinderung der Proliferation von ABC-Waffen kann als Ziel von Pazifizierungskriegen vorgegeben werden. Die Gründe für Pazifizierungskriege hierfür können in ökonomischen und geostrategischen Interessenslagen angesiedelt, aber auch menschen- und völkerrechtlich begründet sein. Oftmals besteht eine Vermischung verschiedener Interessenlagen.
Der zweite Irak-Krieg ist ein Beispiel für einen Pazifizierungskrieg. Hier wurde – neben massiven Menschenrechtsverletzungen gegen die irakischen Kurden – der Bau bzw. der nahende Besitz von Atomwaffen durch den Irak als Grund für die Intervention eines von den USA geführten Bündnisses in den Irak angeführt.
Die Behauptung einer atomaren Bedrohung stellte sich später als eine Lüge der durch George W. Bush geführten US-Regierung dar. Derartige Behauptungen dienten dazu, eine Allianz zu schmieden und hiermit ökonomische Interessen der Rüstungsindustrie, Interessen der Ölindustrie und hegemoniale Interessen der USA im arabischen Raum zu realisieren.
Pazifizierungskriege sind aufgrund der mangelnden Popularität in der eigenen Bevölkerung, der fehlenden Bereitschaft in postheroischen Gesellschaften, Tote und Verwundete zu riskieren, und aufgrund der hohen Kosten in der Regel nur von kurzer Dauer. Daher können Ressourcenkriege durch sie oftmals kaum beendet werden, bzw. sie führen dann nur dazu, die Machtkonstellationen in dem betroffenen Raum zu verändern. So führte der zweite Irak-Krieg zur Verdrängung der Sunniten von der Macht zugunsten einer durch Schiiten dominierten Zentralregierung. Dies war wiederum u.a. der Anlass, dass sich die Terrororganisation Islamischer Staat (IS, vormals ISIS) im Irak und dann auch in Syrien gründete, deren militärischer Kern sich u.a. aus einem Teil der sunnitischen Soldaten des ehemaligen und vom CIA ursprünglich in den Sattel gehobenen Regimes von Saddam Hussein zusammensetzte.
„Verwüstungskriege gegen den Norden“: Hier handelt es sich vor allem um den Krieg terroristischer Organisationen gegen die wohlhabende OECD-Welt. Allerdings sind hierunter m.E. auch terroristische Angriffe z.B. in Russland durch tschetschenische Untergrundorganisationen oder der terroristische Angriff auf das World Trade Center in 9/11 zu verstehen. Im Unterschied zu Partisanenkriegen können sich Terroristen in der Regel nicht auf den Schutz der Zivilbevölkerung verlassen, sondern nutzen die moderne mediale Infrastruktur und die modernen Transportmittel in klandestiner Weise, um ihre terroristischen Aktivitäten zu realisieren. Als ideologische Legitimation dienen derartigen Organisationen, wie z.B. dem IS oder den Taliban, kulturelle bzw. religiöse Begründungen. Reale Gründe für derartige terroristische Aktivitäten dürften allerdings eher ein Gemisch aus religiösen, machtpolitischen und ökonomischen Interessen sein.
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Terroristische Organisationen greifen in Gruppen oder zunehmend häufiger auch über von ihnen motivierte Einzeltäter z.B. Fußgängerzonen, Flugzeuge oder Urlaubszentren an, um Angst in der Bevölkerung der reichen Länder des Nordens zu verbreiten: Hierdurch solle u.a. ein Rückzug von Truppen z.B. im Rahmen von Pazifizierungskriegen erreicht werden – so Münkler (2004, 3):
„Was sie aber eigentlich angreifen, ist die labile psychische Infrastruktur vor allem der westlichen Welt, über die sie den politischen Willen des angegriffenen Landes ermatten und erschöpfen wollen. Dabei setzen sie vor allem auf die psychischen Effekte der Gewalt, also den Schrecken, der umso intensiver verbreitet wird, je größer die mediale Dichte des angegriffenen Landes ist.“
Diese Dreiteilung bereits vorhandener und in Zukunft sich noch verstärkender ‚Neuer Kriege‘ hat eine hohe Plausibilität. Jedoch werden die ‚neuen Kriege‘ traditionelle Kriegsformen und Kriegsallianzen nicht vollständig ablösen. Oftmals wird es auch eine Mischform zwischen traditionellen und neuen Kriegen geben. Dies zeigt sich exemplarisch am Krieg zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine. Neben einem – kaum für möglich gehaltenen – Überfall eines Staates auf einen angrenzenden Staat im Sinne eines traditionellen Krieges werden hier genauso Formen ‚Neuer Kriege‘ im Sinne Münklers praktiziert. Cyber-Angriffe, Desinformationskampagnen, Einsatz von Guerilla-Gruppen, Raketenterror sowie kämpfende Söldner-Armeen führen zu einer aggressiven Mischung innerhalb eines kaum noch zu kontrollierenden militärischen Konflikts.
Zu den drei von Münkler skizzierten neuen Kriegsformen treten zudem echte Befreiungskriege, in denen sich die Mehrheit einer Bevölkerung gegen diktatorische Regime auflehnt und erst über den Partisanenkrieg, dann über den massenhaften zivilgesellschaftlichen Widerstand sowie letztlich dem Wegfall der Unterstützung des Regimes von Seiten des Militärs zu einem politischen Systemwechsel gelangt. Mit dem globalen Zunehmen autokratischer und diktatorischer Regime ist eine Zunahme von Befreiungskriegen, z.T. auch in Verbindung mit internationalen militärischen Interventionen zu erwarten. Vor allem, wenn die in der UN-Charta verankerte Nichteinmischung in die staatliche Souveränität durch ein Recht der UN und von der UN beauftragter militärischer Allianzen ersetzt wird, bei massiven Verstößen gegen die Menschenrechte in diktatorische Regimes einzugreifen, sind vermehrt regionale und nationale Befreiungskriege im angesprochenen Sinne und deren Erfolge mit Unterstützung UN-geführter und demokratisch kontrollierter Weltpolizeikräfte mit robustem Mandat zu erwarten. [1] Dieser vierte Typ (‚Befreiungskrieg‘) ist menschenrechtlich und völkerrechtlich selbstverständlich anders zu bewerten, als die anderen drei von Münkler dargestellten Typen der Kriegsführung.
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Problematisch wird es aber, wenn sich eine selbsternannte internationale Militärallianz im eigenen geostrategischen Interesse als Befreiungsarmee aufspielt, um Widerstandsbewegungen zu unterstützen bzw. Autonomiebewegungen zu bekämpfen. Im Jemen, in Syrien und in Libyen finden wir asymmetrische Konfliktlinien vor, bei denen eine Mischform von Guerilla-Krieg, Terrorismusbekämpfung, staatlicher Selbstbehauptung und Stellvertreterkrieg zu einer verheerenden Lage für die Zivilbevölkerung führt.
Die völkerrechtliche Problematik von Geheimarmeen und Interventionen ausländischer Geheimdienste
Auch die Existenz von Geheimarmeen in der Nachkriegszeit in Europa, die von der CIA, der Nato in Verbindung mit rechtsgerichteten Politikern und Gruppierungen, z.B. ‚Ordine Nuovo‘ in Italien, in Westeuropa gegen den Kommunismus aufgebaut wurden, stellt eine Variante asymmetrischer Konflikte dar.
Die Geheimorganisation ‚Gladio‘ in Italien war beispielsweise ursprünglich aufgebaut worden, um im Falle einer sowjetischen Invasion hinter die Linien zurück zu fallen und dort Anschläge zu verüben. Es wurden geheime Militäreinheiten gegründet und geschult sowie versteckte Waffenlager in Italien angelegt. Als die sowjetische Invasion nicht eintraf, wurde die Funktion von ‚Gladio‘ verändert. In Zusammenarbeit mit rechtsterroristischen Gruppen und dem italienischen Geheimdienst wurden blutige Anschläge in der Bevölkerung durchgeführt und hierfür die Kommunistische Partei Italiens (PCI) verantwortlich gemacht. Hierdurch sollte eine Verschärfung der Sicherheitsgesetze – insbesondere in der Anwendung gegen die italienische Linke – sowie ein Rechtsruck in der Bevölkerung bewirkt werden.
Ähnliche Geheimarmeen existierten – nach Aussagen des mehrfachen italienischen Regierungschefs Giulio Andreotti in gerichtlichen Vernehmungsprotokollen – ebenfalls u.a. in Deutschland, Griechenland, Dänemark, Frankreich und Belgien. [2]
Noam Chomsky bestätigt die Untersuchungen des Schweizer Friedensforschers Danielle Ganser zur Destabilisierung Italiens durch die CIA gesteuerten Geheimoperationen und erweitert dies für die Situation in Südamerika:
„Nationalistische Regierungen, die die ‚Stabilität‘ bedrohen, werden ‚Viren‘ genannt. Das Italien von 1948 ist ein Beispiel. 25 Jahre später beschrieb Henry Kissinger Chile als einen ‚Virus‘, der in Bezug auf die Möglichkeit gesellschaftlicher Veränderung falsche Botschaften aussenden und andere Länder befallen könnte. Selbst Italien nach Jahren umfangreicher CIA-Programme zur Untergrabung seiner Demokratie immer noch nicht ‚stabil‘, drohte infiziert zu werden. Viren müssen vernichtet und andere Länder vor der Ansteckung bewahrt werden: Für beide Aufgaben ist oftmals die Gewalt das geeignetste Mittel; sie zieht eine grauenhafte Spur von Massakern, Terror, Folter und Verwüstung.“ (Chomsky 1999, 25f.)
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Neben den traditionellen Kriegen treten zunehmend schwieriger zu begrenzende und zu kontrollierende militärische Operationsformen auf. Sie finden zum Teil im Geheimen im Auftrag von Regierungen, als Guerilla-Aktivitäten, als militärische Unterdrückung von ‚Warlords‘ in Kooperation mit multinationalen Konzernen oder in Form terroristischer Handlungsmuster statt. Diese Kriegsformen sind auch nicht mehr durch das internationale Kriegsrecht zu fassen, das hierauf aufgrund der Klandestinität des Vorgehens nicht anwendbar ist. Auch halten sich derartige Akteure, die zum Teil im Verdeckten operieren, an keinerlei Regulierungen des Kriegsrechts, wie sie die Genfer Konvention oder die Haager Landkriegsordnung darstellen.
Der internationale Terrorismus nutzt den Vorteil der fehlenden Territorialität
Während die Voraussetzung der im Gefolge des Westfälischen Friedens vorwiegend durchgeführten symmetrischen Kriege zwischen Staaten die nationalstaatliche Eingrenzbarkeit war, sind asymmetrische Konflikte durch die Nichtterritorialität gekennzeichnet – so Münkler (2014, 64):
„Die Basisvoraussetzung symmetrischer Politikkonstellationen ist deren Territorialität, also ihre Fassbarkeit und damit Verwundbarkeit, die als Garant politischer Rationalität angesehen werden kann. Verglichen damit ist die Enterritorialisierung von Politikakteuren mit ihren Verschwinden unter Tarnkappen vergleichbar: Sie sind angriffsfähig, ohne mit reziproken Antworten rechnen zu müssen. Das ist genau die Situation, die mit dem Auftritt des transnationalen Terrorismus entstand.“
Der internationale Terrorismus muss nicht mit einem Gegenschlag unter Einsatz gleicher Mittel rechnen, da er nur schwer identifizierbar ist, die Infrastruktur eines Staates für sich benutzt und kein eingegrenztes Territorium besitzt. Wenn Terroristen Giftgas oder Sprengstoff für ihre Anschläge nutzen, dann müssen sie nicht damit rechnen, dass auf ihr eigenes Territorium ein vergleichbarer Angriff erfolgt, da sie international organisiert und ohne ein zuordenbares nationalstaatliches Territorium agieren. Indem nun der sogenannte Islamische Staat (IS) territorial eingrenzbar wurde, war es wiederum entsprechend dieser Logik möglich, ihn dort vorfindbar anzugreifen und z.T. militärisch zu besiegen. Der IS musste dementsprechend reagieren und begab sich wieder in den terroristischen Untergrund, wo er die Vorteile des asymmetrischen Krieges in Form des internationalen und mit kleinen Terrorzellen operierenden Terrorismus nutzen konnte.
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Fazit und Perspektivenbildung: Asymmetrische Kriegsformen in einem globalisierten Konzept sind weitere Argumente für eine (demokratisch kontrollierte) weltpolizeiliche Struktur, die auf Seiten einer zu reformierenden UN zu installieren ist. Sind schon konventionelle Kriege zu ächten und zu verhindern, so sind die genannten vorwiegend neueren Kriegsformen unnachgiebig von den entsprechenden zukünftig zu installierenden weltpolizeilichen Organen und Militäreinheiten der Vereinten Nationen als kriminelle Kriegshandlungen zu verfolgen.
Hierzu bedarf es einerseits selbstverständlich eines robusten Mandats für das UN-Militär, das von der UN-Vollversammlung und vom UN-Sicherheitsrat zu beschließen ist. Weitgehend unbewaffnete Blauhelmtruppen helfen hier wenig bzw. werden eher als menschliche Schutzschilde gegen Angriffe militärischer Allianzen bzw. Interventionen UN geführter Truppen verwendet .[3] Wo sich andererseits enterritorialisierte und keiner eingrenzbaren Region zuordenbare terroristische Aktivitäten zeigen, bietet eine weltpolizeiliche Struktur wiederum bessere Voraussetzungen als nationalstaatliche und nur ungenügend transnational vernetzte Vorgehensweisen.
Anmerkungen Kapitel 1.4.1.4
[1] Vgl. zum Aufbau durch die UN kontrollierter weltpolizeilicher Strukturen Kapitel 5.6.
[2] Vgl. zum Einsatz von CIA gesteuerten Geheimarmeen in Lateinamerika und in Europa Chomsky (1999, 24ff.) und zum detaillierteren Nachweis der Operation von Geheimarmeen in Westeuropa die Doktorarbeit von Ganser (2005/2016). Während Ganser später zum Teil ungesicherte Thesen, z.B. zu 9/11, formulierte, ist hier seine Vorgehensweise transparent und als wissenschaftlich angemessen anzusehen.
[3] Im Bosnienkrieg wurden 1995 400 Blauhelmsoldaten von den Serben als menschliche Schutzschilde gegen NATO-Angriffe missbraucht (vgl. z.B. die Dokumentation bei https://www.lr-online.de/nachrichten/hintergrund-menschliche-schutzschilde-sind-kriegsverbrechen_aid-2683689 vom 31.7.2006, 20.8.2018).
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1.4.1.5 Die mediale Konstruktion von Feindbildern
Feindbilder werden medial konstruiert. Sie manipulieren Menschen und sind Teil einer sozialpsychologischen Kriegsvorbereitung. Dies lässt sich an aktuellen Beispielen zeigen. [1]
Was ist unter einem ‚Feindbild‘ begrifflich zu verstehen?
Unter dem Begriff des Feindbildes sollen alle sprachlichen Versuche bzw. sozialen Deutungsmuster verstanden werden, andere Personen, Menschengruppen, Ethnien oder Staaten mit Hilfe von Negativsymbolen bzw. negativ besetzten Metaphern extrem abzuwerten und ihnen ihre Menschenwürde zu nehmen. Diese Abwertung soll unangenehme Emotionen gegenüber diesen Personengruppen oder Staaten, wie z.B. Ekel, Hass oder Angst, auslösen. Hierbei wird eine vorurteilsbeladene Wirklichkeitswahrnehmung mit manipulativer Absicht benutzt, um die eigene Weltsicht als einzige Wahrheit auszuweisen und den Gegner so zu stigmatisieren, dass er nicht mehr zum Kreis einer akzeptierten Menschengemeinschaft gehört. [2]
Beispiele für die Entwicklung von Feindbildern
Bereits Caesar beschrieb die Gallier in der Mitte des ersten Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung als charakterlos, undiszipliniert und unberechenbar. Er wertete somit den Feind ab, um Tötungshemmungen zu beseitigen und die römischen Truppen zu motivieren.
Der berühmte Roman „Die Waffen nieder!“ (1889) der Friedensnobelpreisträgerin von 1905 und Friedensaktivistin Bertha von Suttner zeichnet die Sichtweise einer jungen Frau im Vorfeld des Krieges Österreich-Italien (1859) [3] nach, die sich kritisch mit Feindbildern in der österreichischen Gesellschaft befasst:
„Schlechte Eigenschaften, als da sind: Eroberungsgier, Rauflust, Haß, Grausamkeit, Tücke – werden wohl auch als vorhanden und als im Kriege sich offenbarend zugegeben, aber allemal nur beim ‚Feind‘. Dessen Schlechtigkeit liegt am Tage. Ganz abgesehen von der politischen Unvermeidlichkeit des eben unternommenen Feldzuges, sowie abgesehen von den daraus unzweifelhaft erwachsenden patriotischen Vorteilen, ist die Besiegung des Gegners ein moralisches Werk, eine vom Genius der Kultur ausgeführte Züchtigung ... Diese Italiener – welches faule, falsche, sinnliche, leichtsinnige, eitle Volk! Und dieser Louis Napoleon – welcher Ausbund von Ehrsucht und Intrigengeist! Als sein am 29. April publiziertes Kriegsmanifest erschien, mit dem Motto: ‚Freies Italien bis zum Adriatischen Meer‘ – rief das einen Sturm der Entrüstung bei uns hervor! Ich erlaubte mir eine schwache Bemerkung, daß dies eigentlich eine uneigennützige und schöne Idee sei, welche für italienische Patrioten begeisternd wirken müsse; aber ich ward schnell zum Schweigen gebracht. An dem Dogma ‚Louis Napoleon ist ein Bösewicht‘, durfte, solange er ‚der Feind‘ war, nicht gerüttelt werden; alles, was von ihm ausging, war von vornherein ‚bösewichterisch‘.“ [4]
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Hier zeigt sich das Prinzip: Den Gegner mit negativen Zuschreibungen abwerten und ihm damit den Schutz der Humanität nehmen. Dies ist ein Prinzip, dass zu jeder Zeit angewendet wurde, um den Menschen die Skrupel des Tötens zu nehmen. Hitler entwarf das Bild des ‚slawischen Untermenschens‘, den es im ‚Kampf um Lebensraum für die arische Rasse‘ zu unterwerfen gelte. Kommunisten wurden als ‚Ungeziefer‘ bezeichnet, das ausgemerzt werden müsse. Kissinger bezeichnete Staaten, die sich von der Abhängigkeit zur USA lösen wollten als Viren, die abgetötet werden müssten. Bush jun. sprach von Schurkenstaaten und meinte Nordkorea, den Irak und den Iran. Die UDSSR setzte im Kalten Krieg US-Soldaten mit Mördern und Räubern gleich. Die Chinesische Polizei bezeichnete in Hongkong Protestierende als Kakerlaken.
Russlandphobien
Einerseits ist es nun angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine in 2022 fragwürdig, die Warnung vor russischer Aggression und vor der Persönlichkeit Putins als eine unberechtigte Konstruktion von Feindbildern zu bezeichnen.
Andererseits ist es auch schwierig, den Anteil der Wirkung einer Konstruktion des Feindbildes 'Russland' auf die Entscheidungen des russischen Präsidenten einzuschätzen.
Das Bild des Russens wurde in westlichen Spionage-Filmen als das Bild eines brutalen Menschen mit hässlichem Akzent gezeichnet, der skrupellos mordet und natürlich immer im Unrecht ist. Der ehemalige US-Präsident Ronald Reagan sprach dementsprechend von der ehemaligen UDSSR als dem „Reich des Bösen“.
Die nun wieder aktuelle Russlandphobie wurde zuvor von den USA und der NATO über sogenannte Experten in die Medien transportiert. Russland habe den Nachbarstaaten „wenig wirtschaftliche und technologische Entwicklungsimpulse anzubieten“ und könne daher den Einflussverlust nur mit der militärischer Gewalt bzw. deren Androhung kompensieren – so die FAZ-Redakteurin Kerstin Holm (2019). Auch die ehemalige US-Außenministerin Madeleine Albright pflegte das Feindbild Russland über die Dämonisierung Putins als einen bösen Menschen („smart, aber ein wirklich böser Mensch“), als nationalistischen ehemaligen Geheimdienstoffizier mit Großmachtsphantasien. [5] Im Zusammenhang mit dem NATO-Feindbild Russland ist dann auch ohne das Vorlegen von stichhaltigen Beweisen eines russischen Verstoßes gegen den INF-Vertrag zum Verbot von Mittelstreckenraketen die für Europa und Russland äußerst gefährliche Aufkündigung des INF-Vertrags von Seiten der Trump-Regierung im Jahr 2019 möglich gewesen.
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Kaum von der Öffentlichkeit bemerkt wurde übrigens 2016 eine Task Force der EU gegründet, deren Begründung von Seiten des EU-Parlaments nicht unproblematisch ist. Hier heißt es in der Pressemitteilung des EU-Parlaments:
„Propagandistischer Druck auf die EU vonseiten Russlands und islamischer Terroristen wächst ständig. Dieser Druck zielt darauf, die Wahrheit zu torpedieren, Angst zu verbreiten, Zweifel zu provozieren und die EU auseinanderzudividieren.“ [6]
Hierbei wird also ein gemeinsames Feindbild Russland/islamistischer Terrorismus entwickelt, das diese beiden Einflüsse hinsichtlich ihres propagandistischen Drucks gleich behandelt. Sicherlich muss auch die aus Russland kommende Information und oftmals auch Desinformation kritisch beobachtet und begleitet werden. Allerdings erfolgt in dieser Aussage des obersten europäischen demokratisch gewählten Gremiums keine Differenzierung, und es erfolgt eine zusätzliche Herabsetzung Russlands über die parallele Nennung mit der Propagandatätigkeit des islamistischen Terrorismus. [7]
Doch Putin benutzte ebenso Feindbilder, um den Gegner herabzusetzen. Vor und während des russischen Überfalls auf die Ukraine wertete der russische Präsident Putin den demokratisch gewählten Präsidenten Selenskyj ebenfalls auf brutale Weise ab und bezeichnete ihn als einen drogenabhängigen Faschisten. Die ukrainische Regierung bezeichnete Putin als "Bande von Drogenabhängigen und Neonazis" sowie als "Terroristen". [8]
Hierdurch wollte Putin die Mordanschläge auf den ukrainischen Präsidenten sowie die Invasion in die Ukraine als legitime Maßnahmen in der russischen Öffentlichkeit psychologisch vorbereiten. Putin war also Projektionsfläche für Feindbilder, bediente sich aber auch selbst der im russischen Staatsfernsehen medial vermittelten Feindbildkonstruktion, um aggressive und völkerrechtswidrige geostrategische Ziele durchzusetzen.
USA-Iran: Aufbau gegenseitiger Feindbilder
Ein zweites Beispiel ist in der westlichen Islamophobie sowie der iranischen USA-Phobie zu sehen. Es erfolgt in beiden Staaten ein medialer Aufbau gegenseitiger Feindbilder: USA: Der Iran als terroristisches Mullah-Regime, als Schurkenstaat, der als ein Mitglied der „Achse des Bösen“ diskriminierend zu charakterisieren sei – so der damalige US-Präsident George W. Bush 2002 im Anschluss an 9/11. Hingegen beschimpft der Iran die USA als „großen Satan“, als „imperialistischen Teufel“, als „durch und durch verdorben“ (vgl. z.B. Roodsari 2019).
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Die gegenseitige Abwertung ist Ausdruck einer wechselseitigen historischen Einflussnahme, deren Eckpunkte durch den CIA- und britischen MI6-gesteuerten Sturz des demokratisch gewählten iranischen Premierministers Mohammed Mossadeq (1953), durch die Installierung des westlich orientierten Autokraten Schah Reza Pahlavi, den Sturz des Schahs durch die islamische Revolution (1979) angeführt durch Ajatollah Chomeini markiert sind. Im Gefolge kam es zur iranischen Besetzung der US-Botschaft in Teheran und zur Geiselnahme des Personals. Im Iran-Irak-Krieg tolerierte die USA den Giftgaseinsatz des Iraks und versorgte den Irak mit Plänen hinsichtlich der Aufstellung iranischer Truppen. Die Geschichte geht weiter mit heimlichen Waffenlieferungen der USA an den Iran; das Geschäft wollte man sich dann doch nicht entgehen lassen (ab 1985, Iran-Contra-Affäre). Die Schritte zur nuklearen Aufrüstung des Irans und die Provokationen gegenüber den USA spitzten sich mit der Wahl von Mahmud Ahmadinedschad zu, der auch gegenüber Israel eine äußerst feindselige Haltung einnahm. Seit dem 2015 ausgehandelten Atomabkommen, hielt sich der Iran – laut der Internationalen Atomenergiebehörde – an das Abkommen und verzichtete auf unzulässige Urananreicherungen. Bei Roodsari (2019) findet sich ein guter Überblick über die Chronik der Ereignisse, wie sie hier dargestellt wurden, und die durch wechselseitige Abwertungen und Vorwürfe gekennzeichnet sind. Derartig abgewertete Menschen bzw. Staaten werden auf diese Weise militärisch angreifbar. Die Abwertung dient der Enthumanisierung und dem Ausschluss aus dem (eigenen) humanen Wertekreis, wird zur ethischen bzw. moralischen Legitimation für alle folgenden Maßnahmen.
Nachdem nun von Seiten der USA und der Trump-Administration das Atomabkommen mit dem Iran einseitig aufgekündigt wurde, verschärfte sich wieder die abwertende Rhetorik zwischen beiden Staaten und führte zu einer gefährlichen Eskalation u.a. im Zusammenhang mit den Tankerangriffen in der Straße von Hormus sowie der Ermordung des Kommandeurs der Al Quds-Brigaden des Iran, Qasem Soleimani, in der irakischen Hauptstadt Bagdad durch US-Drohnen Anfang 2020.
Der gewalttätige Umgang des iranischen Regimes mit den Protesten iranischer Frauen, die die Unterdrückung durch den iranischen Staat und die männliche Herrschaft abschütteln wollten, trägt zum Aufbau eines Feindbildes bei.
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Die Spannungen zwischen dem Iran und dem westlichen Lager verschärften sich in 2023/2024 durch die indirekte Kriegsführung des Iran über die Angriffe der Hamas und der Hisbollah auf israelisches Gebiet sowie die Raketen- und Drohnen-Angriffe der Houthis auf westliche Handelsschiffe – dreier Organisationen und Gruppierungen, die eng mit dem iranischen Regime verbündet und von diesem unterstützt werden. Durch die Unterstützung dieser militanten Maßnahmen wird der Iran sicherlich nicht seinen Feindbildstatus als Mitglied der ‚Achse des Bösen‘ verlieren können.
Chinaphobien: Die gelbe Gefahr
Ein drittes Beispiel ist mit der Chinaphobie zu nennen und soll hier ebenfalls etwas ausführlicher skizziert werden. In den sechziger Jahren warnte der damalige Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger – ein ehemals ranghohes NSDAP-Mitglied und nationalsozialistischer Propaganda-Funktionär – bereits vor der „gelben Gefahr“ aus dem fernen Osten. Mit der Betonung des fremdkulturellen und völlig andersartigen Charakter der Asiaten und insbesondere der Chinesen, werden diese in manchen Medien als gefährlich und barbarisch dargestellt. Der Chinese sei autoritätsfixiert, kollektivistisch, umweltfeindlich, betrügerisch, unbarmherzig, menschenrechtsfeindlich, aggressiv, hegemonial und konkurrenzorientiert – alles vorurteilsbeladene Stereotype, die pauschal dem Chinesen als solchen zugeschrieben werden.
Neuere ausschließlich negative Zuschreibungen, wie z.B. bei Kinkartz (2019), können hier wie folgt zusammengefasst werden:
• Chinesische Headhunter jagen dem Westen Fachkräfte ab.
• Chinesen stehlen westliches Know How über Cyberattacken.
• China will sich hegemonial ausbreiten (Südchinesisches Meer, Taiwan).
• China zerstört seine Umwelt und trägt massiv zur globalen CO2-Verschmutzung bei.
• China unterdrückt brutal seine Minderheiten (z.B. Uiguren).
• China ist ein totalitärer Überwachungsstaat (‚social credit system‘).
• China zerstört die westliche Solarindustrie über staatlich subventionierte Dumping-Preise.
• Das chinesische Seidenstraßen-Projekt ist der Versuch, die Ressourcen anderer Länder auszubeuten (Arbeitskräfte, Bodenschätze, Häfen).
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Hier mag einiges Richtiges dabei sein. Verschwiegen aber werden allerdings positive Errungenschaften der chinesischen Gesellschaft, wie z.B. der wachsende Wohlstand des Bevölkerungsdurchschnitts, das politische Zusammenhalten eines derartig großen Staatsgebiets, die infrastrukturellen Leistungen, die höchste Quote an Solaranlagen in China oder auch die zunehmende technologische Innovationsfähigkeit.
Wenn man der Auffassung ist, dass Handelskriege die Vorstufe zu militärischen Auseinandersetzungen sein können, dann sind die Abwertung der Chinesen und der chinesischen Kultur in einen Zusammenhang mit den US-Schutzzöllen gegen China zu sehen. [9]
Die demokratischen Medien als Adressaten von Feindbildern
Ein weiteres Beispiel bezieht nun einen umgekehrten Standpunkt. Hier werden Medien selbst zum pauschalen Feindbild – die ‚Lügenpresse‘ bzw. die ‚Fake News‘. Feindbilder gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit gegen Migranten, gegen Muslime oder grundsätzlich gegen südländische Ausländer bewirken hierbei, dass Pressemedien, die nicht im Sinne dieser rechtsextremen Feindbilder agieren, als Lügenpresse diskreditiert werden. Journalisten werden mit Hass- und Drohmails oder entsprechenden Posts in den sozialen Medien überzogen, oder es wird ihnen das Wort bei Pressekonferenzen mit der Begründung entzogen: „You are fake news“ (Trump).
Der Druck auf die Presse, entsprechende Feindbilder zu produzieren bzw. sich einer Feindbildproduktion von Politikern gegenüber zumindest neutral zu verhalten, nimmt zu. Auf diese Weise wird eine Mainstream-Presse geformt, im Rahmen derer abweichende journalistische Einschätzungen zur Beendigung einer journalistischen Karriere führen können.
Sozialpsychologische Funktionen von Feindbildern
Die sozialpsychologische Bedeutung von Feindbildern soll nun anhand von vier Thesen skizziert werden, die auf die manipulative Verwendung von Feindbildern aus einem systemischen Interesse heraus verweisen:
These 1: Feindbilder werten ein Gegenüber maßgeblich mit Hilfe von falschen bzw. gefälschten Angaben über die Medien ab, erzeugen Aversion, Bedrohungsgefühle und Hass, um humane Skrupel im Umgang mit diesen Menschen zu überwinden.
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These 2: Feindbilder sind die Voraussetzung dafür, derart abgewertete Menschen, Gruppen oder Gesellschaften als nicht-menschlich anzusehen, so dass deren Schädigung bzw. Vernichtung nicht als inhuman, sondern als ‚Akt gesellschaftlicher Hygiene‘ ausgewiesen werden kann.
These 3: Feindbilder haben die Funktion, von eigenen systemischen Schwächen abzulenken und die gesellschaftliche Aggression von ihren Ursachen weg auf äußere Gegner zu lenken. Dies kann zu einer systemischen Stabilisierung über die emotionalisierte Zuwendung auf einen äußeren Feind führen.
These 4: Über Feindbilder entstehen Hassgemeinschaften, deren destruktives emotionales Potenzial sich in gewalttätigen Ausbrüchen niederschlägt, die politisch instrumentalisierbar und lenkbar sind.
Der kritische Umgang mit Feindbildern bedeutet nun nicht, dass alle in der Begründung von Feindbildern enthaltenen nachprüfbaren Tatsachen abzuwehren bzw. zu verdrängen sind. Beispielsweise Russland, USA, Saudi-Arabien, Iran und China sind sicherlich durchaus als problematisch in Bezug auf ihre Rolle hinsichtlich internationaler Friedenssicherung und Kriegsprävention anzusehen. Aber die einseitig negative Zuordnung von Fakten in Verbindung mit abwertenden und diskriminierenden Zuschreibungen macht den Begriff des Feindbildes und seine destruktiven Wirkungen aus.
Daher ist es wichtig, auch die eigene Verstrickung in die Konstruktion von Feindbildern zu erkennen und an ihrer Destruktion zu arbeiten.
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Jeder sollte sich auch persönlich fragen:
• Was habe ich für Feindbilder?
• Welche Vorurteile fließen dort ein?
• Welche pauschalen Abwertungen anderer sind darin enthalten?
• Wie sind diese Feindbilder entstanden?
• Wie kann ich sie wieder auflösen?
• Gibt es einen Weg, sie miteinander aufzulösen?
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Wenn sich gegen die pauschale Abwertung von Einzelnen, Bevölkerungsgruppen oder von Staaten in Form von Feinbildern gewendet wird, bedeutet dies nicht, dass nun alle Interessengegensätze und Gegnerschaften harmonisch übergangen werden sollen. Diese Interessengegensätze und Gegnerschaften gibt es, und sie sollten nicht verdeckt werden. Das Bewusstwerden von Feindbildern ermöglicht allerdings, dass durch Feindbilder hervorgerufene Spannungen zivilgesellschaftlich verhandelt werden und auch zu Kompromissen führen können. Manipulativ erzeugte und emotional verankerte Feindbilder jedoch zielen auf die Zerstörung und Vernichtung des anderen ab.
Konstruktion von Feindbildern als kriegsvorbereitender Akt
Hier gibt es bereits eine längere historische Tradition, mit falschen Angaben bzw. Fake-News Feindbilder zu konstruieren und Kriege zu legitimieren.
Hierbei werden mit der manipulativen, medialen Vorbereitung und auch offiziellen Verbreitung von Feindbildern politische, geostrategische und ökonomische Interessen verschleiert und durchgesetzt.
Der durch das Hitler-Regime fingierte Überfall von angeblich polnischen Soldaten auf einen deutschen Grenzposten, der erklärte, aber nicht stattgefundene (und damals nur als wahrscheinlich angenommene) zweite Angriff von Kanonenbooten des Vietcongs auf ein US-Kriegsschiff im Golf von Tonkin, das von einer Medienfirma inszenierte Herausreißen von Babys aus Brutkästen in Kuwait und die vom US-Außenminister Colin Powell vor dem UN-Sicherheitsrat vorgelegten gefälschten Dokumente zu Massenvernichtungswaffen des Iraks sind bekannte Beispiele gefälschter Kriegsgründe bzw. fingierter Gründe für die Verschärfung der militärischen Aktivitäten.
Hierbei ermöglichen die destruktiven Wirkungen von Feindbildern hohe Wachstumsraten und Renditen in der Rüstungsindustrie, einem Industriezweig, der Profiteur von ‚Feindbildern‘ und militärischen Konflikten ist. Ohne durch Feindbilder vorbereitete und erzeugte Kriege gäbe es keinen Absatzmarkt für die ‚Ökonomie des Todes‘. Oder anders ausgedrückt: Die Dämonisierung von Staaten als ‚Achse des Bösen‘ ist die Grundlage von Profiten, wie sie ansonsten nur in der Drogenindustrie möglich sind.
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Werden Feindbilder als extreme Form kultureller Gewalt nach der Beendigung eines militärischen Konflikts nicht grundsätzlich mit Hilfe von Ritualen und Verfahren der Versöhnung aufgelöst, so existieren sie nach einem Krieg weiter fort und verhindern einen Frieden im umfassenden Sinne. Gesellschaften bleiben hierdurch kulturell kriegsbereit – so Johan Galtung (2004):
„Jedes Zeichen, das darauf hindeutet, dass der Feind noch am Leben ist, löst vorgefertigte Reaktionen aus; sind solche Zeichen nicht vorhanden, dann werden andere Feinde ausgemacht, um die Gestalt, die von diesem Typus kultureller Gewalt geformt wird, zu vollenden.“
Anmerkungen Kapitel 1.4.1.5
[1] Dieses Kapitel ist an Moegling (2019 d) orientiert, der Beitrag wurde aufgrund ergänzender Leserkommentierungen noch einmal überarbeitet und erweitert. Den entsprechenden Lesern_innen sei mein Dank für ihre Diskussionsbeiträge ausgesprochen, die zu einigen weiterführenden Überlegungen geführt haben.
[2] Ich habe mich hinsichtlich der hier vorgenommenen Definition auf eigene Überlegungen sowie u.a. auf entsprechende Gedanken bei Pörksen (2000) bezogen.
[3] Dies war der zweite italienische Befreiungskrieg.
[4] Aus: Suttner (1889), Kapitel 1.
[5] Vgl. Ultsch/Vieregge (2016).
[6] Pressemitteilung des EU-Parlaments zur Begründung der Task Force, nach Hofbauer (2019).
[7] Vgl. zur Herabsetzung Russlands in den Medien auch Trautvetter (2019b).
[8] https://www.sn.at/politik/weltpolitik/putin-ruft-ukrainische-armee-zur-machtuebernahme-in-kiew-auf-117604723, 25.2.2022.
[9] Vgl. Listl (2019).
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Video mit einer Diskussion im 'Politischen Salon Essen':
"Wenn der Frieden kippt, kippt auch das Klima."
1.4.2 Friedensproteste und Friedensbewegung
1.4.2.1 Ostermarschbewegung, Proteste gegen den Vietnam-Krieg und gegen den Nato-Doppelbeschluss
Der erste Ostermarsch mit 10.000 Teilnehmer_innen fand 1958 in Großbritannien statt und bewegte sich von London zu einem Raketenforschungszentrum. Die Kampagne wurde von der britischen Friedens-NGO ‚Campaign for Nuclear Disarmament‘ (CND) initiiert. 1960 wurde die Idee des Ostermarsches in Deutschland aufgegriffen und er wurde zunächst als Sternmarsch von Hamburg, Bremen, Braunschweig und Hannover zum Truppenübungsplatz Bergen-Hohne durchgeführt.
Vorläufer der deutschen Ostermarschbewegung waren pazifistische Proteste Ende der 50er Jahre gegen die Wiederbewaffnung und Aufrüstung der Bundesrepublik Deutschland und insbesondere gegen die Forderung des deutschen Bundeskanzlers Adenauer nach selbstständig einsetzbaren, nuklear bestückten Kurzstreckenraketen.
Es entstand eine außerparlamentarische Basisbewegung, die unüblich für die frühen 60er Jahre der Bundesrepublik Deutschland war und im Laufe ihres Anwachsens den späteren Bürgerinitiativen sowie der außerparlamentarischen Protestkultur Ende der 60er Jahre den Weg bahnte.
Begann der erste Ostermarsch in Deutschland mit 1200 Teilnehmer_innen, nahmen auf dem Höhepunkt der insbesondere gegen die nukleare Hochrüstung gerichteten deutschen Ostermarschbewegung 1968 ca. 300.000 Teilnehmer_innen teil.
In diesen Jahren wurde der Protest gegen den Vietnam-Krieg der USA zum Fixpunkt des Protestes. Internationale Proteste ausgehend von den USA führten ab Mitte der 60er Jahre zu Massendemonstrationen, Kundgebungen, Hearings und Podiumsdiskussionen gegen den Vietnam-Krieg. Insbesondere der Einsatz von Napalm-Bomben und Bilder von brennenden Kindern, die Entlaubung der vietnamesischen Regenwälder mit dem naturzerstörenden und beim Menschen Krebs erzeugenden ‚Agent Orange‘ sowie Filmaufnahmen und Bilder von Flächenbombardements mit ihren verheerenden Folgen führten zu einem massiven Druck auf die Regierenden. Diese kritische Medienöffentlichkeit führte 1973 zum Waffenstillstandsabkommen und ab 1975 zur Einstellung des Vietnam-Kriegs und zum Rückzug der Amerikaner aus Vietnam.
Dieser Versuch der USA, scheinbar westliche Interessen gegen den kommunistischen Einfluss zu wahren und ein korruptes Regime, das die auf der Indochinakonferenz (1954) vereinbarten freien Wahlen für ganz Vietnam verweigerte, an der Macht zu halten, kostete Millionen Menschen das Leben:
„Insgesamt verloren auf amerikanischer Seite 58.000 Soldaten im Vietnamkrieg ihr Leben. In Süd- und Nordvietnam wurden rund eine Million Soldaten und zwei Millionen Zivilisten getötet. Dazu kamen noch mal zwei Millionen Kriegsversehrte und zwei Millionen Menschen, die durch den Einsatz giftiger Chemikalien bleibende Schäden davon trugen.“ [1]
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Nach einer Phase des Rückgangs der Teilnehmerzahlen an Friedensdemonstrationen in den 70er Jahren nach der Beendigung des Vietnam-Kriegs gab es dann wieder größere und druckvollere Demonstrationen im Zuge der Aufrüstung durch die Neutronenbombe und des NATO-Doppelbeschluss und der entsprechenden Stationierung von Atomraketen zur Grenze der Staaten des Warschauer Pakts. Aufgrund der Modernisierung ihrer Atomraketen (SS 20) wurde die UDSSR als wachsende Bedrohung von westlichen Politikern, wie z.B. Ronald Reagan oder Helmut Schmidt, wahrgenommen. Die NATO drohte damit, neue Atomraketen (Pershing II) an der Grenze zu den Warschauer-Pakt-Staaten zu stationieren, wenn es nicht zeitnah zu Abrüstungsverhandlungen käme. Insbesondere in Deutschland kam es Anfang der 80er Jahre wieder zu Massendemonstrationen gegen diese Logik der Abschreckung und ihre potenziell darin enthaltenen Gefahren. Die NATO plante eine etwaige sowjetrussische Invasion mit einem ‚begrenzten‘ Atomschlag in Deutschland zu stoppen. So demonstrierten im Oktober 1983 in Deutschland ca. zwei Millionen Menschen gegen das mögliche ‚Euroshima‘ in Europa und Deutschland. [2]
Auch in England hatte die pazifistisch ausgerichtete ‚Campaign for Nuclear Disarmament‘ (CND) zur gleichen Zeit größere Erfolge – so Wernicke (1997):
„Mit über 90.000 nationalen Mitgliedern und 250.000 in lokalen Gruppen Organisierten erlebte die CND 1984 ihren Höhepunkt, nachdem bereits ein Jahr zuvor Großbritannien die größte politische Demonstration seit 1909 gesehen hatte, ähnlich wie der im Bonner Hofgarten mit über einer Million 1983.“
Diese Massenproteste in verschiedenen europäischen Staaten hatten ihren Anteil an dem politischen Druck, der international zu Abrüstungsverhandlungen und entsprechenden Verträgen, wie z.B. dem START-Vertrag (1991), führen sollte. Natürlich trug auch dazu bei, dass das Sowjetsystem ökonomisch und politisch am Ende war und Michail Gorbatschow, der 1985 an die Macht kam, zu Reformen und Zugeständnissen gezwungen war.
Noch immer finden Ostermärsche statt, die 2019 angesichts der weltweiten Krisen sowie des zunehmend ins Bewusstsein tretenden Zusammenhangs zwischen Umweltzerstörung, Militär und Krieg wieder auf eine größere Resonanz trafen. 2020 fielen die Ostermärsche dem Coronavirus zum Opfer. Danach fanden die Kundgebungen und Demonstrationen im Rahmen der Ostermärsche wieder statt. Angesichts der Stationierungsbeschlüsse für US-Mittelstreckenraketen in Deutschland dürfte sich dort die Resonanz für 2025 und 2026 noch einmal verstärken.
Auch bleiben die nukleare Aufrüstung, der Abzug der Atomraketen aus Deutschland (Fliegerhorst Büchel), das Beenden militärischer Angriffe im mittleren Osten über die Ramstein Airbase, der Protest gegen die Modernisierung der Nuklearwaffen sowie der geforderte Beitritt zum von ICAN in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen entwickelten Atomwaffenverbotsvertrag im Zentrum der Ostermarschbewegung. Ebenso das Verbot deutscher Rüstungsexporte, insbesondere in Spannungsgebiete, sowie die Abrüstung und Rüstungskonversion der Waffenindustrie in Friedenindustrien sind wichtige Forderungen. Hinzu kommen in den letzten Jahren auch der Widerstand gegen eine Militarisierung Europas sowie die Proteste gegen die völkerrechtswidrigen Interventionen westlicher Militärallianzen im Nahen und Mittleren Osten.
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Als zusammenfassende Einschätzung kann ein Zitat des Politikwissenschaftlers Christoph Butterwegge (1990) dienen, der die Ostermarschbewegung hinsichtlich des Stellenwerts ihres gesellschaftlichen Einflusses zu charakterisieren versucht:
„Der Ostermarsch ist die erste organisch gewachsene Massenbewegung in der Geschichte der Bundesrepublik, die nicht von Parteien bzw. Organisationen vereinnahmt wurde, sondern bis zuletzt unabhängig und überparteilich blieb. Kennzeichnend für die Ostermarsch-Bewegung der 60er Jahre war, daß sie wichtige Entscheidungen in den örtlichen, regionalen und zentralen Beschlußgremien nach dem Konsensprinzip traf, ohne ihren Minimalkonsens (Ablehnung aller Nuklearwaffen) als Beschränkung auf einen Punkt zu empfinden. Minderheiten und Extrempositionen wurden nicht ausgegrenzt, sondern integriert, Heterogenität und Meinungspluralität als Gütezeichen einer neuen Protestkultur begriffen. Der Ostermarsch bewies, daß weltanschauliche, politische und ‚Kulturschranken‘ überwunden werden können und müssen, wenn das Gattungsinteresse (am Überleben der Menschheit) im Atomzeitalter die Zusammenarbeit aller Friedenskräfte gebietet.“
Da diese Einschätzung kurz nach den Erfolgen der Ostermarschbewegung in den 80er-Jahren vorgenommen wurde, ist sie für die 90er Jahre und die ersten zwei Jahrzehnte des 21. Jahrhundert wieder etwas zu relativieren. Trotz steigender Teilnehmerzahlen wartet die Ostermarschbewegung noch auf ihre Renaissance. Diese wird dann wohl eintreten, wenn einerseits die wieder wachsende Kriegsgefahr in das Bewusstsein der Menschen dringt und andererseits es gelingt, die Friedensbewegung mit verschiedenen anderen Protestrichtungen zu einer breiteren Protestkultur zu vereinen. [3]
1.4.2.2 „Kein Blut für Öl!“ – Proteste gegen die Golf-Kriege
Es wird in der Regel zwischen drei Golfkriegen unterschieden. Der erste Golf-Krieg (1980-1988) fand zwischen dem Iran und Irak anlässlich von Gebietsstreitigkeiten über den damit umstrittenen Zugang zu lokalen Ölquellen und auch aufgrund regionaler Hegemoniebestrebungen statt.
Am 22.9.1980 marschierten irakische Truppen in die Erdölprovinz Khuzestan ein und bombardierten mit Flugzeugen Teheran.
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Im Laufe des ersten Golfkrieges lieferten die Waffenproduzenten der Welt ungebremst Waffen unterschiedlichster Art an die beiden sich bekämpfenden Nationen. Insbesondere der Irak konnte sich aus westlichen Quellen fast unbegrenzt Waffen besorgen, die er mit Ölverkäufen und Krediten von Seiten eines Teils der arabischen Staaten finanzierte. Aber auch China und Russland lieferten den beteiligten Kriegsparteien Waffen. Dies führte eindeutig zu einer Verlängerung des Krieges.
Es wurde hierbei von Seiten des Iraks vielfach das völkerrechtlich geächtete Giftgas mit verheerenden Folgen eingesetzt. Auch wurden die irakischen Kurdengebiete 1988 von der irakischen Regierung mit Giftgas angegriffen. Die Weltöffentlichkeit nahm Tausende vergiftete Kurden in Halabdsch eher beiläufig zur Kenntnis. Kinder wurden vom Iran vorangeschickt, damit keine ausgebildeten Soldaten von den irakischen Sprengstoffallen zerfetzt würden. Im Golf-Krieg starben 95.000 iranische Kindersoldaten. Die Umweltfolgen von zahllosen gegenseitigen Angriffen auf Öltanker und Ölplattformen waren erheblich. Die Angaben über die Zahl der Kriegstoten schwanken. Die höchsten Schätzungen gehen insgesamt von ca. 1 Million Kriegstoten aus. Zahlreiche Minen liegen heute noch im umkämpften Gebiet und fordern tägliche Todesopfer.
1988 nahmen endlich beide Kriegsparteien den von der UNO vermittelten Waffenstillstand an. Saddam Hussein und der iranische Revolutionsführer Ayatollah Khomeini unterschrieben das Abkommen. Die Grenzen blieben unverändert. Der UN-Generalsekretär stellte nach Kriegsende fest, dass die Aggression vom Irak ausgegangen sei. [4]
Der zweite Golfkrieg begann 1990 mit dem Überfall des Irak unter Saddam Hussein auf Kuwait und der Einnahme der dortigen Ölquellen. Die Kriegsschulden des Irak bei Kuwait und anderen arabischen Ländern waren derart hoch, so dass Saddam Hussein hierin die einzige Lösung sah. In diesem Zusammenhang gab es auch Streitigkeiten über die Ölforderung zwischen dem Irak und Kuwait sowie Gebietsforderungen von Seiten des Iraks.
Nach der Besetzung des wesentlich kleineren Gebiets von Kuwait durch den Irak verhängte der UN-Sicherheitsrat Wirtschaftssanktionen gegen den Irak.
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Etwa sechs Monate später wurden die USA an der Spitze einer Koalition mit der UN-Resolution 678 ermächtigt, militärisch in den Konflikt einzugreifen und die Souveränität von Kuwait wiederherzustellen. Mit ihrer Luftüberlegenheit und dem Einsatz massiver Bodentruppen konnte die USA geführte Koalition innerhalb von ca. zwei Monaten den größten Teil der irakischen Militäranlagen und Kriegsmaschinen vernichten. Zehntausende irakische Soldaten und auch Zivilisten starben im ersten Irakkrieg. Auf Seiten der Alliierten starben ca. 350 Soldaten. Die Infrastruktur des Landes war weitgehend zerstört. Es entstanden massive Umweltschäden durch brennende Ölquellen, da der Irak bei seinem Rückzug über 700 Ölquellen angezündet bzw. gesprengt hatte, deren Löschung mehrere Monate benötigte. Aber auch die Umweltschäden insbesondere über den Einsatz von Uran-Munition waren immens. In diesem Zusammenhang wird die erhöhte Anzahl von missgebildeten Kindern im Südirak in der Nachkriegszeit mit dem Einsatz von Uranmunition in Verbindung gebracht. [5]
Große Teile der aus Kuwait fliehenden irakischen Armee wurden wenig später im Irak eingekesselt und gefangen genommen. Auf einen Angriff auf Bagdad wurde verzichtet und Saddam Hussein wurde an der Macht gelassen.
Während beim ersten Golfkrieg kaum Kundgebungen und Demonstrationen in westlichen Staaten stattfanden, fiel die Reaktion im zweiten Golf-Krieg (erster Irak-Krieg) deutlicher aus, ohne allerdings den Charakter einer Massenbewegung zu bekommen. Schüler verließen ihre Schulen, riefen dabei „Kein Blut für Öl!“, demonstrierten und besetzten spontan Hauptverkehrsstraßen. Mahnwachen standen in größeren Städten und forderten u.a. den Schutz der irakischen Zivilgesellschaft. Doch so schnell der zweite Golf-Krieg vorbei war, so schnell verebbten auch diese Proteste.
Der dritte Golfkrieg fand im Jahr 2003 statt. Er schloss sich an die durch die UN verhängten Wirtschaftssanktionen gegenüber dem Irak an, da der Irak insbesondere aus der Sicht der USA immer wieder Waffenkontrolleure von militärischen Lagerstätten fernhalten bzw. Fristen zur Waffenkontrolle nicht einhalten würde. Als Folge dieser Wirtschaftssanktionen und auch des Blockierens von Lebensmittelimporten und Medizin starben Millionen Iraker, insbesondere Kinder, durch Mangelernährung und medizinische Unterversorgung.
Hatte George Bush noch im ersten Irak-Krieg auf die Niederschlagung des Regimes von Saddam Hussein verzichtet, um noch ein regionales Gegengewicht zum Khomeini-Regime im Iran zu erhalten, setzte sich die Regierung seines Sohns George W. Bush über diese Bedenken hinweg. Vermeintlich gestützt von einer UNO-Resolution, die den Irak zum uneingeschränkten Zulassen der internationalen Waffenkontrollen aufforderte, griff die USA mit einer ‚Koalition der Willigen‘ im März 2003 mit der Bombardierung Bagdads den Irak an.
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Hierbei wurde diese militärische Intervention damit begründet, dass der Irak kurz davor sei, nukleare Waffen zu entwickeln, um die USA und Israel anzugreifen. Es wurden dem UN-Sicherheitsrat gefälschte Bilder von unterirdischen atomaren Abschussrampen durch den US-amerikanischen Außenminister Colin Powell vorgelegt. Der UN-Generalsekretär Kofi Annan stellte im Anschluss an den 2. Irak-Krieg fest, dass der Angriff nicht durch UN-Beschlüsse gedeckt und völkerrechtswidrig gewesen sei.
Hier wurde mit gezielt eingesetzter Lügenpropaganda gearbeitet, um eine Koalition für den Angriff zusammen zu bekommen. Auch stand die Einschätzung der behaupteten Gefährlichkeit des Iraks gegen die Beurteilung der UN-Waffenkontrolleure, die von einem zu 90% abgerüsteten Irak ausgingen. Auch die unterstellte Verbindung Saddam Husseins zu Al Qaida und zu 9/11 konnte nicht bewiesen werden. [6]
Dieses Mal wurde der Irak vernichtend geschlagen und das Hussein-Regime entmachtet. Die Destabilisierung des Iraks führte zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen, zahlreichen fürchterlichen Terroranschlägen im Irak und war letztendlich die Geburtsstunde der regionalen Terrororganisation ‚Islamischer Staat‘ (IS), der im Kern aus sunnitischen ehemaligen Militärs des Hussein-Regimes resultierte, die nach der Niederlage des Iraks in den Untergrund gegangen waren, und sich mit verschiedenen islamistischen Terrororganisationen verbündeten.
Zwar hatte der US-Präsident George W. Bush medienwirksam am 1. Mai 2003 auf einem US-Kriegsschiff die Niederlage des Iraks und die Beendigung der Kriegshandlungen verkündet, dennoch zog sich die Besatzung des Iraks bis ins Jahr 2011 hin, begleitet von zahlreichen Anschlägen und Aufständen. Mehr als 100.000 Menschen kamen in dieser Zeit ums Leben. [7]
Die durchsichtigen Propaganda-Manöver, der Verstoß gegen das Völkerrecht, Folterungen von Gefangenen und aggressive Verhörmethoden, das unterstellte US-Interesse an den irakischen Ölquellen sowie die beobachtbaren Gewinne des militärisch-ökonomischen Komplexes in den USA waren diesmal Anlass für eine größere Protestbewegung in den westlichen Staaten gegen den zweiten Irak-Krieg. Weltweit demonstrierten Hunderttausende Menschen gegen den Angriff auf den Irak. Russland und China wollten den Angriff im UN-Sicherheitsrat als völkerrechtswidrig einstufen lassen, wurden aber durch das Veto der ständigen Mitglieder, USA und Großbritannien, überstimmt.
In Deutschland gab es ebenfalls Massenproteste gegen den zweiten Irak-Krieg. So protestierten etwa 40.000 Menschen in Berlin gegen die militärische Invasion – hier einige Auszüge über die Berichtserstattung:
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„Mit Plakaten wie ‚Krieg ist Massenmord‘ oder ‚Während Bagdad brennt, fliegt Georgie Boy ins Wochenend‘ und Sprechchören wie ‚Wir wollen euren Krieg nicht, Schröder mach den Luftraum dicht‘, protestierten die Demonstranten in Hamburg gegen die Angriffe auf Irak. An den Protesten nahmen auch irakische, kurdische und iranische Gruppen teil. Zu sehen waren außerdem viele Familien mit Kindern.
In Frankfurt am Main forderten mehrere Redner auf der Kundgebung, zu der die Friedensbewegung, Parteien, Kirchen und Gewerkschaften aufgerufen hatten, ein Ende des Krieges und warnten vor einer humanitären Katastrophe im Irak. Harsche Kritik gab es an den US-Medien, die den Krieg ‚in eine glänzende Reality-TV-Show‘ verwandelten.“ [8]
In Frankfurt/M. fanden Demonstrationen und Kundgebungen statt, zu denen Gewerkschaften, Friedensorganisationen und Kirchen aufgerufen hatten. Auch in London zogen mehrere hunderttausend Demonstranten durch den Hyde-Park. In Bern versammelten sich 20.000 Demonstranten vor dem Regierungsgebäude. Ebenfalls in Staaten des Nahen Ostens, aber auch in Asien kam es zu Protestaktionen. [9]
Der Kasseler Politikwissenschaftler und Friedensaktivist Peter Strutynski fasste dementsprechend 2013 die durch den zweiten Irak-Krieg entstandene Situation äußerst kritisch zusammen:
„Der Irak-Krieg 2003, der wie erinnerlich am 1. Mai 2003 mit dem Spruch des obersten US-Kommandeurs George W. Bush für beendet erklärt worden war (‚Mission accomplished‘), nahm erst danach so richtig Fahrt auf. Heute steht der Irak vor dem völligen Zerfall seiner staatlichen Einheit. Die nordirakischen Kurdengebiete sind de facto schon lange selbstständig; der Kampf zwischen Sunniten und Schiiten um die Verteilung der Ölrente nimmt selbstmörderische Züge an. Das einzig Tröstliche an der Situation ist die Tatsache, dass der Hauptkriegstreiber, die USA, aus diesem Krieg – ökonomisch gesehen – leer ausging.“ [10]
1.4.2.3 Aktuelle Proteste gegen die Militarisierung der Welt:
International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN), Global Partnership for the Prevention of Armed Conflicts (GPPAC), Peace Brigades (PB), Friedensappelle gegen den Krieg in der Ukraine
ICAN: Verhandlungsmacht gegen den Nuklearkrieg
Die Nicht-Regierungsorganisation ICAN wurde unter maßgeblicher Mitwirkung der IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhinderung des Atomkriegs) im Jahr 2007 in Wien gegründet und hat ihren zentralen Sitz in Genf. ICAN bekam 2017 den Friedensnobelpreis für ihr Engagement gegen die nukleare Bewaffnung und Aufrüstung im globalen Kontext. ICAN wird derzeit[11] von 541 NGO’s in 103 Ländern unterstützt. Nach zehnjähriger Vorarbeit gelang es ICAN, dass 122 Staaten der Vereinten Nationen dem ‚Nuclear Weapon Ban Treaty‘ zustimmten, verbunden mit der Aufforderung, dass die einzelnen Nationen ihn verbindlich unterzeichnen.
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„Since our founding, we have worked to build a powerful global groundswell of public support for the abolition of nuclear weapons. By engaging a diverse range of groups and working alongside the Red Cross and like-minded governments, we have helped reshape the debate on nuclear weapons and generate momentum towards elimination.
We were awarded the 2017 Nobel Peace Prize for our ‚work to draw attention to the catastrophic humanitarian consequences of any use of nuclear weapons‘ and our ‚ground-breaking efforts to achieve a treaty-based prohibition of such weapons‘.“ [12]
Der bei den Vereinten Nationen zur Unterzeichnung vorliegende ‚Vertrag zum völkerrechtlichen Verbot von Atomwaffen‘ muss von 50 Nationen unterzeichnet und ratifiziert werden, damit er in Kraft tritt. Er ist natürlich dann nur für die Staaten gültig, die unterzeichnet haben. In diesem Zusammenhang wird kritisiert, dass alle Staaten, die nukleare Waffen besitzen, sowie die meisten NATO-Staaten nicht an den Vertragsverhandlungen teilgenommen haben.
Die Ratifizierung orientiert sich an den nationalen Gesetzgebungen und bedeutet die Aufnahme des Vertrags in das nationale Recht. Der Vertrag beinhaltet ein umfassendes die Nuklearwaffen betreffendes Verbot:
„Der Vertrag verbietet Staaten Atomwaffen zu testen, zu entwickeln, zu produzieren und zu besitzen. Außerdem sind die Weitergabe, die Lagerung und der Einsatz sowie die Drohung des Einsatzes verboten. Darüber hinaus verbietet der Vertrag solche Aktivitäten zu unterstützen, zu fördern oder einen anderen Staat dazu zu bewegen, diese Handlungen zu unternehmen. Weiterhin wird den Staaten die Stationierung von Atomwaffen auf eigenem Boden verboten.“ [13]
ICAN arbeitet inzwischen an der Ausweitung seiner Vernetzung auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Hierbei liegt ein Schwerpunkt auf der Überzeugungsarbeit, dass Staaten den Vertrag unterzeichnen und ratifizieren.
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Hierbei muss natürlich danach gefragt werden, wie es gelingen kann, insbesondere die Atomstaaten davon zu überzeugen, ihre Nuklearwaffen abzugeben und keine neuen Atomwaffen herzustellen und zu verbreiten. Welche Art des gesellschaftlichen Drucks durch welche Organisationen und gesellschaftliche Bewegungen ist notwendig, damit ICAN in seinen Bemühungen zur Anerkennung des Vertrags wirkungsvoll unterstützt wird?
Global Partnership for the Prevention of Armed Conflicts (GPPAC) – eine wachsendes internationales Friedensnetzwerk
Die GPPAC ist eine internationale zivilgesellschaftliche Organisation, die 2003 gegründet wurde und sich gewaltfrei für die Kriegsprävention und Friedenssicherung einsetzt. Sie besteht aus mehreren Hundert NGO’s, die in 15 transnationalen (regionalen) Netzwerken organisiert sind.
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„Vision: GPPAC seeks a world where violence and armed conflicts are prevented and resolved by peaceful means based on justice, gender equity, sustainable development and human security for all.
Mission: GPPAC is a global network that links civil society with relevant local, national, regional and international actors and institutions to collectively contribute to a fundamental change in dealing with violence and armed conflicts: a shift from reaction to prevention.“ [14]
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Die Arbeit von GPPAC wird von einer gemeinsamen Strategie getragen, die auf der ‚Global Action Agenda‘ (2005) basiert, die auf internationalen Konferenzen von über 1000 Friedensorganisationen entworfen wurde. Folgende Aussage stammt aus dem dritten ‚Strategic Plan‘ (2015) für den Zeitraum von 2016-2020, der darauf basiert, dass die humanen Kosten von Kriegen nicht akzeptabel sind – ganz abgesehen von den ökologischen und volkswirtschaftlichen Kosten:
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„Violent conflict destroys lives, assets, infrastructure, ecosystems and social and economic capacities. It disrupts communities, leaving traumatised victims in situations requiring long-term, high investments to support reconstruction and rehabilitation. The global economic cost of violence in 2013 was estimated at US$9.8 trillion, which represents 11.3% of Gross World Product. Measuring the cost of violent conflict often involves analysing human rights violations and the resulting mortality, injury, displacement or disability rates. However, neither the value of human life, nor human suffering can be quantified in any meaningful way. From the outset, we take the normative position that the costs of violent conflict from a human perspective are simply unacceptable.“ [15]
Mitglieder von GPPAC haben inzwischen in den über 20 Jahren ihres Bestehens in zahlreichen Interaktionen pazifistische Überzeugungsarbeit mit Regierungen und transnationalen Institutionen geleistet. Auch sind GPPAC-Mitglieder an kommunalen Mediationsverfahren beteiligt, leisten Friedenserziehung vor Ort, lenken die Aufmerksamkeit auf die Situation von Frauen in umkämpften Gebieten und versuchen insbesondere Kommunen Gehör zu verschaffen, die aufgrund von Kriegsereignissen massiv geschädigt wurden.
Insbesondere mit dem Bezug auf UN-Sicherheitsrats- und UN-Generalversammlungsbeschlüsse [16] wird versucht an Regierungen und Kommunen heranzutreten, um sie für eine wirkungsvolle Kriegsprävention zu gewinnen.
In dem Fünfjahresplan (2016-2020) gelten drei zentrale Punkte für die GPPAC-Agenda: „enabling collaboration, improving practice and influencing policy“ [17].
Hierbei versucht GPPAC rechtzeitig vor entstehenden Konflikten die Öffentlichkeit zu informieren, Konfliktanalysen vorzunehmen, Solidaritätsaktivitäten zu entwickeln, das Wissen über kriegspräventive Strategien mit anderen Organisationen auszutauschen sowie politische Kontakte von der lokalen Ebene bis hin zu den Vereinten Nationen herzustellen. [18]
Konkrete Maßnahmen von GPPAC sind beispielsweise:
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· Berücksichtigung von Frauen bei Friedenserhaltungsprozessen auf der Grundlage der UN-Sicherheitsratsresolution 1325;
· In Kontakten zu Friedenspädagogen_innen und Kultusbehörden Überzeugungsarbeit, das Thema ‚Friedenssicherung und Kriegsprävention‘ in die Curricula aufzunehmen;
· Initiierung von intergenerativen Dialogen in Kolumbien, um auf Gewalt zu verzichten und eine Friedenskultur zu entwickeln;
· Beginn eines zivilgesellschaftlichen Dialogs für Frieden und gesellschaftliche Stabilität für Nordost-Asien in der Hauptstadt der Mongolei Ulaanbaatar;
· Friedenspädagogisches Videoprojekt mit Jugendlichen in Kyrgyzstan, um ihre Fähigkeiten als ‚Change Agents‘ für friedliche Konfliktlösungen zu fördern;
· In Zusammenarbeit mit dem holländischen Außenministerium Entwicklung von Strategien und Fortbildungen, um zivilgesellschaftliche Organisationen vor allen in den Regionen Ost- und Westafrikas, Europas und Südost-Asiens zu stärken;
· Unterstützung und lokale Umsetzung der UN-SDG’s [19] vor allem hinsichtlich der dort enthaltenen Friedensbezüge;
· ‚Peace Champions‘ in Uganda: Projekte mit Jugendlichen in ‚post conflict communities‘, um eine Re-Radikalisierung der Jugendlichen zu verhindern. [20]
Das Global Partnership for the Prevention of Armed Conflict (GPPAC) (2025) fasst sein Anliegen und ihre Aktionsmöglichkeiten aktuell zusammen:
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"As a member-led network connecting over 250+ civil society organisations worldwide, we champion a network approach to peacebuilding.
It is simple yet powerful: We connect, collaborate, and catalyse change across regions.
We are a vibrant hub and safe space for local peacebuilders to share their knowledge, exchange experiences, and explore innovative peacebuilding approaches. We embrace inclusive and participatory decision-making, ensuring that all voices, especially those of women and youth, are heard.
We lead peacebuilding efforts.
Our structure guarantees that local peacebuilders are in the lead. We put co-creation at the heart of designing and implementing peacebuilding projects.
Shaping global change based on local insights.
Our influence reaches far beyond our network. We're passionate advocates for locally-led and locally-owned peacebuilding, bridging the gap between local insights and global policy by engaging policymakers at all levels. By leveraging our network's knowledge, we shape global policies and programs. This synergy ensures peacebuilding strategies resonate with local realities, resulting in effective and lasting change.
Three pillars, one goal
We concentrate our peacebuilding efforts around three themes
- Locally-led peacebuilding action: We are deeply committed to ensuring local ownership and leadership for sustainable peacebuilding.
- Inclusion of women and youth: We have unwavering confidence in women and youth as agents of change. Inclusion isn't an afterthought; it's a guiding principle in everything we do.
- Climate security and emerging threats: We firmly believe in putting local leadership and knowledge at the forefront to effectively tackle the pressing challenges of climate change and other emerging threats."
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Es ist zu vermuten, dass GPPAC einer der zukünftigen Kandidaten für den Friedensnobelpreis sein wird. Die Frage ist dennoch, ob GPPAC genügend zivilgesellschaftliche Machtmittel zur Verfügung stehen, um auf gewaltbereite Regierende im Sinne von ‚Peace Keeping‘ einzuwirken und auch auf strukturelle Gewalt gewaltauflösend wirken zu können.
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Peace Brigades (PB): Friedens-Brigadisten an der Seite von Kriegsopfern und Friedensaktivisten
Die Organisation ‚Peace Brigades‘ (PB) wurde bereits 1982 gegründet und ist ebenfalls eine internationale NGO, die sich dem Einsatz für Frieden und Menschenrechte verpflichtet sieht. Ihr besonderes Merkmal ist die Entsendung von Peace Brigadisten und die Unterstützung von lokalen Friedensarbeitern in Konfliktzonen:
„We provide protection, support and recognition to local human rights defenders who work in areas of repression and conflict and have requested our support. We believe that lasting transformation of conflicts cannot come from outside, but must be based on the capacity and desires of local people. We avoid imposing, interfering or getting directly involved in the work of the people we accompany. Our work is effective because we take an integrated approach, combining a presence alongside human rights defenders on the ground with an extensive network of international support.“ [21]
Die Peace Brigades haben in den Ländern Nicaragua, El Salvador, Sri Lanka, Nord America, Haiti, Nepal, in den Balkanstaaten, in Kolumbien, Guatemala, Honduras, Indonesien, Kenia, Mexico und Nepal gewirkt. Sie haben dort mit Menschenrechtsverteidigern zusammengearbeitet, um Räume für Friedensprozesse zu eröffnen, gewalttätige Konflikte zu transformieren, gezielte Rechtsberatung zu gewährleisten, Leben durch internationale Präsenz in Konfliktzonen zu retten. Ihre Arbeit ist im Sinne zivilgesellschaftlichen, friedlichen Engagements („non-violence“, „non-partisanship“) ausgerichtet .[22]
Die Arbeit der Friedens-Brigadiers ist nicht ungefährlich, genauso wie die das Engagement der örtlichen Menschenrechtsaktivisten ein hohes Risiko in sich trägt:
„In countries where communities are subject to violent conflict, intimidation or repression, human rights defenders can be key agents for resistance and change, whose work has the potential to bring about the long-term development of democratic civil society and ultimately peace. This often places them at risk, making them targets for threats, abductions, forced disappearance or assassination, and other insidious kinds of attack, including public stigmatisation, defamation or criminal proceedings on trumped up charges.“ [23]
Die Idee der Peace Brigades ist bisher einmalig in diesem Umfang und dieser hochprofessionellen Weise, Friedensaktivisten und Menschenrechtler in Konfliktzonen zu unterstützen, für internationale Aufmerksamkeit zu sorgen und bedrohte Menschen zu schützen.
Zusammenfassende Einschätzung: Mit den drei NGO’s International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN), Global Partnership for the Prevention of Armed Conflicts (GPPAC), Peace Brigades (PB) liegen drei internationale Organisationen vor, die mit friedlichen Mitteln Friedenssicherung und Kriegsprävention auf unterschiedliche Weisen erreichen wollen. ICAN kämpft in Zusammenarbeit mit der UN für ein internationales Atomwaffenverbot. GPPAC organisiert Projekte zur präventiven Friedenssicherung und PB unterstützt mit seinen Friedensbrigadisten lokale Friedensaktivisten und Menschenrechtler_innen. Ihnen ist eine aufmerksame Weltöffentlichkeit sowie finanzielle und politische Unterstützung für ihre wertvolle Friedensarbeit, für ihr Engagement und ihren Widerstand gegen gewalttätige Herrschaftsstrukturen zu wünschen.
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Öffentliche Denunzierung des Friedensanliegens -
Zum gesellschaftlichen Umgang mit Friedensappellen zum Krieg in der Ukraine
Unabhängig von der Frage, ob die Russische Föderation die Alleinschuld für die militärische Eskalation in der Ukraine trägt oder auch die NATO bzw. einflussreiche NATO-Staaten, wie die USA oder Großbritannien, eine Mitschuld an dem Ausbruch bzw. der Verlängerung des Krieges tragen, versuchten verschiedene Friedensinitiativen mit Hilfe von Aufrufen und Appellen Unterstützung in der Friedensbewegung sowie in breiteren Kreise der Bevölkerung zu finden. Das Mittel hierzu waren insbesondere Unterzeichner_innen-Listen auf Internetplattformen oder Webseiten, z.T. verbunden mit Aufrufen zu Kundgebungen und Konferenzen.
Zu nennen sind hier vor allem der von Alice Schwarzer offene Brief an den Bundeskanzler Olaf Scholz mit über 500.000 Unterzeichner_innen sowie das weitere gemeinsam von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht initiierte ‚Manifest für Frieden‘ mit fast 1.000.000 Unterzeichnungen auf der Internetplattform Change.org (Stand: Februar 2025).
Über die öffentliche Aufnahme dieser breitere Bevölkerungskreise erreichende Friedensaktion insbesondere von Vertretern_innen der Regierungspolitik, von Politikwissenschaftlern sowie in den Medien wird etwas weiter unten noch ausführlicher geschrieben.
Zusätzlich gab es einen internationalen Aufruf vom International Peace Bureau (IPB) zu Weihnachten 2022/23, den nur wenige Tausend internationale Friedensfreunde_innen unterzeichnet hatten. Auch ein Peace Appeal mit Erstunterzeichner_innen aus 10 Staaten auf der Internetplattform ‚Action Network‘ fand bisher nur etwas über 3000 internationale Unterzeichner_innen (Stand: April 2023).
Etwas mehr Unterzeichnungen im internationalen Kontext fand ein deutsch-österreichischer Aufruf, der ‚Appell für den Frieden‘, mit bis zum Sommer 2023 ca. 16.000 Unterzeichnungen. Er weist einen friedensökologischen Ansatz auf und enthält drei Forderungen:
Nationale Regierungen und transnationale Institutionen sollten sich vor allem für drei friedenspolitische und -ökologische Maßnahmen stark machen:
1. Im Krieg in der Ukraine müssten spätestens ab jetzt diplomatische Initiativen Vorrang haben. Hierzu wird gefordert, dass eine durch den UN-Generalsekretär geleitete internationale hochrangige und hochlegitimierte Verhandlungskommission den Weg für Waffenstillstandsverhandlungen in der Ukraine als Voraussetzung für Friedensverhandlungen freimachen müsste. Die deutsche und die österreichische Bundesregierung sollten sich mit Nachdruck für eine derartige Friedensinitiative beim UN-Generalsekretär einsetzen.
2. Bei künftigen Klimaschutzverhandlungen sollten Regeln und Vorgaben für die verbindlichere Berücksichtigung militärisch bedingter CO2-Emissionen erarbeitet werden, die die einzelnen Staaten zu mehr Transparenz verpflichten. Hierbei sollten wirksame Kontrollen und strenge Sanktionen bei fehlender Berücksichtigung militärisch bedingter CO2-Emissionen im In- und Ausland im Rahmen der nationalen CO2-Bilanzen vorgesehen werden.
3. Der Krieg in der Ukraine wird derzeit für die internationale Aufrüstungsspirale instrumentalisiert. Zusätzlich sind fast alle wichtigen Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge von den USA und der Russischen Föderation gekündigt oder ausgesetzt worden. Im Gegensatz hierzu sind über die UN kontrollierte und koordinierte Abrüstungsverhandlungen zu fordern. Insbesondere sollte der Atomwaffenverbotsvertrag, der von ICAN erfolgreich in die Vereinten Nationen eingebracht wurde, von den anzusprechenden Staaten in einem miteinander koordinierten und überwachten Prozess unterzeichnet, ratifiziert und umgesetzt werden. (Österreich hat den Vertrag bereits ratifiziert.)
Allen diesen verschiedenen Friedensaufrufen ist gemeinsam, dass derartige friedenspolitische Initiativen in den sozialen Medien, neben Unterstützungen, einem extremen ‚Shitstorm‘ ausgesetzt waren. Auch die Verfasser_innen mussten sich Schmähkritik und persönliche Beleidigungen sowie Drohungen anhören bzw. lesen. Hier lässt sich eine Verrohung der öffentlichen Auseinandersetzung nun auch um friedenspolitische Inhalte über die sozialen Medien, wie z.B. Facebook oder Twitter, feststellen.
Auch hat man den Eindruck, dass hier organisierte Kräfte den Schutz der Anonymität und ihrer Decknamen nutzen, um für Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen plädierende Personen als Putinknechte, Verräter am ukrainischen Volk, bezahlt von Putin und Ähnliches zu diskreditieren.
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Unterzeichnungsmöglichkeiten für einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen in der Ukraine:
· Offener Brief an den Bundeskanzler https://www.change.org/p/offener-brief-an-bundeskanzler-scholz
· Manifest für Frieden, https://www.change.org/p/manifest-f%C3%BCr-frieden (knapp 1 Million Unterschriften!)
· Christmas Appeal, https://www.christmasappeal.ipb.org/german-de/ (Anfang 2023 beendet)
· Peace Appeal, https://actionnetwork.org/petitions/appeal-for-peace/ (Ende 2024 beendet)
· deutsch-österreichischer-schweizerischer Appell für den Frieden: Das Töten in der Ukraine muss beendet werden! https://chng.it/N2ggCS5Q (Ende 2024 beendet)
· Berliner Appell, Gegen neue Mittelstreckenwaffen und für eine friedliche Welt, https://nie-wieder-krieg.org/
· Gegen die nukleare Bedrohung, https://www.change.org/p/gegen-die-atomare-bedrohung
Des Weiteren sind ähnliche Friedensinitiativen u.a. in den Niederlanden, in Finnland, in Dänemark, in Mexiko, Brasilien, Tschechien und Italien bekannt.
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Die jüngste Friedensinitiative stammt aus der Feder von SPD-Politikern, u.a. vom ältesten Sohn von Willy und Ruth Brandt, Peter Brandt (Historiker und Professor i.R.), Reiner Braun (Internationales Friedensbüro), Reiner Hoffmann (ehemaliger DGB-Vorsitzender) und Michael Müller (Bundesvorsitzender der NaturFreunde Deutschlands). In zwei deutschen Tageszeitungen wurde dieser Aufruf mit 200 Unterzeichnern_innen veröffentlicht, zu denen u.a. der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, die Ex-Justizministerin Prof. Dr. Herta Däubler-Gmelin, Dr. Margot Käßmann, Theologin und ehem. Ratsvorsitzende der EKD, und EX-EU-Kommissar Günter Verheugen sowie mehrere Politikwissenschaftler_innen gehören. In diesem Aufruf wird Bundeskanzler Olaf Scholz aufgefordert, eine Verhandlungskommission zusammen mit Frankreich und insbesondere mit Brasilien, China, Indien und Indonesien zu bilden, die einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen in der Ukraine bewirken sollten. In dem Text heißt es „ (…) Mit jedem Tag wächst die Gefahr der Ausweitung der Kampfhandlungen. Der Schatten eines Atomkrieges liegt über Europa. Aber die Welt darf nicht in einen neuen großen Krieg hineinschlittern. Die Welt braucht Frieden. Das Wichtigste ist, alles für einen schnellen Waffenstillstand zu tun, den russischen Angriffskrieg zu stoppen und den Weg zu Verhandlungen zu finden.
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Aus dem Krieg ist ein blutiger Stellungskrieg geworden, bei dem es nur Verlierer gibt. Ein großer Teil unserer Bürger und Bürgerinnen will nicht, dass es zu einer Gewaltspirale ohne Ende kommt. Statt der Dominanz des Militärs brauchen wir die Sprache der Diplomatie und des Friedens. (…)“ [24]
Der frühere ukrainische Botschafter in Deutschland war bereits vorher durch seine drastischen Aussagen (über Bundeskanzler Scholz: „beleidigte Leberwurst“) und seine maßlosen mit großer Dreistigkeit vorgetragenen Forderungen nach Waffenlieferungen für die Ukraine aufgefallen. Er hat sich sofort auch hier per Twitter in einem Ton eingeschaltet, der sicherlich der Ukraine nicht weiterhilft. Der zum stellvertretenden Außenminister der Ukraine beförderte Andrij Melnyk, schrieb auf Twitter, Brandt und Co. sollten sich mit ihren „senilen Ideen“, einen „schnellen Waffenstillstand zu erreichen“ und „den Frieden nur mit Russland zu schaffen“ zum Teufel scheren. [25] Kein weiterer Kommentar hierzu ...
Der propagandistische Feldzug gegen das ‚Manifest für Frieden‘
Die Kampagnen von Schwarzer und Schwarzer/Wagenknecht konnten auf große und über Jahre hinweg aufgebaute Netzwerke und Publikationsmedien zurückgreifen. Dies erklärt – neben dem Bekanntheitsgrad der beiden Persönlichkeiten – die hohe Unterzeichner_innenzahl dieser beiden Friedenstexte.
Daher stand insbesondere das ‚Manifest für Frieden‘, das mit einer Großkundgebung am Brandenburger Tor verbunden war, im Mittelpunkt der öffentlichen Reaktionen.
Das ‚Manifest für Frieden‘ sprach sich gegen eine eskalierende Fortführung des Kriegs in der Ukraine und für sofortige Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen aus. Es endet mit der Forderung an den deutschen Bundeskanzler:
„Wir fordern den Bundeskanzler auf, die Eskalation der Waffenlieferungen zu stoppen. Jetzt! Er sollte sich auf deutscher wie europäischer Ebene an die Spitze einer starken Allianz für einen Waffenstillstand und für Friedensverhandlungen setzen. Jetzt! Denn jeder verlorene Tag kostet bis zu 1.000 weitere Menschenleben – und bringt uns einem 3. Weltkrieg näher.“
An vier Beispielen soll nun deutlich gemacht werden, wie versucht wurde, den Text und die Intentionen der beiden Initiatorinnen zu verfälschen und diese zu diskreditieren.
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1. Es wurde den Verfasserinnen in den Medien und von führenden Politikern unterstellt, dass sie im Text des Manifests geschrieben hätten, sie seien grundsätzlich gegen Waffenlieferungen zur Unterstützung der Selbstverteidigung der angegriffenen Ukraine. [26] Der ehemalige ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, äußerte sich dementsprechend auch abwertend: „Hallo ihr beide Putinschen Handlanger:Innen @SWagenknecht & #Schwarzer, euer Manifest für Verrat der Ukrainer könnt ihr zusammenrollen & gleich in den Mülleimer am Brandenburger Tor werfen.“ [27]
Fakt aber ist: Im Text wenden sich die Verfasserinnen gegen die „Eskalation von Waffenlieferungen“, was ein anderer Sachverhalt ist. Hierbei geht es um die Überschreitung ‚roter Linien‘, die zu einer unkontrollierbaren Eskalationsdynamik führen können. Jürgen Habermas hat dies mit seiner Benennung von Kipppunkten, einem ‚point of no return‘ angesprochen. [28]
2. Es wurde den Verfasserinnen eine Täter-Opfer-Umkehr vorgeworfen. Dieser Vorwurf wird zuerst vom deutschen Politikwissenschaftler Herfried Münkler vorgebracht [29] und anschließend von verschiedenen Politikern_innen mantraartig wiederholt. Es wird Schwarzer/ Wagenknecht hierbei vorgeworfen, sie würden primär die NATO und den Westen als Aggressor sehen und die Russische Föderation als Opfer. Auch dies ist eine Falschdarstellung, da im Text des Manifests der russische Aggressor klar benannt ist. Dort heißt es eindeutig: „Die von Russland brutal überfallene ukrainische Bevölkerung braucht unsere Solidarität.“ [30]
Dennoch denunziert der Politologe Münkler den Text als „gewissenloses Manifest“ und Schwarzer/Wagenknecht „betreiben mit kenntnislosem Dahergerede Putins Geschäft“. [31] [32]
3. Es wird Schwarzer/ Wagenknecht vorgeworfen, sie wollten die Ukraine über einen russischen Diktatfrieden an die Russische Föderation ausliefern. So Außenministerin Baerbock: „Ein Diktatfrieden, wie ihn manche jetzt fordern, das ist kein Frieden. Sondern das wäre die Unterwerfung der Ukraine unter Russland.“ [33] Fakt aber ist, dass im Manifest steht:
„Verhandeln heißt nicht kapitulieren. Verhandeln heißt, Kompromisse machen, auf beiden Seiten. Mit dem Ziel, weitere Hunderttausende Tote und Schlimmeres zu verhindern. Das meinen auch wir, meint auch die Hälfte der deutschen Bevölkerung. Es ist Zeit, uns zuzuhören!“ [34] Eine derartige Formulierung ist aber weit weg von der Akzeptanz eines ‚Diktatfriedens‘.
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4. Es wurde Schwarzer/Wagenknecht vorgeworfen, sie würden sich nicht zum Rechtsextremismus abgrenzen und billigend in Kauf nehmen, dass Rechtsextreme an der auf das Manifest bezogenen Kundgebung teilnehmen würden. [35] So urteilte auch der ‚Spiegel‘: „Bei der sogenannten Friedensdemonstration am Samstag in Berlin zeigten sich die Konturen dessen, was Sahra Wagenknecht in Wahrheit anstrebt: eine prorussische, antiamerikanische, national orientierte Sammlungsbewegung. Die AfD reagiert erfreut.“ [36] Abgesehen davon, dass man bei einer Kundgebung, an der mehr als 10.000 Personen teilnehmen, nicht verhindern kann, dass sich einzelne Rechtsextreme unter die Menge mischen, basiert aber auch dieser Vorwurf auf einer Falschaussage. So ist öffentlich per Videoaufnahme dokumentiert, dass sich Sahra Wagenknecht in ihrer Ansprache vor dem Brandenburger Tor sehr deutlich mit folgenden Worten von rechtsextremer Beteiligung distanziert:
„Selbstverständlich haben Neonazis und Reichsbürger, die in der Tradition von Regimen stehen, die für die schlimmsten Weltkriege der Menschheitsgeschichte Verantwortung tragen, auf unserer Friedenskundgebung nichts zu suchen.“ [37]
Auch der grüne Co-Parteivorsitzende Omid Nouripour grenzt sich demagogisch in diese Richtung ab und unterstellt, dass der Vorsitzende der AFD zu den Erstunterzeichnern des Manifests gehöre: „Der Vorsitzende der AfD ist einer der Erstunterzeichner des Manifests. Die Linkspartei muss sich fragen lassen, wie sie damit umgehen will, dass eines ihrer bekanntesten Gesichter zusammen mit AfD‑Vorsitzenden Papiere unterschreibt.“ [38] Auch diese Aussage ist falsch, da der AfD-Vorsitzende nicht zu den 69 Erstunterzeichnern__innen gehört, sondern sich unter die zahlreichen Mitunterzeichner_innen gemischt hatte, was sich sicherlich bei einer offenen Unterzeichnungssituation wie bei Change.org nicht verhindern lässt.
Fazit
Der Friedensaktivist Bernhard Trautvetter bringt die Kritik am gesellschaftlichen Umgang mit dem ‚Manifest für Frieden‘ und an der Kampagne gegen die Friedensbewegung insgesamt auf seine Weise auf den Punkt:
„Die Kampagne gegen die Friedensbewegung stützt sich auf invalide Behauptungen, sie zersetzt demokratische Strukturen, indem sie Demokratinnen und Demokraten ausgrenzt, sie stärkt Kriegsgewinnler wie die Rüstungskonzerne in den Nato-Staaten sowie Nationalisten wie jene in der AfD, der sie mit der Behauptung, es gebe ein Bündnis unter ihrer Beteiligung Aufmerksamkeit zukommen lässt, sie wertet den Militarismus auf, indem sie seine Narrative aufgreift; die Kampagne gegen die Friedensbewegung widerspricht den Lebensinteressen der Menschen nicht nur in unserem Land, da sie die Spannungen und die Risiken steigert, die mit der Eskalation der Gewalt verbunden sind. Und sie lenkt von vielen weltweiten Völkerrechtsbrüchen ab, in die Nato-Staaten aktiv verwickelt sind, etwa mit der Formulierung, man sei gegen den Krieg, so als gäbe es keine anderen Kriege etwa in der weiteren Golf-Region oder in Afrika.“ [39]
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Trotz des mehrfachen Dementis von Wagenknecht/ Schwarzer und anderer Erstunterzeichner_innen des ‚Manifests für Frieden‘ werden die hier angesprochenen vier Falschaussagen von maßgeblichen Politikern, Politikwissenschaftlern und Medien permanent wiederholt. Insbesondere die Berichterstattung des angesprochenen Teils der der bürgerlichen Presse ist kein Ausdruck einer unabhängigen und kritischen Berichterstattung, sondern weckt eher Erinnerungen an einen ‚eingebetteten Journalismus‘. Im Gegensatz hierzu ist von den Medien als selbsternannte vierte Instanz in der Demokratie zu verlangen, dass sie Argumente konträrer friedenspolitischer Positionen unabhängig und kritisch abwägen. Alle Formen des ‚eingebetteten Journalismus‘ mit Elementen der Kriegspropaganda und der Verunglimpfung der Andersdenkenden stehen in einem Widerspruch zum medialen Selbstanspruch als vierte Gewalt in einer Demokratie – im Gegenteil, dies stellt einen Beitrag zur Aushöhlung vorhandener demokratischer Strukturen dar. [40] [41]
Anmerkungen Kap. 1.4.2
[1] In: https://rp-online.de/politik/proteste-in-den-usa_aid-8308577, 30.4.2000, 29.10.2019.
[2] Vgl. u.a. Vensky (2009).
[3] Neben eigenen Beobachtungen und Einordnungen zur Ostermarschbewegung wurden folgende Quellen verwendet: Butterwegge (1990), https://de.wikipedia.org/wiki/Ostermarsch, 13.8.2019, 28.10.2019 u. https://www.atomwaffena-z.info/initiativen/geschichte-der-anti-atom-bewegung/artikel/f2082e13bb/die-ostermarsch-bewegung.html, 2019, 28.10.19 sowie http://archiv.friedenskooperative.de/netzwerk/omhist.htm, o.D., 28.10.2019.
[4] Vgl. zu den verwendeten Zahlen https://www.deutschlandfunk.de/der-erste-golfkrieg.871.de.html?dram:article_id=127099, 22.9.2010, 29.10.2019, https://de.wikipedia.org/wiki/Erster_Golfkrieg#cite_note-92, 14.10.2019, 29.10.2019 u. https://www.dw.com/de/vor-20-jahren-endete-der-erste-golfkrieg/a-3577432, 20.8.2008, 29.10.19.
[5] Vgl. zu den verwendeten Fakten https://pauls-domain.de/Medinfos_1984-1993/1992-02%20%20Irak-%201%20Jahr%20nach%20dem%20Golfkrieg.pdf, Feb. 1992, 29.10.2019, https://de.wikipedia.org/wiki/Zweiter_Golfkrieg, 19.5.2005, 29.10.2019 u. https://www.faz.net/aktuell/politik/irak-der-golfkrieg-1991-116582.html, 24.2.2001, 29.10.2019.
[6] Vgl. Vgl. Bittner/Drieschner (2003).
[7] Vgl. https://www.lpb-bw.de/irak_krieg.html, o.D., 30.10.2019.
[8] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/krieg-ist-massenmord-zigtausende-protestieren-in-ganz-europa-a-241716.html, 22.3.2003, 30.10.2019.
[9] Vgl. https://www.spiegel.de/politik/deutschland/krieg-ist-massenmord-zigtausende-protestieren-in-ganz-europa-a-241716.html, 22.3.2003, 30.10.2019.
[10] Strutynski (2017b, 177).
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[11] Datenentnahme aus der englischsprachigen ICAN-Homepage (https://www.icanw.org/campaign/campaign-overview/), o.D., am 30.10.2019.
[12] In: https://www.icanw.org/campaign/campaign-overview/, o.D., 30.10.2019.
[13] In: https://www.icanw.de/grunde-fur-ein-verbot/verbotsvertrag/, o.D., 30.10.2019.
[14] GPPAC (2015, 4).
[15] GPPAC (2015, 6).
[16] Z.B. UN Security Council Resolution 2171 on Conflict Prevention, UN General Assembly Resolution 66 /290 on Human Security.
[17] GPPAC (2015, 11).
[18] Vgl. GPPAC (2015, 11ff.).
[19] SDG = Sustainable Development Goals.
[20] Vgl. zur umfassenderen Darstellung dieser GPPAC-Aktivitäten https://www.gppac.net/what-we-do, o.D., 30.10.2019.
[21] In: https://www.peacebrigades.org/en/about-pbi, o.D., 30.10.2019.
[22] Vgl. https://www.peacebrigades.org/en/about-pbi, o.D., 30.10.2019
[23] In: https://www.peacebrigades.org/en/people-we-protect, o.D., 30.10.2019.
[24] https://www.naturfreunde.de/frieden-schaffen-waffenstillstand-und-gemeinsame-sicherheit-jetzt, o.D., 1.4.2023.
[25] https://www.deutschlandfunk.de/peter-brandt-initiiert-friedensappell-prominente-spd-mitglieder-unterschreiben-100.html, 1.4.2023, 1.4.2023.
[26] Vgl. z.B. https://www.rnd.de/politik/manifest-fuer-frieden-junge-politiker-kontern-petition-von-wagenknecht-und-schwarzer-LDP5L5PETFBXJOEEHGMT4HSCY4.html, 24.2.2023, 31.3.2023 oder https://www.berliner-zeitung.de/open-source/kommentar-meinung-krieg-waffenlieferungen-ukraine-konflikt-ist-das-manifest-fuer-frieden-ein-manifest-der-unterwerfung-li.321476, 25.2.2023.
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[27] https://www.berliner-zeitung.de/news/annalena-baerbock-schmettert-ukraine-vorstoss-von-wagenknecht-und-schwarzer-ab-manifest-fuer-frieden-li.316625,11.2.2023, 30.3.2023.
[28] Siehe sein Interview in der Süddeutschen Zeitung, wo er sich für die Parallelität der politischen, humanitären und militärischen Unterstützung der Ukraine und für die Forcierung von Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen im Sinne einer Doppelstrategie einsetzt: https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/kultur/juergen-habermas-ukraine-sz-verhandlungen-e159105/?reduced=true, 14.2.2023, Zugriff: 6.3.2023, (hinter einer Bezahlschranke).
[29] Vgl. https://rp-online.de/politik/deutschland/herfried-muenkler-nennt-wagenknecht-schwarzer-manifest-verlogen_aid-84912697, 14.2.2023, 31.3.2023.
[30] https://www.change.org/p/manifest-f%C3%BCr-frieden
[31] https://www.berliner-zeitung.de/news/gewissenloses-manifest-berliner-politologe-herfried-muenkler-verurteilt-friedensaufruf-von-alice-schwarzer-und-sahra-wagenknecht-li.317574, 14.2.2023, 30.3.2023
.[32] Mit den Thesen Herfried Münklers setzt sich Matthias Kreck kritisch auseinander und kommt abschließend zu folgender zusammenfassender Einschätzung: „Die Kritik von Herrn Münkler hält einer wissenschaftlichen Analyse nicht stand. Und wenn er dem hochverehrten Kollegen Habermas als Reaktion auf dessen sehr nachdenklichen Artikel in der Süddeutschen Zeitung wünscht, dass er „etwas mehr Politikwissenschaftler“ wäre, dann stellt sich angesichts der wissenschaftlichen Fehler, auf die ich in diesem Artikel hinweise, die Frage, ob Kollege Münkler den Grundkurs über gute wissenschaftliche Praxis besuchen sollte.“ , in: https://www.berliner-zeitung.de/open-source/eine-kritik-an-der-kritik-von-herfried-muenkler-an-dem-manifest-fuer-frieden-li.320045, 21.2.2023, 2.4.2023.
[33] https://www.berliner-zeitung.de/news/annalena-baerbock-schmettert-ukraine-vorstoss-von-wagenknecht-und-schwarzer-ab-manifest-fuer-frieden-li.316625, 10.2.2023, 30.3.2023.[34] https://www.change.org/p/manifest-f%C3%BCr-frieden
[35] Vgl. hierzu https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/politik/wagenknecht-schwarzer-manifest-frieden-afd-100.html., 4.3.2023, 31.3.2023.
[36] https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/kundgebung-in-berlin-querfront-ja-aber-bitte-diskret-kolumne-a-9abaaaab-c006-4cca-947a-f81465217086 26.2.2023, 31.3,2023.
[37] Zitat nach der YouTube-Originalaufnahme: https://www.google.com/search?q=Sarah+Wagenknechts+Rede+am+Brandenburger+Tor+2023+Abgrenzung+gegen+Rechtsextreme&oq=Sarah+Wagenknechts+Rede+am+Brandenburger+Tor+2023+Abgrenzung+gegen+Rechtsextreme&aqs=chrome..69i57.19759j0j7&sourceid=chrome&ie=UTF-8#fpstate=ive&vld=cid:7c9181da,vid:I0AwgCYNz5s, 25.3.2023, 30.3.2023.
[38] https://www.rnd.de/politik/omid-nouripour-die-aeusserungen-von-frau-wagenknecht-wirken-in-der-ukraine-wie-hohn-E6KEVS7BMNAN5ABYGVOUZY4KIQ.html , 24.2.2023, 31.3.2023.
[39] Zitat aus einem noch unveröffentlichten Manuskript von Bernhard Trautvetter (3/2023): Die Strategische Kommunikation der Militärlobby und die Kampagne gegen die Friedensbewegung.
[40] Positiv zu nennen ist im Gegensatz hierzu der journalistische Ansatz bei Malte Lehming im Tagesspiegel, der jeweils fünf wichtige Fragen an die friedenspolitischen Kontrahenten stellt, die es abzuwägen gelte. Vgl. https://www.tagesspiegel.de/internationales/deutschland-streitet-uber-den-richtigen-weg-zum-frieden-beide-seiten-mussen-funf-fragen-beantworten-9359345.html, 16.2.2023, 31.3.2023.
[41] Der Abschnitt zum gesellschaftlichen Umgang mit der Friedensbewegung ist an Moegling (2024c) orientiert.
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1.5 Ökologische Krisen
1.5.1 Die geschundene Biosphäre wendet sich gegen den Menschen
Die Resilienz des planetaren Ökosystems, d.h. seine Widerstandsfähigkeit und Belastbarkeit, wird seit dem 19. Jahrhundert in nie dagewesener Weise angegriffen. Zwar gab es auch früher Klimaschwankungen, doch so schnell wie in den letzten 200 Jahren hat sich das Klima noch nie verändert. Dies ist ein deutlicher Indikator dafür, dass die Klimaerwärmung durch menschlichen Einfluss erzeugt wurde. Es besteht zunehmend die Gefahr, dass von außen an die ökologischen Wirkungszusammenhänge herangetragene Störungen die Verarbeitungsfähigkeit des Ökosystems und der Biosphäre überfordern, wobei zwar ernstzunehmende Warnzeichen und eintretende ökologische Krisen registrierbar sind, aber der ‚point of no return‘ nicht genau bestimmbar ist. [1]
Die planetare Ökologieproblematik ist sehr vielschichtig und facettenreich. Der Kampf um das Wasser führt zu vermehrten Ressourcenkonflikten, die gewaltsam ausgetragen werden. Die Klimakrise zeigt ihre ersten verheerenden Auswirkungen. Die Menschen gemachten CO2-Emissionen verursachen maßgeblich die Erwärmung der Biosphäre und führen zu disruptiven ökologischen Veränderungen, die sich bereits in Form von Hitze, extremen Stürmen, sich ausbreitenden Feuern, Überschwemmungen und Trockengebieten auswirken. Die Überdüngung landwirtschaftlicher Flächen mit den Ausscheidungsprodukten aus der Massentierhaltung führt zur Vergiftung landwirtschaftlicher Böden und zur Belastung des Grundwassers. Die weitgehend unregulierte weltweite Müllentsorgung sorgt z.B. für die Plastikvermüllung der Meere bis hin zu bereits ökologisch abgestorbenen Meereszonen. Die auf Verbrennungsmotoren basierenden Antriebstechniken von Fahrzeugen sorgen nicht nur für die klimabelastende Anhebung der CO2-Emissionen, sondern auch für die Emission von gesundheitsschädlichen Stickoxiden. Insbesondere die Feinstaubbelastung der Mega-Städte überschreitet alle vernünftigen Grenzen. Das Sterben von Insekten, gefährdet die Bestäubung von Pflanzen. Die Überfischung der Meere durch multinationale Fischereikonzerne raubt den einheimischen Fischern ihre Existenzmöglichkeit. Die Bodenerosion durch Abholzung der Wälder und landwirtschaftliche Übernutzung schreitet fort.
Die Bearbeitung dieser – sicherlich noch nicht vollständig aufgelisteten – ökologischen Probleme würde ein eigenes Buch erfordern. Daher soll sich im Folgenden auf einige wenige und besonders drängende Problemstellungen fokussiert werden.
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Klimaentwicklung: Ökologische Kipppunkte und Rückkoppelungseffekte
In diesem Zusammenhang darf man nicht von einem langsamen und damit möglicherweise über begleitende Anpassungsmaßnahmen kontrollierbaren Anstieg des Klimas ausgehen. Ökologische Kipp-Punkte und ökologische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Rückkoppelungseffekte werden zu einer sich abrupt beschleunigenden Dynamik der krisenhaften Klimaentwicklung führen. Unter ökologischen Kipppunkten versteht man nicht mehr steuerbare klimatische Veränderungen, wenn ein bestimmter Punkt der Klimaschädigung erreicht ist:
„Bei großer globaler Erwärmung im Bereich jenseits von 2-3°C entsteht [...] ein wachsendes Risiko von qualitativen Änderungen im Klimasystem. Derartige stark nichtlineare Reaktionen von Systemkomponenten werden häufig als ‚Kipppunkte‘ des Klimasystems bezeichnet. Gemeint ist dabei ein Systemverhalten, bei dem nach Überschreiten einer kritischen Schwelle eine kaum noch steuerbare Eigendynamik des Systems einsetzt. Großskalige Teile des Erdsystems, die einen Kipppunkt überschreiten können, bezeichnet man als ‚Kippelemente‘.“ [2]
Es gibt eine Reihe bekannter Kippelemente, die derzeit aufgrund der menschengemachten Klimagasemissionen in einer äußerst problematischen Veränderung begriffen sind.
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Kipp-Punkte und entsprechende Rückkoppelungseffekte können im Zusammenhang mit folgenden Veränderungen stattfinden:
· „Schmelzen des Meereises und Abnahme der Albedo in der Arktis
· Schmelzen des Grönländischen Eisschildes und Anstieg des Meeresspiegels
· Instabilität des westantarktischen Eisschildes und Anstieg des Meeresspiegels
· Störung der ozeanischen Zirkulation im Nordatlantik
· Zunahme und mögliche Persistenz des El-Niño-Phänomens
· Störung des Indischen Monsunregimes
· Instabilität der Sahel-Zone in Afrika
· Austrocknung und Kollaps des Amazonas-Regenwaldes
· Kollaps der borealen Wälder
· Auftauen des Permafrostbodens unter Freisetzung von Methan und Kohlendioxid · Schmelzen der Gletscher und Abnahme der Albedo im Himalaya
· Versauerung der Ozeane und Abnahme der Aufnahmekapazität für Kohlendioxid
· Freisetzung von Methan aus Meeresböden.“ [3]
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Die ökologische Entwicklung im ‚Holocene‘, dem Zeitabschnitt von ca. 10.000 Jahren vor dem Industriezeitalter, konnte als relativ stabil für menschliche Entwicklungsmöglichkeiten angesehen werden. Das ‚Holocene‘ war durch die ökologische Selbstregulation des Planeten gekennzeichnet. Mit dem Industriezeitalter ist das ‚Anthropocene‘ angebrochen, im Rahmen dessen der Mensch zunehmend zur dominanten planetaren Gestaltungskraft geworden ist – so Röckström/Steffen/Noone (2009, 472):
“During the Holocene, environmental change occurred naturally and Earth’s regulatory capacity maintained the conditions that enabled human development. Regular temperatures, freshwater availability and biogeochemical flows all stayed within a relatively narrow range. Now, largely because of a rapidly growing reliance on fossil fuels and industrialized forms of agriculture, human activities have reached a level that could damage the systems that keep Earth in the desirable Holocene state. The result could be irreversible and, in some cases, abrupt environmental change, leading to a state less conducive to human development. Without pressure from humans, the Holocene is expected to continue or at least several thousands of years.”
Aufgrund der bisher vorwiegend nur plakativen, weil sanktionsfreien, Klimapolitik der Vereinten Nationen und dem Versuch einzelner Nationalstaaten, sogar die UN-Minimalziele zu unterlaufen bzw. abzulehnen, kann eine an ‚sustainable development‘ orientierte Klimapolitik nicht umgesetzt werden, deren Ziel die Verhinderung irreversibler sozialökologischer Folgen ist. Plakativ ist die UN-Klimapolitik, da die Vereinten Nationen sich nicht auf effektive Sanktionen für das Verfehlen von Klimaschutzzielen einigen können. Es ist daher zu befürchten, dass die Menschheit erst ernsthafte Maßnahmen zum Schutz des Klimas ergreifen wird, wenn die bereits beobachtbaren ersten sozialökologischen Katastrophen zur Regel und für alle bedrohlich geworden sind.
Erste – durch den zivilgesellschaftlichen Druck erzeugte – ökologische Anpassungsmaßnahmen auf der nationalstaatlichen und internationalen Ebene reichen noch nicht aus, um die Klimaerwärmung unter 2 Grad Celsius oder gar unter 1.5 Grad Celsius zum Ende des 21.Jahrhunderts in Beziehung zur vorindustriellen Zeit zu belassen. Auch wenn die klimapolitischen Maßnahmen der Europäischen Union im internationalen Maßstab sehr weitgehend und auch am verbindlichsten sind, reichen auch sie nicht aus, um die notwendigen Schritte von Seiten Europas zu ergreifen. Der europäische Green Deal, der 2022 vom EU-Parlament beschlossen wurde, wird bereits massiv kritisiert - so Schöneberg (2022):
„Mit dem Klimavotum haben die EU-Parlamentarier in diesem Fall aber nicht nur Halbgares, sondern auch den Klima-Offenbarungseid absegnet: Die Treibhausgasemissionen zwischen Lissabon und Tallinn sinken damit zwar – ohne neue Katastrophen – um über 3 Prozent im Jahr. Aber das ist schlicht zu wenig, um die Erderhitzung bei 1,5 Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit abzubremsen.“
Auch wird der europäische Green Deal bereits 2025 wieder in Kooperation der konservativen und rechtsgerichteten Parteien aufgeweicht. Hierbei werde vor allem das Argument angeführt, dass der Green Deal das Wirtschaftswachstum behindern würde. So werde auch versucht, das für 2035 vorgesehene Verkaufsverbot von Diesel und Benzin betriebenen PKWs aufzuheben (Bourgery-Gonse (2025)).
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So stellt der EU-Klimawandeldienst Copernicus für 2024 das wärmste, seit der vorindustriellen Zeit gemessene Jahr fest. Für 2023 wurde von Copernicus ein Durchschnittswert von 1,48 Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit gemessen. Der Februar 2024 war 1,77 Grad wärmer als der vorindustrielle Referenzzeitraum von 1850 bis 1900. (Blume 2024)
Doch die Biosphäre ist nachtragend, sie wartet nicht auf die menschlichen Korrekturmaßnahmen, wenn die Klimakatastrophe bereits im Anrollen ist. Stürme und Unwetter gigantischen Ausmaßes, Verwüstung weiter planetarer Regionen und damit verbundene Massenfluchten, Überflutung ganzer Meeres naher Regionen, Hitze, Dürre und unkontrollierbare Waldbrände sowie Vernichtung von Ernten durch Hagel und Dauerregen sind nur einige Reaktionen auf die derzeit beobachtbare Menschen verursachte Erderwärmung.
Die World Meteorological Organization (WMO) (2024) stellte ebenfalls für 2023 mit ca. 1,45 Grad das heißeste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen fest und machte deutlich, dass hierdurch nicht nur Umweltzerstörungen, Vertreibungen von Menschen, militärisch ausgetragene Konflikte sondern auch Milliarden Dollar Schäden und Hungerkrisen für besonders betroffene Regionen entstehen würden. Für 2024 wird vom internationalen Wetterdienst Copernicus sogar eine Erwärmung von über 1,6 Grad im Jahresdurchschnitt gegenüber der vorindustriellen Zeit festgestellt (Wille 2025) mit massiven Folgen für die Ökologie aber auch für die gesellschaftlichen Ordnungen. WMO-Chefin Celeste Saulo macht dementsprechend deutlich, dass es sich bei der Klimakrise nicht nur um eine Wetteränderung handele:
“The climate crisis is THE defining challenge that humanity faces and is closely intertwined with the inequality crisis – as witnessed by growing food insecurity and population displacement, and biodiversity loss”
Die damaligen Appelle von Jonas [4], präventive Verantwortung für denkbare Negativszenarien zu übernehmen, erhalten hier nochmals eine Unterstützung von den weltweit führenden Klimaexperten. Noch ist nach dem IPPC-Bericht noch eine Umsteuerung möglich, wenn die Intensität der klimapolitischen Maßnahmen eine enorme Steigerung erfahre. Ansonsten muss die Menschheit wohl erst durch eine äußerst schwierige Entwicklungsgeschichte hindurch, um endlich die Biosphäre achten zu können und den Vorrang ökonomischer Verwertungsinteressen, die Profitgier als Maßstab für ökologisches Verhalten, den Vorrang der Benzin betriebenen Verbrennungsmotoren und der Kohleverstromung, klimabelastende militärische Aktivitäten, die Vermüllung der Meere sowie umweltfeindlichen Massenkonsum zu überwinden.
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Ein Bericht des Club of Rome (2024) („Earth for All“), der zusammen mit dem Wuppertaler Institut verfasst wurde, macht des Weiteren deutlich: Klimagerechtigkeit wird eine bedeutende Rolle bei der notwendigen sozialökologischen Transformation spielen. Die Proteste der Gelbwesten in Frankreich, die Bauernproteste in Deutschland und die Wahlerfolge der AfD machen deutlich, dass auch in den Industrieländern Bevölkerungsschichten mitgenommen werden müssen, die sich keine Klimaschutzmaßnahmen leisten können. E-Autos, Wärmepumpen und Fotovoltaikanlagen dürfen nicht nur den Wohlhabenden überlassen werden. Aber auch ärmeren Weltregionen müsste durch eine schrittweise Anhebung des UN-Klimafonds bei der Prävention und der klimatischen Anpassung geholfen werden, – wenn eine Transformation global gelingen will.
Der Club of Rome fordert deshalb eine Abkehr von einer einseitigen Wachstumslogik hin zu einer differenzierten Sichtweise notwendiger ökonomischer Zukunftsentwicklung: „Branchen mit fossilen Risiko sowie Hochrisikotechnologien (etwa der Atomenergie) müssen schrumpfen. Grüne Zukunftsbranchen (wie erneuerbare Energien, nachhaltige Mobilität, Energie- und Ressourceneffizienz) und sozial wichtige Bereiche (wie Bildung, Gesundheit, Altenpflege oder Kultur) müssen schneller wachsen. Dieser sozialökologische Strukturwandel führt gleichzeitig zu Wachstum und zu Schrumpfungen (…).“
Doch die Politik bevorzugt einen Rückschritt in der notwendigen sozialökologischen Entwicklung. Rechtsextreme Egomanen, gestörte Narzissten aber auch Globalisierungsgewinner haben derzeit einen zu großen Einfluss auf die internationale Klimapolitik. Das Schicksal der zukünftigen Generationen scheint ihnen nicht prioritär zu sein. Sowohl Wladimir Putin als auch Donald Trump leugnen auch noch im Jahr 2025 die eintretende Klimakatastrophe und setzen auf die Verfeuerung fossiler Energien. Es existiert bei ihnen keine Sensibilität für die Ökologie der Biosphäre und die gegenwärtigen und zukünftig zu erwartenden Klimafolgen. Erst wenn die Klimafolgen drastisch für die Mehrheit der Staaten und deren Bevölkerungen spürbar sein werden, wird wohl endlich versucht werden, die eingetretene Klimakatastrophe mit einem größeren Einsatz an Finanzmitteln und Ressourcen einzudämmen. Dann kann es allerdings zu spät sein. Die meisten der heutigen generationsegoistischen Entscheider werden dann wohl nicht mehr leben.
Auch in der Energieversorgung durch Atomkraftwerke kann keine Lösung gesehen werden. Die planetare Gefährdung durch Atomkraftwerke wurde lange Zeit heruntergespielt. Doch mit den schrecklichen Reaktorunfällen (GAU) und Maximalschäden u.a. in Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima, deren Folgen bis heute nicht beseitigt werden konnten, zeigte sich, dass die zivile Nutzung der Atomkraft nicht sicher beherrschbar ist. Hinzukommen die massiven Umweltschäden bei der Gewinnung des Urans und die ungelöste Entsorgungsproblematik. Noch immer kann der giftigste Stoff auf der Erde für die Energiegewinnung und den Bau von Nuklearwaffen verwendet werden, ohne dass hier die Entsorgungsfrage gelöst ist. Das Problem wird auf die kommenden Generationen verschoben. Der Versuch der EU-Kommission, die Energiegewinnung in Atomkraftwerken auch noch als nachhaltig auszugeben, versucht die zukünftigen Finanzströme in das Überleben der Kernkraft zu lenken und wird die notwendige Energiewende massiv behindern (vgl. zum Versuch des 'Greenwashing' durch die EU-Kommission dem im Anschluss and dieses Kapitel angefügten Beitrag zur EU-Taxonomie).
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Der Krieg in der Ukraine zeigt des Weiteren eine weitere Gefährdungslage auf, wenn russisches Militär Atomkraftwerke besetzt, dort militärisches Gerät und Waffen lagert und das technische Personal drangsaliert. Gleichzeitig wird die Gefahr durch Artilleriebeschuss von ukrainischer Seite gesteigert. Hierbei muss überhaupt nicht das AKW selbst getroffen werden, sondern es reicht die Unterbrechung der Kühlkette oder der Stromversorgung aus, so dass ein Super-GAU eintreten kann. Der deutsche Naturwissenschaftler und Autor Karl-W. Koch (2023) warnt daher eindringlich vor einer kriegsbedingten Kernschmelze in der Ukraine:
„Ein mittlerweile sehr deutlich erkennbares Kriegsziel ist dabei die Vernichtung der technischen Infrastruktur der Ukraine, maßgeblich der elektrischen Infrastruktur. Die ist am einfachsten zu zerstören, wenn die Knotenpunkte der Hochspannungsfernleitungen zerstört werden und die Einspeisungsstellen in die Netze mittlerer Spannungen. Ein Hauptproblem dabei: Die nötigen Transformatoren liegen weder in der Ukraine noch in Rest-Europa in Mengen als Reserve herum. Sie müssen im Gegenteil aufwendig, auf die jeweilige Stelle genau zugeschnitten neu gebaut werden, und das dauerte jeweils mehrere Monate.
An diesen Knotenpunkten und Transformatoren hängen aber AUCH die Atomkraftwerke der Ukraine. Werden sie vom Stromnetz getrennt, dann muss das AKW zur Kühlung auf Notstromaggregate (Diesel) umgestellt werden. Diese haben eine Laufzeit von maximal 3 bis 10 Tage, für den Dauerbetrieb sind sie nicht ausgelegt. Versagen auch sie, fällt die Kühlung der Reaktoren aus. Und diese MÜSSEN AUCH gekühlt werden, wenn die Reaktoren herunter gefahren wurden. Und die Lagerbecken der ausgetauschten Brennstäbe bei den AKWs (und in Tschernobyl, das große Zwischenlager der Ukraine) müssen dauerhaft gekühlt werden. Sonst droht jeweils eine Kernschmelze mit der Freisetzung riesiger Mengen an Radioaktivität.“
Tierquälerei und Fleischvermarktung
Wie der Mensch zerstörerisch und ausbeuterisch mit der ihn umgebenden Natur umgeht, so verhält er sich zu den Tieren. Die Vielfalt der frei lebenden Tierarten ist extrem rückläufig. Die meisten der von Menschen gefangen gehaltenen und für den Fleischkonsum eingesperrten Tiere werden im Rahmen industrieller Massentierhaltung auf vielfältige Weise gequält, bevor sie geschlachtet werden. Schweine und Kühe stehen dort zwischen Metallgittern gehalten und ohne Bewegungsspielraum eingepfercht, werden mit Hormonspritzen und Antibiotika zum ungestörten und schnellen Fleischwachstum manipuliert, ihre Güllefluten werden dann auf den Feldern entsorgt, wodurch wiederum das Trinkwasser mit Nitraten vergiftet wird. Insbesondere die Menschen in den reichen Ländern des Nordens konsumieren in einem erschreckenden Ausmaß Fleischprodukte, so dass ein großer Prozentsatz buchstäblich seinen Leib aufbläht und krankhaft übergewichtig wird. Gleichzeitig fehlt vielen Menschen in den ärmeren Ländern die Möglichkeit, genügend Kalorien über die Ernährung aufzunehmen, so dass der Hunger in der Welt noch keineswegs besiegt ist. [5]
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Eine ganzheitliche Perspektive auf die Problematik zeigt, dass hinsichtlich der industriellen Massentierhaltung, der damit verbundenen Tierquälerei und des durchschnittlichen Fleischkonsums sowie der dadurch ausgelösten Umweltvergiftung, insbesondere der Belastung des Trinkwassers und des Ausstoßes von Kohlenstoffdioxid und Methan, ein verhängnisvoller ökologischer Zusammenhang existiert. Auch das Abbrennen des ökologisch wertvollen Regenwaldes ist in einer Verbindung mit dadurch entstehenden Weideflächen für Rinder, dem Futtermittelanbau für Rinder (Soja) und dem Fleischkonsum zu sehen.
So fasst der Weltklimarat (IPCC 2019, 17) die entsprechenden Forschungsergebnisse wie folgt zusammen:
„The level of risk posed by climate change depends both on the level of warming and on how population, consumption, production, technological development, and land management patterns evolve (high confidence). Pathways with higher demand for food, feed, and water, more resource-intensive consumption and production, and more limited technological improvements in agriculture yields result in higher risks from water scarcity in drylands, land degradation, and food insecurity (high confidence).“
Um eine solche Kritik ungebremsten Wachstumsdenken und Profitmacherei zu verhindern, ist 2025 die US-amerikanische Regierung nun dabei, den US-amerikanischen Vertretern_innen des IPCC staatliche Fördergelder zu streichen. So findet die im Februar 2025 stattfindende Sitzung des Weltklimarats in der VR China ohne die US-amerikanischen Teilnehmer_innen statt, da die US-Regierung ihnen die Gelder für Reisekosten gestrichen, die Teilnahme untersagt und Entlassungen vorgenommen hat:
"Die Regierung unter Donald Trump hat Mittel zur Abdeckung ihrer Reisekosten gestrichen. Für den nächsten, im Jahr 2029 erwarteten Sachstandsbericht des IPCC könnte sich aber etwas anderes als noch weit problematischer erweisen: Auch die Geschäftsstelle der US-Arbeitsgruppe „Klimaschutz“ wurde aufgelöst, die Gehälter ihrer Mitarbeitenden gestrichen. Der Co-Vorsitzenden aus den USA, Katherine Calvin, fehlt nun die personelle Unterstützung für den erheblichen Arbeits- und Organisationsaufwand. Und ihr selbst wurde untersagt, an dem Treffen teilzunehmen." (Eickemeier 2025)
Ökologische Schwellenwerte für den Planeten
V. Weizsäcker/Wijkman (2017) verwenden den Begriff der planetaren Grenzen [6], der sich auf ökologische Schwellenwerte der Erde bezieht. Wenn die planetaren Grenzen überschritten seien, bestehe die Gefahr einer unumkehrbaren Umweltveränderung.
Hinsichtlich folgender neun Faktoren lässt sich eine krisenhafte Entwicklung feststellen, wobei vor allem die genetische Vielfalt sowie der Stickstoff- und Phosphorkreislauf sich bereits im Hochrisikobereich, also jenseits des Unsicherheitsbereichs, befinden. Die komplexeste Gefahr mit Folgen für das gesamte ökologische System gehe vom Klimawandel aus, der ebenfalls schon seine planetaren Grenzen überschritten habe. [7]
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Neun ökologische Faktoren planetarer Grenzen [8]
· „Stratosphärischer Ozonabbau
· Verlust der Biodiversität und Artensterben
· Chemische Verschmutzung und Freisetzung neuartiger Verbindungen
· Klimawandel
· Ozeanversauerung
· Landnutzung
· Süßwasserverbrauch und der globale hydrologische Kreislauf
· Stickstoff und Phosphor fließen in Biosphäre und Ozeane
· Atmosphärische Aerosolbelastung“ [9]
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Hierbei muss festgestellt werden, dass einzelne Faktoren nicht isoliert sondern ganzheitlich betrachtet werden sollten, da sie miteinander, sich wechselseitig beeinflussend und vernetzt sind. Nur über eine ganzheitliche Sichtweise, die sowohl Komplexität als auch Differenziertheit ermöglicht, kann die Tragweite des bereits entstandenen ökologischen und gesellschaftlichen Schadens verstanden werden:
“Although the planetary boundaries are described in terms of individual quantities and separate processes, the boundaries are tightly coupled. We do not have the luxury of concentrating our efforts on any one of them in isolation from the others. If one boundary is transgressed, then other boundaries are also under serious risk. For instance, significant land-use changes in the Amazon could influence water resources as far away as Tibet. The climate-change boundary depends on staying on the safe side of the freshwater, land, aerosol, nitrogen-phosphorus, ocean and stratospheric boundaries. Transgressing the nitrogen-phosphorus boundary can erode the resilience of some marine ecosystems, potentially reducing their capacity to absorb CO2 and thus affecting the climate boundary.” [10]
Die Zerstörung der Wälder – die Lunge der Erde
Eine bereits 2019 durchgeführte Studie des Weltklimarats (IPCC 2019, 3) macht die Dringlichkeit einer Umsteuerung auch in dem forst- und landwirtschaftlichen Umgang mit der Biosphäre deutlich („loss of natural ecosystems (e.g. forests, savannahs, natural grasslands and wetlands) and declining biodiversity (high confidence)“). Durch Besiedlung und agrarindustrielle Nutzung gehen zunehmend Flächen für CO2 absorbierende und Sauerstoff erzeugende Waldflächen verloren. So stellt der von den UN beauftragte IPCC fest:
„Land use change and rapid land use intensification have supported the increasing production of food, feed and fibre. Since 1961, the total production of food (cereal crops) has increased by 240% (until 2017) because of land area expansion and increasing yields. Fibre production (cotton) increased by 162% (until 2013).“ [11]
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Die unter dem ehemaligen rechtspopulistischen brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro massiv beschleunigte Abholzung des Regenwaldes, der Lunge der Erde, zugunsten von Sojaanbauflächen, Rinderweiden und Bodenspekulation verstärkte die Klimakrise. Hierbei werden durch das bevorzugte Mittel der Brandrodung zusätzlich noch erhebliche Klima schädliche Mengen Kohlendioxids freigesetzt. Auch die Anbaustandards, z.B. hinsichtlich des Einsatzes von Pestiziden, entsprechen dort in der Regel nicht den Ansprüchen einer ökologisch ausgerichteten Landwirtschaft. Erhebliche Teile des brasilianischen Regenwaldes werden mit der ausschließlichen Perspektive der Bodenspekulation gerodet bzw. abgebrannt, um später einmal dieses Gelände als Anbaufläche oder sogar als Bauland vermarkten oder für die Ausbeutung von Bodenschätzen nutzen zu können. [12] Hierbei förderte der 2022 abgewählte brasilianische Präsident Bolsonaro in verhängnisvoller Weise diese Entwicklung:
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„Bolsonaro hat sich in seinen Ansprachen immer wieder zu Goldgräbern und Holzfällern bekannt, aber er äußert sich abfällig über indigene Völker (‚wie im Zoo‘) und die staatseignen Umweltschutzbeamten (‚Strafzettelindustrie‘). Am Amazonas wurde das wie eine Aufforderung verstanden, noch bevor er mit Dekreten die Gesetzeslage veränderte. Erst vor zwei Wochen machte der Mord am Häuptling des Waiãpi-Volks internationale Schlagzeilen. An einigen Orten sind Gebäude der Indianerschutz- und der Umweltschutzbehörde in Flammen aufgegangen, Unbekannte schossen in einem Abholzungs-Hotspot auf einen Behördenhubschrauber. Keine Woche vergeht mehr ohne Meldungen von Invasionen in Indianergebiete, von Vertriebenen oder gar Toten. Ergebnis: Vorläufige amtliche Satellitendaten zeigen, dass im Juni das Tempo, mit dem am Amazonas Bäume gefällt werden, um 88 Prozent über dem des Vorjahresmonats lag, im Juli waren es sogar 212 Prozent. Aktuell liegt die Abholzungsrate bei drei Fußballfeldern pro Minute. Seit den Siebzigerjahren, als die Abholzung im großen Stil unter der Militärdiktatur (1964–1985) begann, sind etwa 20 Prozent des gesamten brasilianischen Amazonaswaldes verschwunden, eine Fläche, zweimal größer als Deutschland.“ [13]
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Anstelle nun mit einer höheren Besteuerung von Rindfleisch- und Sojaexporten in die EU zu reagieren, wenn diese aus gerodeten Regenwaldflächen resultieren, beschließt die EU das Gegenteil: Es wird ein internationales Freihandelsabkommen zwischen den MERCOSUR-Staaten (Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay) und der EU auf den Weg gebracht, das ohne derartige Beschränkungen auskommt bzw. den zwischenstaatlichen Handel mit Rindfleisch und Sojaprodukten generell deutlich erleichtert. Dies bedeutet eine direkte Aufforderung, den Regenwald weiter zu vernichten und die Klimakatastrophe zu beschleunigen – ganz zu schweigen von den verstärkt notwendig werdenden interkontinentalen Warentransporten auf dem See- und dem Luftweg, die zusätzlich die Biosphäre belasten. [14]
Allerdings sind zunächst Ende 2024 nur die Verhandlungen für das Mercosur-Abkommen zwischen der EU-Kommission und den Mercosur-Staaten abgeschlossen, der Vertrag muss aber noch von den einzelnen Länderparlamenten abgestimmt und dann durch die nationalen Regierungen ratifiziert werden.
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Derartige Maßnahmen stehen eindeutig den ökologischen Beteuerungen der EU entgegen und gegen die Klimaziele der Vereinten Nationen. Solange hier nicht eine andere Handels- und Umweltpolitik von Seiten der EU erfolgt, werden deren ökologische Ansprüche als hohle Phrasen entlarvt.
Aufgrund des Postulats nationalstaatlicher Souveränität sind die UN derzeit nicht in der Lage, intervenierend einzugreifen. Hierzu müsste es zu einer Änderung der UN-Charta kommen, so dass für den Fall einer massiven ökologischen Schädigung mit Folgen für das Weltklima ein international gesteuertes Eingreifen, z.B. in Form von Wirtschaftssanktionen, möglich wäre.
‚Responsibility to Protect‘ wäre hier um das verantwortliche Eingreifen durch die Vereinten Nationen zu erweitern. Dies müsste zunächst mit diplomatischen Mitteln erfolgen, dann mit wirtschaftlichen Druck und im Falle der Erfolglosigkeit dieser Maßnahmen mit weltpolizeilichem Eingreifen unter Vorrang ziviler Mediationsmethoden und ‚Just Policing‘ im Kontakt mit einheimischen Bürgerinitiativen und indigenen Bevölkerungsgruppen durchgeführt werden. Wenn dies alles nichts nutzt, müssten im Falle einer massiven Beschädigung auch UN-Militär mit einem robusten Mandats des ökologischen Peacebuildings eingesetzt werden.
Doch die UN sind trotz ihrer internationalen Klimakonferenzen und der auf dem Kyoto-Protokoll und der Klimaverträge von 2015 basierenden Arbeit der Mitarbeiter_innen des Rahmenübereinkommens der Vereinten Nationen über Klimaänderungen (UNFCCC) relativ machtlos aufgrund der starken Stellung der Nationalstaaten im Rahmen der UN-Charta. Dies wird auch dadurch deutlich, dass bis Anfang 2025 ein größerer Teil der Nationalstaaten, seine Klimapläne mit aktualisierten Entwicklungsdaten für die nächste Periode noch nicht eingereicht hat, obwohl der Termin hierfür längst verstrichen ist.
Die Atmosphäre, die schmale Gashülle, welche die Erde umgibt, ist derart dünn und verletzlich, bereits massiv beschädigt, so dass hier eine zukünftige Toleranz nicht mehr möglich ist. Man muss hierbei bedenken, dass die Troposphäre, die erdnaheste und für unsere Fortexistenz besonders bedeutsame atmosphärische Schicht, nur ein paar Kilometer hoch ist und dementsprechend kaum noch Kompensationsmöglichkeiten besitzt. Eine Milliarden Jahre umfassende Entwicklung ist in wenigen Jahrzehnten durch die menschliche Zivilisation und ihr ungebremstes ökonomisches Wachstumsdenken an die Grenze ihrer ökologischen Resilienz gebracht worden.
Auch die vorherigen Versuche, zu multilateralen oder bilateralen Handelsabkommen zu gelangen, wie z.B. TTIP oder JEFTA [15], zeigen, dass es hierbei um eine ungebremste Steigerung des Wirtschaftswachstums geht, ohne Rücksicht auf natürliche Ressourcen zu nehmen. Es geht um die Einrichtung von internationalen ‚Freihandelszonen‘, die zu einem erhöhten Verbrauch natürlicher Ressourcen über die damit eintretende Produktionserhöhung sowie über den ansteigenden Transport von Waren zwischen den Kontinenten führen wird. Auch besteht die Gefahr der Absenkung internationaler Standards im Bereich des Umweltschutzes.
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Die Neoliberalisierung der Wirtschaft verstärkt die bereits historisch durch die Kolonalisierung und die postkoloniale Zeit entstandene globale Ungerechtigkeit zwischen dem reicheren und dem ärmeren Teil der Welt, auch mit dem Blick auf die Klimaentwicklung. Während die reichen Länder sich über die Externalisierung der Klimaschäden weiter bereichern konnten, konnten die ärmeren Länder diese Entwicklung aufgrund der ungerechten Welthandelsverhältnisse selbst nicht vollziehen. Die reichen und industrialisierten Regionen belasteten über zwei Jahrhunderte die Erdatmosphäre mit CO2-Emissionen, wobei insbesondere die ärmeren Regionen die Folgen der Klimakatastrophe nun erleiden müssen. Diese kritische Einschätzung muss dann natürlich auch Konsequenzen für die Forderungen zur zukünftigen Finanzierung der notwendigen Klimaschutzmaßnahmen haben.
Auch der Weltklimarat (2023, 5) machte in seinem zusammenfassend analysierenden Bericht die doppelte Ungerechtigkeit im globalen Kontext anhand klimawissenschaftlicher Daten deutlich:
„Widespread and rapid changes in the atmosphere, ocean, cryosphere and biosphere have occurred. Human-caused climate change is already affecting many weather and climate extremes in every region across the globe. This has led to widespread adverse impacts and related losses and damages to nature and people (high confidence). Vulnerable communities who have historically contributed the least to current climate change are disproportionately affected (high confidence).“
Geschäfte mit dem Wasser
Des Weiteren existiert der Versuch einer weiteren Privatisierung natürlicher Ressourcen im Rahmen dieser Abkommen, insbesondere der Privatisierung des Trinkwassers, die nachweisbar zu Preiserhöhung und zur Absenkung der Trinkwasserqualität führt. [16]
Über die multilateralen Handelsverträge versucht sich der Weltkapitalismus auf der Vertragsebene abzusichern und sich möglichst günstige Bedingungen für den Raubbau an den natürlichen Ressourcen und der Inwertsetzung von Natur zu verschaffen. Aber auch transnationale Institutionen, wie z.B. IWF, Weltbank und WTO, arbeiten an den Voraussetzungen einer neoliberal orientierten Privatisierung von Ressourcen, wie z.B. der für die Erzeugung von Trinkwasser zur Verfügung stehenden Süßwasserquellen. Der Konflikt um den Zugang zu Trink- und Brauchwasser verschärft sich durch die Klimaveränderungen und das Anwachsen der Weltbevölkerung, so dass durch internationale Vereinbarungen multinationale Konzerne zukünftig privilegiert werden sollen:
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„Wasser – von der Quelle des Lebens zur Quelle von Profiten
Zurückzuführen ist diese Politik auf den Washington Consensus (1990), der eine Reihe wirtschaftspolitischer Maßnahmen zur weltweiten Förderung von wirtschaftlicher Stabilität und Wachstum beinhaltet, in welchem Wirtschaftsprozesse liberalisiert und die Wirtschaftstätigkeit weitgehend privatisiert werden sollten. Dadurch, so der wirtschaftsliberale Gedanke, werde die Grundlage dafür geschaffen, dass Ressourcen besser alloziiert und effizienter verwendet werden. Das Konzept des Washington Consensus wird von IWF und Weltbank vorangetrieben. Dazu gehören unter anderem die Liberalisierung der Handelspolitik und die Privatisierung öffentlicher Einrichtungen. Der IWF fungiert als Kreditgeber für die Zentralbanken, die Weltbank übernimmt diese Funktion für Privatbanken. Darüber hinaus ist ein internationales Netzwerk regionaler Entwicklungsbanken mit IWF, Weltbank und WTO verbunden, wie die European Investmentbank, Inter-American Development Bank, Asian Bank, Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung und die Islamic-Development Bank. Global agierende Wasserkonzerne, der Weltwasserrat und Global Water Partnership arbeiten eng mit WTO, Weltbank und IWF zusammen. Sie verbindet das Ziel, Wasser als Wirtschaftsgut einzustufen, damit es dementsprechend frei vermarktet werden kann. Offiziell wird die Politik der Wasserprivatisierung und – damit verbunden – der Bau von Staudämmen mit der Armutsbeseitigung begründet. Dass diese Argumentation nur vorgeschoben ist, zeigt sich etwa daran, dass sich die involvierten Organisationen und Konzerne nicht für dezentrale Lösungen, wie beispielsweise die Nutzung von Regenwasser einsetzen. Vielmehr werden Großstaudämme und kapitalintensive Infrastrukturprojekte propagiert, zu deren Realisierung oft sogar Entwicklungshilfeorganisationen als Geldgeber eingespannt werden. Ein Hand in Hand arbeitendes Netzwerk aus Lobbyisten und Branchenverbänden steht hinter dieser Ausrichtung der weltweiten Wasserpolitik.“ [ 17]
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Die hinter den aus dem ‚Washington Consensus‘ heraus angeregten Beschlüsse stehenden Lobbyisten, Politiker, Gruppierungen und Konzerne, wie z.B. Coca Cola oder PricewaterhouseCoopers, arbeiten größtenteils verdeckt und intransparent, um Störungen dieses Prozesses, etwa über zivilgesellschaftlichen Widerstand, zu vermeiden.
Ressourcenkonflikte sind hinsichtlich des Wassers unvermeidlich. Der Konflikt zwischen den Ex-Sowjetrepubliken Tadschikistan und Kirgistan, an der chinesischen Grenze gelegenen Staaten, um den Zugang und die Kontrolle einer Wasserverteilstelle ist exemplarisch für diese Problematik:
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Kampf um Trinkwasser „Das kirgisische Gesundheitsministerium in Bischkek teilte übereinstimmenden Berichten zufolge mit, bei den Kämpfen seien 31 Menschen getötet und 154 verletzt worden. Auf tadschikischer Seite war von 10 Toten und etwa 90 Verletzten die Rede, wie das Internet-Portal Asia-Plus meldete. Eine Bestätigung der Zahlen gab es in dem autoritär geführten Land zunächst nicht. Der Konflikt eskalierte Mitte dieser Woche, als tadschikische Beamte eine Videokamera in der Nähe einer Wasserverteilerstation installieren wollten. Kirgisische Bürger wehrten sich dagegen. Sie warfen zunächst mit Steinen, wie Medien berichteten. Dann verstärkten beide Seiten ihre Grenztruppen, die dann aufeinander schossen. Die Wasserverteilstelle liegt auf von Kirgistan kontrolliertem Gebiet an einem Kanalausgang, der einen Stausee in der Region Batken befüllt. Für die Menschen dort ist dies der wichtigste Zugang zu Trinkwasser. Tadschikistan erhebt unter Berufung auf ältere Karten Anspruch auf das Gebiet.“ [18]
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Die Auseinandersetzungen in Zentralasien sind ein Beispiel für zwischenstaatliche Wasserkonflikte. Ein weiteres Beispiel ist der Konflikt zwischen Ägypten und Äthiopien um das Nilwasser. Hier hat Ägypten bereits mehrfach Äthiopien mit Krieg gedroht. Ägypten bezieht 90% seines Trinkwassers aus dem Nil und sieht die Trinkwasserversorgung durch die Planung von Staudämmen durch Äthiopien bedroht. Auch Israel hat beispielsweise im Zuge der verschiedenen militärischen Auseinandersetzungen es geschafft, dass inzwischen 90% des Jordanwassers nach Israel umgeleitet werden, die nun in einer sehr regenarmen Region in Jordanien, Syrien und in den Palästinensergebieten fehlen. So wird palästinensischen Bauern verboten, neue Brunnen zu bohren, während israelische Siedler in palästinensischen Gebieten hierfür ohne Schwierigkeiten die Genehmigung zu einer Brunnenbohrung erhalten. [19]
Doch auch innerstaatlich kommt es zu Kämpfen um die Ressource Wasser. Mehr als eine Milliarde Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. So versiegen Quellen und fallen vermehrt Niederschläge aufgrund der klimatischen Verschiebungen aus. Des Weiteren beanspruchen agrarindustrielle Großprojekte sowie der Abbau von Rohstoffen, wie z.B. für die Gewinnung der seltenen Erden für die Batterieherstellung in Chile, riesige Wasserressourcen, die den einheimischen Bauern fehlen und ihnen die Existenzgrundlage rauben.
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Innerstaatliche Auseinandersetzungen in Kenia beispielsweise zeigen die Dynamik einer solchen Problematik. Hier kämpfen nomadisierende Viehzüchter gegen die Export orientierte und hierfür ehemalige Weideflächen beanspruchende Landwirtschaft. Sowohl der zunehmende Bevölkerungsdruck als auch die durch klimatische Verschiebungen sich verzögernden Regenfälle verschärfen diesen Konflikt. Konflikte im Norden Kenias werden inzwischen nicht mehr mit Speeren, sondern mit aus Somalia importierten Kalaschnikows ausgetragen und führen zu steigenden Opferzahlen in diesem Konflikt um die kostbare Ressource. So intensivieren westliche Konsumbedürfnisse, wie z.B. die steigende Nachfrage nach Rosen und Tulpen, innerstaatliche Konflikte in einem afrikanischen Staat. Zusätzlich wird diese Problematik von ethnischen Spannungen überlagert. [20]
Am Beispiel des Nestlé-Konzerns soll nun die Problematik der internationalen Versuche der Wasserprivatisierung exemplarisch entfaltet werden.
Nestlé – „Sie sind Raubtiere und Wasserjäger“ (Maude Barlow)
Der multinationale Schweizer Konzern Nestlé ist – so die eigene Darstellung – das weltweit größte Unternehmen für Lebensmittel und Getränke, das Niederlassungen in 189 Ländern besitzt. Zur Nestlé-Unternehmensgruppe gehören u.a. Marken wie MAGGI, Thomy, Nescafé, Nesquick, Kitkat, Smarties, After Eight, Bübchen sowie u.a. das in Flaschen verkaufte Wasser, wie z.B. die Marken S. Pellegrino, Vittel und Nestlé Pure Life. [21]
Eine zentrale Geschäftsidee Nestlés ist das Bohren von Tiefbrunnen und die Vermarktung von in Plastikflaschen portioniertem Trinkwasser. Denn Nestlé habe, so der Konzern in der Selbstdarstellung, seine Verantwortung hinsichtlich der ökologischen Bedeutung des Wassers erkannt:
„Wasser ist Leben. Es ist unentbehrlich, aber an vielen Orten der Welt – bereits jetzt – knapp. Wir bei Nestlé sind der festen Überzeugung, dass der Zugang zu Wasser ein grundlegendes Menschenrecht ist. Jeder Mensch, überall auf der Welt, hat das Recht auf sauberes, sicheres Trinkwasser und sanitäre Einrichtungen.“ [22]
Damit hat Nestlé eine Geschäftsidee, die zukunftsträchtig scheint, denn es droht in der Zukunft in vielen Regionen ein dramatischer Wassermangel. Das Aufkaufen von Wasserquellen und das Erkaufen von Bohrgenehmigungen für Tiefbrunnen, um mit Wasser gefüllte Trinkflaschen portionsweise zu vermarkten, verspricht ungeahnte Profite, auch wenn dann die Wasserquellen von militärischen Sicherungsdiensten vor den Einheimischen zu bewachen sind.
Im Jahr 2012 erschien der Film des Schweizer Filmemachers Urs Schnell und des aus der Schweiz stammenden Journalisten Res Gehriger mit dem Titel „Bottled Life“, der sich mit dem Wassergeschäft von Nestlé kritisch auseinandersetzt. Die Schweizer Zeitschrift ‚Tagesanzeiger‘ schreibt hierüber:
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„Journalist Gehriger liess sich nicht abwimmeln. In Äthiopien besuchte er ein Flüchtlingslager, für das Nestlé 2003 mit 750.000 Dollar die Wasserversorgung erstellt hatte. Zwei Jahre später zog sich der Konzern zurück, seither funktioniert die kaum noch gewartete Anlage mangelhaft, Wasserknappheit ist wieder Alltag. In Nigerias Hauptstadt Lagos erfährt Gehriger, dass Familien die Hälfte ihres Budgets für Wasser in Kanistern aufwenden. Wer es sich leisten kann, trinkt Pure Life von Nestlé. Oder die Dorfgemeinschaften im US-Bundesstaat Maine, die gegen das Abpumpen von Grund- und Quellwasser durch Nestlé kämpfen. Es gilt das Recht der stärksten Pumpe: Wer Land besitzt, darf darauf so viel Wasser pumpen, wie er will. Nestlé schöpft jährlich mehrere Millionen Kubikmeter ab und transportiert das Wasser per Tanklastwagen zu den Abfüllanlagen. ‚Die wollen mit unserem Wasser Profit machen, zahlen pro Liter den Bruchteil eines Cents‘, empört sich eine Kleinunternehmerin. ‚Die verkaufen das Wasser, das wir fürs WC und zum Händewaschen verwenden, als teures Quellwasser‘, höhnt ein anderer. Doch weil Nestlé den Gemeinden Steuern bringt, empfangen viele Behörden den Konzern, der von einer Armada von Anwälten und PR-Beratern unterstützt wird, mit offenen Armen. Im Film läuft der Kampf zwischen David und Goliath auf ein Patt hinaus: Am einen Ort gewinnt Nestlé, am anderen die lokale Opposition.“ [23]
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Nestlé selbst ist auf seiner Homepage um eine Imageverbesserung bemüht und spricht von nachhaltiger Wasserbewirtschaftung, ökologischer Verantwortung und seinem Einsatz für Humanität in den armen und von Trockenheit bedrohten Gebieten der Welt.
Die ehemalige UN-Chef-Beraterin für Wasserfragen und kanadische Wasseraktivistin Maude Barlow entlarvt diesen PR-Anspruch des Konzerns allerdings als Medien-Propaganda, um die hochproblematische Aktivität des Konzerns zu verbergen. In ihrem Buch ‚Blaue Zukunft. Das Recht auf Wasser und wie wir es schützen können‘ analysiert Maude Barlow (2014) die an Profitmaximierung orientierten Aktivitäten der Wasserkonzerne, wie z.B. Nestlé. Im Film ‚Bottled Life‘ bringt sie ihre Kritik an Nestlé auf den Punkt:
„Nestlé ist ein Wasserjäger, ein Raubtier auf der Suche nach dem letzten sauberen Wasser dieser Erde.“ [24]
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Nestlé macht einem Umsatz mit Flaschenwasser von sieben Milliarden Euro und ist in diesem Segment Weltmarktführer. Die Journalistin Rabea Weihser (2013) der Zeitschrift ‚Die Zeit‘ rekonstruiert die Kritik der Produzenten des Films ‚Bottled Life‘ und charakterisiert den ausbeuterischeren Charakter der Nestlé-Aktivitäten:
„Sie zeigen, wie dessen Marke Pure Life durch gezielte Werbung in Pakistan zum Statussymbol und in Nigeria zu einer der wenigen zuverlässig sauberen Trinkwasserquellen wurde. Kein Getränk ist so stark verbreitet wie Pure Life. Es besteht in 27 Ländern aus gefiltertem, mit künstlichen Mineralien versetztem Leitungswasser und schmeckt überall gleich. Wo korrupte Regierungen die öffentliche Wasserinfrastruktur verrotten lassen, schließt Nestlé eine Marktlücke und scheffelt das Geld der Ärmsten.“ [25]
Der Verkauf von Trinkwasser verspricht wachsende Profite in der Zukunft. Solange der rechtliche Rahmen und das damit verbundene Verständnis von Ökonomie das Geschäft mit der – neben der Luft – wichtigsten Ressource, dem Wasser, ermöglicht, wird sich hier zukünftig ein wachsendes Geschäftsfeld mit überdurchschnittlichen Renditen erschließen. Die Absenkung des Grundwasserspiegels sowie die Exklusion weiter Teile der Bevölkerung von sauberer Wasserversorgung wird hierbei wirtschaftspolitisch über die Befolgung des ‚Washington Consensus‘ – und wenn es sein muss – mit militärischer Absicherung betrieben werden.
Der ‚Washington Consensus‘ als Hindernis ökologischer Steuerung
Der ‚Washington Consensus‘, der für die Privatisierung, Deregulierung und Steuersenkung für Unternehmen steht, ist Ausdruck eines neoliberalen Kapitalismus-Verständnisses. Der neoliberalisierte Kapitalismus ist ein Haupthindernis hinsichtlich der auf massive Regulation angewiesenen, bereits eintretenden Klimakrise bzw. die Voraussetzung für eine noch extremere Ausbeutung der natürlichen Ressourcen.
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Die kanadische Aktivistin und Autorin Naomi Klein (2019, 30) macht den fatalen Zusammenhang zwischen der historischen Durchsetzung eines neoliberal deregulierten Kapitalismus und der gleichzeitig verschärft eintretenden Notwendigkeit, regulierend gegen die Naturzerstörung einzugreifen, deutlich:
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„Wir haben nicht die notwendigen Dinge getan, um die Emissionen zu reduzieren, weil diese Dinge in fundamentalem Widerspruch zum deregulierten Kapitalismus stehen, der herrschenden Ideologie, seit wir uns um einen Weg aus der Krise bemühen. Wir kommen nicht weiter, weil die Maßnahmen, die am besten geeignet wären, die Katastrophe zu verhindern – und die dem Großteil der Menschen zugutekommen würden –, eine extreme Bedrohung für eine elitäre Minderheit darstellen, die unsere Wirtschaft, unseren politischen Prozess und unsere wichtigsten Medien im Würgegriff hat. Zu einem Zeitpunkt der Geschichte wäre das Problem vielleicht nicht unüberwindbar gewesen. Wir haben jedoch als Gemeinschaft das große Pech, dass die Wissenschaft ihre eindeutige Diagnose einer Klimabedrohung ausgerechnet in dem Augenblick stellte, als diese Eliten eine uneingeschränkte politische, kulturelle und intellektuelle Macht genossen wie seit den 1920er Jahren nicht mehr.“
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Warschauer Pakt-Staaten fiel die Systemkonkurrenz für den kapitalistischen Westen weg. Der Kapitalismus gab sich als das überlegene System aus und ließ seine sozial-ökologische Maske fallen. Mit der eintretenden Klimareaktion entwickelte sich der Kapitalismus in eine neoliberale Richtung, die das ungehinderte Profitdenken und die zunehmende Ausbeutung der Ressourcen begünstigte sowie eine Bewusstseinsindustrie installierte, die hiervon ablenken sollte.
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Leugnung des anthropogenen Teils der Klimakrise als Geschäft
Entgegen der früheren Veröffentlichungen des IPCC und des 2023 veröffentlichten IPCC-Synthesebericht, bei dem die führenden Klimawissenschaftler_innen über 9000 wissenschaftliche Studien zur Klimaentwickelten analysierten und auf ihre Konsequenzen hin beurteilten, leugnen Politiker, wie z.B. Trump, Putin oder Bolsonaro, die Existenz der Klimakrise und können sich hier u.a. auch auf gekaufte wissenschaftliche Gutachten stützen.
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Die wissenschaftliche Leugnung der Klimakrise bzw. der eintretenden Klimakatastrophe wird von Teilen der Fossilindustrie, wie z.B. Öl- und Gas-Konzernen, gut bezahlt. Einige korrupte Wissenschaftler lassen sich nicht nur das ‚Greenwashing‘ von Konzernen bezahlen, sondern auch die Leugnung der menschengemachten Klimakrise, damit die Ausbeutung der Ressourcen fortgesetzt werden kann. Im Gegensatz zu 97% der Wissenschaftler, die die Fakten zur Klimasituation aufgrund der wissenschaftlich korrekt ermittelten Datenlage analysieren würden, werden z.B. US-amerikanische Think Tanks von interessengeleiteter Seite mit Millionen Dollar bezahlt, die von einer Klimahysterie und den natürlichen Klimaschwankungen sprechen und den Menschen verursachten Teil an der Klimaentwicklung abstreiten. [26]
So wird beispielsweise behauptet, dass die Klimaerwärmung nicht anthropogen verursacht sei, sondern mit der gesteigerten Sonnenaktivität zusammenhänge. Aber genau das Gegenteil ist der Fall: Messungen u.a. des ‚Wold Radiation Center‘ sowie des ‚Laboratory for Atmospheric and Space Physics‘sind zum Ergebnis gekommen, dass in den letzten 35 Jahren die Sonneneinstrahlung auf die Erde sogar abnahm, während wir in dieser Zeit den schnellsten Anstieg der Klimaerwärmung seit dem Beginn der Industrialisierung hatten. [27]
Auch wird von interessierten Klimaskeptikern behauptet, dass die derzeit zu beobachtende terrestrischer Erwärmung um 1,5 Grad Celsius überhaupt kein Problem sei, da es schon immer Klimaschwankungen gegeben habe, mit denen die Erde fertig werden musste. Auch sei bei solchen Wärmeperioden keine erhöhte CO2-Konzentration vorhanden gewesen. Die Erwärmung sei eine natürliche Tendenz nach einer kleineren Eiszeit und sei nicht menschengemacht.
Hiergegen lässt sich zunächst einwenden, dass die gegenwärtige schnelle Erwärmung nicht vergleichbar mit der nach Eiszeiten viel langsamer erfolgenden Erwärmung ist. Auch ist untersucht worden, dass bei allen klimatischen Veränderungen, die abrupt, z. B. bei Vulkanausbrüchen größeren Ausmaßes, erfolgten, der massive Ausstritt von Klimagasen, wie Kohlenstoffdioxid oder Methan beteiligt waren. So die Einschätzung der Scientists for Future:
„But there have been several times in Earth’s past when Earth's temperature jumped abruptly, in much the same way as they are doing today. Those times were caused by large and rapid greenhouse gas emissions, just like humans are causing today.
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Those abrupt global warming events were almost always highly destructive for life, causing mass extinctions such as at the end of the Permian, Triassic, or even mid-Cambrian periods. The symptoms from those events (a big, rapid jump in global temperatures, rising sea levels, and ocean acidification) are all happening today with human-caused climate change.
So yes, the climate has changed before humans, and in most cases scientists know why. In all cases we see the same association between CO2 levels and global temperatures. And past examples of rapidcarbon emissions (just like today) were generally highly destructive to life on Earth.“ [28]
Die Natur ist für den Kapitalismus nur interessant, wenn sie in Wert gesetzt wird.
Daher sind weltweite Gegenbewegungen und Initiativen, wie über die NGO’s Attac, Transparency International, World Commission on Dams (WCD), Lobby Control oder Water Aid dabei, über die Zusammenhänge zwischen Raubbau an Ressourcen, Privatisierungstendenzen, transnationalen Vereinbarungen und kapitalistischer Profitmaximierung aufzuklären. Auch stellt sich die Frage, ob nicht gerade dieser Zusammenhang zwischen neoliberalisiertem Kapitalismus und drohender zivilisatorischer Vernichtung der Menschheit durch die einsetzende Umweltkatastrophe doch zu einem radikaleren Umlenken und einer systemischen Neuordnung führen wird.
Zwar hat auch der Staatssozialismus sowjetischer Prägung die Natur auf das Äußerste ausgebeutet und ökologische Grenzen verantwortungslos überschritten, doch scheint genauso ein Zusammenhang zwischen Naturausbeutung und Kapitalismus zu bestehen. Die Natur ist für den Kapitalismus nur interessant, wenn sie in Wert gesetzt wird. Hierbei herrscht eine Mentalität vor, dass die Natur unerschöpflich, umsonst verfügbar und ohne Beachtung der Folgen für die Wertschöpfung nutzbar ist. Der Raubbau an der Natur entspricht der sich im Kapitalismus auslebenden menschlichen Gier nach Reichtumsanhäufung. Daher ist es trotz aller gutgemeinten internationalen Beschlüsse fraglich, ob sich in einem rigorosen weltkapitalistischen System tatsächlich einschneidende Maßnahmen zur Erhaltung der Biosphäre umsetzen lassen.
Die historische Entwicklung zur Entbettung der Ökonomie (Polanyi, 1957) führte zu einer Verselbstständigung der Wirtschaft und einer Loslösung von humanen Bedürfnissen zugunsten einer Dominanz der Ökonomie über das gesellschaftliche Leben. Die ‚große Transformation‘ bedeutete dann auch die Transformation der Natur zu einem ökonomisch eingeengten und anthropozentrischen Mensch-Natur-Verhältnis. Dieser sich über ca. zwei Jahrhunderte beschleunigt entwickelnde Prozess müsste nun wieder durch konsequente und international gesteuerte Maßnahmen verlangsamt und dort umgekehrt werden, wo er die ökologischen Voraussetzungen des Lebens auf der Erde vernichtet.
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Oftmals stehen vor allem die Emissionen aus industrieller Produktion und Verkehr im Vordergrund der Klimadiskussion. Daher seien auch den Skeptikern gegenüber dem negativen anthropogenen Einfluss auf die Klimaentwicklung abschließend noch einmal die zusammenfassenden Ergebnisse des Weltklimarats hinsichtlich des allein durch die agrar- und forstwirtschaftliche wirtschaftliche Nutzung ausgelösten Greenhouse Gas (GHG) in seinem 2019 erschienen Klimareport dargestellt. Der in Kooperation mit den Vereinten Nationen aus Wissenschaftlern_innen aller Weltregionen bestehende und der weltweit vorliegenden Forschungsergebnisse zur Klimaentwicklung analysierende und bewertende Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) fasst für den Zeitraum von 2007-2016 den menschlichen Einfluss der Landnutzung auf das Klima zusammen. Wenn man weiß, wie z.B. die Emissionen von Kohlenstoffdioxid und Methan in landwirtschaftlichen Produktionsprozessen sowie die Verminderung des Waldbestandes auf den Umfang der Waldaktivität im Sinne einer CO2-Senke sowie der Sauerstoffproduktion wirken, müsste man durch die folgenden Ergebnisse des IPCC erschrecken – es sei denn, man vertritt rücksichtslos die Interessen der Fossilindustrie oder ist einfach nicht bereit, gesicherte wissenschaftliche Ergebnisse zur Kenntnis zu nehmen:
„Agriculture, Forestry and Other Land Use (AFOLU) activities accounted for around 13% of CO2, 44% of methane (CH4), and 82% of nitrous oxide (N2O) emissions from human activities globally during 2007-2016, representing 23% (12.0 +/- 3.0 GtCO2e yr-1) of total net anthropogenic emissions of GHGs21 (medium confidence). The natural response of land to human-induced environmental change caused a net sink of around 11.2 GtCO2 yr-1 during 2007-2016 (equivalent to 29% of total CO2 emissions) (medium confidence); the persistence of the sink is uncertain due to climate change (high confidence). If emissions associated with pre- and post-production activities in the global food system are included, the emissions are estimated to be 21-37% of total net anthropogenic GHG emissions (medium confidence).“ [29]
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Der Kampf gegen die Klimazerstörung kann nur sozial gerecht erfolgen.
Im Jahr 2024 wurde in einer gemeinsamen Aktion des Club of Rome und des Wuppertaler Instituts ein Bericht veröffentlicht ("Earth for All"), der sich insbesondere dafür einsetzt, dass die notwendigen Maßnahmen zur Eindämmung der Klimakrise sozial gerecht erfolgen müsse. Ohne eine Klimagerechtigkeit werde die notwendige sozialökologische Transformation nicht gelingen können. Wenn ärmere Regionen und auch ärmere Schichten in den reicheren Weltregionen nicht mitgenommen würden, dann könne die Vermeidung disruptiver Klimaentwicklungen und das Einwirken ökologischer Kipppunkte nicht mehr verhindert werden. So zeigen die Proteste der Gelbwesten in Frankreich oder die Bauernproteste und der Widerstand gegen das Heizungsgesetz in Deutschland, dass auch in reichen Staaten der Welt der notwendige sozialökologische Umbau auf heftige Gegenwehr stößt, wenn hier die existenzielle Lage der Betroffenen nicht berücksichtigt wird.
So formulieren die Autoren_innen des Berichts die zentrale Frage sozialökologischer Transformation wie folgt:
"Ist eine gerechte Welt für alle innerhalb der planetaren Grenzen möglich, in der Armut und Hunger, Ungleichheit und Geschlechterdiskriminierung beendet und gleichzeitig Klimaschutz, eine nachhaltige Ernährung und der Schutz der Umwelt gewährleistet werden?"
(Club of Rome/Wuppertaler Institut (2024, 37)
Dies bedeutet, dass nationale und internationale Klimaschutzmaßnahmen auch immer für einen sozialen Ausgleich sorgen müssen, d.h. dort Unterstützung und Anreize gewähren müssen, wo dies aus eigener Kraft nicht gelingen kann.
Fünf Konstellationen in Ostafrika
Welchen Einfluss klimatische Veränderungen auf das Leben der Menschen hat, soll nun anhand von Konfliktsituationen und gewalttätigen Auseinandersetzungen in Ostafrika beschrieben werden.
Die SIPRI-Forscher Malin Mobjork und Sebastian van Baalen (2016, 1 ff.) entwickeln am Beispiel Ostafrikas fünf Konstellationen, bei denen der Klimawechsel zu gewalttätigen Ausschreitungen bzw. mit Waffengewalt ausgetragenen Konflikten unterschiedlicher Art führt:
· „Worsening livelihood conditions“: Dürren, massiver Dauerregen, zerstörte Böden und Vegetation aufgrund des Klimawechsels führen zu schlechteren sozialen Lebensbedingungen in einer Region und erhöhen die Anfälligkeit dafür, auf gewalttätigem Wege zu überleben bzw. sich die Existenz zu sichern. Dies führe zur Beteiligung an Aktionen bewaffneter Gruppen und zu chronischer Unsicherheit in einer von Naturkatastrophen heimgesuchten Region.[30]
· „Increasing migration“: Wenn Menschen in großer Anzahl von einer verwüsteten Region in eine andere Region auswandern, die verbesserte ökologische und auch ökonomische Bedingungen aufweist, kann es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Einheimischen und Migranten im Kampf um die Ressourcen kommen. Insbesondere wenn Bevölkerungen eine starke kulturelle Identität haben, könne diese ihre Mitglieder besser zum Einsatz von Gewalt mobilisieren. Oft handelt es sich hierbei um eine Vermischung ökologischer, ökonomischer, sozialer und kultureller, auch religiöser, Faktoren.
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· „Changing pastoral mobility patterns“: Wenn sich die Wege der mit ihren Herden herumziehenden Hirten, z.B. in Kenia, Äthiopien oder dem Sudan, aufgrund von Dürre und damit verbundener Wasserknappheit deutlich verändern, führt dies zu einem Verdrängungswettbewerb zwischen auf diesen Wegen angestammten Hirtengruppen und zum Einsatz von Gewalt, um die angestammten Routen gegen die Neuankömmlinge zu verteidigen.
· „Tactical considerations“: Wetter und kurzfristige klimatische Veränderungen können das Verhalten von bewaffneten Gruppen beeinflussen, z.B. bei Viehdieben. So lässt sich beobachten, dass in Regenzeiten in bestimmten Regionen Ostafrikas der Viehdiebstahl durch organisierte Gruppen zunimmt. In dieser Zeit haben die gestohlenen Viehherden während des illegalen Transports genügend Nahrung und Wasser. Auch bietet die in dieser Zeit üppige Vegetation einen verbesserten Schutz vor Entdeckung.
· „Exploitation by elites“: Im Sudan und ähnlich in Kenia, Äthiopien, Uganda und Ruanda lässt sich beobachten, wie herrschende Eliten den Kampf um Ressourcen zwischen unterschiedlichen Gruppen ausnutzen, um sich selbst über Korruption zu bereichern, politische Gegner zu beseitigen und die eigene Macht über kaum beachtete Verfassungsänderungen zu festigen.
Die SIPRI-Forscher fassen ihre Analyse zwischen Klimaentwicklung und gewalttätigen Konflikten zusammen:
“The relationship between climate-related environmental change and violent conflict does not exist in a political and social vacuum. Political processes permeate every link in the causal chain from environmental change to an increased risk of violent conflict. A group’s access to natural resources or vulnerability to climate change is determined by both political and biophysical processes.” [31]
Dies bedeutet, dass eine Klimapolitik auch gleichzeitig eine Friedenspolitik ist. Die klimatische Veränderung raubt den Menschen, hier am Beispiel Ostafrikas verdeutlicht, ihre Existenzgrundlagen und führt zu Verdrängungskonflikten und Kriegen.
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Zusammenfassend lässt sich feststellen: In seinem im März 2023 veröffentlichten Synthesebericht macht der Intergouvernemental Panel on Climate Change (IPCC 2023) eindeutig den menschlichen Einfluss für die gegenwärtige Klimakrise verantwortlich. Der menschliche Einfluss habe die Atmosphäre, die Ozeane und das Land erwärmt, eine Entwicklung, die nur durch drastische und sofort einzuleitende Maßnahmen eingedämmt werden könne.
Daraus folgt: Ein Frieden mit der Biosphäre im globalen Maßstab wird sich erst dann realisieren lassen, wenn der Zusammenhang von Ökologie und Ökonomie einen Paradigmenwechsel erfährt. Das ungebremste Wirtschaftswachstum ist zugunsten einer gemeinschaftlichen und demokratischen Kontrolle über die wichtigsten Produktionsmittel und der damit verbundenen Unternehmensformen im Sinne einer gemeinwohlorientierten und insbesondere ökologischen Neuordnung des Produzierens und Konsumierens grundlegend umzustrukturieren. Unternehmen und kollektive Produktionsstätten müssen sich für die Bewahrung der Biosphäre in einem an Nachhaltigkeit orientierten Sinne verantwortlich fühlen und hieran durch einen entsprechend strukturierten und verbindlichen internationalen Beschluss- und Sanktionsrahmen gebunden sein. Staatliche Lenkungs- und Steuerungsaktivitäten müssen einen kalkulierbaren Planungsrahmen für landwirtschaftliche und industrielle Aktivitäten innerhalb eines derart eingehegten marktwirtschaftlichen Szenarios eröffnen.
Die Voraussetzung auf der sozioökonomischen Ebene ist ein über weltweiten zivilgesellschaftlichen Druck bewirktes Revidieren der Privatisierungs- und Deregulierungstendenzen des neoliberalisierten Kapitalismus, der systemisch gegen die notwendigen Interventionen und Regulierungen zum Zwecke der Bekämpfung der Umweltkrise steht. Ein auf neoliberalen ökonomischen Grundannahmen und auf das Vertrauen in den sich selbstregulierenden, ungesteuerten Markt basierendes System ist nicht geeignet für ökologische Regulierungen, die das Eintreten von Kipp-Punkten und Rückkoppelungseffekten noch verhindern bzw. wirksam vermindern können. Bei den staatlichen Maßnahmen zur Einleitung einer sozialökologischen Wende sind hierbei soziale Gesichtspunkte im Sinne von Klimagerechtigkeit zwingend zu berücksichtigen, wenn nicht nur finanziell privilegierte Eliten sich an den erforderlichen Transformationsmaßnahmen beteiligen sollen. Die notwendigen globalen ökologisch orientierten Maßnahmen zur Vermeidung der Klima-Katastrophe in einem für die menschliche Zivilisation und die Biosphäre zerstörerischen Ausmaß müssen daher mit dem Umbau des wirtschaftlichen und politischen Systems in grundlegender Weise einhergehen und müssen gleichzeitig für einen sozialen Ausgleich während der sozialökologischen Transformation sorgen.
Am Beispiel des Konzerns Nestlé wurde die Kritik am profitorientierten Umgang mit der lebenswichtigen Ressource des Wassers entwickelt und die Gefahren veranschaulicht, wenn Unternehmensaktivitäten nicht reguliert und eingehegt werden.
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Am weiteren Beispiel von Konfliktsituationen und der Störung des gesellschaftlichen Friedens durch klimatische Veränderungen in Ostafrika wurde deutlich, dass Klimaentwicklung und gesellschaftlicher Frieden zusammenhängen. Dies lässt sich natürlich auch auf den Zusammenhang zwischen Klimaflucht, Migrationsbewegungen und den daraus resultierenden gesellschaftlichen Konflikten in den reichen Ländern des Nordens übertragen.
Ein globales Wirtschaftssystem, das durch fehlende Reglementierung und ungehemmtes Profitdenken gekennzeichnet ist, entzieht den Menschen weltweit ihre Existenzgrundlagen.
Allerdings ist nicht nur die systemische und strukturelle Ebene zu betrachten, sondern auch das Bewusstsein der systemisch Handelnden. Die Voraussetzung hierfür auf der Persönlichkeitsebene ist, dass der Mensch wieder lernt, sich als Bestandteil der Natur zu begreifen und für sich die gleichen Gesetze zu beachten, denen auch die Natur um ihn herum unterworfen ist. Es reicht nicht, notwendige Veränderungen auf der strukturellen Ebene erreichen zu wollen, wenn das individuelle auf das Klima bezogene Verhalten den Anforderungen widerspricht, denen sich andere auszusetzen haben und die an strukturelle Veränderungen gestellt werden.
Dies bedeutet, dass den Veränderungen auf der Makroebene auch vorherlaufend und damit verbunden Veränderungen auf der Mikroebene entsprechen müssen. Persönliche Veränderungen im Bewusstsein zur Mitwelt und Weiterentwicklungen im persönlichen Lebensstilverhalten müssen mit strukturellen Veränderungen einhergehen.
Anmerkungen Kap. 1.5.1.:
[1] Vgl. hierzu Wuppertaler Institut für Klima, Umwelt, Energie (2006, 33 ff.).
[2] WBGU (2007, 77).
[3] Umweltbundesamt (2008, 4f.).
[4] Jonas (1979/2015, 64).
[5] Vgl. zum Ausmaß des Welthungers u.a. Ziegler (2015), der in diesem Zusammenhang von einer kannibalischen Weltordnung spricht.
[6] Vgl. Zur Entwicklung dieses Begriffs Rockström/Steffen/Noone et al. (2009).
[7] Vgl. Röckström/Steffen/Noone (2009, 473).
[8] Die deutschsprachige Übersetzung der Faktoren in Anlehnung an Rockström/Steffen/Noone et al. (2009, 472) bei V. Weizsäcker/Wijkman (2017, 44f.).
[9] = Luftverschmutzung über z.B. CO2- oder SO2-Emissionen.
[10] Röckström/Steffen/Noone (2009, 474).
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[11] IPCC (2019, 4).
[12] Vgl. Fischermann (2019).
[13] Fischermann (2019).
[14] Das MERCOSUR-Abkommen ist bereits von der EU beschlossen; es fehlen allerdings die notwendigen Beschlüsse auf der nationalen Ebene.
[15] TTIP = Transatlantic Trade and Investment Partnership, JEFTA = Japan-EU Free Trade Agreement.
[16] Vgl. weitergehende Ausführungen und Belege hierzu bei Lieb (2009).
[17] Lieb (2009).
[18] https://www.zeit.de/news/2021-04/30/kampf-um-wasserressourcen-mehr-als-40-tote, 30.4.2021, 1.5.2021.
[19] https://www.planet-wissen.de/natur/umwelt/wassernot/pwiekonfliktstoffwasser100.html, o.D., 1.5.2021
[20] Vgl. https://www.epo.de/index.php?option=com_content&view=article&id=9223:kenia-zunehmende-konflikte-um-kostbares-wasser&catid=99:topnews&Itemid=100028, o.D., 1.5.2021.
[21] Vgl. https://www.nestle.de/unternehmen/struktur/marken, o.D., 23.9.19.
[22] In: https://www.nestle.de/wasser, o.D., 23.9.19.
[23] In: https://www.tagesanzeiger.ch/kultur/kino/Dokufilm-uebt-massiv-Kritik-an-Nestle/story/31103319, 17.1.2012, 23.9.2019.
[24] In: https://www.zeit.de/kultur/film/2013-08/bottled-life-nestle-wasser-film/seite-2, 12.9.13, 23.9.19.
[25] Weihser (2013).
[26] Vgl. detaillierter hierzu bei Klein (2019, 61ff.) und Rahmstorf (2016).
[27] Vgl. hierzu https://skepticalscience.com/solar-activity-sunspots-global-warming.htm, o.D., 24.10.19.
[28] Zitat entnommen aus der Faktensammlung der Scientists for Future: https://skepticalscience.com/climate-change-little-ice-age-medieval-warm-period.htm, Verfasser Howard Lee; o.D., 1.11.2019.
[29] IPCC (2019, 7).
[30] Dies gilt m.E. nicht nur für Länder bzw. Regionen, die ohnehin mit Armut zu kämpfen haben. Auch in reichen Staaten können Naturkatastrophen zu einer Zunahme von Kriminalität und Gewalttätigkeit führen, z.B. die Überflutung New Orleans im Jahr 2005 in Zusammenhang mit massiven Plünderungen von Geschäften und Häusern:„Das überflutete New Orleans droht in Anarchie zu versinken: Schüsse auf einen Militärhubschrauber und Brandstiftungen verzögerten am Donnerstag die Evakuierung des Superdomes. Bürgermeister Ray Nagin zog angesichts immer hemmungsloserer Plünderungen die Polizisten vom Rettungseinsatz ab und wies sie an, stattdessen für Ordnung zu sorgen. Weitere 10.000 Soldaten der Nationalgarde wurden in das Katastrophengebiet abkommandiert.“ (https://www.stern.de/panorama/weltgeschehen/nach--katrina--new-orleans-versinkt-in-wasser-und-anarchie-3290996.html, 1.9.2005 19.1.2019).
[31] Mobjork/van Baalen (2016, 2).
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1.5.2 Widerstand und Proteste gegen die ökologische Zerstörung
1.5.2.1 Der Widerstand der indigenen Völker
Indigene Völker haben im Zuge der Kolonialisierung in den letzten Jahrhunderten erfahren müssen, was es heißt, wenn eine zerstörerische zivilisatorische Macht in ihr Lebensumfeld eindringt, die mit überlegener Waffengewalt ihre Interessen durchzusetzen versucht. Die Versklavung afrikanischer Menschen und deren Deportation und Ausbeutung in den Ländern der Kolonialmächte, der Genozid an den Mayas und Azteken, die durch die eingeschleppten Pocken, durch Massenhinrichtungen und Kämpfe oder die zerstörerische Arbeit in den spanischen Goldminen umkamen, die Ermordung des größten Teils der indigenen Urbevölkerung Nordamerikas durch das US-Militär und Siedlermilizen sowie die Jagd auf die australische Urbevölkerung der Aborigines sind kennzeichnend hierfür. Die heutige ökologische Verwüstung der indigenen Heimat durch riesige Bohrlöcher, durch Kohletageabbau hervorgerufene Verwüstungen, nach dem Goldtagebau hinterlassene und Quecksilber vergiftete Mondlandschaften, die Vergiftung des Grundwassers durch Fracking, die naturzerstörende Ölgewinnung aus Teersand, der Grundwasser verschlingende Lithium-Abbau sowie die Brandrodung zusammenhängender Regenwaldgebiete stellen die moderne Fortsetzung der kolonialen ökologischen und humanitären Zerstörung der Lebensgrundlagen indigener Völker dar.
Für ökonomische und geopolitische Interessen wurde die Unterlegenheit indigener Rassen proklamiert, die zu ‚Tieren‘ und ‚Wilden‘ abgewertet wurden, so dass ihnen daher keine Menschenrechte zugestanden werden brauchten.
Die indigenen Völker wurden ermordet, ihre Frauen vergewaltigt, Arbeitskräfte versklavt, ihr natürliches Lebensumfeld zerstört und dies alles noch mit einer religiösen Legitimation versehen bzw. mit kirchlicher Missionstätigkeit verschleiert. Viele indigene Gemeinschaften wurden durch eingeschleppte Krankheiten, wie z.B. Cholera und Pocken, vernichtet. Ihr Widerstand wurde durch die überlegene Waffentechnik der weißen Eindringlinge brutal niedergeschlagen.
Indigene Völker wurden später z.T. in Reservate abgedrängt, es wurden ihnen die Kinder weggenommen, deren Identität in christlichen Internaten und Schulen geraubt wurde. Die Folgen der kulturellen und lebensweltlichen Entwurzelung waren dann eine hohe Selbstmordrate oder auch Alkoholismus und anderer Drogenmissbrauch sowie eine deutlich geringere Lebenserwartungen unter den indigenen Menschen. Einigen indigenen Gemeinschaften insbesondere in Nordamerika gelang es jedoch, sich vertragliche Rechte für die Nutzung ihres natürlichen Lebensumfeldes zu sichern. Möglicherweise wurden diese ihnen gewährt, um sie zu beschwichtigen, ohne dass man damals glaubte, dass sie eingehalten werden müssten.
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Seit einigen Jahrzehnten beginnen nun verbliebene indigene Völker sich auf ihre kulturelle Identität zu besinnen, Protest- und Widerstandsformen der modernen Gesellschaft aufzugreifen und vor allem ihre einst vertraglich zugesicherten Rechte einzuklagen – so die kanadische Umweltaktivistin und Autorin Naomi Klein:
„Viele Nicht-Ureinwohner erkennen allmählich, dass indigene Rechte – wenn sie aggressiv durch juristische Klagen, Protestkundgebungen und Massenbewegungen unterstützt werden, die ihre Einhaltung fordern – heute die wirksamste Barriere darstellen, um uns alle vor dem Klimachaos zu schützen.“ [1]
Naomi Klein beschreibt, wie insbesonders die indigenen Gemeinschaften in Nordamerika und Kanada, wie die Althabasca Chipewyan First Nation, die Gemeinschaft der Mi’kmaq, der Stamm der Lower Elwha Klallam, die Lakota Nation oder die Elsipogtog First Nation, einen langen Kampf um ihre Rechte gegen die Profitgier der Fossilindustrie begannen. Hierbei kämpfe im wahrsten Sinne des Wortes David gegen Goliath, wenn die indigene Bevölkerung mit ihren Anwälten gegen die juristischen Abteilungen großer Konzerne mit gewaltigen finanziellen Möglichkeiten antreten würden. Doch die Unterstützung der Indigenen durch Nicht-Ureinwohner-Initiativen aus der Umweltschutzbewegung stärkte diese in ihrem z.T. durchaus erfolgreichen Kampf gegen die Unternehmen aus der Erdöl-, Gas- und Kohlebranche.[2]
Der Kampf der Sioux gegen Pipelines in Nord-Dakota: Standing Rock
Insbesondere ein in der Medienöffentlichkeit sehr beachteter Konflikt in Standing Rock (North Dakota, USA) zwischen Ureinwohnern und Aktivitäten der Fossilindustrie kann die komplexe Problematik und die Heftigkeit des Konflikts deutlich machen. Dort kämpften die Sioux mit der Unterstützung anderer Stämme gegen ein fossiles Projekt, bei dem Öl-Pipelines (Dakota Access Pipeline, Keystone Pipelines) durch ihr Stammesgebiet geführt werden sollten. Der Betreiber des Milliarden-Projekts ist ein Öl-Unternehmen, hinter dem das Kapital zahlreicher international tätiger Banken steht, z.B. Goldmann Sachs, Wells Fargo, Bayern LB, Bank of Tokyo Mitsubishi oder die Bank of America. [3] Die Sioux befürchteten eine Umweltverschmutzung ihres Gebietes durch das in vergleichbaren Fällen häufig auftretende Herausströmen von Öl aus Leitungslecks und die Beeinträchtigung ihrer heiligen Stätten, z.B. Grabstätten und Friedhöfe, aufgrund des Baus der Pipelines. [4]
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Die indigenen Einwohner errichteten auf dem für die Installation der Dakota Access-Pipeline vorgesehenen Gebiet ein Protestlager mit Zelten, in dem sich eine Zeit lang mehrere Tausend Protestierende aufhielten, bevor das Lager von der Polizei geräumt wurde. Immer wieder kam es zu Besetzungen von Baugeräten durch die dort lebenden ‚Native Americans‘ und zu Auseinandersetzungen mit dem Wachpersonal. Die Nationalgarde wurde aktiviert und es kam zu Verhaftungen. Die Protestierenden unternahmen einen Marsch zum Weißen Haus, um vor Präsident Obama gegen die Pipeline zu demonstrieren.
Die indigene Aktivistin Eryn Wise berichtet von ihrem Widerstand: „Es war Krieg. Sie ließen tagelang Hubschrauber über unserem Camp kreisen, installierten Stadionscheinwerfer in der Nacht, schleusten Spitzel ein. Sie brachten Waffen, um uns zu verletzen. Menschen wurden schwer verletzt und mussten mitansehen, wie die Knochen ihrer Vorfahren von Baggern ausgehoben wurden. Als wir Standing Rock verließen, war es nicht so, als hätten wir einen Protestmarsch verlassen, sondern so, als wären wir aus dem Krieg gekommen – den wir leider nicht gewonnen haben. Viele leiden unter posttraumatischen Belastungsstörungen. Die werden dadurch verstärkt, dass die Attacken auf unser Land andauern. (…) Es wurden erneut Stereotype und Lügen über uns verbreitet. So wurde etwa behauptet, dass wir mit Pfeil und Bogen und Tomahawks auf die Behörden geschossen hätten. Wir hatten zu keinem Zeitpunkt irgendwelche Waffen bei uns. Es ist demoralisierend, nicht nur physisch attackiert zu werden, sondern auch mental und seelisch geprügelt zu werden – von Menschen, die uns wie Cartoon-Charaktere stilisieren.“ [5]
Während der frühere US-Präsident Obama aufgrund der Proteste der Ureinwohner und ihrer Unterstützer sich schließlich gegen den Bau der Pipelines entschied, hat dies der gegenwärtige US-Präsident Trump bereits an seinem zweiten Amtstag wieder zurückgenommen und den Bau der Pipeline Keystone XL und der Dakota-Access-Pipeline gestattet. Hierbei wird ihm vorgeworfen, dass es hier zu einer Interessensverschmelzung kommt. Er selbst sei an der Pipeline-Betreiberfirma Energy Transfer Partners (ETP.N) und an der Holding Phillips 66 mit eigenen Investitionen beteiligt. [6]
Die Stämme der Sioux, Gros Ventre und Assiniboine haben daraufhin Klagen vor mehreren US-Bundesgerichten vorbereitet, um die Rücknahme der Genehmigung und des Stopps des Pipeline-Baus zu bewirken. [7] Zwar wurden die Pipelines gebaut, dennoch fand eine enorme Politisierung indigener Stämme und ihrer Unterstützer statt, wobei vielen protestierenden Menschen der Zusammenhang zwischen kapitalistischer Fossilwirtschaft, staatlich abgesicherter Umweltzerstörung und Klimakrise am eigenen Leib erfahrbar wurde. Vielen Menschen ist klar geworden, dass der Kampf um die Umwelt und um das Klima gegen die Interessen der Fossilindustrie in eine entscheidende Phase eingetreten ist, die – trotz der einstweiligen Niederlage – noch nicht beendet ist.
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So noch einmal vorerst abschließend die bei den Auseinandersetzungen verletzte indigene Aktivistin Eryn Wise, die ihre ungebrochene humanistische und ökologische Grundhaltung eindrucksvoll deutlich macht:
„Aber ich denke, der breite Widerstand in der gesamten Gesellschaft wird unterschätzt. Die Menschen haben es schon seit Jahrzehnten satt, welche Bilder die Vereinigten Staaten vermitteln. Polizeigewalt gegen Minderheiten, ungebremste Investitionen in die Rohstoffindustrie, der alltägliche Rassismus. All das wurde durch Standing Rock sichtbar. Nun muss etwas dagegen getan werden. (…) Alles, was ich mache, ist eine Hommage an meine Vorfahren. Sie haben viel mehr durchgemacht als ich. Als Laguna-Pueblo-Frau ist es meine Verpflichtung, mich für die kommenden sieben Generationen einzusetzen. Ich muss sicherstellen, dass Hoffnung und ein Heim für die Kinder da ist, die noch nicht einmal auf der Welt sind.“ [8]
1.5.2.2 Fridays for Future (F4F)
Die Umweltschutzbewegung hat eine lange Tradition, doch noch nie waren weltweit so viele junge Menschen auf der Straße, die gegen die Zerstörung des Planeten Widerstand zu leisten versuchen.
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„What is Fridays for Future? #FridaysforFuture is a peoples movement following the call from @GretaThunberg to school strike. Why are kids striking? School children are required to attend school. But with the worsening climate destruction this goal of going to school begins to be pointless.
- Why study for a future, which may not be there?
- Why spend a lot of effort to become educated, when our
governments are not listening to the educated?“ [9]
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Begann die Fridays for Future-Bewegung mit der damals 15-jährigen Schwedin Greta Thunberg, die im August 2018 für sich den Klimastreik ausrief und freitags mit ihrem Sperrholzschild ‚Skolstrejk för Kilimatet‘ vor dem schwedischen Parlament stehend ihren Schulbesuch aussetzte, so hat sich, orientiert an diesem Vorbild, inzwischen eine internationale Schulstreikbewegung entwickelt.
In unterschiedlichen Rhythmen streiken Schüler_innen freitags, setzen den Schulbesuch aus und treten mit ihren Forderungen in die Öffentlichkeit.
Fridays for Future ist eine Graswurzelbewegung, die vorwiegend örtlich organisiert ist, aber durch verschiedene bekanntere jugendliche Persönlichkeiten in die Medienöffentlichkeit tritt, allen voran Greta Thunberg. Die Organisationsform ist nicht repräsentativ-demokratisch, sondern eine Mischung aus Basisdemokratie und überregionalen Vernetzungen, die jeweils angesichts größerer und internationaler Protestaktivitäten gebildet werden.
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Aus diesen örtlichen Bewegungen, die Demonstrationen, Sit-Ins, Platzumzingelungen und Kundgebungen organisieren, entstehen begleitend internationale Protestaktivitäten mit insgesamt mehreren Millionen Teilnehmern_innen, bei denen der Kontakt über Homepages, Blogs, Twitter-meldungen etc. hergestellt wird. So wird auch zum Eintragen der verschiedenen Aktivitäten auf der F4F-Homepage weltweit aufgerufen.
Die klimapolitischen Forderungen von F4F wurden z.B. in Deutschland in Zusammenarbeit mit den Scientists for Future (S4F) konkretisiert und sind auf wissenschaftlicher Grundlage an der Durchsetzung des 1,5oC-Ziels der Pariser UN-Klimakonferenz von 2015 orientiert:
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„Fridays for Future fordert die Einhaltung der Ziele des Pariser Abkommens und des 1,5oC-Ziels. Explizit fordern wir für Deutschland:
· Nettonull 2035 erreichen
· Kohleausstieg bis 2030
· 100% erneuerbare Energieversorgung bis 2035 Entscheidend für die Einhaltung des 1,5oC-Ziels ist, die Treibhausgasemissionen so schnell wie möglich stark zu reduzieren. Deshalb fordern wir bis Ende 2019:
· Das Ende der Subventionen für fossile Energieträger
· ¼ der Kohlekraftwerke abschalten
· Eine Steuer auf alle Treibhausgasemissionen. Der Preis für den Ausstoß von Treibhausgasen muss schnell so hoch werden wie die Kosten, die dadurch uns und zukünftigen Generationen entstehen. Laut UBA sind das 180€ pro Tonne CO2.“ [10]
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„How dare you?!“
Inzwischen wurde Greta Thunberg von vielen Regierungschefs empfangen und konnte vor internationalen Konferenzen ihre klimapolitischen Forderungen erheben. Unvergessen bleibt ihre Rede im September 2019 vor den Vereinten Nationen, in der sie emotional den dort versammelten Delegierten und Staatenlenkern die Leviten las („How dare you?!“) und ihnen die Mitschuld an der Zerstörung des Planeten vorwarf. Ihr wurde der Alternative Nobelpreis (‚Right Livelihood Award‘) verliehen und für den Friedensnobelpreis selbst war sie aussichtsreich nominiert.
Nationale Regierungen begannen im Zuge der Jugendproteste wieder das Thema ‚Klima‘ auf die Tagesordnung zu nehmen; es kam zu ersten klimapolitischen Beschlüssen, die allerdings noch weit von den F4F-Forderungen entfernt sind.
Mit ihrem Erfolg und mit dem zumindest partiellen Erfolg der Fridays for Future-Bewegung entstanden natürlich auch Gegenbewegungen, die die Bewegung versuchen zu diffamieren, die Klimakrise leugnen und Greta Thunberg persönlich aber auch insgesamt die F4F-Bewegung angreifen.
„Unite behind the science!“: Scientists for Future (S4F)
Vor diesem Hintergrund war es wichtig, dass Wissenschaftler_innen von den Schüler_innen für eine unterstützende Zusammenarbeit angesprochen wurden. In Resonanz zur F4F-Bewegung gründete sich daher eine internationale klimapolitisch engagierte Wissenschaftler_innen-Bewegung: Scientists for Future – ausgehend von Österreich, der Schweiz und Deutschland.
| „Scientists for Future (S4F, auch Scientists4Future) ist ein überinstitutioneller, überparteilicher und interdisziplinärer Zusammenschluss von Wissenschaftler*innen, die sich für eine nachhaltige Zukunft engagieren. Scientists for Future reagiert auf die historisch beispielslose Klima-, Biodiversitäts- und Nachhaltigkeitskrise, welche die Menschheit vor globale Herausforderungen stellt. Die notwendigen Wandlungsprozesse erfordern entschlossenes und unverzügliches Handeln auf der politischen, wirtschaftlichen und technischen, sozialen und kulturellen, wissenschaftlichen sowie der privaten Ebene. Denn die Zeit drängt. Als Wissenschaftler*innen sehen wir uns deshalb in der Pflicht, öffentlich und proaktiv die Stimme zu erheben.“ [11]
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Perspektiven der Klimaprotestbewegung F4F
Im weiteren Verlauf der Klimaproteste wird es darauf ankommen, ob die Bewegung ‚Fridays for Future‘, den bereits begonnen Prozess konsequent fortsetzt und Kontakt zu weiteren Themen, wie z.B. der Friedenspolitik und der Frage der sozialen Gerechtigkeit, bekommt. Dementsprechend wären eine Vernetzung mit anderen Protestbewegungen und die Öffnung zu anderen Generationen die Voraussetzung, dass es zu einer internationalen Protestbewegung kommt, die nicht nur die Klimafrage, sondern auch die Systemfrage stellt. Der Widerstand gegen die planetare Zerstörung durch die Fossilindustrie greift das weltweite Wirtschafts- und Handelssystem an, das auf der Grundlage fossiler Energiebewirtschaftung basiert. Die Fossilindustrie wird sich nicht so leicht und ohne Widerstand die ökonomische Verwertung von Öl, Gas und Kohle aus der Hand nehmen lassen. Daher wird es darauf ankommen, dass durch politische Vernetzung, auch mit den Gewerkschaften, und internationale politische Organisationstätigkeit insgesamt der systemische Einfluss von Konzernen eingedämmt und in seiner ökonomischen und politischen Macht maßgeblich eingehegt wird.
Wichtig ist natürlich in diesem Zusammenhang auch die Bedeutung der politischen Erfahrungen für die Jugendlichen. Der Austausch mit ähnlich gestimmten Kindern und Jugendlichen, die Anfertigung von Transparenten und Schildern mit klimapolitischen Forderungen, die Entwicklung und das Erleben von Sprechchören, das Hören von Vorträgen und der Austausch hierüber sowie die örtlichen und überregionalen Organisations- und Vernetzungsaktivitäten werden ein wirksamer Einschnitt im Rahmen der politischen Sozialisation der Kinder und Jugendlichen sein, den sie so leicht nicht vergessen werden und der Auswirkungen für die nächste biografische Phase des politischen und beruflichen Engagements haben dürfte.
Nicht zuletzt sind neben den ‚Scientists for Future‘ weitere Unterstützungsbewegungen zu nennen, wie z.B. die ‚Students for Future‘, die ‚Teachers for Future‘ sowie die ‚Parents for Future‘, die deutlich machen, dass der Jugendprotest erfolgreich dabei ist, das Engagement weiterer Generationen zu erreichen.
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1.5.2.3 Extinction Rebellion (XR)
Extinction Rebellion („Rebellion gegen das Aussterben“) ist ebenfalls wie Fridays for Future eine internationale Klimaprotest-Bewegung, aber mit einer deutlich geringeren Aktivistenzahl. XR-Aktivisten arbeiten z.T. bei F4F mit, halten dort auf Kundgebungen Reden und beteiligen sich an den F4F-Aktionen. Allerdings hat XR einen eigenen Bewegungskern und eine eigene Handschrift hinsichtlich ihrer Aktivität. XR unterscheidet sich des Weiteren von F4F durch das höhere Durchschnittsalter ihrer Akteure_innen. Auch die Aktionen von XR sind geplanter, ritualisierter und einstudierter. Ebenfalls zeichnen sich die Aktionen des XR-Widerstands gegen die Klimakrise durch eine Verbindung aus einer verschärft wahrgenommenen klimatischen Drohkulisse, einer Warnung vor dem klimatisch bedingten Untergang der humanen Zivilisation und größerer Emotionalität aus und bewegen sich z.T. bewusst am Rande der Legalität. Dennoch ist XR zumindest im eigenen, öffentlich immer wieder dargestellten Anspruch im Sinne friedlichen zivilgesellschaftlichen Protests konzipiert:
„Extinction Rebellion (XR) macht mit friedlichem Ungehorsam auf den drohenden Klimakollaps und das massive Artensterben aufmerksam.“ [12] Und weiter:
„Wir wollen weder in Aktionen noch anderswo verbale oder physische Gewalt anwenden. Unsere strikte Gewaltfreiheit gilt sowohl online als auch offline. Diskriminierendes Verhalten, Beschimpfungen und jegliche Art menschenfeindlicher Äußerungen und Aktionen sind für uns inakzeptabel.“ [13]
Extinction Rebellion geht ursprünglich von Organisationen in Großbritannien aus, ist inzwischen – trotz des Versuchs der Einflussnahme aus Großbritannien – vorwiegend dezentral und basisdemokratisch in Ortsgruppen weltweit organisiert. Dort wird letztendlich vor Ort bestimmt, wie eine Aktion ablaufen wird. Über internationale Kommunikation werden allerdings zentrale Aktivitäten vereinbart, wie z.B. die beiden internationalen Aktionswochen zur Blockade verschiedener Hauptstädte im Oktober 2019.
Die ökologischen und politischen Zielsetzungen von XR werden über folgendes Zitat aus der XR-Homepage deutlich:
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„Wir sind eine internationale gesellschaftspolitische Bewegung. Unser Ziel ist es, den für das Klima nötigen umfassenden und tiefgreifenden Wandel herbeizuführen. Damit wollen wir das Risiko der Auslöschung der Menschheit und des Kollapses unserer Ökosysteme verkleinern. Mit gewaltfreiem zivilem Widerstand wollen wir unsere Regierungen dazu bewegen, den ökologischen Notstand zu erklären und den gesetzlichen Rahmen zur Umsetzung unserer Forderungen zu schaffen. Wir handeln aus Liebe zum Leben und für eine lebenswerte Zukunft aller Lebewesen auf diesem Planeten. Wir rufen alle auf, sich der Rebellion für das Überleben anzuschließen, unabhängig von Religion, Herkunft, Klasse, Alter, Sexualität, Geschlecht sowie politischer Neigung.“ 14]
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Die Aktionen von XR werden innerhalb der eher traditionalistisch orientierten Politikwissenschaft bzw. politischen Szene in der Hinsicht kritisiert, dass sie irrational legitimiert seien und auch auf Verlustängste und Trauer aufbauen sowie lediglich auf Emotionen abzielen würden. [15]
Schaut man genauer hin, entdeckt man, dass XR versucht, rationale Argumentationsmuster und den Einbezug von Emotionen in einem ganzheitlichen Sinne miteinander zu verbinden. Hierbei werden tatsächlich drastische Weltuntergangsszenarien bemüht, von denen man natürlich nicht weiß, ob sie wann und in dieser Form eintreten werden. Dennoch kann es im Sinne eines durchdringenden und auch emotional wahrnehmbaren Warnsignals durchaus sinnvoll sein, ökologische Negativszenarien für den Fall zu beschreiben, dass die Klimapolitik versagt. Es sollen nun einige typische Aktionsformen anlässlich der internationalen Klimaaktionswochen im Oktober 2019 beispielhaft skizziert werden, die über die Selbstdarstellung der Aktionen von XR deutlich machen, dass es sowohl um Information und Reflexion als auch um mehr emotionale, kreative und sinnlich erfahrbare Erlebnisse geht, wie z.B. Singen, Tanzen, Yoga, Sitzmeditation oder Pflanzen von Bäumen:
· London: „Many trees were plantend in Westminster today.“
· London: „instead of car engines, choirs and samba bands; instead of throngs of busy strangers, free food and open dialogue“;
· Paris: „occupation at the Place de Chatelet“: „hold free classes on climate change by experts, and hold debates on solutions to combat our climate and ecological crisis. And of course, Parisians gather to dance“;
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· Paris: „Gazette d’Extinction Rebellion which appears almost four centuries after the first newspaper, the Gazette de France“: „revives rebels’ spirits and conversations at the end of the day, and the beautifully designed paper is enthusiastically distributed and shared around campsite“;
· Dublin: „Stop the Shannon LNG Terminal[16] plus any new fossil fuel infrastructure!“, „a symbolic funeral of the Earth, a samba parade with a pink ‘Tell the Truth’ boat, a planting of seeds, and some passionate speeches;
· New York: „They blocked the entrance to City Hall by staging a seated meditation, a peaceful act of resistance rooted in historic acts of civil disobedience“;
· Berlin: „Sagt endlich die Wahrheit! War das Hauptthema am Freitag, als sich ca. 3500 Rebell*innen vor dem Bundesumweltministerium versammelt haben, um unsere erste Forderung, den „Klimanotstand. Jetzt!“ durchzusetzen. Wir haben einen Brief an das Bundesumweltministerium verlesen und das Ministerium aufgefordert, Stellung zu beziehen.“;
· Buenos Aires, Santiago, Islamabad, Dublin, Cape Town, London: „Last year, 164 activists were killed in the Global South for trying to defend their lands from corporate extractivism. Yesterday, rebels all over the world held vigils to honour them, coming together in a global solidarity action“;
· Santiago: „Chilean rebels held a family friendly die-in at Persa Bío Bío, a blockade at Alameda Av., one of the busiest streets of the city, and a protest against the fast fashion industry in Costanera Centre Mall“;
· Capetown: „XR Cape Town and XR Winelands took non-violent direct action yesterday against the ‘Africa Oil and Power’ conference. The die-in performance involved rebels suffocating in vibrant clouds of ‘toxic’ gas, and was staged to draw attention to the crimes against humanity and the ecocide that the conference is facilitating.“ [17]
Auch diese Aktionsformen, die – neben Kundgebungen, Blockaden, Flugblättern und Demonstrationen – durch Tanz, Yoga, Qigong, Theatersituationen und verunsichernde Rollenspiele, Verkleidungen, symbolische Handlungen wie Die-Ins und gemeinsam gesungene Lieder gekennzeichnet sind, werden von der traditionellen politischen Kaste und den mit ihr verbundenen Medien kritisch und abwertend betrachtet. Aber sollte Protest nicht auch von derjenigen Qualität getragen sein, für die man sich für die Zukunft einsetzt? Sollten Widerstand und Protest nicht auch durch Freude, sinnliche Erfahrung und Kreativität bestimmt sein? Der Transformationsdesigner und Autor Harald Welzer fordert in diesem Sinne:
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„Eine soziale Bewegung für eine andere Gesellschaft muss – fast hätte ich gesagt: rocken. Nein, das ist antiquiert, das stammt aus meiner Generation, mit ‚Street fighting man‘ und so. Jetzt kommt eine neue politische Generation, eine neue Bewegung. Die wird einen neuen Sound des Politischen entwickeln, sich nach Spaß im Widerstand anfühlen, irritierend sein und insgesamt so, dass man zu denen gehören will, die diese Utopie zur Wirklichkeit machen. Sie wird selbst schon ein Vorschein jener anderen Wirklichkeit sein, die sie erreichen will. So geht’s. Und wie!“ [18]
Aktivisten von XR zeigen – parallel zu den kreativen Aktionen und z.T. verbunden damit – einen erheblichen Einsatz für die Klimaproteste und riskieren auch z.B. aufgrund von Straßenblockaden, Aktionen vor Parlamenten oder Platzbesetzungen Verhaftungen. So wurden nach eigenen Angaben von XR im Rahmen der beiden Klimaaktionswochen im Oktober 2019 ca. 550 XR-Aktivisten in London verhaftet.
Fazit: Inwieweit die Bewegung Extinction Rebellion sich nun hin zu einer basisdemokratischen und größere Teile der Bevölkerung einbeziehenden Klimaschutz-Bewegung entwickelt, ist noch nicht entschieden und bleibt abzuwarten. XR als eine „Weltuntergangssekte“ mit „Hierarchie, Intransparenz, Gurus und esoterische Ideologie satt“ (Dittfurth 2019) zu bezeichnen, scheint mir überzogen und verfehlt. Auf jeden Fall gelingt es XR, Menschen für ein z.T. auch unkonventionelles, sinnlich erfahrbares und kreatives sowie entschiedenes Engagement für den Klimaschutz zu gewinnen, das an dem Prinzip des gewaltfreien zivilen und kollektiven Widerstands orientiert ist.
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1.5.2.4 Professionalisierte Umwelt-NGO’s: Greenpeace und Mighty Earth
Die längst professionalisierte NGO Greenpeace dürfte die weltweit bekannteste Umweltschutzorganisation sein. Greenpeace wurde 1971 gegründet, ist in 26 Ländern vertreten und in 55 Ländern aktiv. Greenpeace hat weltweit drei Millionen Fördermitglieder. [19]
Typisch für Greenpeace sind gewaltfreie Blockadeaktionen im Zusammenhang mit massiven Umweltschäden, die durch Konzerne oder Regierungen verursacht werden:
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„Gewaltfreie Aktionen gegen Umweltverbrechen
Um Probleme aufzuzeigen, auf Missstände aufmerksam zu machen und positive Veränderungen einzufordern und herbeizuführen ist für Greenpeace die gewaltfreie direkte Aktion neben anderen Formen der Öffentlichkeitsarbeit ein wichtiges Mittel. Greenpeace konfrontiert mit gewaltfreien Mitteln diejenigen, die Umweltschäden verursachen oder zu verantworten haben – wenn möglich am Ort des Umweltverbrechens. Der provozierende, kämpferische und wenn nötig konfrontative Charakter, das kompromisslose, mutige aber stets gewaltfreie Vorgehen unter vollem persönlichen Einsatz und Risiko ist das Ungewöhnliche an Greenpeace.“ [20]
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Besonders die Aktionen gegen die Atomversuche Frankreichs in der Südsee, gegen die Versenkung von Ölplattformen im Nordostatlantik, gegen das Abschlachten von Robbenbabies, gegen den Walfang und gegen das Patentieren menschlicher embryonaler Stammzellen zeigten Wirkungen und brachten Greenpeace vielfältige gesellschaftliche Anerkennung ein.
Einerseits kämpft also Greenpeace mit gewaltfreien, oftmals spektakulären Aktionen gegen Umweltzerstörung und für Klimagerechtigkeit, andererseits werden von der NGO auch technologische und konzeptionelle Vorschläge zur Verbesserung der ökologischen Situation vorgelegt:
- Greenpeace entwickelte 1993 einen FCKW-freien Kühlschrank (‚Greenfreeze)‘;
- Im Jahr 1996 zeigte Greenpeace anhand eines umgebauten serientauglichen Renault Twingo, dass die Entwicklung eines PKWs mit einem Benzinverbrauch von unter drei Litern auf 100 Kilometer möglich ist (Sparauto ‚SmILE‘);
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- Greenpeace legte 2015 einen Fahrplan zur Klimaneutralität am Beispiel Deutschlands vor, ohne dass es hierbei zu Versorgungsengpässen komme (‚Der Plan‘).
‚Der Plan‘ besteht aus einem Energieszenario, in dem berechnet wird, wie aus einer Kombination aus Energieeinsparung, regenerativer Energieversorgung, verbesserten Stromnetzen und Speichermöglichkeiten bei gleichzeitigem Ausstieg aus der Atomkraft und der Fossilindustrie bis 2050 eine vollständige Versorgung mit Strom und Wärme klimaneutral gewährleistet werden kann. [21]
Obwohl Greenpeace damit wirbt, unabhängig von Konzernen zu sein, wurde Greenpeace dafür kritisiert, mit einem Teil ihrer jährlich eingenommenen Millionen Euro Fördergelder auf den Finanzmärkten zu spekulieren. Es wird daher gefordert, das überschüssige Geld verstärkt in ökologische Projekte zu investieren. [22]
Den einen geht Greenpeace nicht radikal genug vor, so dass es zu Abspaltungen kam (z.B. ‚Robin Wood‘ oder ‚Sea Shepherd Conservation Society‘), anderen geht Greenpeace mit ihren Aktionen zu weit. Auch wird von fossilindustrieller Seite versucht mit der diffamierenden Öffentlichkeitsarbeit einer eigens hierfür gegründeten NGO, der von ExxonMobil gegründeten Organisation ‚Public Interest Watch‘, Greenpeace den Status der steuerlichen Begünstigung abzuerkennen.
Kritik entwickelt sich auch an den als undemokratisch empfundenen Greenpeace-Strukturen, im Rahmen derer die weltweit 2400 Mitarbeiter_innen aktiv sind. Wichtige Entscheidungen würden vor allem in einem kleinen nicht gewählten Führungszirkel gefällt, die Aktivisten vor Ort hätten zu wenig Mitbestimmung. Greenpeace hält dagegen, dass die Greenpeace-Aktivitäten schnelle Entscheidungen und ein hohes Maß an Geheimhaltung im Vorfeld der Aktion benötigen würden.[23]
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Greenpeace – trotz der an der NGO geübten Kritik – im Rückblick ein wichtiger Faktor im Kampf gegen Umweltverbrechen von Konzernen und Staaten war. Ohne die Aktivitäten von Greenpeace wäre der kommerzielle Walfang nicht weitgehend beendet worden, würden Ölplattformen weiterhin ungehindert im Atlantik versenkt werden, würden Atomwaffentests in einem größeren Ausmaß durchgeführt werden oder würde die Einleitung von Textilchemikalien in Gewässer ärmerer Weltregionen unentdeckt bleiben. Auch haben sicherlich Bewegungen, wie z.B. Extinction Rebellion oder Foodwatch, hinsichtlich ihrer Aktionsformen von der direkten und wirksamen Aktivitätskultur der NGO Greenpeace gelernt.
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Mighty Earth
Insbesondere in den USA haben sich viele ehemals durchaus im Sinne des Schutzes der ökologischen Lebensgrundlagen engagierten Umweltschutz-NGOs von ihren ursprünglichen Zielen weit entfernt. Naomi Klein berichtet detailliert von den finanziellen Zuwendungen insbesondere von Seiten der Fossilindustrie, die hierzu geführt hätten. Nicht nur würden einige Umweltorganisationen das Greenwashing, also die ökologische Etikettierung für umweltschädliches Verhalten, von zahlenden Konzernen betreiben, sondern sie würden selbst zum Teil in die Fossilindustrie investieren. Hier geht es also um Posten, Einnahmen und verfügbares Kapital. [24]
Im Gegensatz hierzu stellt die NGO ‚Mighty Earth‘ eine sehr wirksam arbeitende amerikanische Umweltschutzorganisation dar, die sich thematisch umfassend ökologischen Problemstellungen engagiert annimmt:
„Mighty Earth is a global campaign organization that works to protect the environment. We focus on the big issues: conserving threatened landscapes like tropical rainforests, protecting oceans, and solving climate change.“ [25]
Mit ihren kritischen Reportagen deckt Mighty Earth schonungslos ökologische Missstände auf, die durch internationale Konzerne verursacht wurden:
· Soziale und ökologische Probleme bei dem Betreiben von Gummi-Plantagen im südlichen Kamerun;
· Die Analyse und Kennzeichnung des Konzerns ‚Cargill‘ als „worst company in the world“;[26]
· Die Fortsetzung der Entwaldung in Westafrika für Kakao-Plantagen;
· Der ökologische Kohle-Fußabdruck in der Stahlproduktion;
· Das Versagen der Lebensmittelindustrie in Bezug auf die Klimakrise;
· Entwaldung, Brandstiftung und Verstoß gegen die Menschenrechte in Argentinien und Paraguay für die Fleischproduktion;
· Kritik an der Erzeugung von Biodiesel. [27]
Hierbei versucht das von einem CEO und einem Chairman geleitete Team von Mighty Earth oftmals zunächst nach der Erstellung eines kritischen Reports den betroffenen Akteur über das Ergebnis seiner Recherchen zu informieren. Gleichzeitig wird eine Frist angegeben, das schädigende Verhalten einzustellen. Erfolgt dies nicht, wird der Bericht international mit allen Imagefolgen für den betroffenen Konzern veröffentlicht – wohl fair genug …
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Zusammenfassung: Professionalisierte NGO`s, wie z.B. Green Peace oder Mighty Earth, stellen ein notwendiges Kontrollorgan und Regulativ dar, um in der Weltgemeinschaft einen sozialökologischen Weg einschlagen zu können. Insbesondere ihr Mut und ihr ethisch fundiertes Reflexionsniveau verbunden mit in der Öffentlichkeit wahrgenommenen Aktionen gegen die Verursacher sozialökologischer Schäden – seien es Regierungen oder multinationale Konzerne – sind positiv zu bewerten. Besonders wichtig ist ihre finanzielle Unabhängigkeit von Unternehmen der Fossilindustrie, die bereits so manche Umweltschutzorganisation, insbesondere in den USA [28], okkupiert und zu einem angepassten Verhalten und zu einer durch ‚Greenwashing‘ eintretenden Verlängerung des ökologischen Extraktivismus instrumentalisiert haben.
Anmerkungen Kap. 1.5.2.1 - 1.5.2.4
[1] Klein (2019, 457).[
2] Vgl. Klein (2019, 454ff.).
[3] Vgl. die Aufstellung der NGO ‚Food & Water Watch‘ zu den Bankenbeteiligungen unter https://www.foodandwaterwatch.org/news/who's-banking-dakota-access-pipeline, 9.6.2016, 18.11.2019.
[4] Vgl. https://www.tagesspiegel.de/politik/donald-trump-der-stille-weltkrieg-gegen-die-indianer/19303758.html, 25.1.2017, 18.11.2019.[
5] Eryn Wise im Gespräch mit Jutta Schilly: https://www.derstandard.de/story/2000078640313/anti-pipeline-aktivistin-als-waeren-wir-aus-dem-krieg-gekommen, 26.4.2018, 18.11.2019.
[6] Vgl. hierzu https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-02/dakota-access-pipeline-oel-north-dakota-proteste-standing-rock-raeumung, 23.2.2017, 18.11.2019.
[7] In: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-09/keystone-xl-usa-indigene-staemme-pipeline-klage-sioux, 11.9.2018, 18.11.2019.
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[8] Eryn Wise im Gespräch mit Jutta Schilly: https://www.derstandard.de/story/2000078640313/anti-pipeline-aktivistin-als-waeren-wir-aus-dem-krieg-gekommen, 26.4.2018, 18.11.2019.
[9] In: https://www.fridaysforfuture.org/, o.D., 21.10.19.
[10] https://fridaysforfuture.de/forderungen/, o.D., 21.10.19.
[11] In: https://www.scientists4future.org/about/charta/, 9/2019, 23.9.19.
[12] Leitsatz auf der Homepage von XR: https://extinctionrebellion.de/, o.D., entnommen 13.10.2019.
[13] In: https://extinctionrebellion.de/wer-wir-sind/, o.D., entnommen 13.10.2019.
[14] In: https://extinctionrebellion.de/wer-wir-sind/, o.D., 13.10.2019.
[15] Vgl. z.B. die Auseinandersetzung um den TAZ-Beitrag von Anke Richter (2019) über XR und die dazu online veröffentlichten Kommentare in: https://taz.de/Klimaproteste-als-Befreiung/!5629071/, 12.10.19, 14.10.19 sowie Ditfurth (2019).
[16] Die irische Regierung hat vor, ein Fracking-Terminal an der Flussmündung des Shannon zu bauen, um US-Fracking-Gas beziehen zu können.
[17] Vgl. die E-Mails von XR versendete Info-Mails vom 12. u. 13.10.19 sowie auf der XR-Homepage https://rebellion.earth/act-now/events/news/, o.D., 16.10.19.
[18] Melzer (2019, 294).
[19] Vgl. https://www.greenpeace.de/ueber-uns/greenpeace-stellt-sich-vor, o.D., 25.10.19.
[20] In: https://www.greenpeace.de/ueber-uns/greenpeace-stellt-sich-vor, o.D., 25.10.19.
[21] Vgl. Greenpeace (2015).
[22] Vgl. https://web.archive.org/web/20140628121202/http://www.ndr.de/kultur/
Greenpeace-rettet-Geldverbrennungsanlagen,dunkelkammer164.html; 16.6.2014, 25.10.2019.[23] Vgl. zum Überblick der Kritik an Greenpeace mit differenzierten Quellenbelegen https://de.wikipedia.org/wiki/Greenpeace#cite_note-77, 18.10.2019, 25.10.2019.
[24] Vgl. Klein (2019).
[25] http://www.mightyearth.org/, o.D., 23.10.19.[
26] Vgl. hierzu im vorliegenden Buch das Kap. 1.1.1 mit dem Report über den multinationalen Konzern Cargill.
[27] Vgl. die ausführlichen Berichte auf http://www.mightyearth.org/reports/, o.D., 23.10.19.[28] Vgl. die Beispiele korrupter Umwelt-NGO‘s, die Naomi Klein aufführt (Klein 2019, 233ff.).
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1.5.2.5 Die Letzte Generation
Kriminalisierung von Protest. Angesichts der vorgenommenen Razzien und des Vorwurfs der Bildung einer kriminellen Vereinigung gegen die Letzte Generation stellt sich die Frage, ob sich der Staat nicht in seinen Maßnahmen selbst delegitimiert.
Die Letzte Generation ist eine Umweltorganisation in Deutschland und Österreich, die aufgrund der fortschreitenden Klimazerstörung und anderer Umweltbelastungen nicht mehr bereit war, traditionelle Formen des Protests wahrzunehmen, wie z.B. Demonstrationen und Kundgebungen, sondern für die Gesellschaft unangenehmere Protestformen entwickelte. Sie sind der Auffassung, dass sie die letzte Generation seien, die noch etwas gegen die bereits eintretende Klimakatastrophe und gegen weitere Formen der Umweltzerstörung unternehmen könnten. Sie wurden insbesondere bekannt durch die Behinderung des Nahverkehrs durch das Hinsetzen auf die Verkehrswege und das Ankleben der Hände. Wenn Autofahrer sie nicht überfahren wollten, mussten sie ihr Fahrzeug anhalten. Es kam zu Staus, zu langen Wartezeiten und zum Teil wütenden Reaktionen der Autofahrer bis hin zu Gewalttätigkeiten der Aufgehaltenen.
Die Polizei brauchte jeweils eine längere Zeit, um die Handflächen wieder von dem Asphalt zu lösen und die Protestierenden der Letzten Generation wegzutragen, bis die Sitzblockade beendet war und sich die Staus wieder auflösten.
Auch wurden Gemälde in Kunstgalerien mit Farbattacken auf die Glasscheiben symbolisch beschmutzt. Ein Hungerstreik wurde erfolglos abgebrochen.
Razzien gegen die Letzte Generation
Waren es anfangs nur wenige jüngere Menschen, denen die Proteste von Fridays for Future nicht mehr ausreichten, so wurden es immer mehr Protestierende, die sich dieser Bewegung anschlossen, entstanden Büros und finanzielle Unterstützungssysteme.
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Wurden bislang nur vereinzelte ordnungs- und strafrechtliche Maßnahmen gegen aktive Mitglieder der Letzten Generation verhängt, wird nun, z.B. von der bayrischen Landesregierung und der nachgeordneten Strafverfolgungsbehörden der Staatsanwaltschaft sowie in Brandenburg und Thüringen, erwogen, gegen Mitglieder der Letzten Generation Anklage mit dem Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung zu erheben. [ 1] In diesem Kontext erfolgten bereits Ende Mai 2023 unter Leitung der bayrischen Staatsanwaltschaft Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmungen von Bankkonten, Sperrung der Homepage, Beschlagnahmung von Computern und Datenmaterial in sieben Bundesländern, was wiederum Protestaktionen, wie Protestmärsche von Unterstützern, in mehreren Städten auslöste. So fand Ende Mai 2023 ein Protestmarsch von ca. 400 Unterstützern der Letzten Generation in Berlin statt. Der Protest verlief durchweg friedlich und es wurden Briefe an das Kanzleramt überreicht. Zwei ältere an der Kundgebung Teilnehmende trugen ein Plakat mit der Aufschrift „Unsere Kinder sind keine Verbrecher“. [2] In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass die Linkspartei in Bayern Strafanzeige gegen Mitglieder der bayrischen Landesregierung und der bayrischen Staatsanwaltschaft gestellt hat. Es handele sich hierbei um den Tatbestand der Verleumdung und Beleidigung, wenn z.B. die Homepage der Letzten Generation mit dem Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung gesperrt werde. [3]
Auf einen Spendenaufruf im Anschluss an die Razzien beteiligten sich spontan 6000 Menschen an der Aktion und spendeten innerhalb von zwei Tagen 300.000€ an die Organisation Letzte Generation. [4]
58 Prozent der deutschen Bevölkerung halten hingegen in einer Umfrage die Razzia gegen die Letzte Generation für richtig, immerhin 37 Prozent fanden das Vorgehen für überzogen. [5]
Carl-Christian Porsch, ein Aktivist der Letzten Generation, kritisiert die Razzien gegen Mitglieder der Letzten Generation mit folgenden Worten:
„Polizisten und Polizistinnen standen morgens mit Waffen in ihrer Wohnung. Ich empfinde das als sehr unverhältnismäßig. Ich verstehe nicht, warum wir kriminalisiert werden. Wir setzen uns doch nur für den Planeten ein. Andere, die unsere Zukunft verheizen, kommen ungeschoren davon.“ [6]
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Zur Frage des strafrechtlichen Vorgehens gegen Klimaproteste
Der Vorwurf einer kriminellen bzw. sogar terroristischen Vereinigung stellt m.E. eine Zuspitzung der Auseinandersetzungen dar, die hochproblematisch ist. Vorwiegend jüngere Menschen, deren Zukunft offensichtlich bedroht ist, versuchen auf die eintretende Klimakatastrophe mit immer noch friedlichen Mitteln und der Verneinung von Gewalt aufmerksam zu machen und werden von denen, die interessengeleitet nicht die notwendigen Maßnahmen hiergegen ergreifen, möglicherweise als Terroristen eingestuft und verfolgt. Handelt es sich nicht eher um den Terrorismus der die Umwelt zerstörenden Generationen, die gegenwärtig an der Macht sind und generationenegoistisch handeln? Müssten nicht Fossilkonzerne, umweltzerstörende Staaten und Institutionen, Kriegswaffen produzierende und an hegemoniale Kriege führende Staaten Waffen ausliefernde Konzerne und dies befürwortende Politiker vor Gericht gestellt werden? Handelt es sich hier nicht um eine Umkehrung der Verhältnisse – die Opfer werden verfolgt, die eigentlichen Täter stellen sich als moralisch in Talkshows hin, wenn sie rechtsstaatliche Strukturen für die Zerstörung der Biosphäre missbrauchen.
Es ist des Weiteren sicherlich nicht abwegig, die nun gerade von der bayrischen Landesregierung und insbesondere dem bayrischen Ministerpräsidenten Söder geforderte rechtsstaatliche Strenge gegen die Letzte Generation in einem Zusammenhang mit den am 8.10.2023 stattfindenden Landtagswahlen zu betrachten. Es wäre ein weiterer rechtsstaatlicher Skandal, wenn regierende Politiker mit eher populistisch konnotierten Forderungen Wählerstimmen zu Lasten einer angemessenen Einordnung rechtswidriger aber auch an einem übergeordneten, durchaus vertretbaren Ziel orientierter Aktionen junger Menschen zu gewinnen suchen.
Sicherlich ist es fraglich, ob durch massive Verkehrsbehinderungen und der damit verbundenen Belastungen für die Verkehrsteilnehmer Unterstützer für das ökologische Anliegen gewonnen werden können. Aber vergreift sich der Staat nicht in den Mitteln, wenn er Ordnungswidrigkeiten und Straftaten, wie das friedliche Blockieren einer Straße, die im Interesse zukünftiger Generationen als Form des politischen Protests begangen werden, mit Aktivitäten einer kriminellen Vereinigung gleichsetzt? So stellt der Soziologe und Rechtsextremismusforscher Matthias Quent fest, dass die Mitglieder der Letzten Generation „auffällig friedlich“ seien und sich nicht einmal wehren würden, wenn sie von aufgebrachten Autofahrern körperlich angegriffen und verprügelt würden.
Des Weiteren sind die Verkehrsblockaden auch nicht so weit von den Streikmaßnahmen einzelner Eisenbahngewerkschaften oder der Flugpiloten entfernt - ohne dies gleichsetzen zu wollen. Einerseits geht es dort um das gesetzlich verbriefte Streikrecht. Andererseits werden hier Verkehrsblockaden mit durchaus vorhandener Nötigung der Passagiere u.a. zur Steigerung der eigenen materiellen Vergütungsoptionen genutzt, während die Letzte Generation nicht für einen höheren eigenen Lohn den Verkehr blockiert, sondern ihre ebenfalls friedlichen Aktionen im berechtigten Interesse ihrer und kommender Generationen an einem zu erhaltenen Planeten durchführt.
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Auch geraten Landesregierungen, wie z.B. in Bayern, in Verdacht mit der übertriebenen Strenge gegen Klimaschützer von ihrer eigenen Vernachlässigung des Klimaschutzes abzulenken zu wollen. So ist liegt Bayern hinten beim derzeitigen Bau von Windrädern. Im ersten Quartal des Jahres 2023 (Stand: Mitte März) wurde beispielsweise dort noch kein einziges Windkraftwerk genehmigt. Im flächenmäßig halb so großen Nordrhein-Westfalen lagen im gleichen Zeitraum bereits 20 Genehmigungen vor. Gleichzeitig kehrt Bayern zunehmend zu Kohle und Gas zurück und die Landesregierung fordert den Weiterbetrieb der Atomkraftwerke. [7]
Gewünschte Radikalisierung?
Und: Wenn tatsächlich der Versuch die Letzte Generation als kriminelle oder sogar terroristische Organisation einzustufen und deren Mitglieder und Unterstützer in schwerster Form zu kriminalisieren sich durchsetzen würde, würde nicht möglicherweise ein Teil der Mitglieder – in dieser Weise kriminalisiert - in den Untergrund gehen und beginnen tatsächlich umweltterroristische Handlungen zu begehen? In diesem Fall hätte der Staat durch ein strafrechtliches Überreagieren sich seine eigene ökoterroristische Organisation geschaffen. In diesem Sinne formuliert Quent:
„Soziale Bewegungen radikalisieren sich häufig, wenn sie sich isoliert und in den Untergrund gedrängt fühlen. Razzien dieser Art können dazu führen, dass künftig klandestine Aktionen durchgeführt werden. Es ist gut möglich, dass die Kriminalisierung innerhalb der Klimabewegung zu Radikalisierung führen kann und dass diese auch im Interesse ihrer politischen Gegner ist.“ [8]
Hier könnte somit von interessierten Kreisen versucht werden, ein Exempel zu statuieren, das dann auch für Klima-Bewegungen wie Fridays for Future und Extinction Rebellion einschüchternd wirken soll. Hierbei sollte man bedenken, dass eine derartige Wirkung durchaus bereits eintreten kann, wenn man bedenkt, dass beispielsweise in Bayern eine Teilnahme an Klebeaktionen bereits zu 30 Tagen Präventivgewahrsam im Gefängnis führen kann, bevor eine ordentliche Anklageerhebung oder gar ein ordentlicher Prozess stattfindet.
Auch der Rechtswissenschaftler Robin Mayer hält die staatlichen Maßnahmen und den Vorwurf einer kriminellen Vereinigung für völlig überzogen und sie würden vor allem verfassungsrechtlichen Urteilen widersprechen:
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„Das Bundesverfassungsgericht hat Blockadeaktionen als zulässige Demonstrationsform und von der Versammlungsfreiheit geschütztes Verhalten bestätigt. Und zwar selbst dann, wenn die Blockade beabsichtigt und nicht nur Nebenfolge ist. Es steht dem Staat nicht zu, von diesem geschützten Verhalten durch Repressionen abzuschrecken, indem er sie als Zweck zur Begehung von Straftaten wertet. Die Wahrnehmung eines Grundrechts kann nicht gleichzeitig einen Straftatbestand verwirklichen. Nach wie vor zeigt sich, dass das Strafrecht als Antwort auf zivilen Ungehorsam völlig ungeeignet ist.“ [9]
Hier gerät der Staat in den begründeten Verdacht sich selbst zu delegitimieren, wenn er rechtsstaatlich widersprüchlich und unangemessen hart reagiert und der Letzten Generation die Bildung einer kriminellen Organisation vorwirft sowie Mitglieder nachts mit vorgehaltenen Waffen aus ihren Betten holt. Dieses überharte Reagieren ist vielleicht politisch opportun und bringt Wählerstimmen. Aber die politischen Schäden sind groß, ohne dass dies im Kontext einer politischen Ordnung mit einem demokratischen Anspruch notwendig wäre.
Lösungsperspektiven
Wäre es daher nicht so viel richtiger – anstatt zivilgesellschaftlichen Klimaprotest zu kriminalisieren -, in vernünftiger Reaktion auf die Proteste und das Anliegen der Letzten Generation zu reagieren und mit ihren Mitgliedern und Sprechern wiederholt und auch auf Augenhöhe zu sprechen und gemeinsame Wege aus der eintretenden Klimakatastrophe zu suchen? Die jungen Menschen, die sich dort zivilgesellschaftlich organisieren und engagieren, sind gesprächsbereit und haben konkrete ökologische Forderungen. Sie fordern z.B. im direktdemokratischen Sinne in einem offenen Brief an den deutschen Bundeskanzler einen – zufällig gelosten – Gesellschaftsrat, der über geeignete Maßnahmen gegen die Klimakatastrophe und die Umweltzerstörung berät. Dann würden sie ihren Protest beenden. [10] Auch fordern sie entschiedenere Maßnahmen zur Reduktion von Klimagasen und zur Verkehrswende, wie z.B. ein Tempolimit oder ein 9-Euro-Ticket für die Bahn. Ein paar Milliarden weniger für die Anschaffung von Waffen könnten dies sicherlich finanzieren.
Auf ihrer inzwischen wieder freigeschalteten Homepage schreibt die Letzte Generation selbst:
„Die Regierung hat sich in den Koalitionsvertrag geschrieben: ‚Wir werden Bürgerräte zu konkreten Fragestellungen durch den Bundestag einsetzen und organisieren.‘ Wir nehmen sie beim Wort, denn Vorbilder aus Frankreich, Irland, Belgien zeigen, dass das Format Menschen in ihrer Anstrengung vereint und konstruktive Ansätze hervorbringt.
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Wir fordern die Bundesregierung auf, einen Gesellschaftsrat einzusetzen und seine Beschlüsse umzusetzen. Wir fordern, dass wir, die 99 Prozent, endlich mitentscheiden dürfen über den Erhalt unserer Lebensgrundlagen. Denn es hat sich gezeigt: immer da, wo Bürger:innen informiert über ihr Schicksal mitentscheiden dürfen, wartet eine bessere, sicherere, gerechtere Welt auf uns.“ [11]
Vielleicht hört man daher ihnen einmal zu und korrigiert ggf. dann auch staatliches, ökonomisches und auch individuelles Verhalten, das die Biosphäre dieses Planeten und die Lebensbedingungen der nächsten Generationen zerstört. Immerhin waren in einer 2022 durchgeführten repräsentativen Umfrage von Infratest dimap 82 Prozent der deutschen Bevölkerung der Auffassung, dass es einen großen oder sogar sehr großen Handlungsbedarf hinsichtlich des Klimaschutzes gäbe. Nur 4 Prozent waren der Auffassung, dass die bisherigen Klimaschutzaktivitäten nicht verändert werden müssten. [12]
Bedenkenswert ist auch die Forderung nach dem Schutz von Klimaaktivisten im Anschluss an die Razzien bei der Letzten Generation von Seiten der UN. Antonio Gutèrres ließ seinen Sprecher ausrichten, Klimaschützer müssten sich einerseits an staatliche Gesetze halten, andererseits seien sie aber auch zu schützen - so der Sprecher des UN-Generalsekretärs:
"Klimaaktivisten – angeführt von der moralischen Stimme junger Menschen – haben ihre Ziele auch in den dunkelsten Tagen weiterverfolgt. Sie müssen geschützt werden und wir brauchen sie jetzt mehr denn je." [13]
Die Soziologie-Professorin Gesa Lindemann ordnet die Aktivitäten der Letzten Generation oder von Ende Gelände als den legitimen Versuch junger Menschen ein, für ihre Zukunft gegen ökologische Gewalt, die strukturell verankert sei, zu kämpfen. Es handele sich bei den massiven Verfolgungen der Letzten Generation um eine völlig überzogene staatliche Reaktion, die gegen das die ökologische Arbeitsverweigerung der Bundesregierung anprangerte BVerG-Urteil stehe und somit eine Täter-Opfer-Verkehrung darstelle:
„Die Aktionen von Letzte Generation oder Ende Gelände tun nichts anderes, als die deutsche Politik daran zu erinnern, dass das BVerfG sie dazu verpflichtet, der ökologischen Gewalt nach innen und in der internationalen Politik entgegenzutreten. Diese Aktivist:innen kämpfen nicht nur für den Schutz des Klimas, sondern faktisch auch für den Schutz der Verfassung. Nur, wenn die ökologische Gewalt wirksam bekämpft wird, lässt sich die moderne verfassungsbasierte Ordnung des Vertrauens in Gewaltlosigkeit erhalten.“ [14]
Sie fordert dementsprechend den zivilgesellschaftlichen Widerstand innerhalb des Nationalstaats gegen derartige Täter-Opfer-Verkehrungen und illegitime staatliche Übergriffe und den damit verbundenen Versuch, diesen auch international gegen alle Formen ökologischer Gewalt zu mobilisieren, ein.
Inzwischen (Stand 2024) hat die Letzte Generation ihre Agenda umgestellt. Aufgrund der zunehmenden Kriminalisierung und Strafverfolgung aufgrund der Klimaklebe-Aktionen, will die Organisation zukünftig über andere Formen zivilgesellschaftlichen Ungehorsams auf die Klimasituation und die ungenügenden Maßnahmen der Politik aufmerksam machen. Auf X postete die Letzte Generation die neue Agenda [15] :
· „Ungehorsame Versammlungen statt Kleben & Straßenblockaden;
· Proteste an Orten der Zerstörung, direkte Konfrontationen mit Politiker:innen"
Anfang 2025 ging diese Entwicklung noch weiter: Die Organisation 'Letzte Generation' taufte sich nun auch um zu 'Neue Generation'. Des Weiteren wurde nun neben der Klima- und Umweltpolitik auch die Sicherung und Weiterentwicklung der Demokratie als zweiter Themenfokus der NGO genannt. So wolle man auch nach dem Zufallsprinzip zusammengestellte Bürgerversammlungen (ein "Parlament der Menschen") einberufen, zuerst auf der Wiese vor dem Deutschen Bundestag. [16]
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Anmerkungen Kap. 1.5.2.4:
[1] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/letzte-generation-umfrage-kriminelle-vereinigung-100.html, 25.5.2023, 1.6.2023.
[2] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2023-06/klimaschutzbewegung-letzte-generation-demonstriert-in-mehreren-staedten?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F, 1.6.2023, 1.6.2023.
[3] https://www.sueddeutsche.de/bayern/letzte-generation-anzeige-razzia-soeder-linke-1.5892616, 31.5.2023, 1.6.2023.
[4] https://www.telepolis.de/features/Letzte-Generation-Mehrheit-findet-Razzien-richtig-9092956.html, 31.5.2023, 1.6.2023.
[5] https://www.telepolis.de/features/Letzte-Generation-Mehrheit-findet-Razzien-richtig-9092956.html, 31.5.2023, 1.6.2023.
[6] Aus einem Interview in der Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen (HNA), vom 3.6.2023, S.7.
[7] Vgl. https://www.erneuerbareenergien.de/technologie/onshore-wind/2023-noch-keine-einzige-genehmigung-fuer-neue-windturbine-bayern, 17.3.2023, 3.6.2023.
[8] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/letzte-generation-razzia-radikalisierung-soziologe-quent-100.html, 24.5.2023, 1.6.2023.
[9] https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/letzte-generation-die-friedlichen-kriminellen, o.D., 1.6.2023.
[10] https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/klimaschutzgruppe-letzte-generation-demonstrationen-klima-100.html, 31.5.2023, 1.6.2023.
[11] https://letztegeneration.org/erklaerung/, o.D., 5.6.2023.
[12] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1252503/umfrage/umfrage-zum-handlungsbedarf-im-klimaschutz/, 5.5.2023, 1.6.2023.
[13] https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-05/razzia-klimaschuetzer-un-schutz-antonio-guterres#:~:text=Die%20Welt%20brauche%20Klimasch%C3%BCtzer%20mehr,Er%20forderte%20friedlichen%20Protest, 26.5.2023, 1.6.2023.
[14] Gesa Lindemann: Die ökologische Gewalt fordert längst ihre Opfer. In: https://www.zeit.de/kultur/2022-11/klimawandel-oekologische-gewalt-aktivismus-klimaschutz, 11.11.2022, S.8.
[15] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/letzte-generation-klimakleber-wollen-nicht-mehr-kleben-a-2bd07ac8-52a6-4f00-abca-207a5c63d530, 29.1.2024, 2.4.2024.
[16] Vgl. hierzu: TAZ, https://taz.de/Letzte-Generation-wechselt-Namen/!6072432/, 27.2.2025, 28.2.2025.
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Extra:
Über den Versuch der EU-Kommission, Atomkraftwerke und mit fossilem Gas betriebene Kraftwerke grün zu waschen bzw. als nachhaltig auszuweisen.
Ist der Slogan "Atomkraft? – Nein danke!" jetzt zukunftsfeindlich?
In Telepolis: https://www.heise.de/tp/features/Ist-der-Slogan-Atomkraft-Nein-danke-jetzt-zukunftsfeindlich-6346228.html, 3.2.2022, 5.2.2022 .
Wechsel des Mediums:
Video zu 10 kontroversen Aspekten gesellschaft-licher Neuordnung im selbstdialogischen Verfahren
1.6 Kulturelle Krisen
1.6.1 Kultur und Kunst im Kapitalismus
Zum Begriff der Kultur
Etymologisch kann der Begriff ‚Kultur‘ aus dem Lateinischen abgeleitet werden (colere = pflegen). Das hiervon abgeleitete ‚Cultura‘ bezieht sich auf die Pflege einer landwirtschaftlichen Fläche und die Viehzucht. Letztendlich bezieht sich dieser Begriff daher auf das, was den Menschen in seiner Lebenserhaltung und dem gesellschaftlichen Umgang mit der Natur von den Tieren unterscheidet. Kultur bezieht sich auf die vergesellschaftete Menschwerdung, auf Produktion und Reproduktion. Auch heute noch spricht man von der Kultivierung einer natürlichen Fläche und meint z.B. das Entfernen von Steinen und das Herausreißen von Wurzeln, so dass dort Ackerbau möglich wird. Erst im 17. Jahrhundert wandelte sich die Verwendung des Kulturbegriffs. ‚Cultura animi‘ meinte dann auch die „Erziehung zum geselligen Leben, zur Kenntnis der freien Künste und zum ehrbaren Leben“. [1]
Bereits dieser Bedeutungswandel zeigt die Doppeldeutigkeit des Kulturbegriffs, die zu einer Unterscheidung dann zwischen einem engen und einem weiten Kulturbegriff führte.
Kultur in einem erweiterten Sinne bezieht sich nicht nur auf das klassische Segment, wie z.B. Theater, Musik und bildende Kunst, sondern umfasst alle gesellschaftlichen Leistungen, die vergangene, gegenwärtige und zukünftige Generationen hervorbringen. Hierzu gehören neben der Kunst u.a. die Sprache, alle Wissenschaften, die Pädagogik und Didaktik, die Religionen, die beruflichen Fähigkeiten und Fertigkeiten in verschiedenen Berufsfeldern, die Technikentwicklung, die Art der Konfliktaustragung, der gesellschaftliche Umgang mit natürlichen Ressourcen, die gerechte Verteilung gesellschaftlichen Reichtums, aber auch die digitale Kommunikation und der Umgang mit Künstlicher Intelligenz (KI).
Was Natur aus sich heraus hervorbringt soll nicht als Kultur verstanden werden. Kultur entsteht erst durch den menschlichen Zugriff auf die Natur im Versuch immer besser zu überleben (erweitertes Kulturverständnis) und künstlerisch zu gestalten (enges Kulturverständnis).
Der kulturelle Zugriff des Menschen auf die Natur ist längst an seine Grenze gekommen. Vor allem zwei Tendenzen führen zu einem Umgang des Menschen mit der Natur, welche die Lebensvoraussetzungen des Menschen auf der Erde zerstören. Es ist zum einen der gierige extrahistische Zugriff des Menschen auf die natürlichen Ressourcen und zum anderen die gleichzeitige Vermehrung seiner Gattungsart. Die Kombination aus weitgehend ungebremster kapitalistischer Inwertsetzung von Natur und wachsendem Bevölkerungsdruck überfordert die Resilienz des Planeten und ist dabei, die Zukunftschancen der nächsten Generationen zu gefährden bzw. bereits zu vernichten.
Es stellt sich daher die zentrale Frage, wie es gelingen kann, zu einer kulturellen Umkehr in Produktion und Reproduktion zu kommen, welche die zukünftigen Generationen vor der Extrahismus-Kultur der gegenwärtig lebenden Generationen schützt.
Das vorliegende Buch versucht ausgehend von einer kritischen Analyse zahlreiche Antworten auf die Frage nach einer neuen präventiven und heilenden Kultur des Schutzes zukünftiger Generationen vor dem Generationenegoismus gegenwärtig lebender Menschen zu geben.
Wir befinden uns in einer schweren kulturellen Krise, die sich aufgrund der Merkmale eines die Natur in Wert setzenden und verwertenden privatwirtschaftlichen Systems zunehmend auf eine globale Situation hin bewegt, die nicht mehr lebensweltlich kontrollierbar ist. Gleichzeitig ist die Art der Konfliktaustragung in einer kulturellen Krise und zunehmend werden ökonomische und politische Interessen mit Hilfe militärischer Lösungen durchgesetzt, was die vorhandene ökologische Krise sowie die ungleiche Verteilung gesellschaftlichen Reichtums noch verstärkt.
Dies sind die zentralen Aspekte der kulturellen Menschheitskrise, die es in der Zusammenarbeit der Völker und über das zivilgesellschaftliche Engagement von Milliarden Menschen zu lösen gilt. Die kulturelle Rolle der Vereinten Nationen hierbei im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Bewegungen und Organisationen wird ausführlich im Kapitel 5 dieses Buches bearbeitet.
Im Folgenden soll nun auf einige Aspekte im engeren kulturellen Verständnis hingewiesen werden:
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Zu den gesellschaftlichen Voraussetzungen der Kultur als Kunst
Kultur in einem engeren Sinne ist in einer Gesellschaft, in der kulturelle Leistungen einem Verwertungszwang unterworfen sind, von einem Anpassungsdruck an den durchschnittlichen Publikumsgeschmack unterworfen. Wenn kulturelle Leistungen im klassischen Segment von Theater und Film, Konzerten, Dichtung und Schriftstellerei, Musik, Tanz und Bewegungskultur, bildender Kunst erst dann zur Existenzsicherung für die Künstler_innen werden können, wenn ihre Performanz zur Ware wird und sie finanziell verwertbar ist, sind dieser Art von Kultur ihre systemischen Grenzen gesetzt. Kunst wird erst dann anerkannt, wenn sie im Kapitalismus als Ware einen möglichst hohen Preis erzielen kann. Auch wird Kunst auf dem Kunstmarkt zum Investment und Spekulationsobjekt. Bilder, die Preise über 100 Millionen Euro oder Dollar erzielen, sind Ausdruck dieser kulturellen Fäulnistendenz.
Horkheimer/ Adorno entwickeln 1944 eine radikale Kritik der Kultur- und Unterhaltungsindustrie, die in einigen Elementen noch heute aktuell ist. Sie sehen die Verbindung von Arbeit und Freizeit, von Produktion und psychischer Reproduktion im Zuge kultureller Angebote. Kultur im Spätkapitalismus habe die Funktion, die Entfremdung der Arbeitsprozesse auszuhalten und am nächsten Tag sich durch Ausbeutung gekennzeichneten Arbeitsstrukturen erneut – abgelenkt und erholt – auszusetzen.
Die Kultur im Sinne eines engen Kulturbegriffs ist dem Warencharakter und dem Verwertungszwang von Qualifikationen und Kompetenzen im Kapitalismus unterworfen.
Den_die ‚freien Künstler_in‘ in diesem Sinne gibt es nicht, da alle, die sich über ihre Kunst ernähren wollen, Kunden finden und ihre Qualifikation erfolgreich verkaufen müssen. Hierbei ist die kulturelle Kompetenz den Strukturen und Zwängen unterworfen, die inzwischen in einer weitgehend neoliberalisierten Gesellschaft gelten. Damit ist der Begriff der 'freien Kunst' für kapitalistische Verhältnisse eine ideologische Konstruktion.
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Auch unterliege die Kultur einer zum Teil offenkundigen, z.T. subtilen Uniformierung – so Horkheimer Adorno (1944/ 1996, 148):
„Der Filmstar, in den man sich verlieben soll, ist in seiner Ubiquität [2] von vorneherein seine eigene Kopie. Jede Tenorstimme klingt nachgerade wie eine Carusoplatte, und die Mädchengesichter aus Texas gleichen schon als naturwüchsige den arrivierten Modellen, nach denen sie in Hollywood getypt würden. Die mechanische Reproduktion des Schönen, der die reaktionäre Kulturschwärmerei in ihrer methodischen Vergötzung der Individualität freilich um so unausweichlicher dient, läßt der bewußtlosen Idolatrie [3], an deren Vollzug das Schöne gebunden war, keinen Spielraum mehr übrig.“
So einleuchtend manches an den Aussagen von Horkheimer/ Adorno auch heute noch ist, scheint anderes doch sehr schablonenhaft. Die Ausprägung und Variabilität von Kunst und Kultur hängt von der durchaus unterschiedlichen politischen Verfassung von Gesellschaften ab – selbst wenn alle Gesellschaften dem vergleichbaren (kapitalistischen) Wirtschaftssystem unterworfen wären.
Je freier und demokratischer eine Gesellschaft ist, desto größer ist der inhaltliche Spielraum für die darstellende Kunst. Innovative und gesellschaftsverändernde Impulse, die von Künstlern wie Schauspielern, Sängern, Malern, Tänzern oder Dichtern gesetzt werden, können sich besonders in historischen Phasen entfalten, in denen der systemische Zugriff auf die Kultur sich lockert bzw. in seinem Durchgriff abgeschwächt ist. Dies ist besonders in Zeiten der Fall, wenn sich in einem Gesellschaftssystem strukturelle Umbrüche zeigen, die dann auch von kulturellen Neuerungen unterstützt werden können. Manchmal läuft auch der kulturelle Aufbruch den Umbrüchen in Ökonomie und Politik voraus und bietet damit einen wichtigen Beitrag zu einer gesellschaftlichen Veränderung.
So kann hierfür beispielhaft der ästhetische Ansatz des Düsseldorfer Künstlers Joseph Beuys gesehen werden, der die revolutionäre und wirklichkeitsverändernde Kraft der Kunst betonte und lebte. Er prägte den Begriff der ‚sozialen Plastik‘ in der Kunst und versuchte über seine Projekte gesellschaftliche Umgestaltung als Kunst umzusetzen bzw. zu betrachten. Seine Kasseler Raum-Zeit-Skulptur ‚7000 Eichen – Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung‘ zeigt diesen Ansatz idealtypisch. Sein Team und er veränderten das Stadtbild und auch dessen Ökologie, indem sie 7000 Bäume gepaart mit einem Basaltblock in der Stadt Kassel anlässlich der documenta 1982 positionierten. [4] Aber auch das öffentliche Umschmelzen einer goldenen Zarenkrone in einen Friedenshasen gehörte zu diesen ästhetischen Aktionen, die in das gesellschaftliche und politische Leben eingreifen wollten. Er verkaufte seine Kunstwerke teuer, nutzte den Kunstmarkt aus, um weitere Projekte und soziale Skulpturen zu finanzieren.
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So zeigen sich oftmals kommende gesellschaftliche Veränderungen bereits Jahre oder sogar Jahrzehnte vorweg in den künstlerischen Darbietungen oder in der Literatur, die sich kritisch mit sozialen Zuständen auseinandersetzen und gesellschaftliche Entwicklungen vorwegdenken. So schreibt z.B. das ‚Organ kritischer Kunst‘ auf seiner Webseite:
“Wir verstehen Kunst als Pflug zur Bearbeitung des gesellschaftspolitischen Ackers im Sinne einer zivilen, autonomen Gesellschaft, gegen reaktionäre Tendenzen wie Rassismus, Militarismus, Sexismus, Dogmata und Faschismus und alle ihre inhumanen Ausdrucksformen!” [5]
Autoritäre Systeme haben die gesellschaftsprägende und verändernde Kraft der Kultur erkannt und versuchen kritische Kunstansätze zu verbieten und eine ideologische und der Stabilisierung des autoritären Regimes dienenden Kunst zu etablieren und zu subventionieren. Dies ist dann der Niedergang der kulturellen Substanz von Kunst. Systemkritische Kunst wird dann als ‚entartet‘ oder ‚verdorben‘ verfolgt. Künstler werden eingesperrt, gefoltert und z.T. ermordet. Dies war im ‚Dritten Reich‘ der Nazis, genauso wie im Stalinismus, als auch in Chile der Fall, als dort das Militär mit CIA-Unterstützung putschte. Dem Sänger und Dichter Viktor Jara wurden nach seiner Verhaftung durch das faschistische chilenische Militär von seinen Folterern die Fingernägel herausgerissen, die Finger gebrochen und er wurde danach kurz vor seiner dann folgenden Ermordung noch gezwungen, Gitarre zu spielen.
Kultur und Kunst in pandemischen Krisenzeiten
Hier soll auf den gesellschaftlichen Umgang mit Kunst und Kultur in der Corona-Pandemie eingegangen werden.
Sicherlich ergeben sich sinnvolle Einschränkungen für Live-Veranstaltungen von Künstlern aus der viralen Gefährlichkeit der Pandemie. Dennoch wird deutlich, dass die Kultur im engeren Sinne – die Kunst – nicht systemrelevant zu sein scheint. So war während der Corona-Pandemie die staatliche Unterstützung von Künstlern_innen gering und äußerst schleppend, wo sie denn überhaupt im Zuge umständlicher bürokratischer Verfahren gewährt wurde. Zahlreiche künstlerische Existenzen und Tätigkeiten wurden in dieser Zeit durch Verbote unverhältnismäßig eingeschränkt oder sogar zerstört.
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In pandemischen Krisenzeiten scheint die Kunst, als Schauspielkunst, musikalische Darbietung, Kabarett oder als Zurschaustellung bildender Kunst, wenn sie auf Präsenz abzielt, verzichtbar zu sein. Sie wird im Zuge pandemischer Vorsichtsmaßnahmen pauschal blockiert, ohne nach Live-Alternativen zu suchen und zu erlauben, wie z.B. Konzerte im Freien unter Wahrung der Hygieneregeln. Künstler_innen werden des Weiteren zu einer eher überflüssigen und marginalisierten Gruppe erklärt, die auf Almosen von Seiten der Gesellschaft, z.B. familiärer Zuwendungen, angewiesen sind.
Auch hier im gesellschaftlichen Umgang mit der Kunst zeigt die Pandemie schlaglichtartig auf, wie auch in anderen Bereichen, wo es Mängel in der gesellschaftlichen Prioritätenliste gibt. Während die beispielsweise die Automobilproduktion ungestört fortgesetzt werden konnte, wurde die physische Zuschauerpräsenz erfordernde künstlerische Veranstaltungsform rigoros - also auch im Freien - verboten.
Die sogenannten ‚sozialen Medien‘
Digitale Medien, wie z.B. Facebook, Twitter, Instagram, YouTube, deutsche Online-Zeitschriften wie ‚Telepolis‘, die digitale Version der 'Frankfurter Rundschau' oder ‚Der Freitag‘, bieten einen noch relativ freien Einblick in das Niveau des in der Gesellschaft vorhandenen kulturellen Austauschs. Einerseits gibt es nun die Möglichkeit, innergesellschaftlich und auch international in eine Kommunikation über zentrale Fragen kultureller Entwicklung einzutreten, sich etwa über Möglichkeiten gesellschaftlicher Neuordnung auszutauschen und zu beraten. Dieses kulturelle und politische Potenzial digitaler Medien ist nicht zu unterschätzen. Andererseits bieten die digitalen Medien auch Menschen den Zugang zur Kommunikation, die lügen, diskriminieren, manipulieren, mobben und drohen.
Insbesondere durch die Möglichkeit zur Anonymität zeigen sich das wahre Gesicht und die unter ethischen Gesichtspunkten noch unterentwickelte psychische und soziale Verfassung eines Teils der Menschheit. Wenn bestimmte Personengruppen sich öffentlich äußern können, ohne damit rechnen zu müssen, identifiziert zu werden, verlieren sie jeglichen Respekt, jede Achtung vor dem Kommunikationspartner und vor der Gesellschaft.
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Das Internet hat somit negative und positive Seiten zugleich. Entsprechende Regeln und Sanktionen müssen für eine menschenwürdige und ethisch vertretbare Kommunikation sorgen, damit die positiven Seiten hier dominieren können. Dies ist ein schwieriger Balanceakt zwischen Presse- und Medienfreiheit und notwendiger Regulierung.
Wenn aber das Internet von staatlichen Verfolgungsinstanzen in schwachen Demokratien oder Autokratien und Diktaturen benutzt wird, um oppositionelle Kräfte zu verfolgen, dann wird diese Errungenschaft zu einem Teil eines repressiven Systems. Dies zeigt sich, wenn Menschen, die z.B. auf Facebook eine kritische Bemerkung, die sich auf das autoritäre Regime in der Türkei bezieht, liken oder positiv kommentieren, bei ihrem nächsten Besuch in der türkischen Heimat bereits am Flughafen verhaftet, ohne ein ordentliches Gerichtsverfahren eingesperrt und dem Terrorismusverdacht ausgesetzt werden. Auch sogenannte IMSI-Catcher sorgen dafür, dass die Polizei in solchen Staaten Teilnehmer_innen an (legitimen und absolut friedlichen) Demonstrationen ermitteln und deren Daten herausfiltern kann. Am nächsten Tag findet dann die Verhaftung statt.
Auch das Einbauen von Schwachstellen in Software sowie die Möglichkeit gezielter Hacker-Angriffe dienen in repressiven Gesellschaften der Unterdrückung einer kulturellen Entwicklung, die eine Gesellschaft zu mehr Demokratie und mehr Freiheit hin verändern möchte. In diesen Fällen verstärken digitale Medien die kulturelle Krise einer Gesellschaft und werden von polizeistaatlicher Seite als unterdrückendes Medium eingesetzt.
Das negativste Beispiel bietet die Volksrepublik China, die ihre über 1,4 Milliarden Menschen umfassende Bevölkerung über ein umfassendes digital verankertes ‚social-credit-system‘ zu bespitzeln versucht. Millionen digitaler Kameras mit Gesichtserkennung und künstlicher Intelligenz ausgestattet identifizieren Menschen, bewerten sie und bewirken positive und negative Sanktionen des menschlichen Verhaltens. Dies führt zu einer Kultur der Ängstlichkeit und des angepassten Verhaltens.
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Die Erzeugung von Angst über Filme und Videospiele
Zur Kultur einer modernen Gesellschaft gehören die Qualität von audiovisuellen Medien und der soziale Umgang hiermit. Eine Gesellschaft mit einer friedensorientierten Kultur wird auf gewaltverherrlichende Filme und Videospiele verzichten wollen. Doch die kulturelle Krise der Gesellschaft zeigt sich gegenwärtig genau in einem umgekehrten Trend: Die Filme, ‚gestreamten‘ Serien und die Videospiele werden zunehmend gewalttätiger. Hierbei wird das Töten und Quälen von Menschen immer detaillierter und ausgedehnter gezeigt, gewalttätige Konfliktlösungen – auch von als positiv dargestellten Heldengestalten – werden als legitimes und sogar zu verherrlichendes Mittel sozialer Interessensdurchsetzung dargestellt. Die brutalsten Szenen werden mit einer entsprechend bedrohlichen Musik unterlegt, die direkt das menschliche Gehirn erreicht, ohne dass man sich dagegen wehren könnte. Menschen zerstörende Gewaltmittel in Kombination mit beeinflussender Musik, z.T. auch unterschwellig angelegt, stumpfen einerseits insbesondere junge Menschen gegen Gewalteinsatz ab, andererseits erhöhen sie das Angstpotenzial im Menschen. Beides – die Abstumpfung und die latente Angst – führen zu einer Anfälligkeit von Menschen gegenüber gewalttätigen Konfliktlösungen. Die Hemmschwelle zur Gewalttätigkeit wird kleiner, und Angst oder auch fehlende Sensibilität können zu einem Einsatz von Gewaltmitteln führen.
Gerade die heroischen Kriegsfilme auch in den modernen Varianten, in denen sich die Akteure im Einsatz für vermeintlich bessere gesellschaftliche Werte und Systeme in Kriegen gegen ‚Schurken- und Gaunerstaaten‘ über das Völkerrecht hinwegsetzen und auch zivile Kollateralschäden für die gute Sache in Kauf nehmen, bauen Friedfertigkeit unter den Völkern ab. ‚Schurken‘ werden oft charakterisiert durch Menschen mit russischen, osteuropäischen oder arabischen Akzenten. Derartige Filme gehen vom Menschenbild eines besseren (westlichen) Menschen und eines negativen (Un)Menschen aus einer anderen Kultur aus. Hier werden die Zuschauer in Feindbilder eingeübt, welche die psychische Voraussetzung für die Kriegsführung gegen andere Nationen und Kulturkreise sind. [6]
Unabsehbar sind hierüber hinaus die Folgen, wenn junge Menschen an Virtual-Reality-Spielen teilnehmen und einen größeren Anteil ihrer Zeit nicht unter den Bedingungen und Begrenzungen realer Handlungsabläufe leben. Das Sich-Aufhalten in einer virtuellen Realität erzeugt intensivere Eindrücke und Gefühle, als dies ohnehin bei den üblichen Filmen und Videospielen der Fall ist. Was macht dies mit einem Menschen, wenn er regelmäßig in der virtuellen Realität tötet und vergewaltigt? Ist eine normative Beschränkung im richtigen Leben noch durchgehend möglich, wenn die virtuelle Realität das Erleben eines entgrenzten Verhaltens ermöglicht? [7]
Welchen Einfluss haben Gewalt verherrlichende Filme und der Aufenthalt in gewalttätigen virtuellen Realitäten auf junge Menschen, die wild um sich schießend als Attentäter in Schulen und Geschäften auftauchen und Menschen ermorden oder schwer verletzen?
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1.6.2 Zur kulturellen Problematik von Kirchen und Religionen
Religionen sind im Zuge historisch vermittelter Konstruktionsleistung ausgearbeitete kulturelle Wege, die Welt im dem Versuch wahrzunehmen und zu deuten, sich eine emotionale Sicherheit in der Auseinandersetzung mit den Gefährdungen des Lebens zu verschaffen.
Welchen kulturellen Beitrag können nun Religionen aktuell zur Lösung von Krisen leisten, wie z.B. die ökologische Krise, die Krise der Demokratien oder die Krise völkerrechtlich abgesicherter Konfliktkultur - verschärft durch die Neoliberalisierung kapitalistischer Systemstrukturen?
Im Zuge kultureller Krisen, die mit dem Wegfall tradierter Identifikationen und mit erheblicher Identitätsverunsicherung verbunden sind, neigen viele Menschen zur Unterwerfung unter politische und religiöse Ideologien, die gesellschaftliche Verhältnisse vereinfachen. Dies findet über den politischen Extremismus statt aber auch über religiöse Bewegungen, die ein soziales Auffangbecken, eine spirituelle Identifikationslogik und eine Unterordnung unter eine religiöse Instanz anbieten.
Es muss hierbei allerdings zwischen Ethik, Philosophie und Religion unterschieden werden.
Religionen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie auf einen Gott oder mehrere Götter fixiert sind, mit denen der Anhänger einer Religion sich im direkten Gespräch befindet bzw. der/die durch ihn angebetet wird/werden. Religiöse Praktiken werden ritualisiert in einem institutionellen Kontext angeboten, der sich in der Regel verselbstständigt und die innere Herrschaft über das Denken und Fühlen der Menschen zum Vorteil der religiösen Institution im Sinne gesellschaftlicher Macht- und Reichtumsanhäufung ausnutzt.
Religionen in Verbindung mit politischer und ökonomischer Macht behinderten in allen Weltregionen die Ausbreitung eines aufgeklärten Wissens und Denkens. Die religiöse Hingabe an eine überirdische Macht, deren Stellvertreter auf Erden, seien es in der Geschichte der Menschheit Päpste, Imame, Tennos oder Könige, die den Kriegseintritt als ‚heilige Pflicht‘ deklarierten, ist durch rationale Argumentation kaum erreichbar. Kriege jeder Art wurden von den jeweiligen Vertretern der Religionen abgesegnet und legitimiert. Selbst der gleiche Gott wurde dazu angefleht, beiden Seiten der Kriegsgegner Schutz zu gewähren. Die Menschen marschierten im Namen des gleichen Gottes bzw. Allahs in den Tod, warfen Bomben auf Zivilbevölkerung, setzten Giftgas und Tellerminen ein, sprengten sich in die Luft bzw. töteten im Rahmen symmetrischer und asymmetrischer Kriegsführung.
- 247 -
Die Kennzeichnung der verschiedenen Richtungen des Christentums, des Islams, des Schintoismus, des Judentums oder des Hinduismus als Religionen ist ohne Schwierigkeiten möglich, da im Zentrum des Glaubens Gott, Götter oder das Göttliche steht. Der Gedanke der Aufklärung, der den selbstbewussten und mündigen Menschen anstrebt, der ohne die Führung durch eine andere transzendente Instanz selbstständig denken und handeln kann, steht gegen die religiöse Anmaßung, der Mensch sei unfrei und grundsätzlich in Sünde, einem Gott oder Göttern unterworfen sowie kirchlichen Institutionen zum Gehorsam verpflichtet.
Der 14. Dalai Lama und Friedensnobelpreisträger, geboren unter dem Namen Lhamo Dhondrub, kritisierte schonungslos die Rolle von Religionen in historischer und globaler Hinsicht:
„Seit Jahrtausenden wird Gewalt im Namen von Religionen eingesetzt und gerechtfertigt. Religionen waren und sind oft intolerant. Um politische oder wirtschaftliche Interessen durchzusetzen, wird Religion oft missbraucht oder instrumentalisiert – auch von religiösen Führern. Deshalb sage ich, dass wir im 21. Jahrhundert eine neue Ethik jenseits aller Religionen brauchen.“ [8]
Jiddu Krishnamurti, ursprünglich als religiöser Führer und Weltenretter von der theosophischen Gesellschaft aufgebaut, distanzierte sich in seinem dritten Lebensjahrzehnt bewusst von allen Religionen, religiösen Hierarchien und religiösen Führern. Religiöse Führer und Institutionen seien Hindernisse auf dem Weg zur Selbsterkenntnis. Nur vorurteilsfreies Hinschauen führe zur inneren Entwicklung, die nicht vom Äußeren zu trennen ist – so Krishnamurti (1972/1995, 52):
„Aber um ganz tief nach innen gehen zu können, müssen wir auch das Äußere verstanden haben. Und je besser Sie das Äußere verstehen – nicht bloß die Fakten wie die Entfernung zwischen uns und dem Mond oder die technologischen Kenntnisse, sondern die Bewegungen draußen vor der Tür, die sozialen und nationalen Geschehnisse, die Kriege, den Haß allüberall –, je besser Sie das verstehen, um so tiefer können Sie nach innen vordringen. Und diese innere Tiefe kennt keine Begrenzung. Da werden Sie nicht sagen: ‚Jetzt bin ich ans Ende gelangt, dies ist die Erleuchtung.‘ Erleuchtung kann uns ohnehin nicht von jemand anders gegeben werden; Erleuchtung kommt, wenn die Verwirrung begriffen worden ist; und um die Verwirrung zu begreifen, müssen wir sie betrachten.“
Die traditionellen Religionen, wie z.B. Islam, Hinduismus, Katholizismus, Judentum, Schintoismus sowie Protestantismus, sind bereits hinlänglich untersucht und hinsichtlich ihres antiaufklärerischen Gehalts sowie ihrer Machtansprüche und Ideologien kritisch analysiert worden. [9]
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Zur Rolle und Krise der religiösen Institutionen
Der monotheistische Zugriff auf die Wirklichkeit hat die Herausbildung mächtiger gesellschaftlicher Institutionen in fast allen Kulturkreisen gefördert. Dies führte hierbei zu einer Konkurrenz um die kulturelle Deutungshoheit der verschiedenen Kirchen und religiösen Kulturen, was für den Weltfrieden eher hinderlich war. Beispiele religiös unterlegter gewaltsam ausgetragener kultureller Konflikte in der Vergangenheit, die bis in die Gegenwart reichen: Christliche Kreuzzüge und Abschlachtung und Unterjochung der muslimischen Bevölkerung, die Verfolgung, Folterung und Ermordung heilkundiger Frauen ("Hexenverbrennung") durch inquisitorische Kirchenvertreter, brutal geführte muslimische Eroberungskriege, der religiös konnotierte 30-jährige Krieg, die mörderische Auseinandersetzung zwischen Hindus und Muslimen in Indien, die zur Gründung zweier getrennter Staaten führte, das menschenfeindliche System des IS, terroristisch islamistische Anschläge, die Vernichtung der muslimischen Rohingyas durch die buddhistischen Machthaber in Myanmar, die Unterstützung des russischen Angriffskriegs durch die russische orthodoxe Kirche ….
Auch die christlichen Kirchen haben in der Vergangenheit in der Regel Kriege in ihrer Verquickung von Krieg führenden Staaten und national-kirchlicher Organisation abgesegnet – von den kirchlichen Spitzen bis hin zu dem militärischen Seelsorgern. Negativer Höhepunkt war das Stillhalteabkommen des Papstes mit Hitler bis hin zur Fluchthilfe führender Nationalsozialisten durch die katholische Kirche nach dem 2. Weltkrieg (‚rat line‘). [10]
Doch muss man vorsichtig sein und nicht alle kirchlichen Gruppen und Initiativen dieser schonungslosen Kritik unterwerfen. Man würde hier vielen sich engagierenden Kirchenmitgliedern, die sich – auch oft gegen den Widerstand ihrer Kirchen – für gesellschaftliche Veränderung engagieren, nicht gerecht werden.
Die ursprünglich katholische, inzwischen ökumenisch orientierte Bewegung ‚Pax Christi’ nimmt hier beispielsweise eine gewisse Ausnahmestellung ein. Zwar ist sie immer noch der Kirche und einem monotheistischen Gottesbild verpflichtet, dennoch fand sie nach dem 2. Weltkrieg trotz dieser Voraussetzungen zu friedensstiftenden Aktivitäten und einer Kritik der gesellschaftlichen Grundlagen des Krieges. Im Jahr 2017 wurde ‚Pax Christi‘ allerdings vom Verband der Diözesen Deutschlands die Förderungsfähigkeit abgesprochen, so dass der Zuschuss aus Kirchensteuermitteln zukünftig entfallen soll. [11]
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Es fragt sich auch, ob viele der sich ohne Zweifel bei ‚Pax Christi‘ friedenspolitisch engagierenden Menschen nicht in anderen Zusammenhängen der Friedensbewegung wirkungsvoller – und ohne die Konflikte mit der Kirche – arbeiten könnten und dort besser aufgehoben wären.
Auch die friedenspolitische Initiative der protestantischen Kirche ‚Sicherheit neu denken‘ nimmt eine weitere Ausnahmestellung ein. Hier wird Sicherheit nicht mit Aufrüstung und militärischem Engagement gleichgesetzt. Im Mittelpunkt steht eine neue Sicherheitsordnung, über die mit Hilfe politischer Diplomatie, zivilgesellschaftlichem Engagement und von Seiten der UN koordinierten weltpolizeilichen Tätigkeit Kriege möglichst präventiv verhindert und Frieden gesichert bzw. hergestellt werden sollte. [12]
Trotz dieser positiven, aus kirchlichen Bewegungen stammenden Ansätze müssen vor allem der Missbrauch von (vor allem männlicher) Macht und sexuelle Übergriffe und Vertuschungen im kirchlichen Kontext gegenübergestellt werden. Dies betrifft z.B. beide großen christlichen Kirchen weltweit. Aber dies findet sich beispielsweise auch bei den überwiegend buddhistischen Soldaten in Myanmar, die Vergewaltigungen weiblicher Rohingyas als Waffe einsetzen oder bei dem sogenannten islamischen Staat in Syrien und Irak, der Menschen im Missbrauch des Namens Allahs tötete oder versklavte.
Völlig verfehlt und moralisch nicht gerechtfertigt ist es des Weiteren, die Mehrheit der Muslime unter einen terroristischen Generalverdacht zu stellen. Hierhinter steht der Versuch nationalistischer und rassistischer politischer Gruppierungen, die Menschen gegen eine andere Bevölkerungsgruppe im Sinne gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit [13] aufzuhetzen, um sie für die eigenen rechtspopulistischen oder sogar rechtsextremistischen Ziele zu gewinnen.
Allerdings sind die islamistischen Aufrufe unterschiedlicher Gruppierungen und Organisationen in Gegenwart und Vergangenheit zum ‚Heiligen Krieg‘ und dem damit verbundenen Hegemoniestreben natürlich kein Ausdruck von Friedfertigkeit und Toleranz, sondern der Versuch, Aktivisten für eine kriegerische Auseinandersetzung zu rekrutieren, deren Kriegsmotivation über religiöse Beherrschung bis zur Selbstaufgabe in die angestrebte Richtung gelenkt werden kann. Dahinter stehen – neben kulturellen Vorurteilen – letztendlich politische Machtinteressen und ökonomische Interessen im Rahmen von Konflikten im Kampf um Rohstoffquellen, Absatzmärkten und zu besteuernde bzw. auszubeutende Bevölkerungsgruppen. Die Hingabe an eine Religion wird hier mit kühlem Kalkül von profitierenden Gruppen und Personen ausgenutzt.
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Die kulturelle Bedeutung von Philosophien für eine gesellschaftliche Neuordnung
Philosophien sind kognitive Systeme, kulturelle Errungenschaften, die sich auf die Analyse und Deutung von Welt beziehen und hierbei zentral die Frage nach dem Sinn des Lebens thematisieren. Zur Unterscheidung von Philosophien und Religionen soll hier, wie gesagt, die Existenz und die Verwendung eines Gottes-Begriffs gesehen werden. Für Religionen ist es essentiell, dass religiöse Menschen sich in einer Mensch-Gottesbeziehung sehen. Sie beten einen Gott oder mehrere Götter an mit dem Ziel, zumindest als Seele unsterblich zu werden. Eine übergeordnete allmächtige Göttlichkeit und das Versprechen eines Paradieses bzw. eines ewigen Lebens in kulturell unterschiedlicher Form – von der Reinkarnation bis hin zur Gemeinschaft mit Gott nach dem Tod stellt die Essenz jeder Religion dar.
Philosophien gehen über diese enge kulturelle Konstruktion von Transzendenz hinaus, die letztendlich aus Unsicherheit gegenüber den weltlichen Gefahren, dem Unverständnis gegenüber den Naturphänomenen und aus der Angst vor dem eigenen Ableben geboren wurde. So bietet gerade die griechische Philosophie des Sokrates, seines Schülers Platon und dessen Schüler Aristoteles tiefer gehender Reflexionen zur Wahrnehmung und Deutung von Wirklichkeit an, die vielfältige Interpretationen von Lebenssinn zulassen.
Allein das berühmte Höhlengleichnis von Platon, bereits Jahrtausende vor unserem philosophischen Kulturbetrieb erdacht, bietet uns die zentralen Grundlagen der heute aktuellen konstruktivistischen Philosophie. In einem genial erdachten Beispiel macht Platon deutlich, wie Menschen sich kulturelle Fesseln bei der Wahrnehmung der Welt anlegen, die ihnen Sicherheit geben und mit denen sie sich letztendlich identifizieren. Sie haben gelernt, dass ihre eingeengte und zugeschnittene Wahrnehmung der Welt die wirkliche Welt sei. Sie fühlen sich in dieser Beschränkung wohl und sicher, indem sie auf die Schatten der hinter ihnen vorbeigetragenen und durch ein Feuer illuminierten Figuren schauen, die sie hieran gefesselt und unbeweglich an der gegenüberliegenden Wand betrachten. Sie halten die vorbeiziehenden Schatten für die eigentliche Realität. Dann wird es auch gefährlich für diejenigen, die sich von den Fesseln befreien, aus der Höhle kultureller Dunkelheit hinaustreten und ihre neuen Erfahrungen und Erkenntnisse den kulturell Gefesselten mitteilen, sie von ihren inneren Fesseln befreien möchten.
Die antike Philosophie war konstitutiv für das Denken im westlichen Kulturraum, insbesondere für die kulturelle Leistung der Aufklärung. Sie ist eine Erkenntnisquelle, die wieder stärker im Fokus schulischer Bildung stehen müsste, da hier die Möglichkeit kultureller Selbstreflexivität und der Bildung einer reflexiven Identität angelegt ist.
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Im Zuge einer gesellschaftlichen Neuordnung wäre es daher erstrebenswert, wenn die traditionellen Religionen zugunsten philosophischer Selbstreflexivität und ethischer Sensibilität abgelöst würden, da nur hier ein kulturelles Empowerment zu sehen ist, das die Menschen von übergeordneten und von gesellschaftlichen Institutionen leicht missbrauchbaren Mächten unabhängig werden lässt. Diese Unabhängigkeit und Autonomie von der inneren Fesselung und der Unterwerfung unter göttliche Autorität ist die Voraussetzung der kulturellen Befreiung der Menschheit, die zu einer grundlegenden gesellschaftlichen Neuordnung führen kann.
Es sollen hier neben den vorgenommenen Verweis auf die Leistungen der griechischen, antiken Philosophie des Weiteren zwei Philosophien aus dem fernöstlichen Kulturkreis angesprochen werden, von denen auch die westliche Philosophie lernen kann: der Daoismus (und zwar der Daoismus in seiner hochkulturellen Form wie bei Laodse, Dschuangdse oder Liädse) und die zenbuddhistische Form des Buddhismus – nicht zu verwechseln mit den Hauptströmungen des religiösen Buddhismus. Hier kann man nicht mehr von religiösen Strömungen sprechen, da ihre Grundierung vorwiegend philosophisch ist, sie in ihrer philosophischen Hochphase im 7./6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung so angelegt wurden, ohne ein Gottesbild und einen Gott bzw. mehrere Götter und ein Jenseitsversprechen auszukommen. [14] Im Mittelpunkt ihrer spirituellen Intention steht das Heranreifen des Menschen zu Achtsamkeit, Bewusstheit und Friedfertigkeit – ein Bildungsprozess, der wiederum nicht nur individualistisch verstanden, sondern auch wieder zurück in die menschliche Gemeinschaft führen soll. [15]
Daher sind zumindest diese beiden traditionellen und philosophischen Weltanschauungen in ihrer Reinform bedeutsam für eine Kultur der bewussten Friedfertigkeit, die eine kulturelle Neuorientierung im Westen und in Asien eine kulturelle Rückbesinnung auf ihr eigenes philosophisches Erbe bedeutet – ohne sich gleich wieder einem spirituellen Übervater und seinem weltlichen Vertreter zu unterwerfen und sich entsprechend repressiven sozialen Strukturen auszuliefern.
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Religionsersatz in monetär ausgerichteten spirituellen Bewegungen
Nun ist es aufschlussreich, verschiedene soziale Bewegungen bzw. Gruppierungen zu betrachten, die vorgeben, dem Weltfrieden zu dienen, eine ausgeprägte Philosophie, eigene Bewusstseinspraktiken und eine öffentlich zugängige Ethik besitzen.
Hierbei sind spirituelle Bewegungen zu nennen, die zwar Wurzeln in alten religiösen Systemen besitzen, aber entweder organisatorische Neugründungen sind und/oder auf neuere gesellschaftliche Entwicklungen zu reagieren versuchen. Auch wenn beispielsweise die Self-Realization Felloship nach Paramahansa Yogananda anders zu bewerten ist als etwa die Scientologen, haben sie doch einige Gemeinsamkeiten.
Gemeinsam ist Organisationen, wie z.B. der Scientology, der Self-Realization-Fellowship- oder der Baghwan (Osho)-Bewegung, dass sie von einem als charismatisch empfundenen spirituell-religiösen Führer konzeptionell entwickelt und organisatorisch begründet wurden.
In diesem Zusammenhang sind sie hierarchisch aufgebaut und nicht demokratisch organisiert. Hierdurch geraten diese Bewegungen bzw. Organisationen im Kern ihres Denkens in einen Gegensatz zur Anforderung der Aufklärung, die eigene Mündigkeit im Sinne von innerer Unabhängigkeit und Selbstständigkeit des Denkens zu entfalten. Ihre Anhänger werden auf spirituelle Führer eingeschworen, geraten zu diesen in eine innere Abhängigkeit, was wiederum ein freies Wahrnehmen und Denken blockiert. Von ihnen kann daher nicht der entscheidende Beitrag zu einer gesellschaftlichen Transformation erwartet werden, welche an Mündigkeit, Kritikfähigkeit und Demokratiefähigkeit gebunden ist.
Auch ist bei derartigen Organisationen, so unterschiedlich sie auch in Einzelaspekten sind, oftmals nicht hinreichend geklärt, inwieweit eine Verbindung von spirituell vorgegebenen Zielen und ökonomischen Motiven gegeben ist und wo hierbei die Prioritäten eigentlich gesetzt werden. Diese Organisationen verlangen einen erheblichen ökonomischen Beitrag ihrer Mitglieder und besitzen z.T. ein hohes Stammkapital, mit dem sie sich an der kapitalistischen Ökonomie beteiligen.
Hier zeigen sich dann auch Parallelen zu den traditionellen Kirchen, die in Vergangenheit und Gegenwart immer wieder raffinierte Wege entdeckten, Kapital aus den Menschen zu ziehen, vom Ablasshandel bis hin zur Beteiligung der katholischen Kirche an der Rüstungsindustrie und zumindest indirekt an den damit verbundenen Waffenexporten. [16]
Zusammenfassend lässt sich daher feststellen: Obwohl sowohl die traditionellen Religionen und religiösen Organisationen als auch die genannten spirituelle Bewegungen und Organisationen gern für sich vertreten, zur Friedfertigkeit ihrer Mitglieder und damit zum Weltfrieden einen Beitrag zu leisten, ist dieser Anspruch jedoch kritisch zu hinterfragen. Bei den alten Religionen stehen ihre historische Rolle, die hierarchische Organisation und das allmächtige Gottesbild einer aufgeklärten Friedfertigkeit und einem demokratischen Engagement entgegen. Bei den angesprochenen neueren Bewegungen sind es ebenfalls die hierarchische Organisationsformen, oftmals die Abhängigkeit von einem spirituellen Führer und die Existenz fragwürdiger Geschäftspraktiken.
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Es zeigt sich hierbei ein zunehmender Einfluss kirchlich-orthodoxer Kreise auf die in den verschiedenen Staaten herrschenden politischen ‚Eliten‘. So kann man in vielen Staaten den Machtzuwachs christlich-nationalchauvinistischer Bewegungen und Institutionen erkennen, z.B. die evangelikalen Kirchen und viele ihrer Mitglieder in den USA, die skrupellos den rechtspopulistischen Ex-Präsidenten und wiedergewählten Präsidenten Donald Trump unterstützen, oder die russisch-orthodoxe Kirche, die auf ihrem ‚Weltrat des russischen Volkes‘ im Jahr 2024 zum ‚heiligen Krieg‘ in der Ukraine und zum Sieg über den Westen, der dem „Satanismus verfallen“ sei, aufruft (Focus 2024). Hiermit reihen sich die orthodoxen Christen in die Reihe kriegstreibender orthodoxer Religionsvertreter ein, wo sich u.a. bereits orthodoxe Muslime und orthodoxe Anhänger des jüdischen Glaubens befinden.
Universalistische Ethik an die Stelle von Religionen
Doch wenn religiöse Motive wegfallen, was tritt dann an die Stelle möglicher Identifikationen? Der Philosoph Friedrich Voßkühler stellt daher in diesem Zusammenhang kritisch die Frage:
„Was also ist, wenn die ‚Gemeinde-stiftende‘ Liebe Gottes nicht angenommen wird, wenn seine Erlöserkraft nichts mehr gilt? Was ist, wenn demzufolge dem ‚Mut‘ zur ‚Transzendenz zum Anderen‘ die Stütze fehlt? Reichen dann die Liebe und das Vertrauen nicht hin, um die zwischenmenschlichen Beziehungen davor zu bewahren, dem ‚Krieg’ anheimzufallen und die Zukunft der Erde und unserer Nachfahren zu verwüsten?“ [ 17]
Schwer sei es für den Menschen auszuhalten, dass nicht die große Sinnstiftung am Anfang allen Seins stand, sondern auf der Suche „nach dem göttlichen Auge“ die Welt den Menschen „nur mit einer leeren Augenhöhle“ anstarrte (Jean Paul). [ 18]
Eine neue Ethik einer verantwortlichen Neuordnung sollte eine derartige psychologische und philosophische Attraktivität und Ausstrahlungskraft besitzen, dass sie zur Identifikation in freier Entscheidung – und dies nach gründlicher und kritischer Prüfung – geeignet ist. Diese auf eine friedliche, ökologische, demokratische und sozial gerechte Neuordnung abzielende Ethik muss genauso stark und eindrucksvoll wie eine Religion sein, aber ohne ein Gottesbild, religiöses Führertum, spirituelle Programmierung, ökonomische Ausbeutung und innere und äußere Unterwerfung auskommen.
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Die Faszination dieser universalistischen Ethik muss sich über die Motivation und Identifikation hinsichtlich eines gesellschaftspolitischen Engagements erschließen, das an einer sinnvollen und verantwortlichen Zukunft im globalen Kontext orientiert ist, gleichzeitig das gegenwärtige Verhalten mit einer positiven Vision menschlicher Zukunft in Verbindung bringt. Eine derartige Ethik gibt den sich in ihrem Sinne engagierenden Menschen die Kraft, selbstständig und miteinander vernetzt zivilgesellschaftlichen Widerstand gegen die Zerstörung unseres Planeten, gegen die zunehmende soziale Ungerechtigkeit, gegen den Abbau demokratischer Strukturen und gegen die kriegstreibenden gesellschaftlichen Mächte zu leisten.
Angesichts der Zerstörungsmentalität gegenwärtiger menschlicher Zivilisation fordert der US-amerikanische Journalist und Buchautor Roy Scranton (2015, 19), dass die Zivilisation des Raubtierkapitalismus‘ lernen müsse zu sterben, so dass die Menschen zu einer neuen Lebenshaltung hin befreit würden. Hierzu bedürfe es eines neuen philosophisch fundierten Humanismus’:
„In order for us to adapt to this strange new world, we’re going to need more than scientific reports and military policy. We’re going to need new ideas. We’re going to need new myths and new stories, a new conceptual understanding of reality, and a new relationship to the deep polyglot traditions of human culture that carbon-based capitalism has vitiated through commodification and assimilation. Over and against capitalism, we will need a new way of thinking our collective existence. We need a new vision of who ‘we‘ are. We need a new humanism – a newly philosophical humanism, undergired by renewed attention to the humanities.“
Es geht also um eine philosophisch begründete Ethik, hinter der eine positive und radikale Vision der Menschheitsentwicklung im ökologischen und gesellschaftlichen Kontext steht. Es geht um die Überwindung des ‚Macht euch die Erde untertan.‘ zugunsten einer friedvollen, gerechten, demokratischen und ökologischen Weltordnung.
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Monotheistische Religionen müssen zwar im Sinne religiöser Toleranz und der notwendigen Religionsfreiheit ausgehalten werden, wenn sie nicht aggressiv und menschenfeindlich werden. Sie stehen allerdings in der Regel der notwendigen gesellschaftlichen Transformation entgegen und repräsentieren vergangene vordemokratische Epochen und die Natur ausbeutende Zeiten. Historisch gesehen, aber auch in aktueller Perspektive ist hierüber hinaus mit orthodoxen Auslegungen der Religionen die Gefahr eines religiösen Rassismus verbunden, der zur Abwertung, Exklusion und manchmal auch Vernichtung anders- oder nichtreligiöser bzw. säkular orientierter Menschen führt.
Allerdings können die reflexive Auseinandersetzung mit der antiken Philosophie, der philosophischen Leistung der Aufklärung, z.B. Immanuel Kants bis hin zu den heutigen Vertretern der Kritischen Theorie, sowie Erfahrungen mit durchaus geistige Transformationspraktiken, die in traditionellen Kulturen, wie z.B. Daoismus oder Zen-Buddhismus wurzeln, auf dem zivilisatorischen Weg hilfreich sein, die verhängnisvolle kulturelle Mentalität zu überwinden, die durch Egozentrismus, Gier und Begierde gekennzeichnet ist. Meditieren bedeutet hier, auch wach gegenüber zu eng gezogenen Grenzen des Egos zu sein. Aufklärung, Säkularismus und Meditation könnten in diesem Sinne zu einer sinnvollen und ethisch vertretbaren Ergänzung finden. [19]
1.6.3 Kulturelle Umbrüche [20]
Das Aufwachsen in einem Kulturraum kann von einer Herausbildung kultureller Identifikationen und einer Herausbildung von Werten begleitet sein, die zur Abwehr von kulturellen Neuerungen führen. Genauso aber kann dies in sein Gegenteil umschlagen, wenn die traditionelle Kultur und die darin transferierten Werte keine Antworten mehr auf die von der gesellschaftlichen Entwicklung gestellten Fragen bieten können.
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Kulturelle Sichtweisen und Praktiken können ein Potenzial zum Strukturkonservatismus, zum Reaktionären aber genauso zur Strukturveränderung in sich tragen. So haben dominante religiöse Kulturen, sind sie einmal etabliert, in der Regel die Strukturbewahrung zum Ziel, während Veränderungskulturen, wie z.B. im Rahmen des gesellschaftlichen Umbruchs 1968/69 in den westlichen Industriestaaten oder bei demokratischen Milieus des ‚arabischen Frühlings‘, starke Tendenzen zu struktureller Veränderung in sich trugen. Alle kulturellen Leistungen mit einem Kunstbezug, die sich gesellschaftskritisch verstehen, haben oft eine Tendenz zur Veränderung, wenn sie einen kreativen Kern haben, der sich über die Erzeugung und Entwicklung neuer und origineller Ideen definiert. Verbindet sich Kreativität mit Innovation, dann kommt es zu gesellschaftlichen Veränderungen, wenn diese Verbindung Identifikationen, sinnstiftende Wertesysteme und auch existenzielle Vorteile und Perspektiven eröffnet. Eine Wirksamkeit kultureller Umbrüche, die z.B. eine Transformation von materiellen zu postmateriellen Werten oder von religiös bestimmten zu säkularen Werten beinhalten, stellt sich allerdings erst ein, wenn sie den gesellschaftlichen Mainstream bzw. maßgebliche hierfür aufgeschlossene Teile meinungsführender und oftmals auch herrschender Milieus erreichen bzw. mitreißen können.
Die Begriffe Kultur und Gesellschaft sollen als nichts Starres, Festes angesehen werden, sondern werden als in ständiger Bewegung befindlich aufgefasst. Kulturelle Transfers – als intra- und interkulturelle Transfers – sorgen für die Verflüssigung verfestigter gesellschaftlicher Strukturen und stellen natürlich in ihrem Zusammenwirken eine Bedrohung für strukturkonservative gesellschaftliche Kräfte dar, die eher auf der Existenz einer einheimischen Leitkultur bestehen und diese vor ‚fremdkulturellen‘ Einflüssen ‚schützen‘ wollen.
"Kulturelle Transfers finden zu allen historischen Zeiten statt, aber es lassen sich Konjunkturen und Epochen unterscheiden. Erst durch solche Transfers kann Geschichte europäisch (oder auch global) werden. Teilsummen oder Akkumulationen dieser Transfers lassen sich als transkulturelle Geschichte Europas und, eher im Sinne eines Fazits, als Europäisierung verstehen. Die Transfereinheiten sind konkret als Kultureme und Struktureme definierbar. Vielfach sind unterschiedlichste kulturelle Referenzen abrufbereit vorhanden, die konkrete Transfers erleichtern und effizient machen. Durch kulturelle Transfers entstehen unablässig neue Kohärenzen, die sich in bestimmten Fällen weiträumig miteinander verbinden – zu Makrokohärenzen oder Clustern von Kohärenzen, wie man sie im Rahmen der Prozesse, die Europäisierung genannt werden, findet. Diese Kohärenzen können aber genauso gut lokal limitiert bleiben, ohne zu weiteren „Ansteckungen“ (contagions) zu führen. Die Kulturtransferforschung macht die Momente des Starren, linear Begrenzten, des streng Systemischen durchlässig und das Hybride und Komposite eines jeden kulturellen Phänomens sichtbar." (Schmale 2012)
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Die Aufgabe eines kulturellen Transfers beispielsweise über die Schulen ist nicht nur für eine Gesellschaft eine existenzielle Aufgabenstellung, sondern hat auch eine fundamentale Bedeutung für die Orientierung des einzelnen Menschen in einer Gesellschaft – Fend (2008) beschreibt dies wiederum mit dem Bezug zum Aspekt der Enkulturation eindrucksvoll:
„Die zentrale Aufgabe der Schule ist dabei dafür zu sorgen, dass heranwachsende Menschen in ihrer Kultur keine Fremden bleiben, dass sie in ihr ‚zu Hause‘ sind.
Der aufgetürmte Schatz von in Symbolsystemen festgehaltenem Wissen, von Fähigkeiten und von Kulturprodukten ist auf die Resubjektivierung, auf die Entschlüsselung und Verlebendigung in der neuen Generation angewiesen. Wer je in einer arabischen Bibliothek stand und unfähig zur Entschlüsselung war, erlebt die Wucht der Aufgabe, den Code zu erwerben, um die in Jahrhunderten entstandenen Symbolstrukturen einer Kultur zu entschlüsseln.“
(Fend 2008, 48)
Allerdings ist die Resubjektivierung von Kultur nur die eine Perspektive auf den notwendigen Transfer zentraler Kultureme in einer Gesellschaft bzw. einer gesellschaftlichen Hemisphäre, wie z.B. der „Westen“, der „Ferne Osten“ oder der „Arabische Raum“: Systeme, die längerfristig überleben wollen, müssen sowohl ein gewisses Maß an Strukturkonservatismus aufweisen als auch innovationsfähig sein. Hierbei geht es um die richtige Balance zwischen systemischer Festigkeit und Flexibilität. Wenn beispielsweise Demokratien sich unter den Bedingungen einer rasant fortschreitenden Globalisierung und den Verwerfungen einer sich beständig verändernden Ökonomisierung gesellschaftlicher Verhältnisse erhalten wollen, müssen sie sich permanent (und auch wehrhaft) verändern, ohne ihren an der Aufklärung orientierten Wertekern zu verlieren. Hierzu bedarf es der Struktursicherung, insbesondere der Orientierung an den Menschenrechten und verfassungsgemäß garantierten Grundrechten, sowie der Innovationsfähigkeit der in der Demokratie lebenden Bürger, oftmals durch eine Verbindung aus lebensgeschichtlichen Erfahrungen und institutionalisierten Bildungsprozessen ausgelöst.
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Zusammenfassende Überlegungen. Kultur ist in einem weitergehenden Sinne als die Gesamtheit gesellschaftlicher Leistungen zu begreifen, die essentiell für die Menschheitsentwicklung sind. Hierzu gehören auch die verschiedenen Religionen sowie der Versuch, Religionen im Sinne einer erweiterten Aufklärung und Kritischer Theorie zu überwinden. In einem engeren Sinne ist hier unter Kultur vor allem die Kunst zu begreifen. Kultur im engeren Sinne bildet einen kulturellen Raum, in dem zukünftige Entwicklungen und Problemlösungen vorausgedacht und ästhetisch dargestellt werden können. Kritische Kunst versucht in die gesellschaftliche Entwicklung verändernd einzugreifen. Genauso kann hingegen die Kunst als Staatspropaganda missbraucht werden.
Die digitalen Medien sind hinsichtlich der Kultur der Kommunikation ambivalent zu betrachten. Sie können der totalitären Überwachung des Menschen dienen. Genauso aber können sie eine Kommunikation, Beratung und politische Aktivierung über regionale und nationale Grenzen hinweg ermöglichen.
Film und Fernsehen zeigen Phänomene einer kulturellen Krise, wenn sie die kollektive Ängstlichkeit erhöhen, indem zunehmend Gewaltszenen und bedrohliche Situationen in den Fokus von Sendungen und Filmen geraten, die immer detaillierter und eindringlicher dargeboten werden. Virtual-Reality-Spiele als Unterhaltungskunst sind als höchst problematisch einzustufen, da hier die Gefahr einer psychischen Manipulation und Enthemmung besteht.
Religiosität und Kirche sind im Kern als vorrationale kulturelle Phänomene zu verstehen, auf die Menschen insbesondere in Krisenzeiten zurückgreifen, um die Konfrontation mit einer überfordernden gesellschaftlichen Wirklichkeit emotional verarbeiten zu können. Trotz einiger kirchlicher Ansätze, wie z.B. die kirchlichen Initiativen Pax Christi oder ‚Sicherheit neu denken‘, sind in den Kirchen und in den Religionen Hemmnisse auf dem Weg einer an Emanzipation, innerer Befreiung und Kritikfähigkeit orientierten Epoche einer erweiterten Aufklärung zu sehen, die erst ideengeschichtlich im Werden begriffen ist. Hierfür wäre es hilfreich und förderlich, wenn Religionen mehr und mehr zugunsten einer universalen Ethik der Verantwortung für Mensch und Natur weichen würden.
Die Bewegung hin zu einer gesellschaftlichen Neuordnung baut auf einer gesellschaftlichen Kulturfähigkeit auf, die durch kritische Analyse, selbstständige Urteilskraft und selbstbewusstes Handeln im solidarischen Kontext gekennzeichnet ist. Hierzu gehört auch eine Kulturentwicklung im künstlerischen Bereich, die nicht durch repressive staatliche Eingriffe behindert wird, sondern die gerade in Demokratien von der staatlichen Förderung eines weitgefächerten kreativen Potenzials profitieren kann. Daher gilt es z.B. die Diskussion über staatliche Kontrollen eines Verhaltenskodexes der in Kassel stattfindenden größten internationalen Schau moderner Künste, der Documenta, genau zu verfolgen (Küster 2024).
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Dennoch ist die kulturelle Eingebundenheit der bildenden und darstellenden Kunst in die Mechanismen eines kapitalistischen Kunstmarktes nicht zu übersehen. Daher ist die Fixierung auf den Kunstmarkt sowie auf einzelne vom Markt anerkannte Kunstprodukte abzulösen zugunsten einer Demokratisierung der Kunst, die insbesondere das kreative Potenzial des einzelnen Menschen sieht, ihn_sie als Künstler_in, als kreativen Schöpfer seiner gesellschaftlichen und ästhetisch gestaltbaren Welt begreift.
Anmerkungen 1.6.1 - 1.6.3
[1] Kluge (1989, 492)
[2] Unabhängigkeit von einem Standort
t[3] Bilderverehrung
[4] Vgl. ausführlicher https://www.7000eichen.de/index.php?id=2, o.D., 12.5.2021
[5] http://www.kritische-kunst.org/, o.D., 12.5.2021
[6] Vgl. ausführlicher zur Feindbildthematik Kapitel 1.4.1.5
[7] Vgl. ausführlicher Kapitel 2.4.
[8] Dalai Lama (2015, 9).
[9] Vgl. u.a. zur Kritik des Christentums und der christlichen Kirchen aus unterschiedlichen Perspektiven z.B. Weber (1904/2006), Moser (1980), Flasch ( 2013), Drewermann (1990).
[10] Vgl. die Analyse der kirchlichen Unterstützung der Flucht von NS-Verbrechern ‚Exodus der Massenmörder‘ in: https://www.spiegel.de/geschichte/rattenlinie-nazis-und-kriegsverbrecher-auf-der-flucht-a-1032156.html, 9.8.2017, 11.5.2021
[11] Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Pax_Christi, 1.11.2019, 20.11.2019.
[12] Vgl. ausführlicher hierzu https://www.sicherheitneudenken.de/, o.D., 12.5.2021
[13] Zum Syndrom gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit vgl. u.a. Heitmeyer (2012).
[14] Dies hat sich dann später im Daoismus geändert, der sich dann zum Teil im Sinne eines philosophischen Niveauabfalls transformierte und auf ‚Götter, Klingelchen und Glöckchen‘ Wert legte.
[15] Vgl. ausführlicher Kapitel 3.4.
[16] „Die Zeit“ berichtet über Aktivitäten der katholischen Pax-Bank in den vergangenen Jahren: „Dem Bericht zufolge hatte die Bank fast 578.000 Euro in Aktien des Rüstungskonzern BAE Systems investiert. Das Unternehmen produziert unter anderem Raketensysteme und Kampfflugzeuge.“ (https://www.zeit.de/online/2009/32/katholisch-pax-bank-wertpapiere, 26.7.2018).
[17] Voßkühler (2017, 42).
[18] Vgl. Voßkühler (2017, 45).
[19] Vgl. hierzu ausführlicher in Kap. 3.4.
[20] Dieser Abschnitt ist in etwas modifizierter Form meinem Buch ‚Kultureller Transfer und Bildungsinnovation‘ entnommen worden (Moegling 2017, 26f.).
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1.7 Psychische Krisen: Durchsetzung instrumenteller Vernunft, Narzissmus und Massenneurose
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“
(Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, verkündet von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10.12.1948)
Instrumentelles Denken und Nutzenmaximierung aus der Sicht der kritischen Theorie
Die UN-Menschenrechtserklärung geht von wünschenswerten gesellschaftlichen Zuständen und mentalen Befindlichkeiten aus, die in dieser Form noch nicht eingetreten sind [1], wobei natürlich auch die ‚Schwesterlichkeit‘ bzw. 'Geschwisterlichkeit' eingefordert werden müsste, um auch im Sprachgebrauch nicht die Hälfte der Menschheit zu übergehen.[2]
Bereits Marx/Engels ziehen eine deutliche Verbindung zwischen psychischen Strukturen, Denkweisen und gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen:
„Bedarf es tiefer Einsicht, um zu begreifen, daß mit den Lebensverhältnissen der Menschen, mit ihren gesellschaftlichen Beziehungen, mit ihrem gesellschaftlichen Dasein auch ihre Vorstellungen, Anschauungen und Begriffe, mit einem Worte auch ihr Bewußtsein sich ändert?
Was beweist die Geschichte der Ideen anders, als daß die geistige Produktion sich mit der materiellen umgestaltet. Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse.“ [3]
Mit der sich entwickelnden Industriegesellschaft – und dies gilt noch viel stärker in der digitalen Gesellschaft – wird ein Menschentypus hervorgebracht, der durch eine Formung der Weltwahrnehmung gekennzeichnet ist, die Horkheimer (1947/1986) als instrumentelle Vernunft kennzeichnet. Die Ausschaltung von empathischen Gefühlen und die Einengung des Denkens orientiert an instrumenteller Effizienz bedeutet, die natürliche und soziale Mitwelt nur daraufhin zu betrachten, inwieweit sie der egoistischen Interessensdurchsetzung von Nutzen ist. Hierbei liegt der Maßstab im wirkungsvollen Einsatz von Mitteln, um einen Zweck, z.B. eine angemessene Rendite, zu erzielen. Alle Überlegungen und eingesetzten Mittel werden diesem Zweck untergeordnet. Störende Gedanken und Gefühle werden verdrängt, z.T. ins Unterbewusste abgeschoben.
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Die Anwendung der Rational-Choice-Theorie in den Wirtschaftswissenschaften zeigt idealtypisch, wie diese instrumentelle Vernunft zu funktionieren hat. Handlungsmöglichkeiten werden danach ausgewählt und rational abgewogen, inwieweit sie die optimalen Möglichkeiten zur Nutzenmaximierung bieten, ohne dass die persönlichen Kosten den Nutzen übersteigen. Hierhinter steht das Menschenbild des ‚homo oeconomicus‘, der eigennützig, selbstzentriert und unter Verdrängung der Emotionalität handelt. Persönlicher Nutzen wird maximiert, Kosten werden möglichst auf die anderen abgewälzt. Die Interpretation von Situationen und die selektive Wahrnehmung einer Situation richten sich also danach, welche Wahrnehmung den größten Nutzen bietet. [4] Im Mittelpunkt des in diesem Sinne rational handelnden und entscheidenden ‚homo oeconomicus‘ steht der persönliche ökonomische Erfolg. Er versucht soziale Situationen so zu kontrollieren, dass seine eigene Interessensdurchsetzung und Bedürfnisbefriedigung nicht gefährdet ist. Er ist in erster Linie konkurrenzorientiert, ist aber auch in der Lage, mit anderen zu kooperieren, wenn dies seiner persönlichen Nutzenmaximierung dient. Er – der ja genauso eine Frau sein kann – kann sogar empathisch sein, wenn dies seinen Interessen dient. Er macht sich höchstens dann um gesellschaftliche Probleme Sorgen, wenn dies seine Rendite gefährdet. Er ist der Globalisierungsgewinnler, dessen imperiale Lebensweise den Planeten zugrunde richtet. Der ‚homo oeconomicus‘ ist der Prototyp des kapitalistisch sozialisierten Menschen.
Marx/Engels beschreiben bereits für das 19. Jahrhundert, dass das kapitalistische Gesellschaftssystem alle bisherigen Verhältnisse und Bindungen brutal zerreißen und einen bestimmten Menschentypus hervorbringen würde. Die Klasse, die vom Kapitalismus vor allem ökonomisch und politisch profitiert, die Klasse der Kapitaleigentümer, würde das Denken der Menschen dominieren und:
„kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriglassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ‚bare Zahlung‘. (…) Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst. (…) Sie hat mit einem Wort an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt.“ [5]
Instrumentelles Denken hat – nach Horkheimer – einen subjektiven Vernunftbegriff zum Hintergrund, also wie das einzelne Individuum im Rahmen des Zweck-Mittel-Denkens in optimierter Weise handeln kann. Hingegen sind seiner begrifflichen Unterscheidung nach objektive Vernunftentwürfe auf als wertvoll erachtete Ziele einer Kultur gerichtet. Das individuelle Verhalten hierbei ist – im Gegensatz zum technisch-instrumentellen Denken – an einem Denken orientiert, das diese Ziele versteht, kritisch durchdenkt und im Falle positiver Akzeptanz zur Richtschnur des eigenen Handelns macht. Das entwickelte und gereifte Humane bildet sich daher nicht ausschließlich in einem technisch-instrumentellen Verständnis von Vernunft ab, sondern zeigt sich vor allem in einer Vernunft, die auf das kritische und unabhängige Durchdenken von Zielen des Zusammenlebens gerichtet ist und an der Verantwortlichkeit für das übergeordnete Ganze orientiert ist.
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Max Horkheimer zieht die Verbindung zwischen technischer Entwicklung und Entmenschlichung, die nun durch die Digitalisierung und ein hybrides Mensch-Technik-System noch eine aktuelle Variante erhalten hat:
„Das Fortschreiten der technischen Mittel ist von einem Prozess der Entmenschlichung begleitet. Der Fortschritt droht das Ziel zunichte zu machen, das er verwirklichen soll – die Idee des Menschen.“ [6]
Hier kann es natürlich nicht um ein Plädoyer gegen technischen Fortschritt generell gehen, nämlich dann nicht, wenn er dem Humanen oder auch der Mensch-Umwelt-Beziehung dient. Es geht allerdings um die Verhinderung einer Überwältigung des Menschen (und seiner Umwelt) durch die von ihm eingesetzte menschliche Technik und um die Kritik einer Vernunft, deren Grundlage nicht kritisches und theoriegeleitetes Denken sondern eine Unterwerfung unter ein rigoroses Zweck-Mittel-Denken ist – so Horkheimer:
„Als die Idee der Vernunft konzipiert wurde, sollte sie mehr zustande bringen, als bloß das Verhältnis von Mitteln und Zwecken zu regeln; sie wurde als das Instrument betrachtet, die Zwecke zu verstehen, sie zu bestimmen.“ [7]
Eine objektive Vernunft im von Horkheimer gemeinten Sinne ist dementsprechend eine Vernunft, die aus sich heraus zielgerichtet mit bestimmten Werten verbunden ist, wie z.B. Gerechtigkeit, Toleranz und Glück.
Herbert Marcuse verweist in diesem Sinne auf die Verbindung von Gesellschaftsstruktur und Individualität. Gesellschaft werde mehr und mehr eindimensional und forme entsprechend die Bedürfnisstrukturen des Individuums. An die Stelle kritischen Denkens und befreiten sowie der Befreiung dienenden Handelns würde eine psychische Unterwerfung unter die Bedürfnisformierung der Gesellschaft treten. Derartige Bedürfnisse sind vor allem Konsum- und Statusbedürfnisse, deren Durchgängigkeit an die Stelle brutaler Unterwerfung im Sinne einer subtilen sozialen Kontrolle treten würden:
„Die Menschen erkennen sich in ihren Waren wieder; sie finden ihre Seele in ihrem Auto, ihrem Hi-Fi-Empfänger, ihrem Küchengerät. Der Mechanismus selbst, der das Individuum an seine Gesellschaft fesselt, hat sich geändert, und die soziale Kontrolle ist in den neuen Bedürfnissen verankert, die sie hervorgebracht hat. (…)
Es ist daher kein Wunder, dass die sozialen Kontrollen in den fortgeschrittensten Bereichen dieser Zivilisation derart introjiziert worden sind, daß selbst individueller Protest in seinen Wurzeln beeinträchtigt wird. Die geistige und gefühlsmäßige Weigerung ‚mitzumachen‘ erscheint als neurotisch und ohnmächtig. Das ist der sozialpsychologische Aspekt des politischen Ereignisses, von dem die gegenwärtige Periode gekennzeichnet ist: das Dahinschwinden der historischen Kräfte, die auf der vorhergehenden Stufe der Industriegesellschaft die Möglichkeit neuer Daseinsformen zu vertreten schienen.“ [ 8]
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Wenn sich nun instrumentelles Denken mit autoritären Persönlichkeitsstrukturen verbindet, entsteht ein Persönlichkeitstypus der von Theodor W. Adorno u.a. beschriebenen autoritären Persönlichkeit, die gern nach oben buckelt und nach unten tritt, Minderheiten diskriminiert, ganze Menschengruppen abwertet und ein hohes Aggressionspotenzial hat. [9] Dieser Persönlichkeitstypus fügt sich funktional in hierarchische Strukturen ein und ist das Produkt von Unterdrückung und Unterwerfung in den gesellschaftlichen Sozialisationsprozessen sowie entsprechend hierarchischen Strukturen in Politik und Wirtschaft. Gesellschaftliche Strukturen setzen sich in Charakterstrukturen um und haben einen Bezug zu psychoanalytisch zu betrachtenden Persönlichkeitsprozessen:
„Um die ‚Internalisierung‘ des gesellschaftlichen Zwangs zu erreichen, die dem Individuum stets mehr abverlangt als sie ihm gibt, nimmt dessen Haltung gegenüber Autorität und ihrer psychologischen Instanz, dem Über-Ich, einen irrationalen Zug an. Das Individuum kann die eigene soziale Anpassung nur vollbringen, wenn es an Gehorsam und Unterordnung Gefallen findet; die sadomasochistische Triebstruktur ist daher beides, Bedingung und Resultat gesellschaftlicher Anpassung.“ [10]
Kritik an diesen Einschätzungen der Kritischen Theorie
Soweit die Rekonstruktion der Bewusstseinsentstehung und mentaler Engführungen im Kapitalismus aus der Sicht einiger traditioneller Vertreter der Kritischen Theorie. Es ist allerdings kritisch zu hinterfragen, ob diese Einschätzungen tatsächlich in dieser Eindeutigkeit und Ausprägung in sich kapitalistisch entwickelnden Gesellschaften vorliegen. Die marxistische Einschätzung vom Absterben der vorkapitalistischen Gefühle und Haltungen zugunsten eines ‚nackten‘ materiellen Interesses lässt sich sicherlich in dieser Einseitigkeit nicht nachweisen. In den zwischenmenschlichen Beziehungen, gerade im Umgang und der Förderung von Kindern z.B. in der Familie oder in liebevollen Partnerbeziehungen, spielen Emotionen und Bindungen eine Rolle, die über eine reine Geldbeziehung weit hinausgehen. Auch Religionen spielen weltweit immer noch eine bedeutende Rolle und wurden im marxistischen Ansatz unterschätzt. Zudem degradiert die Bezeichnung der Religion als „Opium des Volkes“ religiöse Menschen zu Drogenabhängigen und spricht ihnen jegliche Mündigkeit ab – auch wenn religiöse Institutionen in verschiedenen Kulturkreisen immer noch ein Problem mit mündigen Menschen haben.
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Sicherlich verweisen die Überlegungen der traditionellen Vertreter der Kritischen Theorie, die sich teilweise an Elementen des marxistischen Ansatzes orientieren, aber deutlich über diesen hinausgehen, auf wichtige Zusammenhänge zwischen Gesellschafts- und Persönlichkeitsentwicklung und auf strukturelle Tendenzen einer Einengung der menschlichen Psyche. Die Verführung, aber auch der systemische Druck, sich mental einseitig im Sinne einer angepassten, instrumentellen Rationalität zu entwickeln, ist groß. Dennoch gibt es genügend Beispiele von Persönlichkeiten, Bewegungen und sozialen Gruppen, denen es gelungen ist, sich über die systemischen Einengungen hinwegzusetzen, eine nonkonforme Identität zu entwickeln und widerständig gegen herrschende Strukturen zu sein. Wie sonst lässt sich die Existenz und das Wirken von Menschen wie Mahatma Gandhi, Klara Zetkin, Nelson Mandela, Martin Luther King und Bertha v. Suttner erklären? Wie lassen sich ansonsten die Gründung und das Engagement von gesellschaftlichen Initiativen wie ICAN, Sicherheit neu Denken, Democracy without Borders, IPPNW und weltweit viele vergleichbare Initiativen verstehen?
Dies sind nur einige der bekanntesten Beispiele von Zivilcourage und unangepassten Denkens, die z.B. in gewerkschaftlichen Bewegungen, Friedensinitiativen, Bürgerinitiativen unterschiedlichster Art, Nachbarschaftshilfen und unangepassten politischen Parteien vielfältige Ausprägungen eines nonkonformen Widerstrebens gegen ausschließlich instrumentelle Vernunft, psychische Entfremdung und autoritäres Denken finden.
Auch dürfte in den Tausenden kommunitären Gemeinschaften im globalen Kontext die Motivation für die Schaffung eines solidarischen Lebens nicht im instrumentellen Denken begründet sein (Global Ecovillage Network (GEN)).
Das Richtige – im Sinne der UN-Menschenrechtserklärung – kann sich also doch im Falschen zumindest in ernstzunehmenden Ansätzen entwickeln. Der individualisierte, egozentrische und autoritäre Menschentypus des ‚Homo oeconomicus‘ scheint auch in den verschiedenen Phasen des sich entwickelnden Kapitalismus nicht zwangsläufig zu sein.
Bei allen zitierten Aussagen der männlichen Vertreter der Kritischen Theorie fehlt des Weiteren die Perspektive auf die psychosoziale Lage der Frauen. Man hat den Eindruck, als wenn die angeschriebene Symptomatik sich nur auf die männliche Hälfte der Weltbevölkerung bezieht. Hierbei wird die Untersuchung ausgelassen, dass möglicherweise entweder Frauen ebenfalls zu instrumentellem Denken und Handeln sowie autoritären Verhaltensweisen unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen tendieren oder ein größerer Teil der Frauen sich bewusst hiervon distanziert. Des Weiteren sind Mann-Frau-Beziehungen anzusprechen, bei denen im Rahmen patriarchaler Strukturen Frauen massiv unterdrückt werden und in Abhängigkeit von einem Mann geraten. Das Gegenstück ist dann der ‚dressierte Mann‘ (Esther Vilar, 1989), wobei Ersteres wohl weltweit stärker ausgeprägt sein dürfte.
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Das Angstpotenzial in herrschaftsbesetzten Strukturen
Das Verhältnis von gesellschaftlicher und psychischer Entwicklung soll nun u.a. aus der Sicht von einigen Vertretern der kritischen Psychologie weiter beschrieben werden, die z.T. auf dem marxistischen Ansatz, den Überlegungen der Kritischen Theorie, aber auch auf Einschätzungen beruhen, die hierüber hinausgehen.
Eine Hauptthese: Die angesprochene Identifikation mit der Entfremdung im Kapitalismus könne auch durchaus für formal demokratische Gesellschaften gelten, welche die Demokratie im fassadenhaften Anspruch zum Verfassungsprinzip erklären, die aber in der Realisierung, z.B. in den Familienstrukturen, den Unternehmen, den Schulen, den Verwaltungen oder in dem Parteiensystem, nur verdeckt-autoritäre Gesellschaften darstellen würden.
Dieter Duhm zeigt in seinem 1972 erschienenen ‚linken Bestseller‘ (‚Angst im Kapitalismus‘) wie Realangst, die durch körperliche Gewaltausübung z.B. im Elternhaus entsteht, sich im Laufe der menschlichen Sozialisation in neurotische Angst umwandelt. Neurosen seien die „konservierte Realangst“ (Duhm 1972, 35), bei der die eigenen Bedürfnisse ins Unterbewusstsein verdrängt, dort neurotisch festgehalten würden und dennoch wirksam werden können. Dies sei eine psychologische Anpassungsleistung, so dass der Mensch in hierarchischen Strukturen von sich aus funktioniere und den Kapitalismus hierdurch stabilisiere. Somit könne in der Regel auf direkte Gewaltausübung verzichtet werden, so dass das Autoritäre und die strukturelle Gewalt nicht offen zu Tage treten müsse.
Duhm analysiert fast 50 Jahre später, dass gerade in Corona-Zeiten noch einmal die Angstdosis erhöht und das globale Angstpotenzial gesteigert wurde. Und: Corona verschärfe die psychischen Probleme von Angst, Depression und Vereinsamung, erhöhe den ohnehin vorhandenen psychischen Druck. – „Corona is the condensation of a latent field of fear through which all of humanity is moving today.“ [11]
Der Psychologe und Kognitionsforscher Rainer Mausfeld (2019a) macht ebenfalls deutlich, dass der Aufbau latenter Angst ein effektives Machtinstrument der jeweils Herrschenden ist:
„Macht und Angst gehören in der politisch-gesellschaftlichen Welt eng zusammen. Macht bedeutet das Vermögen, seine Interessen gegen andere durchsetzen zu können und andere dem eigenen Willen zu unterwerfen. Macht hat also für den, der sie hat, viele Vorteile und für diejenigen, die ihr unterworfen sind, viele Nachteile. Macht löst bei den ihr Unterworfenen häufig Gefühle aus, von der Macht überwältigt und ihr gegenüber ohnmächtig zu sein. Macht erzeugt also Angst. Da Angst selbst wiederum Macht über die Geängstigten ausübt, haben diejenigen, die es verstehen, Angst zu erzeugen, eine sehr wirkungsvolle Methode, auf diese Weise ihre Macht zu stabilisieren und zu erweitern.“
Mit ängstlichen Menschen sei es schwierig, eine echte Demokratie aufzubauen. Allerdings könne eine „kapitalistische Demokratie“ unter den Bedingungen einer subtil verinnerlichten, chronischen Ängstlichkeit ihrer Bürger durchaus funktionieren. Kapitalismus und Demokratie würden sich in einem Grundwiderspruch befinden und können nur durch die neurotische Angst ihrer Bürger existieren, die es nicht wagen würden, die Eigentumsfrage, d.h. die Frage nach der Abschaffung der privaten Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel und nach deren Demokratisierung, zu stellen. [12]
Das Ansteigen neurotischer Angst kann als psychisches Krisenphänomen einer Gesellschaft insbesondere mit einem demokratischen Eigenanspruch angesehen werden. Des Weiteren sind auch die Analysen von Adorno zur sexuell frustrierten autoritären Persönlichkeit zu berücksichtigen, deren Frustration und Triebstau sich in autoritären Gewalteruptionen niederschlagen können. Derart frustrierte Persönlichkeiten würden in faschistischen Systemen oftmals zu aggressiven Trägern der gesellschaftlichen Ordnung werden. Aus einer gesellschaftstheoretischen Sichtweise entsteht – zusammengefasst – eine Tendenz zum autoritären Charakter vor allem durch folgende Mechanismen:
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„Aus psychoanalytischer Sicht (Psychoanalyse) bildet sich der autoritäre Charakter aus, wenn aggressiv-triebhafte und andere Bedürfnisse des Kindes durch elterliche Gehorsamkeitsforderungen zu stark unterdrückt und schließlich auf andere Menschen, sozial Schwächere oder Minderheiten gerichtet werden; aus soziologischer Sicht wird primär der Anpassungsdruck repressiver gesellschaftlicher Bedingungen und hierarchischer Strukturen verantwortlich gemacht; aus sozialpsychologischer Sicht werden v. a. die von der Familie und anderen sozialen Bezugsgruppen übernommenen Denkmuster und Vorurteile hervorgehoben (autoritäre Persönlichkeiten wechseln unter Umständen ihre Ideologie, einige «kippen» sogar zw. rechtsextrem und linksextrem); entwicklungspsychologisch kann eine misslingende Ablösung von den Eltern eine unzureichende Identitätsfindung bewirken, sodass eine autoritär strukturierte Abhängigkeit fortbesteht.“ [13]
In seiner Rede an den ‚kleinen Mann‘ (der auch die ‚kleine Frau‘ sein kann) charakterisiert der österreichische Arzt, Psychoanalytiker und Soziologe Wilhelm Reich 1948 den ‚kleinen Mann‘ als einen autoritär sozialisierten kranken Menschen, der solange Schreckliches anrichten wird, bis es ihm gelingt, sich selbst zu erkennen und zu entwickeln. Die psychische Notwendigkeit, Feindbilder zur eigenen Persönlichkeitsstabilisierung zu entwickeln und autoritäre Vernichtungsphantasien zu propagieren, sei Ausdruck einer verbreiteten psychischen Störung – so Reich:
„ …du warst ein wenig betrunken, und du warst gerade von Übersee heimgekehrt, aus dem Kriege, und ich hörte dich die Japaner als ‚häßliche Affen‘ bezeichnen. Und dann sagtest du mit dem bestimmten Ausdruck im Gesicht … ‚Wißt ihr, was man mit diesen Japs an der Westküste machen sollte? Jeden einzelnen aufknüpfen sollte man, aber nicht rasch, sondern ganz langsam, indem man alle fünf Minuten die Schlinge am Hals um eine Windung enger dreht‘ … Hast du jemals ein neugeborenes japanisches Baby in den Armen gehalten, kleiner Patriot? Nein? Du wirst Jahrhunderte japanische Spione und amerikanische Flieger und russische Flieger und russische Bäuerinnen und deutsche Offiziere und englische Anarchisten und griechische Kommunisten aufknüpfen, erschießen, mit Elektrizität verbrennen, in den Gaskammern ersticken, doch an deiner Verstopfung des Darmes und des Verstandes, an deiner Liebesunfähigkeit, an deinem Rheumatismus und an deiner Geisteskrankheit wird sich nicht das geringste ändern. Keine Schießerei und keine Hängerei wird dich aus dem Dreck ziehen, in dem du steckst; sieh dich selbst an, kleiner Mann! Es ist deine einzige Hoffnung!" [14]
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Nur Merkmale kapitalistischer Systeme?
Dies sind sicherlich wichtige psychoanalytische Erklärungsansätze aggressiven Verhaltens und fehlender Friedfertigkeit, die allerdings über eine noch komplexere Sichtweise der Entstehung von gesellschaftlicher Aggressivität, Kriegslust und Bellizismus erweitert werden müssten. Hierbei gilt es u.a. ökonomische und politische Interessen zu thematisieren, die zu einem medial geschürten Klima der Aggressivität mit verbundenen Feindbildkonstruktionen in einer Gesellschaft führen - und dann auch wiederum entsprechende Sozialisationsverläufe prägen. Dies sind u.a. Interessen der besitzenden Klasse reicher Staaten an Bodenschätzen und Ressourcen anderer Regionen und Staaten, Interessen an der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft zum Zwecke der Profitmaximierung sowie geostrategische Interessen, ökonomische Vorteile über die militärische Sicherung von Einflusszonen durchzusetzen.
Natürlich stellt sich hierbei sofort auch die Frage, ob der Zusammenhang zwischen Gesellschaftsstruktur und Massenneurose tatsächlich ein psychisches Phänomen ist, das nur spezifisch für den Kapitalismus gilt. In den realsozialistischen Ländern wurde ebenfalls aus einer Kombination aus Realangst sowie aus neurotischen Ängsten gearbeitet. Die Realangst, verhaftet, eingesperrt, gewalttätig verhört, umgebracht zu werden, entwickelte sich zu einer neurotischen Angst, zur psychischen Ausrichtung und auch dort in Richtung auf eine erzwungene Systemanpassung.
Erzeugung latenter Angst ist somit für alle hierarchischen und autoritären Herrschaftsformen – in diesem Fall dem hochentwickelten Kapitalismus und den staatsbürokratischen und oligarchischen Systemen – ein geeignetes Mittel ihrer Herrschaftssicherung, solange hier keine echte Demokratie, also eine maßgebliche Partizipation in allen gesellschaftlich wichtigen Fragen für die Mehrheit der Gesellschaft, vorhanden ist.
Mit neurotisch ängstlichen Menschen, die zudem ihrerseits wiederum bemüht sind, Amtsautorität und Angstinduktion in den gesellschaftlichen Institutionen selbst zu entwickeln, ist es problematisch, eine echte Demokratie aufzubauen und weiterzuentwickeln. Mit autoritär sozialisierten und neurotischen Persönlichkeiten ist es zudem sowohl schwierig, eine friedliche Gesellschaft aufzubauen, als auch den Frieden in der Welt zu bewahren.
Hierbei stellen insbesondere die militärisch gedrillten und national eingeschworenen jungen Menschen in den Armeen der Welt ein hochproblematisches Potential autoritär disziplinierter Persönlichkeiten und instrumenteller Vernunft dar, die es gewohnt sind, ohne Zweifel äußern zu dürfen, Gehorsam zu leisten und Befehle auszuführen, die über Tod oder Leben entscheiden. Dies gilt sowohl für Armeen kapitalistischer Systeme unterschiedlichstem Entwicklungsstand als auch für das Militär staatsbürokratischer und offen diktatorischer Systeme.
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Die kritische Einordnung neurotischer Angst im Zusammenhang mit gesellschaftlichem Verhalten bedeutet keineswegs, dass es nicht notwendig ist, in bestimmten Situationen und Konstellationen eine Realangst zu empfinden. Wenn eine manifeste Gefahrensituation auftritt, wird über Angst eine Reaktion eingeleitet, z.B. die Flucht oder zumindest die Vermeidung einer gefährlichen Situation. Auch ist eine Realangst vor dem Nuklearkrieg sehr berechtigt und notwendig. Es ist unverantwortlich in der politischen Auseinandersetzung, Menschen, die z.B. vor einem Einsatz von taktischen Atomwaffen warnen, als Feiglinge zu bezeichnen. Eine Realangst vor manifesten, aber auch möglicherweise zu erwartenden Bedrohungen und Gefährdungen, erhöht dann auch die Einsatzbereitschaft und das Engagement, sich gegen diese Bedrohungen zu wehren. Realangst ist daher deutlich von neurotischen Angstzuständen zu unterscheiden. Sie führt nur in ihrer übersteigerten Form zu einer Angststörung. [15]
Die narzisstisch gestörte Persönlichkeit und Friedensfähigkeit
Eine erst in den letzten Jahrzehnten häufiger thematisierte psychische Erkrankung liegt im Narzissmus begründet. Narzissmus ist eine Form übertriebener und extremer Selbstliebe. Natürlich sollte eine psychisch gesunde Persönlichkeit sich selbst akzeptieren und sich selbst zugeneigt sein. Dennoch gibt es eine Grenze bedingungsloser Selbstakzeptanz. Wenn diese überschritten wird, zählen nur noch egozentrisch die eigenen Bedürfnisse und Interessen. Hiermit verbunden ist die Unfähigkeit zu lieben, sich einem/r Partner_in in achtungsvoller Verbundenheit zuzuwenden, eine tragfähige Verbindung über einen längeren Zeitraum einzugehen.
Auch neuere Arbeiten des Psychoanalytikers Hans-Joachim Maaz zur narzisstischen Persönlichkeit und ihrem überhöhten Wunsch nach Anerkennung machen deutlich, dass bei der aufgrund defizitärer Kleinkind-Erfahrungen narzisstisch gestörten Persönlichkeit – insbesondere auch bei verantwortlichen Politikern – der Versuch vorliegt, ihre eigentliche Verunsicherung mit Machtstreben und kriegerischem Gebaren bis hin zur „Kriegslust“ zu kompensieren. Erwachsene Persönlichkeiten mit einem aggressiven Gefühlsstau, der sich funktional im Rahmen der Vorbereitung eines Krieges und in der Kriegsdurchführung nutzen lässt, würden ungelöste Konflikte in der Kindheit verbunden mit einer entsprechenden „Kriegslust-Erkrankung“ aufweisen – so Maaz (2024, 141):
„Zugrunde liegen immer die psychosozialen Entfremdungen der Frühtraumatisierung durch die beschriebenen mütterlichen und väterlichen Beziehungsstörungen. Der damit verbundene Gefühlsstau, wenn Zorn, Wut und Hass durch die erlittene Bedrohung, Ablehnung, Abwertung, Kränkung in der traumatisierenden oder defizitären Frühbetreuung nicht zum Ausdruck gebracht werden können oder dürfen, bedeutet ein permanentes energetisches Stress- und Druckpotenzial, das entladen werden möchte und soziale Wege der Entladung sucht.“
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Verbunden mit dem Narzissmus ist der Wunsch nach beständiger Bestätigung und der beständigen Spiegelung des Selbst in den Augen der anderen. Das US-amerikanische DSM (Diagnostical and Statistical Manual of Mental Disorders) führt für die narzisstische Persönlichkeitsstörung folgende Merkmale auf: Allwissens- und Allmachtsphantasien, Anspruchsdenken, Mangel an Empathie und Neid, leicht gekränkt. Um Kränkungen zu verarbeiten und das innere Gleichgewicht wieder zu erlangen neigen narzisstisch gestörte Persönlichkeiten häufig entweder zu autoaggressivem Verhalten oder zu Aggressivität gegenüber anderen (Milch 2009).
Wenn Kinder im Säuglingsalter – so die Psychoanalytikerin Benigna Gerisch – nicht die nötige Zuwendung der Mutter bekämen, würde dies sich für sie traumatisch auswirken. Dann würden sie ihr Leben lang hinter dieser Zuwendung hinterherlaufen, indem sie sich diese Zuwendung und die Bestätigung ersatzweise im Rahmen des sekundären Narzissmus beständig besorgen müssen (vgl. (Hasel 2024).
Wie gesellschaftlich relevant sind Aussagen über den Narzissmus?
Gefährlich wird es tatsächlich, wenn narzisstische Persönlichkeiten eine dominante Machtstellung in Partnerschaftsbeziehungen oder in der Gesellschaft bekommen – sozialen Gemeinschaften, die auf einem hohen Maß an solidarischer Verantwortlichkeit basieren. Hier gibt es gegenwärtig in der internationalen Politik genügend Beispiele narzisstisch gestörter Persönlichkeiten – vorwiegend Männer - mit einem gefährlichen Hang nach repressiver Durchsetzung ihrer übersteigerten Machtbedürfnisse und ökonomischen Interessen nach innen und außen, gekoppelt mit einem übersteigerten Maß der Selbstverliebtheit und Egomanie. Probleme und Konflikte werden nicht verantwortlich gelöst, sondern vor allem aus der eigenen egozentrischen und affektiv beeinflussten Bedürfnislage heraus bearbeitet, ohne die legitimen Interessen der anderen zu sehen. Narzisstische Verhaltensweisen und Störungen in dem vorhandenen Umfang sind allerdings auch Ausdruck gesellschaftlicher Veränderungen. Während in konventionellen Gesellschaften der Einzelne hinter der Gesellschaft zurückzutreten hat, ist die individualisierte und sich selbst inszenierende Persönlichkeit in postkonventionellen Gesellschaften das über Sozialisationsprozesse vermittelte Idealbild gesellschaftlicher Entwicklung.
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Wilhelm Reich sieht den Ausweg für den einsichtigen und vom Narzissmus betroffenen Menschen zu Recht in einer Bewusstwerdung („sieh dich selbst an“). Erst, wenn sich Menschen zum Bezugspunkt ihres kritischen Nachdenkens machen, haben sie die Chance, aus den vorgegebenen normativen Grenzen herauszutreten und auch psychisches Neuland zu betreten. Hier müssen sich strukturelle Veränderung im Sinne eines Abbaus gewalttätiger Strukturen und (auch z.T. professionell unterstützte) Selbstarbeit auch gemeinsam mit anderen wechselseitig entwickeln und ergänzen. Schwere psychische Störungen müssen jedoch zusätzlich therapeutisch behandelt werden.
Doch ein anderes psychisches Problem scheint noch den Narzissmus als Massenphänomen zu überlagern. Millionen Menschen erkranken z.B. in Deutschland jedes Jahr an Depressionen. Der Verlust authentischer zwischenmenschlicher Kontakte – gerade auch in der digitalen Mediengesellschaft über die Abhängigkeit von KI-gesteuerten digitalen und virtuellen Medien – führt zu Einsamkeit und Isolation und damit verbunden oftmals zu einer depressiven Erkrankung, vor allem dann, wenn noch weitere Faktoren einer psychischen Schwächung vorliegen. So können frühkindlich entstandene oder im Laufe späterer Biografie sich entwickelnde Verluste, Niederlagen oder Überforderungen sich gegen sich selbst wenden. Gehemmte Aggressionen und nicht bearbeitete Wut können zu Depressionen und unter anderen zur Selbstaggression führen. Wenn Menschen aufgrund eines Zusammenspiels aus defizitären und problematischen frühkindlichen Erfahrungen, biografischen Niederlagen und subjektiv empfundener gesellschaftlicher Ausweg- und Sinnlosigkeit an schweren Depressionen erkranken, dann hilft neben einem zugewandten und sensibilisierten sozialen Umfeld nur noch eine geeignete professionelle psychotherapeutische Betreuung, um das Schlimmste – den Suizid – zu verhindern. [16]
Jeder 5. bis 6. Deutsche ist im Rahmen seiner Lebensspanne von depressiver Erkrankung betroffen. Frauen sind deutlich häufiger von Depressionen als Männer betroffen und die Symptomatik unterscheidet sich hierbei auch zwischen den Geschlechtern – so die Deutsche
Depressionshilfe [17] :
„Frauen erhalten eine Depressionsdiagnose doppelt so häufig wie Männer. (…)
Hinsichtlich der Krankheitszeichen sind Depressionen bei Frauen und Männern recht ähnlich. Frauen berichten jedoch generell von mehr Symptomen, sie fühlen sich stärker belastet und weinen mehr. Männer hingegen sind etwas häufiger von Schlaflosigkeit betroffen und reagieren manchmal mit höherer Gereiztheit.“
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Kriege benötigen autoritär sozialisierte und psychisch gestörte Persönlichkeiten
Friedensfähigkeit enthält einen Friedensbegriff, der mehr als den zeitweiligen Verzicht auf Aggression im Sinne eines erzwungenen Waffenstillstands meint. Frieden kann – im Sinne des norwegischen Friedensforschers Johan Galtung (1998) – erst entstehen bzw. nachhaltig gesichert werden, wenn gewaltförmige Gesellschaftsstrukturen weitgehend beseitigt worden sind. Psychische Erkrankungen mit gesellschaftlichen Ursachen sind zu ihrer Heilung – neben der gezielten therapeutischen Bearbeitung - ebenfalls auf die Beseitigung gewaltinduzierter Strukturen in der Familie – insbesondere, wenn diese patriarchal zu Lasten der Frauen ausgerichtet sind - , in den Schulen und Universitäten, in der Wirtschaft, in den öffentlichen Verwaltungen sowie im gesamten Gesellschaftssystem angewiesen.
Menschen, die sich psychisch den auf Ausbeutung, Entfremdung, Gewalttätigkeit und Kriegstreiberei ausgerichteten Strukturen über Identifikationsprozesse unterwerfen müssen, können nicht zum historischen Subjekt friedfertiger Welt- und Gesellschaftsentwicklung werden. Erst Menschen, die ihr humanes Potenzial zu entdecken und im gesellschaftsverändernden Engagement entfalten gelernt haben, können letztendlich Träger einer auf Emanzipation, Gerechtigkeit und Friedfertigkeit gerichteten gesellschaftlichen Bewegung werden.
Die neurotische psychische Struktur erscheint als Hindernis für eine echte Demokratisierung von Gesellschaft, die mehr als eine Schein- bzw. eine Fassadendemokratie sein will. Auch das die Psyche dominierende instrumentelle Denken und der damit verbundene Habitus des ‚Homo oeconomicus‘, der prioritär im Sinne seiner egozentrischen Nutzenmaximierung entscheidet, stellen ein Hindernis für eine gesellschaftliche Neuordnung dar, die an Solidarität, Ökologie und Gemeinwohl orientiert ist. Ebenfalls die narzisstische Persönlichkeitsstörung stellt eine Behinderung für solidarisches und verantwortungsvolles Verhalten sowie eine Voraussetzung für aggressives Verhalten dar. Der depressiv gewordene Mensch, der für sich aufgrund seiner biografischen Erfahrungen keinen Lebenssinn mehr konstruieren kann, wiederum kehrt seine Aggression oftmals gegen sich selbst und verfällt in Antriebslosigkeit und im schlimmsten Fall in Selbstzerstörung. Dies gilt sowohl für Frauen als auch für Männer, auch wenn die Symptomatik oft unterschiedlich ausfällt.
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Die zunehmende Remilitarisierung der Welt und die Wiederkehr soldatischer Disziplin und nationalchauvinistischen Denkens durch die derzeit anwachsenden nationalen Armeen und militärischen Koalitionen prägen wieder vermehrt auch über staatlich gelenkte Maßnahmen die Jugend der Welt. Dies hängt – neben den davon Überzeugten und Freiwilligen – vor allem entweder mit staatlicher Repression, mit psychischer Manipulation oder mit gesellschaftlicher Perspektivlosigkeit und fehlendem Lebenssinn zusammen. Zunehmend werden auch Frauen in die Armeen integriert und geraten hiermit unter die gleichen autoritären militärischen Sozialisationsbedingungen und Milieus wie Männer. Wo Jugendliche sich in weitgehend wohlhabenden Gesellschaften noch frei entscheiden können, z.B. in Deutschland, haben Armeen allerdings Rekrutierungsprobleme.
Militär benötigt autoritär sozialisierte Persönlichkeiten, die sich bereitwillig unterwerfen, wirkt aber auch in diese Richtung hin. Eigenart und Kritikfähigkeit sind in der Befehlssituation nicht gefragt. Der_die Soldat_in im Einsatz wird gezwungen, seine_ihre Individualität aufzugeben und zu einem Rädchen im militärischen Getriebe zu werden. Soldaten müssen sich zum Instrument in der Befehlskette degradieren lassen. Sie müssen die zivilisatorisch erworbene Tötungshemmung ablegen und bereit sein zu töten, aber auch selbst das Risiko einzugehen, sich erschießen, verbrennen oder in die Luft sprengen zu lassen. Der Preis, den sie für ihre militärische Existenz zu zahlen haben, ist hoch. Die Folgen ihres Verhaltens für andere sind ebenfalls tödlich.
Nach einem zu Ende gegangenen Krieg müssten eigentlich alle an dem Töten und Zerstören beteiligten Soldaten_innen – sowie ihre politischen und militärischen Befehlshaber_innen – eine tiefgehende psychotherapeutische Behandlung durchlaufen, um einerseits die während des Kriegs entstandenen Traumata und andererseits die psychischen Voraussetzungen zu bearbeiten, die zum Kriegseinsatz führten. Doch wo sind der politische Wille für eine derart umfassende Heilungsabsicht sowie die Ressourcen und die psychotherapeutische Infrastruktur, die dies leisten könnten? Dieser Anspruch dürfte wohl eine Überforderung von Gesellschaftssystemen darstellen. Kriege und deren traumatische Erfahrungen lassen sich kollektiv und auch subjektiv in der noch lebenden Generation, die getötet und zerstört hat, nicht völlig heilen. Dies überschreitet die menschlichen Verarbeitungsfähigkeiten. Oft zerstört sich der im Krieg Tötende dann auch später auch mit seiner Tat selbst.
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Perspektiven kollektiver Friedfertigkeit – ein Hoffnungsschimmer?
Der eingangs zitierte Anspruch bzw. Wunsch der im Artikel 1 formulierten normativen Festlegungen der UN-Menschenrechte, dass alle Menschen „mit Vernunft und Gewissen begabt“ seien und sich solidarisch begegnen sollen, ist längst noch nicht eingelöst und scheint aufgrund der zahlreichen und sich zunehmend ausweitenden Kriege mit immer gefährlicheren Waffentechnologien gefährdeter den jemals zuvor in der Geschichte der Menschheit zu sein. Pathogene Strukturen in unterschiedlich gearteten Gesellschaftssystemen und gewalttätige, machtbesessene politische Führer dürfen jedoch nicht die Oberhand gewinnen, wenn sich die menschenrechtlichen Normen des UN-Grundrechtkatalogs sowie der damit in Verbindung stehenden UN-Charta durchsetzen sollen. In Verlängerung des Artikels 1 der Menschenrechte steht in der UN-Charta dementsprechend im Artikel 1, dass es zukünftig der Anspruch sein müsse,
„freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln und andere geeignete Maßnahmen zur Festigung des Weltfriedens zu treffen“.
Menschen, die sich im sozialen und politischen Engagement weiterentwickelt haben, können über ihre Organisierung und Vernetzung zum einen in ihren psychischen Dispositionen resilienter gegenüber Vereinsamung und Isolation sowie deren Folgen für psychische Erkrankungen werden. Auch ein Leben in alternativen Lebensgemeinschaften mit kommunitären Ansätzen bietet einen anderen lebensweltlichen Rahmen, auch im Versuch mit sozialen Konflikten anders umzugehen. Politische Erfolgserlebnisse im gemeinsamen solidarischen Engagement, z.B. in Bürgerinitiativen oder in gewerkschaftlichen Gruppen, können zur positiven Beantwortung der Sinnfrage beitragen. Die existenziellen Fragen für ein zufriedenstellendes und Frieden bringendes Leben lassen sich vielleicht von hier aus gesünder beantworten: `Wer bin ich?‘ ‚Wer will ich sein – in meinem Selbstkonzept in Beachtung meiner Bedürfnisse und der legitimen Erwartungen der anderen?‘ ‚Welchen Lebenssinn konstruiere ich mir im Zusammenleben mit den anderen, um eine Ich-Identität zu entwickeln, die stabil und an universalen Werten, wie Gerechtigkeit und Frieden, orientiert ist?‘
Gemeinsame Zusammenarbeit zur konstruktiven Veränderung und neu ordnender Weiterentwicklung von gesellschaftlichen Strukturen und Systemen, auch in der Abwehr destruktiver und die Psyche erreichender Tendenzen verweisen auf eine zukünftige gesellschaftliche Entwicklungsphase, in der nicht macht- und geldgierige sowie narzisstische Persönlichkeiten im Rahmen von entsprechenden Systemstrukturen diesen Planeten regieren, sondern die darin lebenden und partizipierenden Menschen, die sich hiervon Schritt für Schritt befreien.
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Derartige gesellschaftliche Zusammenschlüsse und Solidargemeinschaften könnten aus dem Zusammenschluss und dem gemeinsamen Wirken von Umwelt- und Friedensbewegung sowie gewerkschaftlichen Initiativen und nonkonformistischen Parteien entstehen. Sie könnten das zivilgesellschaftliche Widerstandspotenzial bilden, das dazu führt, dass Regierungen ihren bellizistischen Kurs verlassen, größere Verantwortlichkeit gegenüber der Natur entwickeln und Arbeitnehmerrechte ernster nehmen als bisher. Wenn die Menschheit als Zivilisation auf diesem Planeten eine Zukunft haben möchte, muss sie das Töten und die Zerstörung an vielen Orten beenden, muss sie sich endlich mit vereinten Kräften gegen die bereits eintretende Klimakatastrophe stemmen.
Noch immer liegen in der Weiterentwicklung der Vereinten Nationen, die demokratisiert und gestärkt werden müssten, die Hoffnungen vieler Völker der Welt, diesen Planeten zu einem gemeinsamen Ort zu gestalten, in dem Menschen in freien, gerechten, ökologisch orientierten und stabilen Gesellschaften miteinander in Frieden leben könnten. Der im Jahr 2024 stattgefundene UN-Zukunftsgipfel und der ‚UN-Pakt für die Zukunft‘ könnten ein Ansatzpunkt für die Reform der Vereinten Nationen sein (Bader 2024) – auch wenn nicht an der entscheidenden Regelung im UN-Sicherheitsrat gerüttelt wurde: dem Veto-Recht der fünf ständigen Mitglieder und Nuklearmächten, die gleichzeitig verantwortlich für die meisten Kriege in der Nachkriegszeit waren. Der Weg zu einer globalen Neuordnung ist sicherlich noch weit, ist immer wieder und gerade jetzt gefährdet, dennoch haben wir keine Alternative, als an den Hoffnungen festzuhalten, welche verantwortliche Menschen vor 80 Jahren veranlassten, die Vereinten Nationen zu gründen.
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Anmerkungen Kapitel 1.7
[1] Dieses Kapitel ist angelehnt an:
Moegling, Klaus (2025a): Homo oeconomicus: Wenn die Psyche zur Profitmaschine wird. In: Telepolis,
https://www.telepolis.de/features/Homo-oeconomicus-Wenn-die-Psyche-zur-Profitmaschine-wird-10224594.html, 4.1.2025, 4.1.2025. und
Moegling, Klaus (2005b)
Die Psychologie der Gewalt. Wie Angst Demokratien zerstört. In: Telepolis.
https://www.telepolis.de/features/Die-Psychologie-der-Gewalt-Wie-Angst-Demokratien-zerstoert-10224580.html, 5.1.2025, 2.1.2025.
[2] Ich bedanke mich auch bei der Künstlerin und Feministin Hilke Ruyter für einige Hinweise, die auch noch stärker die Lage von Frauen berücksichtigen.
[3] Marx/Engels (1848/1983, 44).
[4] Vgl. Hill (2015, 29ff.)
[5] Marx/Engels (1848/1983), 26.
[6] Horkheimer (1947/1986, 13).
[7] Horkheimer (1947/1986, 21).
[8] Markuse (1964/1980, 29).
[9] Der Untersuchungsansatz von Adorno ähnelt hier dem theoretischen Ansatz ‚gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit‘ bei Heitmeyer (2012).
[10] Adorno (1950/1996, 323).
[11] https://verlag-meiga.org/corona-and-the-other-reality/, 11.2.2021, 4.5.2021.
[12] Vgl. Mausfeld (2019 a u. b).
[13] https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/autoritaere-persoenlichkeit, o.D., abgerufen 1.1.2025)
[14] Reich (1948/2013, 104f.).
[15] Ich bedanke mich bei Ralph Urban, Arzt für Neurologie und Psychiatrie und Psychotherapeut sowie IPPNW-Mitglied, für seine Hinweise zum Verhältnis von Realangst und chronischer Angst.
[16] Vgl. umfassender hierzu: https://www.deutsche-depressionshilfe.de/depression-infos-und-hilfe, o.D., 1.1.2025.
[17] https://www.deutsche-depressionshilfe.de/depression-infos-und-hilfe/was-ist-eine-depression/haeufigkeit, o.D., 9.1.2025.
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1.8 Die Krise der Männlichkeit und die Emanzipation der Frauen
Seit Vinnais Buch „Das Elend der Männlichkeit“ (1977) sowie dem Buch „Jungen – Kleine Helden in Not – Jungen auf der Suche nach Männlichkeit.“ (Schnack/Neutzling 1990), Theweleits zweibändigem Werk über die Männerphantasien (1977/ 1978) sowie vergleichbaren internationalen Publikationen ist zumindest in den Mittelschichten der westlichen Länder deutlich geworden, dass patriarchalische Verhältnisse nicht nur ungerecht, sondern auch gefährlich für den Weltfrieden sind. [1]
Patriarchalische Strukturen sind durch das Wirken autoritärer Persönlichkeiten, durch Anpassung nach oben und Unterdrückung nach unten, männliche Aggressivität, Dominanzverhalten, Muskelverpanzerung, Rigidität im Denken und Fühlen, zwanghafte Charakterstrukturen sowie maskulinen Größenwahnsinn gekennzeichnet. Dies können natürlich sowohl Männer als auch Frauen realisieren, aber zumeist waren es die Herrenmenschen, die Millionen junger Menschen in den Tod führten. Bei klugen Frauen war im Durchschnitt die Hemmschwelle wesentlich höher, junge Männer in den Krieg zu schicken, wenn es doch auch die Frauen früher in der Regel waren, die Kinder vornehmlich gewindelt, gefüttert, bei den ersten Schritten an der Hand gehalten, das Rechnen, Schreiben und Lesen beigebracht sowie sie in die Pubertät begleitet haben. Wenn jetzt zunehmend auch Männer diese Aufgaben im Zuge der Gleichberechtigung übernehmen, ist zu hoffen, dass auch hier diese hemmende Wirkung eintritt. Andererseits sind Frauen, die sich unter patriarchalischen Verhältnissen hochgedient haben und entsprechend sozialisiert wurden, oftmals ebenfalls durch männlich-aggressives Dominanzverhalten gekennzeichnet. Entsprechend sozialisierte Frauen können sich genauso patriarchalisch, dominant und aggressiv verhalten, wie dies Männer praktizieren. Sie übernehmen dann einfach die negativen Aspekte der traditionellen Männerrolle, da sie erfahren haben, dass dies in einer männlich dominierten Hierarchie positiv konnotiert wird.
Auch noch immer gibt es Frauen in verschiedenen Teilen der Welt, die ihre Kinder zum ‚Dienst am Vaterland‘ und im Sinne einer militärischen Sozialisation erziehen. Wilhelm Reich verschont daher auch nicht die ‚kleine Frau‘, die den ‚kleinen Mann‘ heranzieht, ihn von seinen Bedürfnissen fernhält, ihn psychisch klein werden lässt, so dass er für die Gesellschaft brauchbar, einsetzbar und gefährlich für die Mitwelt wird – an die ‚kleine Frau‘ gerichtet:
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„Du hast das Glück der Menschen in deinen Händen gehabt, und du hast es verspielt! Du hast Präsidenten geboren, und du hast sie mit Kleinlichkeiten ausgestattet! … Du hast die Welt in Händen gehabt, und am Ende hast du deine Atombomben über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen; dein Sohn, meine ich, hat sie abgeworfen, als Probe aufs Exempel! … du hattest nicht die Menschlichkeit, die Männer und Frauen und Mädchen und Jungen in Hiroshima und Nagasaki zu warnen! Du brachtest nicht die Größe auf, menschlich zu sein. Deshalb wirst du untergehen, lautlos, wie ein Stein im Meer versinkt. Es ist nicht wichtig, was du nun denkst und sagst, kleine Frau, die idiotische Generäle gebar. In 500 Jahren wird man über dich lachen und staunen. Daß man nicht schon jetzt staunt und lacht, ist ein Stück der Misere der Welt!“ [2]
Patriarchalische Strukturen sind durchaus noch in ernstzunehmenden Residuen in westlichen Ländern vorhanden, verstärken sich z.T. wieder aufgrund der Identitätsprobleme insbesondere von ungebildeten Menschen, welche die komplexen Prozesse der Globalisierung und der internationalen Beziehungen nicht verstehen. Männliche Verunsicherung und Überforderung führt zur Komplexitätsreduktion psychischer Strukturen und zum Rückfall in eine längst überholte Männerrolle – autoritär, kommunikationsunfähig und gewalttätig, manchmal auch rechtsextrem. Maskulinätsbilder einer militanten Männlichkeit werden beim Militär erwünscht und gestärkt, auch wenn man sich hier etwas mehr Intelligenz wünschen würde.
In kriegerischen Auseinandersetzungen insbesondere im afrikanischen und asiatischen Raum werden die Mädchen und Frauen dann oft auch zum Opfer männlicher sexueller Gewalt. Gezielte Massenvergewaltigungen werden dann zum militärischen Mittel, um eine Gegenpartei – oft auch in asymmetrischen Konflikten – zu demütigen und zu demotivieren.
„Die Erinnerung lässt Schmerz und Demütigung wieder aufleben: Wie Soldaten die Frauen und Mädchen zusammentrieben, um sie zu vergewaltigen. Wie Müttern vor den Augen ihrer Kinder die Kleider vom Leib gerissen wurden und sie ihre Töchter nicht vor der Gewalt schützen konnten. Diese und andere Gräuel schilderten Rohingya-Flüchtlinge, die vor Myanmars Armee nach Bangladesch flohen. Das brutale Vorgehen wurde laut der UN-Sonderbeauftragten für sexuelle Gewalt in Konflikten, Pramila Patten, vom Militär befohlen, organisiert und verübt. Auch Grenzpolizisten und Milizen seien an Verbrechen wie Gruppenvergewaltigungen oder sexueller Versklavung beteiligt gewesen. Für diesen Dienstag hat die Bundesregierung den Schutz von Frauen in Konflikten auf die Agenda des UN-Sicherheitsrats gesetzt, in dem Deutschland momentan den Vorsitz hat.“ [3]
Patriarchalische Strukturen sind ebenfalls noch in zahlreichen Kulturen und Religionen ausgeprägt, in denen eine massive Unterdrückung der Frauen und Mädchen stattfindet bis hin zur Geschlechtsverstümmelung, der erlaubten Prügelstrafe durch Männer und dem sogenannten ‚Ehrenmord‘ an Frauen in traditionellen muslimischen Familien.
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In kritischer Auseinandersetzung mit dem Patriarchat wird dann in einem Teil der Frauenbewegung in Anlehnung an vermeintlichen historischen Formen des Matriarchats die Herrschaft der Frauen eingefordert. Heide Göttner-Abendroth macht hingegen deutlich, dass historische und gegenwärtige Matriarchate durch andere Gestaltungsprinzipien gekennzeichnet waren bzw. sind, wie Entscheidung im Konsens und gleichberechtigte Arbeitsteilung. Göttner-Abendroth (2021, 11) wendet daher ein, dass matriarchalische Gesellschaften nicht durch die elitäre Privilegierung von Frauen gekennzeichnet sind, sondern im Unterschied zu patriarchalischen Strukturen grundsätzlich als egalitäre Gesellschaften gesehen werden müssten:
"Sie sind, was die gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten und die Freiheit beider Geschlechter betrifft, wahrhaft geschlechter-egalitär und im Zusammenwirken aller Teile der Gesellschaft egalitär. Dabei sind die Frauen, insbesondere die Mütter, die Mitte dieser Gesellschaften. Die Mitte bedeutet nicht die Spitze, das 'Oben', wie es (in) Patriarchaten üblich ist, sondern es ist eine alle Teile der Gesellschaft integrierende Mitte."
Die Frauen leisten Widerstand
Matriarchate in diesem Sinne gibt es in zahlreichen Kulturen, so zeigt Göttner-Abendroth (2021, 2022) als Autorin zweier umfangreicher Bände, welche matriarchalischen Gesellschaften es in der Gegenwärt in unterschiedlichen geografischen Räumen es derzeit noch bzw. wieder gibt, z.B. in Nord-Ost Indien, in Nordjapan oder in Indonesien. Auch in den westlichen Ländern sind viele Frauen bereits seit langer Zeit aufgebrochen, gegen männliche Gewalt und die massive Benachteiligung der Frauen aufzubegehren und gesellschaftliche Beteiligung in einem emanzipativen Sinne zu erringen. In vielen Bereichen – insbesondere dort, wo es auf Sozialität und Kommunikation ankommt – haben sie vor allem diejenigen Männer überholt, die dem traditionellen, autoritären, wenig flexiblen und diskursunfähigen Männerbild entsprechen.
Aber auch heute noch dürfen in der katholischen Kirche Frauen keine Priesterinnen werden, geben manche orthodoxe Juden, bestimmte Vertreter eines erzkonservativen Christentums oder salafistische Muslime Frauen prinzipiell keine Hand, dürfen Frauen in konservativen muslimischen Gesellschaften ihr Gesicht nicht in der Öffentlichkeit zeigen. Widerstand hiergegen wird brutal unterdrückt; die Männer kämpfen in diesen Institutionen und Gesellschaften einen Geschlechterkampf gegen ihre Frauen um die gesellschaftliche Macht.
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Doch die Frauen wehren sich auch hier. Im Rahmen der kirchlichen Bewegung Kirche 2.0 setzen sie zivilgesellschaftliche Zeichen des Protests gegen die traditionelle Auslegung der katholischen Religion. Sie fordern ein Ende des Zölibats sowie die Berücksichtigung von Frauen bei allen Kirchenämtern, auch hinsichtlich der Positionen von Priesterinnen und Bischöfinnen. Auch am patriarchalischen Gottesbild wird im Rahmen von Ansätzen feministischer Theologie gerüttelt.
Frauen wehren sich auch vermehrt gegen autokratische bzw. diktatorische Regime. Insbesondere der Widerstand der Frauen gegen den belarussischen Diktator Lukaschenko war über Monate im Fokus der medialen Öffentlichkeit, bis die männlichen Sicherheitskräfte die Anführerinnen und weitere Frauen massenhaft unter Einsatz brutaler Gewalt verhaftete und ihrer Freiheit beraubte.
So gibt es auch beispielsweise in Finnland eine Gruppierung ‚Women for Peace‘, die sich gegen die destruktive Verwendung gesellschaftlicher Ressourcen für militärische Aufrüstung und Krieg wendet. Diese Gruppe finnischer Frauen fordert u.a. die Abschaffung des Verteidigungsministeriums zugunsten eines Ministeriums für Frieden und nachhaltiger Entwicklung. [4]
Bei Fridays for Future und Black Lives Matter sind es vor allem Frauen, die in diesen Bewegungen aktiv sind und ihre Lebenskraft in diese Bewegungen zusammen mit ähnlich gestimmten Männern einbringen.
Nicht nur in der Kirche sondern auch in der Politik ist in einem globalen Kontext vielerorts die Emanzipation nicht durchgesetzt, dominieren Männer die politischen Institutionen, kommen Frauen in zu wenige wichtige politische Ämter. Entsprechend stellte Michelle Bachelet, Under-Secretary-General und Executive Director of UN Women, folgende drei Forderungen auf, damit männlich dominierte politische Systeme verhindert werden:
„First, we have to remove the obstacles that keep women from participating effectively: mobility, finances, access to information, lack of public safety, and coercion, intimidation and violence.
Second, we must recognize that participation is one thing but real voice is another. Are women able to articulate and voice their rights, needs and preferences? How far are political parties internally democratic? Have women in civil society had the opportunity to debate common positions on the constitution, electoral law, safety during campaigns, and other issues?
Third and finally, democratic institutions have to be held accountable to women, and held accountable for meeting commitments to women's rights.
If a democracy neglects women's participation, if it ignores women's voices, if it shirks accountability for women's rights, it is a democracy for only half its citizens.“ [5]
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Nicht nur zwischen Männern und Frauen sondern auch zwischen den Männern ist ein heimlicher und z.T. offener Kampf entbrannt, überall dort, wo es um die Konkurrenz um gesellschaftliche Positionen geht. Es stehen Männer mit höherer Sensibilität, intellektueller Kritikfähigkeit und diskursiven kommunikativen Fähigkeiten denjenigen Männern konflikthaft gegenüber, die ihre gesellschaftliche Position und ihre Interessen (oft verdeckt) gewalttätig und autoritär durchzusetzen versuchen. Diese Konflikte sind in allen gesellschaftlichen Bereichen, wie z.B. der Wirtschaft oder auch in der internationalen Politik, zu beobachten.
Zusätzlich ist zu bedenken, dass die ausschließliche Unterteilung der Menschheit in Männer und Frauen, verbundenen mit den entsprechenden Rollenzwängen, Menschen ausschließt, die sich weder als Mann oder Frau sehen, trans- und intersexuelle Menschen. In vielen Kulturen sind zudem Menschen von Stigmatisierung und Strafverfolgung bedroht, deren sexuelle Orientierung auf gleichgeschlechtliche Partner und Partnerinnen ausgerichtet ist.
Die Chancen einer veränderten Rollenzuschreibung
In einer freien und toleranten Gesellschaft wird zunehmend weniger Wert auf die Einhaltung der Geschlechtsrollendisziplin und auf die Normierung von sexueller Orientierung gelegt. Je autoritärer die Gesellschaften sind und/oder je zwingender ihr Selbstverständnis an traditionellen Religionen ausgerichtet ist, umso deutlicher lässt sich ein Rassismus in diesen Gesellschaften gegenüber sexuellen Abweichungen bzw. sexueller Freiheit beobachten.
Eine in die Krise geratene traditionelle Männlichkeit sollte die Chancen ergreifen, die in der Emanzipation der Geschlechter angesiedelt sind. Die Neuinterpretation der Männerrolle ermöglicht auch ein emotionales Verhalten, z.B. Weinen vor einem anderen Menschen. Männer lernen kochen und sich intensiver der Kindererziehung widmen, ohne ihr berufliches Engagement aufzugeben. Die neue Männerrolle ermöglicht, dass auch Männer gern tanzen oder Yoga praktizieren und doch auch noch gern Fußball spielen. Die veränderte Männerrolle sieht ein partnerschaftliches Verhältnis den Frauen gegenüber vor. Solche Männer haben eine höhere Sensibilität für die Probleme anderer und sind empathischer. Sie stehen weniger unter geschlechtsbezogenen Rollenzwängen und sind freier in ihrer geschlechtlichen Rolleninterpretation.
Eine gesellschaftliche Neuordnung geht von der Chancengleichheit von Männern und Frauen, natürlich auch von der gleichen Bezahlung für die gleiche Arbeitstätigkeit, aus. Sie ermöglicht auch dazwischen liegenden und neuen Geschlechtsidentitäten Anerkennung und bietet die Voraussetzung für eine gerechte Partizipation von Menschen mit unterschiedlichen Geschlechtsidentitäten an den gesellschaftlichen Lebenschancen.
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Piccone (2017) fasst dementsprechend Forschungsergebnisse zum Zusammenhang zwischen Gleichberechtigung der Geschlechter und der Qualität von Demokratie zusammen:
„Overall, research shows that democracy and gender equality form a mutually reinforcing relationship in which higher levels of liberal democracy are a necessary but not sufficient condition for higher levels of gender equality and physical security of women. In addition, higher levels of gender equality are strongly correlated with a nation’s relative state of peace, a healthier domestic security environment, and lower levels of aggression toward other states. Strategies to strengthen democracy and human rights, therefore, should emphasize women’s empowerment, accountability for violence against women and girls, and closing the political and economic gender gap. Similarly, efforts aimed at achieving gender equality should emphasize more inclusive societies, including attention to such factors as race, age, ethnicity, religion, and sexual orientation“
Natürlich liegt auch in der an Emanzipation orientierten Neustrukturierung der Geschlechterrollen eine Bedeutung für die Friedfertigkeit des männlichen Teils der Menschheit begründet: Wen auch zunehmend Männer ihre Babies wickeln, sie füttern, sie durch Kitzeln zum Lachen bringen, ihnen die ersten Worte beibringen, mit ihnen als Kinder spielen und sie verantwortlich über das Kindesalter zum Jugendalter begleiten, werden sie nachdenklich, wahrscheinlich widerständig werden, wenn nationalchauvinistisch zum Krieg gehetzt wird und die von ihnen zusammen mit ihrer Partnerin bzw. ihrem Partner geliebten, erzogenen und geförderten Kinder in den Krieg ziehen sollen.
Zukünftig dürfte die Kategorie Geschlecht bzw. Gender zunehmend eine geringere Rolle spielen, wenn gesellschaftlich eine demokratische Neuordnung unter einer emanzipatorischen Perspektive eintreten würde. Hierbei würde dann auch eine bereits jetzt aussagekräftige intersektionale Betrachtungsweise noch an Bedeutung gewinnen, bei der die Verbindung der Gender-Thematik und der Zusammenhang zu anderen sozialen Merkmalen für die analytische Einordnung hinsichtlich sozialer Chancen eine Rolle spielen wird – so die Bildungswissenschaftlerin Katharina Walgenbach (2012, 81):
„Unter Intersektionalität wird dabei verstanden, dass soziale Kategorien wie Gender, Ethnizität, Nation oder Klasse nicht isoliert voneinander konzeptualisiert werden können, sondern in ihren ‚Verwobenheiten’ oder ‚Überkreuzungen’ (intersections) analysiert werden müssen. Additive Perspektiven sollen überwunden werden, indem der Fokus auf das gleichzeitige Zusammenwirken von sozialen Ungleichheiten gelegt wird. Es geht demnach nicht allein um die Berücksichtigung mehrerer sozialer Kategorien, sondern ebenfalls um die Analyse ihrer Wechselwirkungen.“
Im Zuge einer gesellschaftlichen Neuordnung wird noch weniger isoliert danach zu fragen sein, welches Geschlecht jemand hat, sondern wie sein Mann-Sein und ihr Frau-Sein bzw. was dazwischen liegt oder sich neu herausformt mit anderen sozialen Merkmalen, wie z.B. soziale Lage, Gewalt oder Sprache, korrespondiert.
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Eher traditionell und autoritär strukturierte Gesellschaften werden die konservativen Geschlechterrollen streng aufrechterhalten und mit aller ihnen zur Verfügung stehenden Macht gegen die anders strukturierten LSBTIQ-Entwürfe verteidigen wollen. In innovativen und freien Gesellschaften wird die Krise der Männlichkeit eher konstruktiv genutzt und führt zu einer Neuinterpretation der Geschlechterrollen, die diese bei einer intersektionalen Betrachtungsweise unterschiedlicher und miteinander in Verbindung stehender Diskriminierungsmerkmale weniger bedeutsam erscheinen lassen.
Insbesondere der ursprüngliche Ansatz einer feministischen Sicherheitspolitik fordert daher ein intersektionales und inklusives Verständnis von Friedenspolitik ein, das die Kriege aber auch das Sicherheitsdenken im Rahmen patriarchalischer Strukturen überwinden hilft. [6]
Die russische Politikwissenschaftlerin Ekaterina Schulmann, die im April 2022 Russland verlassen musste, fasst den Zusammenhang zwischen Geschlecht und Friedenspolitik aus einer feministischen Perspektive zusammen:
„Trotz aller Fortschritte des Feminismus wird das Schicksal der Welt also immer noch von alten Männern entschieden, die die ethnische Mehrheit ihrer Länder vertreten: sowohl in den USA als auch in China und in Russland. Wir sollten in Zukunft wirklich für mehr Vielfalt optieren. Oder zumindest verhindern, dass Männer das Entscheidungsmonopol haben, denn das ist zu gefährlich.“ [7]
Die Dominanz älterer Männer in zentralen politischen Entscheidungspositionen ist sicherlich zu kritisieren. Aber auch das Hineinkommen von Frauen in zentrale Positionen allein sorgt noch nicht für mehr Sicherheit und Friedfertigkeit. Margaret Thatcher (Falkland-Krieg), Maria Sacharowa (Kiewer Regime wird „bald im All verschwinden“), Victoria Nuland („Fuck the EU“) und Annalena Baerbock („Wir führen einen Krieg mit Russland“) zeigen, dass auch Frauen zum Bellizismus in der Lage sind, wenn sie männliche Attribute übernehmen.
Unabhängig davon ist selbstverständlich zu fordern, dass niemand wegen seines Geschlechtes benachteiligt werden darf. Männer und Frauen sind gleichberechtigt an Entscheidungspositionen zu beteiligen, sind gleichwertig auszubilden, haben gleichen Lohn für dieselbe Arbeit zu bekommen und müssen gleich von dem Gesetz und den Exekutivorganen geschützt werden.
Menschen, die sich zwischen den Geschlechtern oder queer verorten, darf dies nicht zu einem existenziellen Nachteil gereichen. Eine Gesellschaft ist so frei, wie sie die Freiheit auch auf sexuelle Minderheiten ausdehnt.
Anmerkungen Kapitel 1.8
[1] Ich bedanke mich sehr herzlich für das Proofreading insbesondere dieses Kapitels durch die internationale Friedensaktivistin Ulla Klötzer. Ihre kluge Übersetzung und ihre ergänzenden Hinweise haben das Kapitel sehr bereichert.
[2] Reich (1948/2013, 96).
[3] In: https://www.welt-sichten.org/artikel/36048/vergewaltigung-als-kriegswaffe, 23.4.2019, 20.11.2019.
[4] http://www.naisetrauhanpuolesta.org/ministry-for-peace-and-sustainable-development/, 3/ 2021, 28.3.21
[5] https://www.unwomen.org/en/news/stories/2011/5/democracy-and-gender-equality, 5.5.2011, 21.4.2020
[6] Vgl. z.B. Lunz (2022)
[7] Vgl. Schulmann (2022)
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2 Drohende globale Szenarien – Unordnung als Ordnungsprinzip
Die Weiterentwicklung der soeben analysierten krisenhaften Zustände in der Gegenwart hin zu negativ ausfallenden Zukunftsszenarien muss in dieser Form nicht eintreten. Allerdings besteht eine reale Möglichkeit, dass sie eintreten können, wenn die Menschheit zu keinem Paradigmenwechsel kommt und ihr Destruktionsverhalten fortsetzt.
Die schnelle weltweite Verbreitung des Coronavirus im Frühjahr 2019 machte eins aus einer ganzheitlichen Perspektive heraus deutlich: Die Welt ist aufgrund der immer leistungsfähiger werdenden Verkehrsverbindungen und der damit verbundenen Reisetätigkeit zu einem globalen Dorf geworden. Eine Gefahr bzw. eine Fehlentwicklung an einem globalen Ort kann auch in kurzer Zeit eine Gefährdung für Menschen bedeuten, die eigentlich weit entfernt leben. Gleichzeitig macht der Umgang mit dem Coronavirus deutlich, wie schnell im Falle einer Pandemie Freiheitsrechte - z.T. auch unverhältnismäßig - eingeschränkt werden können, und wie wichtig es ist, danach wieder gemeinsam darauf zu achten und auch durchzusetzen, dass dies kein Dauerzustand bleibt.
Der Philosoph Hans Jonas entwickelte eine sogenannte ‚Heuristik der Furcht‘ und meinte hiermit, dass mögliche Fehlentwicklungen in aller Schärfe und Bedrohlichkeit beschrieben werden müssen, um den potenziellen Risiken direkt ins Auge zu sehen und um sich zu entschließen, die eigene Verantwortung für den Planeten und das Schicksal zukünftiger Generationen zu erkennen – so Jonas (1979/2015, 7):
„Was kann als Kompaß dienen? Die vorausgedachte Gefahr selber! In ihrem Wetterleuchten aus der Zukunft, im Vorschein ihres planetarischen Umfanges und ihres humanen Tiefgangs, werden allererst die ethischen Prinzipien entdeckbar, aus denen sich die neuen Pflichten neuer Macht herleiten lassen.“
Natürlich muss diese Negativvision anschlussfähig an die bereits analysierten Entwicklungen sein, darf nicht aus der Luft gegriffen sein. Auch sollte über Jonas Forderung einer Heuristik der Furcht hinaus im Anschluss hieran eine positive Vision humaner Entwicklung im Sinne einer Neuordnung vorgestellt werden. Möglicherweise kann die Furcht vor einem katastrophalen planetaren Szenario zum globalen Umsteuern motivieren. Doch die genaue Richtung einer globalen Umsteuerung und konstruktive Impulse für eine Identitätsbildung können nur durch eine positive Vision vermittelt werden, die aus dem Zusammenspiel gesellschaftstheoretischer Analyse, wissenschaftlicher Untersuchung, ethischer Reifung und den Erfahrungen alternativ gelebter politischer Praxis und hierbei veränderten Arbeitens und Zusammenlebens generiert wird.
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2.1 Das militärische Vernichtungsszenario
Gelingt es nicht, in einem globalen Maßstab ernsthaft abzurüsten und werden militärische Atom- und Wasserstofftechnologie sowie biologische und chemische Kampfstoffe weiterverbreitet, so ist die Menschheit vor einer Apokalypse nicht mehr zu schützen. Über Hunderte von Generationen hinweg wird der Planet Erde in weiten Teilen unbewohnbar sein.
Abrüstungsverhandlungen über nukleare Waffentechnologien sind derzeit für die existierenden Atommächte kein ernst zunehmendes Thema mehr. Im Gegenteil: Alle Atommächte sind dabei, ihre Nuklearwaffen zu modernisieren und für flexible Situationen einsetzbar zu machen. Wenn gegenwärtig und in der Zukunft tatsächlich alle nuklearen Abrüstungsverträge bzw. nuklearen Entwicklungsverbote aufgekündigt werden, ist der Einsatz von Nuklearwaffen angesichts wachsender geopolitischer Spannungen absehbar. Hiervon wird keine Weltregion verschont bleiben.
Der Einsatz biologischer und chemischer Waffen kann unabsehbare Folgen für das Leben auf diesem Planeten haben. Werden schädliche Bakterien und Viren erst einmal entwickelt und freigesetzt, wird es schwierig sein, diese wieder zu vernichten bzw. Gegenmittel zu entwickeln. Die Ausbreitung des Coronavirus zeigt die Gefährlichkeit einer Verseuchung durch Viren, auch wenn hier noch wesentlich gefährlichere Viren als der Coronavirus denkbar sind.
Die Ereignisse in Syrien zeigen, wie schwierig es ist, den Einsatz von Chemiewaffen in einem umkämpften Gebiet überhaupt nachzuweisen bzw. einer kriegführenden Partei nachweisbar zuzuordnen.
Waffen aus dem 3D-Drucker stellen eine noch kaum einzuschätzende Bedrohung für den innergesellschaftlichen Frieden und den Weltfrieden dar. Hier ist dann keine Registrierung und Waffenkontrolle mehr möglich.
Alle Großmächte arbeiten zurzeit intensiv an der Entwicklung von Killer-Robotern, die mit künstlicher Intelligenz ausgestattet, autonom entscheiden können, ob sie Menschen töten wollen oder nicht. Auch die Auswahl der zu tötenden Menschengruppen bleibt ihnen überlassen. Wird die Menschheit zukünftig von mit künstlicher Intelligenz ausgestatteten Maschinen bedroht werden? Die Genfer Konvention und die Haager Landkriegsordnung sowie weitere Festlegungen des internationalen Kriegsrechts werden im Zuge des Einsatzes von Killerrobotern obsolet. Hier wird auf alles geschossen, was sich bewegt, ist es erst einmal als feindlich identifiziert.
Warum arbeitet man hieran? Gibt es denn überhaupt keine Grenze und ethische Leitlinie mehr, welche die Menschen vor der technologisch gesteuerten Selbstvernichtung schützt? Sind die machthabenden Menschen denn wahnsinnig geworden?
Des Weiteren werden die Mittel hybrider Kriegsführung zu einer sich zuspitzenden Dimension der Kriegsführung führen, wenn hier nicht rechtzeitig entgegengesteuert wird. Unausdenkbar sind die Folgen, wenn Cyber-Angriffe durch feindliche Gruppen oder durch eine sich verselbstständigende KI zum Hacken von Atomtechnologie führen oder atomare Erstschläge auslösen.
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Auch die Verbreitung von Propaganda und Fake News über das Internet, Cyber-Angriffe zur Lahmlegung nationaler Infrastrukturen, gezieltes Eindringen terroristischer Gruppen sowie der nachfolgende Einsatz von Mitteln konventioneller Kriegsführung dürften beispielsweise nach dem Krieg in der Ukraine hinaus öfters angewendet werden, wenn es zu keinen internationalen Friedensbeschlüssen mit geeigneten Sanktionen kommt.
Der Krieg zwischen Aserbeidschan und Armenien hat gezeigt, dass zukünftige Kriege nur noch mit dem massiven Einsatz von Drohnen gewonnen werden können. Kamikaze-Drohnen stürzen sich auf Kampfpanzer. KI-gesteuerte Drohnenschwärme (‚Loitering Weapons‘) halten sich stundenlang in der Luft auf und greifen dann im nicht mehr abzuwehrenden Schwarm ausgespähte Ziele an.
Wenn es den UN nicht gelingt, weltweit hinsichtlich der verschiedenen Konfliktregionen handlungsfähig zu werden, werden Großmächte mit hegemonialen Ambitionen sich in dem vorhandenen Machtvakuum durchsetzen und die globalen Einflusssphären wieder unter sich aufteilen. Dies dürften die USA, China, Russland und möglicherweise auch Saudi-Arabien sein.
Solange die Vereinten Nationen unzulängliche Strukturen besitzen, im Rahmen derer sie nicht wirksam gegen illegale Kriege, Geheimarmeen, Menschenrechtsverletzungen und inszenierten Terror vorgehen können, solange muss mit einer Destruktion der von der UN-Charta angestrebten Friedensordnung gerechnet werden.
Es wird zunehmend zur Bildung von ‚Failed States‘ kommen, zu vermehrten Stellvertreterkriegen von Großmächten bzw. deren Allianzen. So sind die NATO-Länder seit einiger Zeit dabei, die Grundsätze und die Institutionen der UN zunehmend zu schwächen – so der NATO-Gegner und umstrittene Schweizer Friedensforscher Daniele Ganser (2017, 328):
„Die historischen Fakten der letzten 70 Jahre zeigen deutlich, dass NATO-Länder wiederholt andere Länder angegriffen und das in der UNO-Charta verankerte Gewaltverbot verletzt haben. Die NATO ist keine Kraft für Sicherheit und Stabilität, sondern eine Gefahr für den Weltfrieden.“
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Doch – so muss entgegengehalten werden – nicht nur die NATO-Aktivitäten sind problematisch. China versucht seinen hegemonialen Einfluss im südchinesischen Meer zu stärken, stellt eine Bedrohung für Taiwan dar, hat Tibet längst eingenommen und als eigenständigen Staat vernichtet. Die Russische Föderation führt einen brutalen Angriffskrieg in der Ukraine mit weltweiten Folgen. Russland unterstützte des Weiteren militärisch den syrischen Diktator, während die USA die oppositionellen Syrischen Streitkräfte sowie einen Teil der Kurden unterstützte. Das NATO-Mitglied Türkei fällt in Syrien ein und bekämpft die kurdischen Regionen völkerrechtswidrig. Israel vertreibt die Palästinenser aus den ihnen zugesprochenen Gebieten, die Palästinenser schießen Raketen auf Israel. Mit dem Überfall der Hamas auf Israel im Oktober 2023 begann ein mörderischer Vernichtungskrieg, der noch Generationen hiernach seine negative Auswirkung haben wird. Saudi-Arabien und der Iran führen unter Mitwirkung westlicher Staaten einen Stellvertreterkrieg im Jemen. Indien und Pakistan befinden sich im militärischen Konflikt hinsichtlich der Bombardierung von Terrorcamps in Pakistan und der umkämpften Provinz Kaschmir. Im westafrikanischen Mali kämpften deutsche und französische Truppen gegen den dortigen islamistischen Terror. Die Situation in Venezuela wird bald zeigen, ob es dort zu einer Intervention US-geführten Militärs kommen wird.
Auch ist das Entstehen einer neuen Blocksituation bereits jetzt absehbar. Das vom Westen abgewiesene Russland wendet sich zunehmend der VR China zu und schließt hier wirtschaftliche und militärische Abkommen. Zukünftig stehen sich dann die europäischen NATO-Staaten auf der einen Seite und Russland/ China sowie verbündete Staaten auf der anderen Seite feindlich gegenüber. Die USA in der zweiten Trump-Regierungsperiode verlässt zunehmend den gemeinsamen Verteidigungspakt gegen die Ukraine. Der Eklat im Oval Office Ende Februar 2025 ist Ausdruck hiervon. Eine eskalierende Konfrontation und die damit verbundene militärische Disruption sind dann im Interesse der jeweiligen militärisch-ökonomischen Komplexe sowie der in den jeweiligen Staaten vorhandenen aggressiv-nationalistischen Kräfte.
Gelingt es nicht, die UNO zu stärken und gleichzeitig zu demokratisieren, dann ist zukünftig ein chaotischer Zustand absehbar, wo nationalistische Staaten sowie an regionaler Hegemonie orientierte Staatenverbünde zur Durchsetzung ihrer Interessen permanent Kriege führen. Hierbei wird die modernste und effektivste Kriegstechnologie eingesetzt werden. Vor allem die Zivilbevölkerung wird Schaden nehmen. Ein nuklear ausgetragener Konflikt ist absehbar – selbst wenn die nukleare Kettenreaktion durch einen Hackerangriff oder versehentlich ausgelöst würde.
Abgesehen hiervon stellen die global aufgestellten Atomkraftwerke eine latente Bedrohung dar. Nicht nur durch die mit ihrem Betrieb verbundenen Unsicherheit eines GAU, sondern auch über die Möglichkeit terroristischer Anschläge oder der Gefährdung des Betriebs in Kriegszonen, wie z.B. in der Ukraine. [1]
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Beispiel für die Gefahr eines versehentlich ausgelösten Nuklearkrieges
Das vorliegende Ereignis lag in einer Zeit wachsender politischer und militärischer Anspannung und könnte auch für ein militärisches Zukunftsszenario von Bedeutung sein. [2]
Im Januar 1981 trat Präsident Ronald Reagan, der damals die UDSSR als „Reich des Bösen“ beschimpfte, sein Amt als US-Präsident an. Während die Sowjetunion die SS-20-Atomraketen in Osteuropa aufgebaut hatte, wollten die Amerikaner im Sinne des NATO-Doppelbeschlusses (verabschiedet Dezember 1979) in Westeuropa Pershing-II-Raketen stationieren. Eine militärische Eskalation war dann im Bereich des Möglichen, als am 1. September 1983 ein südkoreanisches Passagierflugzeug von der Flugabwehr der Sowjetunion abgeschossen wurde. Alle 269 im Flugzeug befindlichen Personen kamen ums Leben.
In dieser historisch angespannten Situation nimmt der 44 Jahre alte Oberstleutnant Stanislaw Petrow, ein Ingenieur, am Abend des 25. Septembers 1983 seinen Dienst in einer Satellitenüberwachungsanlage der UDSSR, 100 Kilometer südlich von Moskau, auf. Kurz nach Mitternacht, um 0:15 Moskauer Zeit, geht ein Raketenalarm los. Es wird vom computergesteuerten Frühwarnsystem ein Start einer US-Interkontinental-Rakete in Nordamerika in Richtung UDSSR gemeldet. Da Petrow weiß, dass die antizipierten Angriffsszenarien von einem Raketenhagel von verschiedenen Raketenbasen aus ausgehen, entscheidet er sich, einen Fehlalarm zu melden.
Doch während seines Telefonats mit dem Generalstab sieht er, dass der Computer vier weitere Raketenstarts anzeigt. Er muss sich nun wieder entscheiden, ob er einen echten Angriff meldet. Dies würde eine sofortige massive nukleare Gegenreaktion der UDSSR auslösen, die wiederum nuklear bestückte Raketen in Richtung USA schicken würde. Petrov ist sich zwar nicht ganz sicher, aber entscheidet wiederum, dem Generalstab mitzuteilen, dass es sich um einen erneuten Fehlalarm handele und er die Ursachen herausfinden wolle.
Hiermit hat er Millionen Menschen das Leben gerettet. Es zeigt sich danach, dass seine Entscheidung richtig war und hier ein Fehler im computergesteuerten Frühwarnsystem vorlag. Das System hatte Reflexionen des Sonnenlichts an Wolken über einer US-amerikanischen Luftwaffenbasis als Raketenstarts gedeutet.
Erst nach dem Niedergang der UDSSR wurde dieser nukleare Risikofall bekannt. Stanislaw Petrow machte später die Brisanz der damaligen Situation 2006 in seiner Rede vor den Vereinten Nationen deutlich: „Das Schlimmste in dieser Nacht war, dass ich massive Zweifel hatte, ob meine Entscheidung richtig war. Aber zum Glück war sie es.“
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Auch in der Zukunft ist ein Atomschlag aus Versehen möglich, der entweder durch technisches oder menschliches Versagen ausgelöst werden kann. Wenn zukünftig die Nukleararsenale weiterhin aufgerüstet werden, wenn weitere Staaten Nuklearwaffen bekommen, dann steigt auch die latente Gefahr eines versehentlich ausgelösten Nuklearkriegs.
Petrow warnte bis zu seinem Tod 2017 vor dem Ausbruch eines Atomkriegs, der die Menschheit auslöschen würde.
Fazit: Die Welt kommt zunehmend in Unordnung bzw. ökonomische, politische und kulturelle Interessensunterschiede werden zunehmend mit Gewalt und militärischen Mitteln ausgetragen.
Findet die UNO nicht zu ihrer eigentlichen Bestimmung, wird die internationale Situation der Zukunft vor allem durch Krieg, militärische Vernichtung von Menschen, Umweltzerstörung und Massenfluchten bestimmt sein. Insbesondere die Rolle einer sich verselbstständigen KI stellt eine große Gefahr dar. Das militärische Negativszenario wird für Milliarden Menschen apokalyptische Ausmaße annehmen, wenn nicht mehr beherrschbare Massenvernichtungswaffen zum Einsatz kommen. Es wird eine Spirale der Gewalt entstehen, die kaum noch kontrollierbar sein wird.
Anmerkungen zu Kapitel 2.1
[1] Vgl. zur Gefahr eines Nuklearkriegs Trautvetter (2023) und zur Gefahr einer Kernschmelze in der Ukraine Koch (2023).
[2] Die Rekonstruktion der Ereignisse orientiert sich an https://www1.wdr.de/stichtag/stichtag-stanislaw-petrow-verhindert-atomkrieg-100.html, 26.9.19, 1.10.19 sowie an https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/held-des-kalten-krieges-stanislaw-petrow-verhinderte-einen-atomkrieg-15206332.html, 19.9.17, 1.10.19.
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2.2 Das ökologische Verwüstungsszenario
„People are suffering. People are dying. Entire ecosystems are collapsing. We are in the beginning of a mass extinction. And all you can talk about is money and fairy tales of eternal economic growth. How dare you?!”
Greta Thunberg (2019) vor der UN-General-Versammlung
Wenn es nicht gelingt, die Erwärmung der Erdatmosphäre zum Ende des 21. Jahrhunderts unter 1,5 Grad Celsius zu halten oder sogar um zwei Grad Celsius und mehr zu verhindern, sind gravierende Folgen für das Leben auf dem Planeten Erde zu erwarten. [1]
Bereits 2008 warnte das deutsche Umweltbundesamt mit dem differenzierten Verweis auf ökologische Kipp-Punkte und Rückkoppelungseffekte auf die drohende Klimakrise:
„Kipp-Punkte bergen die Gefahr drastischer, teilweise abrupter Klimaänderungen. Als Folge könnten Maßnahmen zur Anpassung nicht rechtzeitig ergriffen werden, oder mit sehr hohem Aufwand und extrem hohen Kosten verbunden sein. Deshalb müssen zwingend die anthropogenen Emissionen von Treibhausgasen gemindert werden. Der Mensch macht mit dem anhaltenden Ausstoß von Treibhausgasen ein globales Experiment mit der Lufthülle seines Planeten, von dem er nicht genau weiß, wie es ausgehen wird. Bereits in diesem Jahrhundert können Kipp-Punkte im Klimasystem eintreten. Das ist Anlass zu schnellem und gezieltem Handeln.“ [2]
Wie wenig ist seitdem geschehen. Die Gefahr eines abrupten Auslösens von Kipp-Punkten mit den komplexen und dramatischen Auswirkungen ist nun deutlich nähergekommen. Und der 6. Assessment Report des Weltklimarats (IPPC 2021a) stellt zusammenfassend die Langfristigkeit der bereits eingetretenen Umweltschäden fest:
"Many changes due to past and future greenhouse gas emissions are irreversible for centuries to millenia, especially changes in the ocean, ice sheets and global sea level."
Unterschiedliche Klimaszenarien
Hierbei gehen die Einschätzungen über das Ausmaß z.B. des Temperaturanstiegs in den nächsten Jahrzehnten sowie bis zum Ende des Jahrhunderts oder die Analysen hinsichtlich des zu erwartenden Anstiegs des Meeresspiegels zwischen den Einschätzungen des Weltklimarats (IPCC) und anderen Klimaforschern auseinander – so der Klimawissenschaftler David Spratt und der Spezialist für Emissionshandel Ian Dunlop (Spratt/Dunlop 2019, 5) in der Einordnung unterschiedlicher Forschungsergebnisse:
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„In one example, the IPCC’s Fifth Assessment Report in 2014 projected a sea-level rise of 0.55-0.82 metre by 2100, but said ‚levels above the likely range cannot be reliably evaluated‘. By way of comparison, the higher of two US Department of Defence scenarios is a two-metre rise by 2100, and the ‚extreme‘ scenario developed by a number of US government agencies is 2.5 metres by 2100.
Another example is the recent IPCC 1.5°C report, which projected that warming would continue at the current rate of ~0.2°C per decade and reach the 1.5°C mark around 2040. However the 1.5°C boundary is likely to be passed in half that time, around 2030, and the 2°C boundary around 2045, due to accelerating anthropogenic emissions, decreased aerosol loading and changing ocean circulation conditions.“
Wenn es gelingt – so der IPPC (2021 b, 18) – bis 2040 die Klimaerwärmung unter 1,5 Grad C zu halten, dann wäre dies auch bis zum Ende des 21. Jahrhunderts möglich, wenn die richtigen für das Klima relevanten Entscheidungen getroffen werden. Wenn jedoch nicht die richtigen klimapolitischen Entscheidungen getroffen werden, ist laut IPPC mit einer eskalierenden globalen Erwärmung mit apokalyptischen Folgen zu rechnen (siehe Tabelle 6):
Table 7: Der beste Verlauf und die sehr wahrscheinliche Bandbreite im negativsten Klimaszenario (IPPC 2021b, 18), in Grad Celsius.
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Scenario | Near term 2021-2040 | Mid-term 2041-2060 | Long-term 2081-2100
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best estimate very likely range best estimate very likely range best estimate very likely range
| 1.60C. | 1.30C. – 1.90C. | 2.40C. |1.90C.-3.00C. | 4.40C | 3.30C -5.70C.
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Determinanten eines klimatischen Negativszenarios
Diese Differenzen können hier natürlich nicht entschieden werden. Allerdings soll im Rahmen eines Negativszenarios die pessimistischere Einschätzung verwendet werden. Hieraus können sich dann folgende Entwicklungen aus einer holistischen Perspektive, die das Denken in Verbindungen und Zusammenhängen betont, ableiten lassen:
Eine Folge des menschengemachten Klimawandels ist das bereits aktuell beobachtbare Abschmelzen der Pole und der Gletscher, die Erwärmung der Meere und die beginnende Überflutung der Küstengebiete, der Flussufer sowie der tiefer gelegenen Regionen insbesondere in den ärmeren Weltregionen, denen die Mittel für ökologische Anpassungsmaßnahmen fehlen, wie zum Bauen von Dämmen oder zur Veränderung der Baunormen.
So fasst die World Meteorological Organization (2024) für 2023/2024 diese Entwicklung alarmierend zusammen:
„Weather hazards continued to trigger displacement in 2023, showing how climate shocks undermine resilience and create new protection risks among the most vulnerable populations.“
Es wird hierbei, wenn diese Entwicklung sich fortsetzt, mit einer weitgehenden Unbewohnbarkeit der tiefer liegenden Regionen der Erde zu rechnen sein. Unbestritten wird sich durch das Abschmelzen der Pole und das sich erwärmende Meereswasser der Meereswasserspiegel erhöhen.
Die durchschnittliche mögliche Erhöhung um 2,5 Meter bis 2100 bildet aber nicht die Extrempunkte des Wasserstandes ab. Insbesondere bei Sturmfluten kann die Erhöhung des Meereswasserspiegels um ein Mehrfaches dieses Wertes betragen und zu einer Überflutung bis tief in die Kontinentalbereiche hineinführen.
Inseln und Küstenregionen sowie tieferliegende Binnenflächen werden überflutet werden, die dortigen Lebensbedingungen vernichtet und wiederum Migration ausgelöst werden. Nicht nur Inselgruppen werden verschwinden, sondern auch Länder, wie z.B. Bangladesch und Indien, werden in weiten Teilen überschwemmt werden und Massenfluchten auslösen. Hierbei wirkt sich der Anstieg des Meereswasserspiegels in Verbindung mit dem in dieser Region bereits derzeit zunehmend verheerenden Monsunregen besonders gefährdend aus. [3]
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Auch die Verschiebung der klimatischen Verhältnisse hin zu Dürren, Flächenbränden, gewaltigen Stürmen und massiven Regenfällen führt zu einer Veränderung des Lebens auf der Erde. Weite Regionen werden unbewohnbar. Es wird mit zukünftigen Durchschnittstemperaturen von 50-60 Grad am Persischen Golf gerechnet, so dass hier für den Durchschnitt der Bevölkerung kein menschliches Leben mehr möglich bzw. nur noch in künstlich gekühlten Räumen möglich sein wird. [4]
Spratt/Dunlop (2019, 6) sagen voraus, dass selbst wenn die Pariser Klima-Verträge eingehalten werden würden, noch keine stabile Klimaentwicklung zu erwarten sei. Insbesondere klimatische Rückkoppelungseffekte würden die Erde für die menschliche Zivilisation bis zum Ende des Jahrhunderts weitgehend unbewohnbar machen:
„With the commitments by nations to the 2015 Paris Agreement, the current path of warming is 3°C or more by 2100. But this figure does not include “long-term” carbon-cycle feedbacks, which are materially relevant now and in the near future due to the unprecedented rate at which human activity is perturbing the climate system. Taking these into account, the Paris path would lead to around 5°C of warming by 2100. Scientists warn that warming of 4°C is incompatible with an organised global community, is devastating to the majority of ecosystems, and has a high probability of not being stable.“
Ein Negativszenario einer derart sich zunehmend erhitzenden Biosphäre muss mit zunehmenden Waldbränden rechnen. Große Flächen der Erde werden zu brennen beginnen. Durch massive Sturmböen angetriebene Feuerwalzen werden alles verschlingen, was sich ihnen in den Weg stellt: Bäume und Büsche, Häuser, Tiere und Menschen. Derartige Feuerstürme sind für den Menschen nicht mehr zu kontrollieren und zu bekämpfen und sind auf massive Regenfälle angewiesen, von denen man nicht weiß, ob sie gerade in den brennenden Regionen aufgrund der Klimaverschiebung fallen werden. Die Verödung ganzer Landstriche ist die Folge mit humanitären, ökologischen und finanziellen Problemen in einem globalen Maßstab.
Das Auftauen des arktischen und sibirischen Permafrostbodens wird durch das damit verbundene Freisetzen von Kohlendioxid und Methan zu einem massiven Anstieg der Klimaerwärmung führen und alle damit in Wechselwirkung stehenden Prozesse abrupt verstärken.
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Wenn es einer zu stärkenden UN nicht gelingt, skrupellose Regierungen von der generationenegoistischen Vernichtung des Regenwaldes für Zwecke der Viehzucht, des Sojaanbaus, der Suche nach Bodenschätzen oder der Bodenspekulation abzubringen, dann wird auch hierdurch nicht nur die Lunge der Erde vernichtet, sondern auch eine einschneidende Klimaverschiebung bewirkt.
Global tobende Kriege und Emissionen durch Explosionen und Brände verschärfen die klimatische Entwicklung und verhindern gleichzeitig, dass wirkungsvolle Maßnahmen gegen die Dystopie des Klimas von den betroffenen Regionen getroffen werden können.
Katastrophaler Einfluss auf die gesellschaftliche und politische Entwicklung im globalen Maßstab
Massive Migration im Sinne von Massenfluchten bzw. Völkerwanderungen werden durch die Klimaverschiebung ausgelöst werden. Die bisherige Migration ist in diesem Sinne allenfalls als die Spitze des Eisbergs anzusehen, wenn im Falle weiterer ungehinderter Klimaerwärmung sich Milliarden Menschen flüchtend auf den Weg machen. Es ist unschwer vorstellbar, welche konflikthaften und auch militärischen Auseinandersetzungen sich aus diesen Verwerfungen im Kampf um die ökologisch noch intakten Regionen ergeben werden – so das internationale Friedensinstitut SIPRI:
„Climate Change poses a new class of security challenges that is confronting societies worldwide. Increased risk of famine, destroyed infrastructure, houses and shelter, and violent conflicts might all be consequences of climate change through gradual changes to ecosystems and extreme weather events.” [5]
Die Klimaerwärmung wird zu massiven Ernteausfällen und damit verbundenen Hungersnöten führen. Das globale landwirtschaftliche Ernährungssystem wird kollabieren. Der Kampf um Lebensmittel und das Überleben wird zu massiven Preissteigerungen, Plünderungen und militärischen Auseinandersetzungen führen.
Der Kampf um Trinkwasser wird sich einerseits aufgrund der zunehmenden Dürreperioden und andererseits aufgrund der sich durchsetzenden profitorientierten Privatisierung von Wasserquellen verschärfen. Privatisierte Wasserquellen werden von militärisch organisierten Sicherheitsdiensten gegen Überfälle von Gruppen durstiger Menschen bewacht werden. In den Dürregebieten wird es zum Verdursten insbesondere von Menschen kommen, die nicht mehr die finanziellen Mittel haben, das knappe und damit verteuerte Gut Wasser zu kaufen.
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In anderen Teilen der Welt führt die Klimaverschiebung zum Aufeinanderprallen von Luftmassen mit extrem unterschiedlichen Temperaturen und zu entsprechend verheerenden Stürmen in Form von Tornados und Hurrikans. Häuser, Autos, Tiere und Menschen werden durch die Luft gewirbelt und zerschmettert. Hochhäuser stürzen ein, die Infrastruktur von Elektrizität, Wasser- und Gasleitungen, Internet wird irreparabel zerstört. Aus zerstörten Atomkraftwerken wird Radioaktivität freigesetzt, die in der Atmosphäre um die Erde zieht, abregnet und zu erhöhten Krebsraten und Missbildungen bei Menschen und Tieren führen wird.
Hierbei sind bisher nur einige Entwicklungen angesprochen. Gefahren, wie z.B. die Temperaturveränderung und die dadurch bedingte Umlenkung des Golfstroms, die Abnahme des Temperaturunterschieds zwischen Nordpol und Äquator, die zur Abschwächung des Jetstreams führt, die Herauslösung des im Meeresboden gebundenen Methans, das Insektensterben durch den vermehrten Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft, die Vernichtung sauberen Trinkwassers durch die Überdüngung der Felder, sowie die Plastikvermüllung der Meere und das Absterben allen Lebens in zunehmend größer werdenden Meeresregionen dürften zusätzliche Negativ-Szenarien darstellen, die die angesprochenen massiven Probleme noch verschärfen werden.
Die Frage ist, wann der Punkt erreicht ist, an dem es keine Rückkehr zur ökologischen Balance über viele Generationen hinweg geben wird. Hier gehen die wissenschaftlichen Einschätzungen sicherlich auseinander, ob dieser Punkt bereits erreicht ist oder erst nach einigen Generationen eintreten wird. So schreiben die renommierten Wissenschaftler und Club-of-Rome-Präsidenten Weizsäcker/Wijkman (2017, 194) in der Studie des Club of Rome vor allem hinsichtlich der Verbindung von ökologischem Desaster, Bevölkerungswachstum und unverantwortlichem militärischen und ökonomischen Verhalten zusammenfassend:
„Es eilt sehr. Ein Systemkollaps ist eine reale Gefahr. Der Beweis für menschliche Auswirkungen auf den Planeten ist offenkundig. Radioaktive Reste von atmosphärischen Atombombentests findet man heute allenthalben. Das CO2 aus der fossilen Verbrennung hat die Chemie der Atmosphäre und der Ozeane verändert: (…) machen wir uns nichts vor. Wir stehen vor gewaltigen Herausforderungen bedingt durch das rasante Bevölkerungswachstum, die Übernutzung der Ressourcen und die damit einhergehende Verschmutzung, den Verlust der Biodiversität, und insgesamt erleben wir einen schleichenden Verlust der Lebensgrundlagen. Ihre Zuspitzung erfährt die Krise durch den ideologischen Glauben, dass der Verlust von hohem BIP-Wachstum zu einem ökonomischen Kollaps führen werde.“
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Das Fortschreiten der Überbevölkerung bei ungebremstem Wachstumsdenken und Konsumverhalten führt zu einer verstärkten ökologischen Ausbeutung des Systems Erde unter den Bedingungen eines zunehmend überfüllten Planeten. Hierbei fallen jegliche Skrupel, auch klimaschädliche und gefährliche Ressourcen der Erde, wie z.B. Braunkohle, Öl oder radioaktives Material, für die Energienutzung zu verwenden. Ansätze biologischer Landwirtschaft und artgerechter Tierhaltung werden aufgrund des Bevölkerungsdrucks durch eine gesteigerte Massentierhaltung, also das massenhafte Quälen von Tieren, sowie die damit verbundene Nitratvergiftung der Böden und des Grundwassers, zurückgedrängt.
Hierbei ist allerdings zu erwarten, dass nicht der Bevölkerungsdruck primär für die Umweltzerstörung verantwortlich ist, sondern insbesondere der unverantwortliche Verbrauch der Ressourcen durch den reicheren Teil der Weltbevölkerung.
Das reichste Prozent der Weltbevölkerung wird im Jahr 2030 – so eine in die Zukunft berechnende OXFAM-Studie – 30-mal soviel CO2 im Jahr 2030 in die Umwelt emittieren als es dies für die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels dürfte. Die ärmsten 10% der Weltbevölkerung hingegen werden einen äußerst geringen ökologischen Fußabdruck haben (vgl. Tab. 8 und 9).
Tab. 8: (zusammengestellt nach Roettig 2021)
| Globale Einkommensgruppen/ Jahreseinkommen in Kaufkraftparität in US-Dollar | Projizierte Pro-Kopf-CO2-Emissionen im Jahr 2030 | Faktor in Bezug auf die für das 1,5-Grad-Ziel notwendigen maximalen CO2-Emissionen (2.3 Tonnen pro Kopf)
| Reichste 1%/ mehr als 172.000 | 70 | x 30
| Reichste 10%/ 55.000-172.000 | 21 | x 9
| Mittlere und untere Einkommen, 40%/ mehr als 9.800-55.000 | 5 | x 2
| Ärmste 50%/ weniger als 9.800 | 1 | x 0,43
Tab. 9:
Einkommensgruppen und Klimaemissionen
(zusammengestellt nach Roettig 2021)
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Global income groups/ Projected per capita CO2 emissions required for the
annual income in purchasing in 2030 Factor in relation to the 1.5 degree target
power parity in US dollars maximum CO2 emissions (2.3 tons per capita)
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Richest 1%/ 70 x 30
more than 172,000
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Richest 10%/ 21 x 9
55.000-172.000
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Middle and lower incomes, 40%/ 5 x 2
more than 9,800-55,000
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Poorest 50%/ 1 x 0,43
less than 9,800
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Diese Entwicklung lässt sich voraussagen, wenn keine einschneidende Klimaschutzmaßnahmen und insbesondere keine Einschränkung des aufwändigen Lebensstils des reicheren Teils der Weltbevölkerung erfolgt.
Die gewalttätige Konkurrenz um die Nutzung der Ressourcen nimmt zu, je mehr Menschen in ihren Grundbedürfnissen aber auch insbesondere in ihren Luxusbedürfnissen zu befriedigen sind. Nicht nur der Kampf um sauberes Trinkwasser und Lebensmittel, auch der Kampf um Lithium und vergleichbare Rohstoffe, führen zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Menschengruppen und Regionen – so Hans-Jürgen Burchardt:
„Naturkatastrophen und Umweltschäden standen bei den Fluchtursachen in den letzten Jahren an erster Stelle und viele Prognosen gehen davon aus, dass die Zahl der Klimavertriebenen stark ansteigen wird. Auch hier wird deutlich: Die Industrienationen als Hauptverursacher des Klimawandels tragen Mitverantwortung dafür, dass Menschen flüchten. Dennoch wird weiter versucht, Fortschritt und Wohlstand auf Kosten der Natur zu erlangen. Besonders perfide ist dies in den Nord-Süd-Beziehungen, wo Natur nicht selten im Namen des Umweltschutzes zerstört wird. So wird nach dem Atomausstieg die deutsche Energiewende auch über billige Steinkohleimporte aus Kolumbien ermöglicht. Dort wird im stark umweltbelastenden Tagebau gefördert, ganze Gemeinden werden dafür gewaltsam vertrieben, Menschenrechtverletzungen sind an der Tagesordnung. Auch die vielgepriesene grüne Ökonomie, die auf Elektromobilität setzt, wäre ohne die Lithiumvorräte in den Anden nicht möglich. Vor Ort raubt die Lithiumförderung den Anwohnern aber ihre Lebensgrundlagen.“ [6]
Auch der Krieg in der Ukraine ist unter einem imperialistischen Blickwinkel zu betrachten, bei dem sich Russland und die USA versuchen, die Rohstoffvorkommen untereinander aufzuteilen. Das im Februar 2025 im Oval Office stattgefundenen historische Streitgespräch zwischen Trump, Vance und Selenskyj sowie die Verhandlungen zwischen der russischen und der US-amerikanischen Regierungen sind Ausdruck hiervon. Auch der weltweit erfolgende Abbau von Rohstoffen aufgrund nationaler Grenzüberschreitungen oder imperialer Absprachen bzw. imperialer Kriege wird keineswegs umweltverträglich und das Klima schonend erfolgen.
Spratt/Dunlop (2019, 9) beschreiben die gesellschaftlichen Konsequenzen einer Klimaverschiebung auf dem 3-Grad-Niveau. Staaten und Gesellschaften werden überfordert werden und unter extremen kollektiven Stress geraten:
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„Massive nonlinear events in the global environment give rise to massive nonlinear societal events. In this scenario, nations around the world will be overwhelmed by the scale of change and pernicious challenges, such as pandemic disease. The internal cohesion of nations will be under great stress, including in the United States, both as a result of a dramatic rise in migration and changes in agricultural patterns and water availability. The flooding of coastal communities around the world, especially in the Netherlands, the United States, South Asia, and China, has the potential to challenge regional and even national identities. Armed conflict between nations over resources, such as the Nile and its tributaries, is likely and nuclear war is possible. The social consequences range from increased religious fervor to outright chaos. In this scenario, climate change provokes a permanent shift in the relationship of humankind to nature.“
Zusammenfassend lässt sich feststellen: Neben dem militärischen Bedrohungsszenario ist das ökologische Bedrohungsszenario am nahesten und am greifbarsten, welches sich über das sich rasant entwickelnde Bevölkerungswachstum bei gleichzeitiger ökologischer Uneinsichtigkeit und imperialer Lebensweise der reichen Gesellschaftsschichten noch verschärfen wird. Besonders bedrohlich erscheint hierbei, dass die negativen Folgen des Klimawandels sich hinsichtlich ihrer Verursachung zeitverzögert einstellen. Die Faktoren dieser Negativentwicklungen lassen sich hierbei ebenfalls nur zeitverzögert wieder zum Positiven verändern. Die Trägheit der Klimaveränderung lässt somit weniger die verursachenden Generationen die Folgen spüren sondern erst ihre Enkel- und Urenkelgenerationen. Diese wiederum werden ebenfalls aufgrund der planetaren Klimaträgheit die einschneidenden positiven Veränderungen ihres möglicherweise veränderten Verhaltens nicht mehr erleben. Dies begünstigt einen klimaschädlichen Generationenegoismus und hebt noch einmal die Notwendigkeit einer vorausschauenden Verantwortung der aktuell lebenden Generationen für die zukünftigen Generationen hervor. Diese Verantwortung kann durch die Analyse von wahrscheinlichen Negativszenarien bei fehlender radikaler Umsteuerung und Neuordnung in die Aufmerksamkeit gerückt werden.
Wie können Politiker und Gesellschaften noch über die Aufstockung der für Rüstung und Militär sowie der Förderung des Wirtschaftswachstums vorgesehenen Budgets nachdenken, wenn doch zukünftig derartige ökologische Herausforderungen drohen? Wie kurzsichtig und generationenegoistisch muss man sein, wenn man nicht alle Kräfte und Ressourcen so schnell wie möglich bündelt, um dem drohenden ökologischen Kollaps zu entgehen?
Wie stark müssen die agrarindustriellen Lobbys und Interessen sein, dass von der EU sogenannte Freihandels- und Investitionsschutzabkommen, wie z.B. mit den MERCOSUR-Staaten oder auch mit Kanada (CETA), abgeschlossen werden, die – trotz gegenläufiger Beteuerungen – de facto einen Freibrief zur Schädigung der Biosphäre darstellen?
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Und aus einer friedensökologischen Perspektive: Wie viel Zeit bleibt noch, einen neuen Weltkrieg bzw. den permanenten Krieg im Rahmen ökologischer Verdrängungskonflikte und imperialer Rohstoffausbeutung zu verhindern? Werden Kriege im Rahmen symmetrischer und asymmetrischer Konflikte zunehmend bedrohlicher in Bezug auf den Kampf gegen die eintretende Klimakatastrophe?
Wie viel Macht werden die globalen Gegenkräfte haben, einem derartigen Wahnsinn noch wirkungsvoll zu begegnen?
Es zeigt sich, dass der holistisch zu begreifende Zusammenhang, wenn er im Rahmen einer Negativentwicklung zur Anwendung kommt, leider genauso effektiv in einem negativen Sinne systemisch wirkt, wie dies beim Zusammenwirken von Einflüssen hin zu einer positiven Entwicklung der Fall ist. Auch im Negativszenario wirkt alles miteinander ganzheitlich verbunden und entfaltet daher eine sehr wirkungsvolle und globale Entwicklungsdynamik.
Nach dem Lesen dieses Kapitels werden vielleicht die Verzweiflung und die Ängste sowie die übernommene Verantwortung in den Aktionen der 'Letzten Generation' und zukünftiger vergleichbarer Umweltgruppen verständlicher - auch wenn man ihre Aktionsformen nicht billigen will.
Anmerkungen zu Kapitel 2.2
[1] Teile dieses Negativszenarios sind am Klima-Szenario von Spratt/Dunlop (2019) sowie an den Weltklimaberichten des UNO-Weltklimarats (IPCC) orientiert, für den Fall, dass das 1.5 Grad-Ziel nicht erreicht wird und es zu einer Klimaerwärmung um zwei Grad und mehr kommen sollte, vgl. http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/klimawandel-ipcc-bericht-zum-1-5-grad-ziel-vorgestellt-a-1231805.html, vom 8.10.2018, 6.4.2019 und IPCC (2018, 2019).
[2] Umweltbundesamt (2008, 22).
[3] Vgl. u.a. Germund (2017).
[4] Vgl. u.a. Läubli (2015) und Stoller (2015).
[5] Vgl. hierzu Dellmuth/Gustafsson/Bremberg/Mobjörk (2017, 1).
[6] Burchardt (2017).
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2.3 ‚Failed States‘ und die Hilflosigkeit der internationalen Gemeinschaft
Es mehren sich zunehmend die Beispiele zusammenbrechender staatlicher Systeme. ‚Failed States‘ bzw. ‚Collapsed States‘ entstehen vor allem zunächst in den Peripherien bzw. den wirtschaftlich armen Ländern im globalen Kontext. Hussein M. Adam beschreibt am verheerenden Beispiel Somalias zu Beginn der 90-er Jahre die Merkmale eines ‚Failed States‘:
“The visible collapse of the Somali state has lasted half a decade. In some aspects the country appears to have reverted to its status of the nineteenth century: no internationally recognized polity; no national administration exercising real authority; no formal legal system; no public service; no educational and reliable health system; no police and public security services; no electricity or piped water systems; weak officials serving on a voluntary basis surrounded by disruptive, violent bands of armed youth.” [1]
In derart kollabierten Staaten bricht das staatliche Gewaltmonopol zusammen, und Gewalt wird dezentral durch unterschiedliche Gruppen ausgeübt. Das Vertrauen der eine Gesellschaft zusammenhaltenden Gruppierungen in die Regulationsfähigkeit des Staates ist aufgrund dessen längerfristigen und strukturell angelegten Verwerfungen, wie z.B. Korruption, Diktatur und extreme soziale Unterschiede, zerstört. Dies kann zu gewalttätigen Aufständen, regionalen Militärrevolten, zur regionalen Herrschaft von Warlords oder terroristischen Banden führen, welche die Bevölkerung unterdrücken und ausbeuten. Der Unterschied zu einem Systemwechsel oder einer Krise, die zu einer Nachfolgeregierung führt, ist insbesondere in der schwerwiegenden Zerstörung der Identifikation mit einem staatlichen System als solchem und dem Versagen zivilgesellschaftlicher Standards zu sehen – so Zartman (1995):
“What distinguishes this scenario from other instances of government change is the inability of civil society to rebound: to fill positions, restore faith, support government, and rally round the successor. The maimed pieces into which the contracting regime has cut society do not come back together under a common identity, working together, sharing resources. The whole cannot reassembled and instead the components of society oppose the center and fend themselves on the local level. Organization, participation, security, and allocation fall into the hands of those who will fight for it – warlords and gang leaders, often using the ethnic principle as a source of identity and control in the absence of anything else.” [2]
Sicherlich muss hierbei auch gefragt werden, ob das Kollabieren von Staaten nicht auch eine postkoloniale Reaktion auf das willkürliche Ziehen von Staatsgrenzen unabhängig von Stammesgebieten und kulturellen Zugehörigkeiten ist. Möglicherweise ist des Weiteren das System des westlichen Nationalstaates auch nicht das global verallgemeinerbare und angemessene Modell für jede Region und Kultur. Hier treffen also die Kritik an einer aufgezwungenen Nationenbildung und die postkoloniale Kritik aufeinander.
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Das Auseinanderfallen von Staaten und das Entstehen von ‚Failed States‘ führen in jedem Fall zu einem längerfristigen Zustand der Unsicherheit und Angst für große Teile der Bevölkerung, zu Massenmord und Folter sowie zur Unterwerfung und Ausbeutung weiter Teile der Bevölkerung des ursprünglichen Staatsgebietes. Dies kann nach einer längeren Zeit zu neuen und auch regionalen, kleineren Staatsgebilden führen, kann aber auch auf nicht absehbare Zeit denjenigen überlassen bleiben, denen es gelingt, sich zu bewaffnen, Hierarchien zu bilden und Regionen zu terrorisieren.
Die Vereinten Nationen haben bisher noch keinen Weg gefunden, auf den Fall kollabierender Staaten angemessen zu reagieren. Die schrecklichen Massaker der Hutu-Mehrheit an der Tutsi-Minderheit in Ruanda, die islamistisch orientierten Versuche regionalen Terrors im arabischen Raum, die Einmischung um regionale Hegemonie kämpfender ausländischer Mächte im Jemen, die unsägliche Situation in Afghanistan, die Gespaltenheit und die damit verbundenen Fluchtbewegungen im Sudan, die schrecklichen Angriffe der Hamas und die massiven Vergeltungsmaßnahmen des israelischen Militärs, die illegale Landnahme im Westjordanland sowie die Kollaboration von an Rohstoffen interessierten Konzernen mit Rebellengruppen in Zentralafrika zeigen auch noch im Jahr 2025 die Hilflosigkeit der Vereinten Nationen im Umgang mit der Situation von ‚Failed States‘ und ‚Killing Fields‘. Doch robuste weltpolizeiliche Interventionen der Vereinten Nationen bzw. von beauftragten Allianzen sind notwendig, um Massaker, Massenvergewaltigungen und Folteranwendungen an der Zivilbevölkerung zu verhindern, sowie ein Verbleiben der UN-Interventionskräfte, bis sich neue tragfähige und die Menschenrechte achtende politische Strukturen gebildet haben [3] – so Michael Walzer:
“An independent UN force, not bound or hindered by the political decisions of individual states, might be the most reliable protector and trustee – if we could be sure that it would protect the right people, in a timely way.” [4]
Das Beispiel Afghanistans zeigt allerdings in einem negativen Sinne, was passieren kann, wenn Interventionen primär militärisch konzipiert werden. Wenn parallel zur militärischen Intervention, z.B. durch eine von den UN beauftragten Staaten-Allianz, keine entsprechenden Ressourcen zum Wiederaufbau eines Landes bereitgestellt werden, wird sich die Menschenrechtsproblematik nur in die Zukunft verlagern, werden Konflikte nicht zivilgesellschaftlich ausgetragen, werden terroristische Aktivitäten genährt, wird das System des Staates erneut kollabieren.
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2.4 Religiöser Fanatismus und Terrorismus
Terroristische Organisationen benutzen religiösen Fanatismus, um sich gegenüber ihren Organisationsmitgliedern einer totalen Treue und Aufopferungsbereitschaft zu versichern. Zunehmend ersetzt religiöser Fanatismus extremistische politische Ideologien oder wird mit diesen kombiniert, da sich die Führer derartiger Organisationen auf diese Weise leichter ihrer Gefolgschaft versichern können.
Dies war bei den verheerenden christlichen Kreuzzügen der Fall, als räuberischer Eroberungsdrang und geostrategisches Denken mit christlichen Motiven besetzt wurde. Dies ist ebenfalls bei den islamistischen Terrororganisationen wie IS, Boko Haram und Al-Qaida der Fall, so dass nach dem terroristischen Einsatz und dem Selbstmordattentat die Belohnung im Paradies versprochen wird. Der vermeintlich göttliche Auftrag beseitigt jegliche Hemmschwelle im Töten und rechtfertigt jede Grausamkeit – wird sie doch gegen abgewertete und exkludierte Ungläubige bzw. Andersgläubige ausgeübt.
Dies ist ein terroristisches Gegenmodell zum Projekt der Aufklärung, das an der Säkularisierung, den Menschenrechten und an humanen Werten orientiert ist. War man eine Zeit lang der Auffassung, die an der Aufklärung orientierte Modernisierung würde alle Teile der Welt erfassen und auch religiöse Traditionen beseitigen, muss nun befürchtet werden, dass religiös legitimierte Diktaturen mit einem globalen Allmachtsanspruch zunehmen werden.
Wenn sich dies mit dem Besitz der Atombombe paart, sind die Folgen unabsehbar.
Normalerweise wird hier durchaus zu Recht der Iran, dessen Staatsreligion die schiitische Version des Islam ist, genannt. Auch das traditionalistisch sunnitisch ausgerichtete und hochgerüstete Saudi-Arabien ist hier zu nennen. Aber ebenso sind in diesem Zusammenhang Regierungsaktivitäten des israelischen Staats zu beobachten. Hierbei muss man – gerade als Deutscher – sehr vorsichtig in der Kritik von Maßnahmen der israelischen Regierung sein, muss genau hinsehen und differenziert argumentieren. Insbesondere ist zwischen Regierung, Staat und den verschiedenen Gruppierungen in der israelischen Bevölkerung zu unterscheiden. Zwischen orthodoxen Juden, militanten Siedlern im Westjordanland und israelischen Vertretern der BDS-Bewegung [5] ist hinsichtlich der politischen und kulturellen Einschätzung ein großer Unterschied zu machen.
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Israel besitzt die Atombombe in einer äußerst konfliktreichen und Krisen geschüttelten Region voller Hass und religiöser Vorbehalte. Ein militanter orthodoxer Jude hat den jüdischen Friedensstifter, Friedensnobelpreisträger und Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin ermordet. Es wäre ein sehr bedrohliches Szenario, wenn militante Gruppierungen der jüdischen Orthodoxen, deren religiöser Fundamentalismus genauso wie der Fundamentalismus aller entsprechenden Religionen im Gegensatz zu den Werten der Aufklärung und der Menschenrechte steht, in Israel an Macht gewinnen würden. Noch problematischer wäre es, wenn sie maßgeblich an der Regierungsmacht beteiligt wären und gemäßigte, demokratisch gesinnte Israelis in ihrem kulturellen Geltungsanspruch und aus den gesellschaftspolitisch relevanten Positionen verdrängen würden. Der terroristische Angriff der Hamas vom Oktober 2023 mit über 1000 Toten sowie die darauf folgenden unverhältnismäßigen Angriffe des israelischen Militärs auf den Gaza-Streifen mit zwischen 40.000 und 50.000 Toten bis zum Jahresbeginn 2025, fast die Hälfte Kindern, zeigt die Dramatik, wenn geopolitische und religiöse Ansprüche zu einer verhängnisvollen ideologischen Mischung werden.
Auch die Radikalisierung christlicher Bewegungen und Kirchen mit dem Ziel eines weißen, patriarchalischen Gottesstaats könnte zunehmen. Die sogenannten 'Theo Bros', die aus erzkonservativen Protestanten und Katholiken bestehen, breiten sich von den USA ausgehend aus und sind der Auffassung, dass Frauen das Wahlrecht abgenommen werden sollte. Der Mann als Beschützer der Frauen und der Familien sollte das alleinige Wahlrecht bekommen. Extremistische Prediger verbreiten zunehmend die Ansicht, dass starke männliche Persönlichkeiten die Macht übernehmen müssten und der Verweiblichung der Gesellschaft entgegen wirken müssten.
Joel Webbon, Pastor in einer texanischen Kirche und Betreiber der Plattform 'Right Response Ministries' fordert, dass Männer mit Rückrat und christlichen Werten die Regierungen übernehmen müssten. Brigitte Theißl erkennt hierin eine Tendenz - so Theißl (2025) in der österreichischen Zeitschrift 'der Standard':
"Webbons Publikationen könnte man als besonders radikale Auswüchse eines christlichen Nationalismus beiseite wischen. Der Pastor aber ist kein isolierter Extremist, er ist Teil eines einflussreichen Netzwerks, das das US-Medium Mother Jones als die "Theo Bros" bezeichnet: überwiegend junge, erzkonservative Männer, die sich im Netz erfolgreiche Kanäle aufgebaut haben, Pornografie und andere sündhafte Versuchungen verurteilen und von einem weißen christlichen Gottesstaat träumen."
Doch die weltpolitisch brisanteste Konstellation liegt in der Ausbreitung orthodoxer bzw. salafistischer Einflüsse des politisch-militanten Islams begründet, die neben Andersgläubigen insbesondere Menschen mit anderer Ausrichtung des islamischen Glaubens, also ebenfalls Muslime, zum Opfer ihrer Anschläge und Massenmorde werden lassen. Diese extremistischen Einflüsse sind bereits weltweit am Wirken und sind eindeutig gegen die Errungenschaften der Aufklärung wie die Emanzipation der Geschlechter, die Menschenrechte, die glaubensunabhängige Rechtsstaatlichkeit sowie gegen die Demokratie gerichtet. Das Negativszenario weltweiter Entwicklung muss von einer Aktivitätssteigerung dieser z.T. klandestinen, in voneinander getrennten Verzweigungen und Zellen operierenden islamistischen Extremisten im globalen Islam ausgehen, die auch pazifistische und auf Nächstenliebe basierende Strömungen des Islam, wie z.B. bestimmte Gruppierungen des Sufismus, zu verdrängen bzw. zu vernichten suchen.
Diese aggressiven salafistischen und terroristisch ausgerichteten Strömungen und Organisationen des politischen Islam streben einen weltweiten Gottesstaat und die Unterwerfung oder Vernichtung Anders- oder Nichtgläubiger an. Pluralismus im Sinne einer Toleranz in den Lebensentwürfen, Weltanschauungen und Politikkonzepten ist ihnen fremd. Sie stellen ihre religiöse Ideologie über die staatliche Gesetzgebung. Sie stehen moralisch auf einer vormittelalterlichen Stufe, besitzen aber moderne Technologien. Dies macht ihre Gefährlichkeit aus.
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Doch auch die Aktivitäten des radikalen Islam im Internet und in den sozialen Medien tragen dazu bei, dass sich einzelne islamistisch orientierte und oftmals auch psychisch gestörte Täter radikalisieren und in den westlichen Staaten Attentate z.B. in Form von Messerangriffen und Attacken mit Autos, die in Menschenmengen fahren, verüben.
Diese Tatsache ist nüchtern zu analysieren und darf nicht beschönigt oder verharmlost werden. Allerdings sollte die Bedrohung auch nicht übertrieben dargestellt werden, da dann rechtsextremistische Gruppierungen weltweit Auftrieb bekommen, sowie die Staaten ihre Sicherheitsmechanismen so verschärfen, dass hierdurch die demokratischen Freiheiten der Bürger unterdrückt werden. Beide Tendenzen sind bereits zum aktuellen Zeitpunkt zu beobachten: Bewaffnete Rechtsextremisten überfallen und morden Muslime, islamistische Terroristen verüben Anschläge. Die Staaten schränken die demokratischen Freiheiten zunehmend ein, so dass das, was sie vorgeben zu schützen – Freiheit und Demokratie – beeinträchtigt wird.
In dem vorliegenden Negativszenario ist jedoch davon auszugehen, dass rechtsextremistische Anschläge auf Muslime oder jüdische Mitbürger und islamistische Anschläge auf nicht-orthodoxe Muslime und Andersgläubige bzw. Nichtgläubige sich in einer gegenseitigen Gewaltspirale steigern und die Grundfesten demokratischer Gesellschaften erschüttern werden. Hier dürften auch die rechtsextremistischen und rassistisch motivierten Anschläge in Norwegen, in den USA, in Frankreich, in Deutschland und in Neuseeland, denen sowohl Muslime, jüdische Mitbürger als auch Befürworter einer multikulturellen Gesellschaft zum Opfer fielen, nur der Anfang einer – allerdings vermeidbaren – Entwicklung sein.
Es ist zu hoffen, dass dieses Negativszenario nicht eintreten wird. Dies kann nur durch eine über die UN und die transnationalen bzw. regionalen Sicherheitsbehörden weltpolizeilich gut koordinierte und konsequente strafrechtliche Verfolgung der Tätergruppen in einem weltweiten Kontext erfolgen. Auch muss den Tätern die Rekrutierungsbasis genommen werden, indem soziale, ökonomische, politische und ökologische Verhältnisse verhindert werden, bei denen religiöse Legitimationen für terroristische Taten auf einen fruchtbaren Boden fallen. Auch die Demokratisierung in einem lokalen, regionalen und globalen Zusammenhang und der erlebbare Nachweis der Vorteile dieser Demokratisierung für das menschliche Zusammenleben werden hier eine entscheidende Rolle spielen.
Auch hier wird wieder deutlich, dass das zu betrachtende Phänomen, religiös getarnter Terrorismus, nur durch eine Vielzahl zusammenwirkender Faktoren verständlich und auch nur in der Bearbeitung dieser verschiedenen Ebenen eine wirkungsvolle Lösung dieses Problems möglich wird.
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2.5 Zusammenbruch der Weltwirtschaft, Überbevölkerung und Hungerkatastrophen
Das zunächst hier vorzustellende ökonomische Negativszenario geht vom Ende des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs zugunsten einer Monopolisierung zentraler Branchen in der Hand von riesigen Wirtschaftskonzernen aus, die weltweit und im Zuge einer Verschmelzung von Industrie-, Banken- und Spekulationskapital ökonomisch aktiv sind. Hierbei wird jede relevante Branche von einigen wenigen Unternehmen oder sogar von einem einzelnen Konzern beherrscht.
Konzerne, wie z.B. Walmart, Nestlé, Goldman Sachs, Coke, VW, General Motors, AT&T, Cargill, Apple, Shell, Amazon, Google, Bayer, Unilever, Shell, Tesla und BlackRock, haben sich in diesem Negativszenario inzwischen endgültig durchgesetzt und behindern die marktwirtschaftliche Konkurrenz in ihren Branchen. Durch die Beherrschung der Branchen steigen in der Regel die Preise und sinkt die Qualität der Produkte. Die politischen Weichenstellungen hierfür werden u.a. durch gekaufte Politiker in Regierungsämtern vorgenommen. Eigene Medienabteilungen der Konzerne erzeugen das entsprechende Bewusstsein bei noch nicht käuflichen Politikern und den Wahlbürgern. Riesige Rechtsabteilungen der Konzerne wehren jegliche Klage erfolgreich ab. Das Sammel- und Verbandsklagerecht wurde in vielen Staaten abgeschafft oder gar nicht erst installiert. Über multilaterale Wirtschaftsverträge wurden das Klagerecht der Konzerne vor deren Interessen vertretenden Sondergerichten installiert. Das vertraglich vereinbarte Klagerecht der Konzerne wird von diesen bei von ihnen festgestellten Beeinträchtigungen ihrer Investitions- und Produktionstätigkeit, beispielsweise durch das Umweltrecht eines Staates, weltweit in Anspruch genommen. Die Welt ist in der Hand der Konzerne und noch vorhandene Demokratien sind in dieser Negativvision nur noch formal und als Verschleierung der tatsächlichen Verhältnisse vorhanden. Der demokratische Staat wird zur Fassade.
Doch auch dieses System ist nicht stabil: Der ökonomische Erfolg des privatwirtschaftlich produzierenden Bürgertums bzw. der Kapitalistenklasse legt – so die marxistisch orientierte Analyse – jedoch auch gleichzeitig massive ökonomische Krisen an, die durch die rasante technische Weiterentwicklung der Produktionsmittel in den dafür zu eng werdenden Produktionsverhältnissen eintreten. Der hochentwickelte Kapitalismus mit modernisierten Produktionsmitteln und konzentrierter Wirtschaftsmacht ist in der Lage, mehr zu produzieren, als dies in Form von Waren und Dienstleistungen verwertbar, also für Menschen bezahlbar, abgesetzt werden kann. Hierdurch entstehen Handels- und Absatzkrisen. Marx/Engels analysieren nun die weitere Krisen auslösende ökonomische Kettenreaktion:
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„Die bürgerlichen Verhältnisse sind zu eng geworden, um den von ihnen erzeugten Reichtum zu fassen. – Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen? Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkräften; andererseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung der alten Märkte. Wodurch also? Dadurch, daß sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert.“ [6]
Weltökonomie als globale Finanzspekulation anonymer Akteure
Finanzspekulationen mit börsennotierten Wertpapieren, Hypothekenverbriefungen bis hin zu hochdotierten Risikowetten auf politische und ökonomische Entwicklungen werden bereits jetzt in einem gigantischen Ausmaß vorgenommen. Da der Profit mit der Produktion von Waren und der Erstellung von Dienstleistungen – Ausnahmen bilden hier die Geschäfte mit Drogen, Rüstungsgütern und digitalen Produkten wie z.B. ‚War Games‘ – begrenzt ist, wendet sich das internationale Finanzkapital zunehmend der Finanzspekulation in den unterschiedlichsten Formen zu. Anstatt dass Banken in die reale Wertschöpfung investieren und z.B. kleinere oder mittelständige Betriebe mit den notwendigen Krediten versorgen, spekulieren sie eher mit dem Geld ihrer Anleger und dem Eigenkapital, da sie sich hiervon wesentlich höhere und schnellere Kredite versprechen.
Bereits jetzt entwickelt das spekulative Kapital, das digital um die Erde herum bewegt wird, ein Vielfaches vom Volumen des in die reale Wertschöpfung investierten Kapitals.
Diese Tendenz wird sich in dem möglicherweise eintretenden Negativszenario noch verstärken und wird durch das Entstehen und die Verwendung digitaler Währungen bzw. Kryptowährungen, wie z.B. Bitcoin, Litecoin oder Ether, noch unübersichtlicher, als dies gegenwärtig bereits der Fall ist. Digitale Währungen werden hierbei aufgrund der Verwendung von Pseudonamen und gestohlene Identitäten vermehrt für Geldwäsche in Bezug auf Drogengeschäfte oder Schutzgelderpressung oder illegale Rüstungsgeschäfte eingesetzt werden.
Hinzu kommt, dass durch Kryptowährungen sich der staatliche Einfluss auf die Währungspolitik verringert, beispielsweise hierüber auch die Konjunkturlenkung erschwert wird.
Die Finanzspekulation stellt die postmoderne Variante des ‚Fäulnischarakters‘ des Spätkapitalismus dar. Es entstehen hierbei regelmäßig ‚Spekulationsblasen‘, die durch nichts abgesichert sind. Wenn sie platzen, greift dies aufgrund der überschneidenden Beteiligung der Akteure auf die Realwirtschaft über, zieht dies gesellschaftliche Ordnungen zerstörende Destruktion nach sich. [7]
Das hier zu entwickelnde Negativszenario für die globalisierte Wirtschaft geht davon aus, dass die von Finanzspekulation ausgelösten Krisen immer gewaltiger werden und auch immer größere Verwerfungen in der Realwirtschaft nach sich ziehen. Gelingt es der Weltgemeinschaft nicht, die globale Finanzspekulation einzudämmen, wird das ökonomische System des Weltkapitalismus noch weniger regulierbar sein, als es dies bereits schon ist. Die Gesellschaften werden der Finanzspekulation anonymer Mächte überlassen, deren einziges Anliegen der eigene Profit ist.
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Kapitalismus, soziale Ungleichheit und Welthunger
Obwohl also eine ungeheure Produktivität im hochentwickelten Kapitalismus vorhanden ist, reichen die verfügbaren Ressourcen nicht aus, um die wachsende Weltbevölkerung zu ernähren. Der Menschenrechtler Jean Ziegler (2015, 50) führt die Tatsache, dass nach Schätzungen der Weltbank derzeit ungefähr eine Milliarde Menschen von weniger als 1.25 Dollar pro Tag, also in extremer Armut leben, auf die hegemoniale Eigenart des Kapitalismus zurück, auf seinen kannibalischen Charakter:
„Das durch Unterernährung und Hunger verursachte Massaker an Millionen Menschen ist heute, zu Beginn des dritten Jahrtausends, ein skandalöser Ausdruck des Kampfs der Reichen gegen die Armen, eine Ungeheuerlichkeit, eine Absurdität, die durch nichts zu rechtfertigen und durch keine Politik zu legitimieren ist. Es ist unzählige Male wiederholtes Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Heute stirbt alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren an Hunger oder einer durch Unterernährung verursachten Krankheit. Im Jahr 2014 starben mehr Menschen durch Hunger als in sämtlichen Kriegen, die in diesem Jahr geführt wurden.“
Die Studien der NGO Oxfam machen deutlich, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander geht. In einer 2018 veröffentlichten Studie fasst Oxfam die erhobenen Daten zusammen [8]:
„Weltweit leben sieben von zehn Menschen in einem Land, in dem die Einkommensungleichheit zugenommen hat. Die Vermögensungleichheit hat sich auf globaler Ebene drastisch verschärft, wie Oxfam gezeigt hat: Das reichste Prozent der Weltbevölkerung besitzt mehr Vermögen als die unteren 99 Prozent zusammen. Im Jahr 2002 lag der Anteil am Gesamtvermögen des reichsten Prozents noch bei 43 Prozent. (…)
Für die Analysen zu globaler Ungleichheit nutzt Oxfam die Zahlen des Weltvermögensberichts der Schweizer Großbank Credit Suisse und die jährliche Aufstellung der Milliardäre der Welt von Forbes. Diese zeigen einen ungebrochenen Trend der wachsenden globalen Vermögenskonzentration. Nach den aktuellsten Informationen verfügten im Jahr 2017 nur 42 Personen über den gleichen Reichtum wie die ärmsten 3,7 Milliarden Menschen auf der Welt.“
OXFAM (2025a) fast die zunehmende Entwicklung von sozialer Ungleichheit und sogar deren Beschleunigung zusammen:
"2024 gab es weltweit 204 neue Milliardär*innen. Das entspricht im Durchschnitt fast vier neuen Milliardär*innen pro Woche. Weltweit gibt es 2.769 Milliardär*innen.
- Das Gesamtvermögen von Milliardär*innen weltweit ist 2024 von 13 Billionen US-Dollar auf 15 Billionen US-Dollar gestiegen. Das entspricht rund 5,7 Milliarden US-Dollar pro Tag. Damit wuchs das Gesamtvermögen der Milliardär*innen weltweit 2024 dreimal schneller als 2023.
- Bei den reichsten 10 Milliardären wuchs das Vermögen im Durchschnitt um 100 Millionen US-Dollar pro Tag. Selbst wenn sie über Nacht 99 Prozent ihres Vermögens verlieren würden, blieben sie Milliardäre.
- In Deutschland ist 2024 die Gesamtzahl der Milliardär*innen um neun auf 130 gestiegen. Deutschland hat die viertmeisten Milliardär*innen weltweit.
- Das Gesamtvermögen aller deutschen Milliardär*innen stieg 2024 um 26,8 Milliarden US-Dollar auf 625,4 Milliarden US-Dollar. Das sind 73 Millionen US-Dollar pro Tag.
- Oxfam hat errechnet, dass 36 Prozent des Gesamtvermögens von Milliardär*innen aus Erbschaften stammt. In Deutschland sind es sogar 71 Prozent.
- Während Superreiche immer reicher werden, ist die Zahl der Menschen, die unter der erweiterten Armutsgrenze der Weltbank von 6,85 US-Dollar pro Tag leben, seit 1990 unverändert geblieben und beträgt fast 3,6 Milliarden.
- Für viele Familien bedeutet Armut Hunger. Heute müssen weltweit 733 Millionen Menschen hungern – etwa 152 Millionen mehr als 2019.
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- Der neue Oxfam-Ungleichheitsbericht zeigt zudem, wie Superreichtum und soziale Ungleichheit auf die Geschichte des Kolonialismus zurückzuführen sind. Die wirtschaftlich starken Länder im Globalen Norden bestimmen weiterhin die Regeln, von denen Superreiche und ihre Konzerne profitieren. Sie dominieren Institutionen wie IWF oder Weltbank sowie die Finanzmärkte. Zwischen 1970 und 2023 zahlten die Regierungen des Globalen Südens 3,3 Billionen US-Dollar Zinsen an die Gläubiger im Globalen Norden."
Der 2025 geschäftsführende Vorstandsvorsitzende von Oxfam Deutschland, Serap Altinisik, ordnet dies wie folgt ein:
„Pro Woche gibt es vier neue Milliardär*innen. Gleichzeitig ist die Zahl hungernder Menschen in den vergangenen fünf Jahren auf 733 Millionen gestiegen. Der Vermögenszuwachs der Superreichen ist grenzenlos, während es bei der Bekämpfung der Armut kaum Fortschritte gibt und zum Beispiel Deutschland die Unterstützung einkommensschwacher Länder sogar kürzt. Der Abgrund der Ungleichheit reißt immer weiter auf, auch mit Folgen für unsere Demokratie. Denn Reichtum geht Hand in Hand mit politischer Macht. Das sehen wir heute bei der Amtseinführung des US-Präsidenten Donald Trump: ein milliardenschwerer Präsident unterstützt vom reichsten Mann der Welt, Elon Musk.” (OXFAM 2025a)
Es gibt bisher keine Hinweise darauf, dass sich diese ungleiche Vermögensverteilung umkehren wird, so dass anzunehmen ist, dass in Zukunft die soziale Ungleichheit in dieser Hinsicht weiterwachsen wird. Auch wenn die extreme Armut in den letzten Jahrzehnten etwas zurückgegangen ist, leben noch zu viele Menschen am Rande des Hungertodes und ist es nicht hinnehmbar, dass noch einmal besonders von der sozialen Ungerechtigkeit Frauen und Kinder in den Ländern des ärmeren Südens betroffen sind, die – wenn sie überhaupt Arbeit haben – unter schlechteren Bedingungen mit ungenügender Bezahlung als Männer arbeiten müssen.
Oxfam sieht die Ursache sozialer Ungleichheit in einem unsolidarischen Wirtschaftssystem, in der Gier und dem Bereicherungswillen der kleinen Schicht transnationaler Reicher:
„Die strukturellen Ursachen für die wachsende Ungleichheit sind weltweit ähnlich: Unser Wirtschaftssystem stellt die Profitinteressen einer kleinen Gruppe über das Wohl der großen Mehrheit. Das zeigt sich insbesondere an der Fixierung auf Aktiengewinne, an Steuervermeidung, einer überzogenen Sparpolitik und Privatisierungen, sowie in der Beschränkung der Rechte von Zivilgesellschaft und Arbeiter/innen. Die Fixierung auf kurzfristige Gewinne und Dividendenausschüttungen hat in den Konzernzentralen stark zugenommen. In Großbritannien wurden in den 1970er Jahren 10 Prozent der Unternehmensgewinne an Aktionär/innen weitergereicht, heute sind es 70 Prozent. Weltweit wurden im Jahr 2015 allein 1,2 Billionen Dollar an Dividenden ausgeschüttet.“ [9]
Hierbei wäre es durchaus möglich, fast die doppelte Zahl der gegenwärtigen Weltbevölkerung zu ernähren, wenn man nicht Millionen Tonnen Mais und Weizen zu Biotreibstoffen verbrennen, die Fleischwirtschaft bevorzugen, Bodenspekulation betreiben, und aus Feldern Weiden machen würde, sowie Nahrungsmittel, die sich nicht verkaufen lassen, vernichten würde – so Jean Ziegler (2015, 52):
„Aus dem alljährlichen Bericht zur Ernährungsunsicherheit der Welternährungsorganisation geht hervor, dass die Landwirtschaft weltweit mit dem erreichten Niveau ihrer Produktivkräfte normalerweise – durch die Zufuhr von 2200 Kilokalorien täglich für einen Erwachsenen – 12 Milliarden Menschen ernähren könnte, fast das Doppelte der gegenwärtigen Weltbevölkerung. Das durch den Hunger verursachte Massaker an Millionen Menschen hängt deshalb heute deshalb nicht damit zusammen, dass zu wenig Nahrungsmittel produziert werden, sondern mit dem Zugang zu den Nahrungsmitteln. Wer genug Geld hat, kann essen und leben; wer nicht genug Geld hat, leidet an Unterernährung, den Krankheiten, die eine Folge davon sind, und an Hunger. Ein Kind, das heute an Hunger stirbt, wird ermordet.“
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Wird diese Entwicklung nicht gebremst, sind die Folgen für die Zukunft absehbar: Die Menschen in den ländlichen Regionen werden über das ‚Land Grabbing‘ zunehmend enteignet, von ihren Grundstücken vertrieben und landen dann in den Slums der Großstädte, wo sie eine ungesicherte Existenz, Massenarbeitslosigkeit, unhygienische Bedingungen und Krankheiten, Kriminalität und Kinderprostitution erwarten.[10] Gleichzeitig müssen sich die Reichen in mit Mauern und Wachen geschützten Arealen isolieren, in eingegrenzte, bewachte Bereiche, die überall auf der Welt ähnlich aussehen. Extreme strukturelle Heterogenität als Zukunftsvision – unabänderlich?
Globales Bevölkerungswachstum und wachsender ökologischer Fußabdruck
Eine größere Studie des Club of Rome (v. Weizsäcker/Wijkman u.a. 2017) zur Überbevölkerung kommt zur Einschätzung, dass die Erde voll sei. Die Bevölkerung der Erde werde sich bis zum Jahre 2050 auf ca. 10 Milliarden vermehren [11] und damit eine an Nachhaltigkeit orientierte Entwicklung auf der Erde erschweren. Die Folgen werden weitere Klimaveränderungen, gewalttätige Konflikte und Fluchtbewegungen in andere Regionen der Erde sein.
Der Anteil der städtischen Bevölkerung an der Weltbevölkerung steige beständig. Zwischen 1900 und 2017 sei die Weltbevölkerung um das Fünffache gestiegen, gleichzeitig aber habe sich die urbane Bevölkerung um das 18-fache erhöht. Im Jahr 2030 werden fünf Milliarden Menschen in Städten und Vororten leben. Aber der ökologische Fußabdruck von Städten ist ungleich größer als die Belastung der Umwelt von Menschen, die auf dem Lande leben. Der Club of Rome geht von einer vierfach höheren ökologischen Belastung aus. [12]
Eine OXFAM-Studie macht deutlich, dass insbesondere reiche Menschen einen extrem hohen ökologischen Fußabdruck haben:
Der Bericht von OXFAM (2025b) " 'Die tödlichen Folgen der Klimakrise' schlüsselt die Konsequenzen der Emissionen von deutschen Superreichen auf und berechnet die massiven wirtschaftlichen Schäden, Ernteausfälle und zusätzlichen hitzebedingten Todesfälle. Die Superreichen sind durch ihren Luxus-Konsum und Investitionen für unverhältnismäßig viele Treibhausgase verantwortlich und eskalieren damit die Klimakrise."
Da CO2-Steuern diesen Menschen aufgrund ihres Reichtums nichts anhaben können, ist zu erwarten, dass der ökologische Fußabdruck der Reichen sich zukünftig noch vergrößern wird.
Der gewalttätig ausgetragene Kampf um Rohstoffe, Trinkwasser, Grundnahrungsmitteln und Energie wird sich zukünftig drastisch verschärfen, wenn hier nicht umgesteuert wird. Auch werden immer mehr Menschen versuchen aus den verarmten und ökologisch verwüsteten Gebieten der Welt in hiervon noch verschonte Regionen der Welt zu fliehen. Die Gegenreaktionen, d.h. die Maßnahmen zur Verteidigung der Einheimischen-Rechte, sind absehbar und aktuell bereits vielerorts feststellbar.
Flüchtlings-Camps von aus Venezuela geflüchteten Menschen werden in Brasilien von Einheimischen angegriffen. Im Mittelmeer lassen die europäischen Staaten Flüchtlinge im Meer ertrinken, um weitere Flüchtlinge abzuschrecken. In Libyen werden Flüchtlinge unter menschenunwürdigen Bedingungen in Lagern gehalten, sie werden z.T. als Arbeitssklaven verkauft oder zur Prostitution gezwungen. In Australien werden Flüchtlinge abgefangen und auf im Pazifik vorgelagerte und weit entfernte Inseln verbracht und dort unter Bewachung einkaserniert. In den USA wurden die Kinder von ihren Eltern bei mexikanischen Flüchtlingsfamilien getrennt und separiert eingesperrt. Dies sind nur einige Beispiele bzw. die Vorboten von Verhältnissen, bei denen es im Falle der Zunahme weltweiter Krisen zu sich multiplizierenden Flüchtlingsbewegungen kommen wird.
Gleichzeitig zu dem wachsenden Migrationsdruck ist die Zuname rechtsextremer Einstellungen und die wachsende Anzahl autoritärer Regierungen zu erwarten, die vor allem Einheimischenvorrechte zu schützen suchen und hinsichtlich fliehender und Schutz suchender Menschen eine gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit entwickeln.
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Anmerkungen Kapitel 2.3-2.5
[1] Adam (1995,78).
[2] Zartman (1995, 8).
[3] Vgl. die für humane Interventionen plädierenden Argumentationen bei Mills (2002), Walzer (2002) und Ignatieff (2002).
[4] Walzer (2002, 31).
[5] BDS = Boycott, Divestment and Sanctions: von palästinensischen Aktivisten und u.a. sogar einigen israelischen Oppositionellen ausgehende internationale Bewegung, die sich gegen die Unterdrückung der Palästinenser durch den israelischen Staat und insbesondere die Besiedlung des Westjordanlandes wendet. Hier wird der israelischen Regierung Apartheid und Kolonialismus gegenüber der palästinensischen Bevölkerung vorgeworfen. Die BDS-Bewegung ist politisch umstritten, wird z.B. vom Deutschen Bundestag als antisemitisch verurteilt und von der Regierung Israels in die Nähe terroristischer Aktivitäten gerückt. Hiergegen wehrt sich die Bewegung allerdings, weist den Antisemitismus-Vorwurf von sich und betont ihren legitimen zivilgesellschaftlichen Charakter (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Boycott,_Divestment
_and_Sanctions, 1.12.2019, 1.12.2019).
[6] Marx/Engels (1848/1983), 31.
[7] Vgl. hierzu z.B. Altvater (2006), Wagenknecht (2008), Scherrer/Dürmeier/Overwien (Hrsg.) (2011) sowie Scherrer (2015).
[8] Oxfam Deutschland (2018, 4).
[9] Oxfam Deutschland (2018, 6).[
10] Vgl. Ziegler (2015, 53)
[11] von Weizsäcker/Wijkman u.a. (2017, 68)
[12] von Weizsäcker/Wijkman u.a. (2017, 73 ff).
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2.6 Cyber-Kriege
Möglicherweise war nach den US-Wahlen im Jahr 2017 erstmals in der Menschheitsgeschichte ein Präsident u.a. aufgrund einer Cyber-Attacke an die Macht gekommen, die über die sozialen Netzwerke durchgeführt wurde. Die entsprechende Untersuchung führte zu Ergebnissen, die allerdings von der hierdurch gewählten Regierung bestritten wurden.
Das gleiche Bild zeichnete sich beim Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union ab. Die für den ‚Brexit‘ notwendige Abstimmung wurde ebenfalls durch gezielte Falschmeldungen in den sozialen Netzwerken manipuliert. Weitere Eingriffe in Form gezielter Desinformationen und auch Wahlwerbung ausländischer Mächte gab es auch bei späteren Wahlen, z.B. in Rumänien 2024 und zur deutschen Bundestagswahl 2025.
Eine neuere Form kriegerischer Aggressivität zeigt sich in Cyber-Attacken, deren gravierende Folgen nicht zu unterschätzen sind und die möglicherweise die dominante Kriegsform der Zukunft sein können. Das Hacken von digitalen Netzen, der Verkehrsüberwachung, der Stromversorgung, der Atomtechnologie oder der Wasserversorgung sowie der Netze der Militärtechnologie kann schwerwiegende Folgen vom Stromausfall in Krankenhäusern, über den Zusammenbruch des privaten und öffentlichen Verkehrs bis hin zu manipulierten militärischen Angriffen und Raketenstarts haben.
Digitale Kriminalität in großem Umfang, wie das Abgreifen von Nutzerdaten aus sozialen Netzwerken oder die digitale Manipulation von Wahlen und Abstimmungen, wie z.B. beim ‚Brexit‘, ist bereits eingetreten und ist nur schwer zu verhindern.
Moegling/Bläsius (2024) warnen daher eindringlich vor der Gefahr der Manipulation digitaler Medien im Zusammenhang mit Künstlicher Intelligenz (KI):
„Mit Hilfe von Techniken von „deepfake“ und Systemen der generativen KI können massenhaft Texte, Bilder und Videos erzeugt werden, die vermeintliche Tatsachen vermitteln. Mit solchen Desinformationen können Menschen manipuliert und Gesellschaften destabilisiert werden. Wenn immer mehr Medieninhalte automatisch erzeugt werden, ohne Möglichkeit den Wahrheitsgehalt zu prüfen, wird politisches Handeln in demokratischen Staaten immer schwieriger. Chaos mit sozialen Verwerfungen, Aufständen und eventuell Bürgerkriege könnten die Folge sein.“
Die Kombination von Cyber-Spionage mit konventionellen militärischen Attacken wird vor allem aggressive Nationen interessieren, um einerseits sensible Daten aus den Verteidigungs- und Sicherheitsbereich einer Nation auszuspähen und andererseits im Falle eines militärischen Übergriffs die Infrastruktur des jeweiligen Landes herunterfahren zu können.
Hierbei handelt es sich nicht um spontane Hacker-Angriffe eines Landes, sondern um langfristig angelegte Hacker-Attacken qualifizierter und von einem aggressiven Staat subventionierter Hacker-Gruppen.
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„So funktioniert ‚Snake‘ Die russische Cyber-Spionagegruppe ‚Snake‘ (Schlange) ist schon seit 2005 aktiv. Nach einer Analyse des Antivirus-Spezialisten Kaspersky handelt es sich um eine der komplexesten laufenden Cyberspionage-Kampagnen. ‚Snake‘ habe vor allem Regierungsbehörden (Innen-, Wirtschafts-, und Außenministerium, Geheimdienste) im Visier, aber auch Botschaften, Militäreinrichtungen, Forschungs- und Bildungsorganisationen sowie Pharmazieunternehmen. Bei ihren Angriffen versuchen die Hacker, ihre Opfer durch sogenannte Watering-Hole-Attacken zu infizieren. Dazu spähen die Spione zunächst Webseiten aus, die von den Opfern potenziell von Interesse sind. Mit gefälschten E-Mails werden dann die Opfer auf einen manipulierten Webserver umgeleitet, der dem Original zum verwechseln ähnlich sieht. Auf diesem Weg werden dann beim Opfer die Rechner infiziert. Somit können auch Keylogger installiert werden, die jede Tastatureingabe aufzeichnen und an die Angreifer weiterleiten.“ [1]
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Ein Beispiel für den Beginn von Cyber-Kriegen war der Angriff auf die Netze des Bundes, die im Frühjahr 2018 öffentlich wurden, bei denen sensible Daten aus dem Sicherheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland über sehr komplexe Schadstoffsoftware hochprofessioneller Angreifer entnommen wurden. [2]
Cyber-Angriffe sind Bestandteil einer hybriden Kriegsführung, bei der Propaganda im Internet, das gezielte Einsetzen von Fake-News und Desinformationskampagnen und oft auch Drohungen zunächst mit destabilisierenden Hacker-Angriffen auf die Infrastruktur eines Landes bzw. einer Region und dann im negativsten Fall mit militärischem Eingreifen kombiniert werden.
Der Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 und im weiteren Kriegsverlauf war ebenfalls von zahlreichen Cyber-Attacken im Sinne hybrider Kriegsführung begleitet, um die ukrainische Infrastruktur, wie die Energieversorgung und die ukrainische IT, sowie die militärische Kommunikation zu stören.
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Künstliche Intelligenz und Cyber-War
Diese bisherigen Vorstellungen eines Cyber-Wars beruhten auf bewussten menschlichen Eingriffen in das internationale System, berücksichtigen allerdings noch nicht die Möglichkeit von Software in Computersystemen, die sich im Zuge entwickelnder künstlicher Intelligenz selbstständig macht. Was ist, wenn die hektische Aktivität im Bereich der Erforschung und Installierung künstlicher Intelligenz von Google, Amazon, Facebook, Apple und Co. dazu führt, dass diese sich in digitale Netze einmischt und hinsichtlich militärischer Angriffe und entsprechender Abwehrreaktionen aktiv wird? Ist dies völlig ausgeschlossen und szenarischer Unsinn?
Der Informatik-Professor und KI-Experte Karl H. Bläsius (2024) bestätigt, dass die hier angesprochenen gefährlichen Zukunftstendenzen durchaus realistische Bedrohungen sind:
"Atomwaffen können auch als Abschreckung gegen andere Bedrohungen wirken. Militärstrategien sehen dies teilweise auch vor, z.B. als Vergeltung für schwerwiegende Cyberangriffe. Eine solche nukleare Abschreckung könnte aber nur wirken gegen andere Staaten. Dies würde nichts nutzen bei Risiken die von Systemen wie ChatGPT ausgehen. Eine nukleare Abschreckung wirkt auch nicht gegen Terroristen oder sonstige Gruppen, die z.B. mit Hilfe von KI (ChatGPT oder ähnlichem) schwerwiegende Cyberangriffe ausführen. Auch kann eine solche nukleare Abschreckung nicht davor schützen, dass Systeme wie ChatGPT außer Kontrolle geraten, selbst aktiv werden und eventuell eine Internetdominanz erreichen, mit weltweitem Chaos. Im Gegenteil: In solchen Situationen ist das Risiko groß, dass Atomwaffen zum Einsatz kommen, ohne dass solche Waffensysteme dann noch von abschreckender Schutzwirkung hätten."
Der Neurobiologe und Physiker Christoph v. d. Malsburg, der ansonsten ein eher nüchternes Verhältnis zu Utopien künstlicher Intelligenz aufweist, stellt fest:
„Ich denke trotzdem, man muss die Gefahr der künstlichen Intelligenz sehr ernst nehmen, das ist schlimmer für die Menschheit als die Atombombe.“ [3]
Auch ein solcher Vorgang dürfte, wenn er denn eintritt, eher schleichend und zunächst wenig bemerkt passieren. Gefährlich wird es vor allem dann, wenn sich die für militärische Kontrollzwecke eingesetzte Software selbstständig macht und eigene Initiativen in militärischer Hinsicht entwickelt, z.B. den Abschuss gegnerischer Atomwaffen gegen das eigene Staatsgebiet fälschlicherweise dokumentiert.
Wie ausgeschlossen ist eine derartige Entwicklung in einem solchen Szenario?
Der Informationswissenschaftler Werner Meixner ist der Auffassung, dass es einen grundlegenden Gegensatz zwischen der weltweit vernetzten Anlage von ‚Big Data‘ und einem gelingenden Sicherheitskonzept für vernetzte Rechner gibt, der zu einer nicht beherrschbaren Gefährdung der Menschheit wird:
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„Zur tödlichen Gefahr wird die Vernetzung allerdings dann, wenn ein Baustein der Autonomisierung von kriegerischen Angriffen aus dem Internet heraus agiert, weil Algorithmen befehlen, eine mutmaßliche Gefahr abzuwenden. Das mag nach Science-Fiction klingen, dieser Baustein wird jedoch bereits entwickelt. (…) Er ermöglicht den autonomen präventiven Cyberkrieg und ist notwendig, weil die Reaktionszeiten zu kurz sind, als dass man einen menschlichen Entscheidungsprozess vorschalten könnte. Verantwortungsbewusste Hacker und Whistleblower haben gezeigt, was wir befürchten müssen. Eine schnell wachsende Internetkriminalität zeichnet sich ab. Atomanlagen, Energieversorgung, Wasserversorgung, Krankenhäuser, Öffentlicher Verkehr, Behörden sind von Anschlägen und Spionage bedroht. Die Existenz jedes Einzelnen ist in Gefahr, zerstört zu werden. Wegen der bereits bestehenden Risikolage müssen sofort alle kritischen Anlagen vom Internet genommen werden. Universitäten müssen Alarm schlagen. Politisch ist zu fragen, ob Amtseide verletzt werden. Die weltweite Vernetzung der „Welt der Dinge“ mit zentraler Datenverarbeitung ist eine gefährliche Fehlentwicklung. Sie bedeutet den Verlust der Souveränität aller Nationalstaaten, weil die Nationalstaaten ihre Sicherheit nicht mehr selbst gewährleisten können. Zwangsläufig entsteht ein zentraler Überwachungsstaat, weil man sich von diesem allein noch Sicherheit erhofft. Aber selbst der Zentralstaat kann die erhoffte Sicherheit nicht bieten und wird nach und nach alle Freiheiten seiner Bürger abschaffen, weil nicht mehr klar ist, wer der Feind in einem Cyberkrieg ist. Warum sollten die Völker zulassen, dass mit den Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen auf den Roulettetischen von Forschung und Entwicklung gespielt wird?“ [4]
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2.7 Digitale Imperien und die mediale Transformation des Humanen
Marx/Engels sahen bereits Mitte des 19. Jahrhunderts die permanente Notwendigkeit für die Eigentümer der Fabriken und Dienstleistungsunternehmen, die technischen, organisatorischen, rechtlichen und politischen Möglichkeiten weiter zu entwickeln, um in der regionalen und globalen Konkurrenz bestehen zu können:
„Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftliche Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. (…) Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeois-Epoche aus.“ [5]
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Die Ausmaße zukünftiger Digitalisierung stellen eine dieser von Marx/Engels beschriebenen Revolutionierungen der gesellschaftlichen Verhältnisse dar, deren Reichweite wohl noch immer unterschätzt wird. Die Digitalisierung der Gesellschaft kann im Rahmen eines Negativszenarios vor allem den Menschen als arbeitendes Wesen überflüssig machen sowie ihn der digitalen Kontrolle der Herrschenden überlassen. Die digitale Transformation von Arbeitsprozessen setzt den Menschen aus Arbeitsprozessen frei, ist aber darauf angewiesen, ihn digital zu kontrollieren, damit er nicht gegen dieses System rebelliert.
Die totale digitale Transparenz: Google kennt uns besser.
Die digitale Revolution ist im vorliegenden Negativszenario eine Form der gesellschaftlichen Transformation, deren Triebfeder die ungehemmte Gier im Kapitalismus nach immer größeren Profiten auf Kosten des Humanen ist.
Negativszenarien eines übermächtigen digitalen Zeitalters bzw. digitaler Hegemonie im Interesse hierauf ausgerichteter Ökonomien und politischer Herrschaftsverhältnisse in der utopischen Literatur sind z.T. bereits von der gesellschaftlichen Wirklichkeit eingeholt bzw. überholt worden. Die Bedrohung der Humanität, also des menschlichen Kerns, über die digitale Koppelung und Beherrschung der Individuen zu einem human-digitalen Zwidderwesen, einem Cyborg, ist zunehmend erkennbar. Ein aus digitalen Uhren, Smartphones, Alexa und Siri, Chip-Implantaten unter der Haut, digital vernetzten audiovisuellen Systemen und humaner Substanz bestehendes symbiotisches Lebensverhältnis führt zum Verlust der Subjektivität. Totale digitale Transparenz ermöglicht die Vernichtung individueller Freiheitsspielräume, jeglicher Privatsphäre und auch die Möglichkeit zum systematischen Zweifeln und praktizierter Mündigkeit und Kritikfähigkeit. Der ‚antiquierte Mensch‘, also ein Mensch, der an den Zielen der Aufklärung festhält, wird zum zu verfolgenden Gegenbild einer digitalen Modernisierung, die aufgeklärte Antiquiertheit ausgrenzen und vernichten will.[6]
Der Mensch ist nicht mehr in der Lage, mit seinen technischen Erfindungen Schritt zu halten, überblickt nicht mehr, welche Konsequenzen die digitale Überwachung der Subjekte in den individuellen, sozialen und gesellschaftspolitischen Bezügen hat. Günther Anders (1956) fokussierte vor allem die atomare Bedrohung und die hierauf bezogene planetare Apokalypse. Zu diesem Bedrohungsszenario tritt nun die digitale Apokalypse hinzu, über die Verschmelzung des Humanen mit dem Digitalen, bis hin zur zunehmenden Beherrschung des Menschen durch künstliche Intelligenz.
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Der deutsche Informatiker und engagierte Vertreter einer wissenschaftlichen Ethik, Werner Meixner, warnt vor einer bereits eingetretenen und sich in Zukunft weiter verstärkenden Entwicklung in Zeiten der gesetzlich beschlossenen Staatstrojaner, der kontrollierenden Apps sowie der in Smartphones, Tablets und anderen PC’s bereits bei der Produktion eingebauten Sicherheitslücken, welche die humane Privatsphäre gefährden bzw. vernichten:
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"Unsere Privatsphäre ist massiv gefährdet, und es gibt allen Grund, sich mit den Ursachen und Urhebern der Gefährdung zu beschäftigen. Marc Rotenberg hat in einem Artikel für den Nachrichtensender CNN die Eingriffe in die Privatsphäre durch die Internetfirma Google als ‚eine der größten Gesetzesübertretungen der Geschichte‘ bezeichnet. (…) Rotenberg war Präsident des Electronic Privacy Information Center (EPIC), eines unabhängigen gemeinnützigen Forschungszentrums in Washington, D.C., das auf den Schutz der bürgerlichen Grundrechte achtet. Und Google Chef Eric Schmidt prahlt, dass Google uns besser kennen würde als wir uns selbst (…). Man fragt sich, ob es noch eines weiteren Beweises bedarf, dass unsere Privatsphäre gefährdet ist. Übrigens sind sowohl Datendiebstahl als auch staatliche Überwachung für die Betroffenen weitgehend unsichtbare Vorgänge. Es findet ein Umbruch statt. Schritt für Schritt wird das Grundgesetz geändert oder unwirksam gemacht. Die wesentlichen gesellschaftlichen Entscheidungsprozesse werden dem Parlament entzogen und in undemokratische Außengremien verlagert. Die Mündigkeit der Bürger wird systematisch untergraben, indem man nicht mehr parlamentarisch offen diskutiert (…). Der Umbruch, von dem wir hier reden, ist nichts Geringeres als der Angriff auf die verfassungsrechtlich verbrieften Grundlagen unseres Staates." [7]
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Die Individuen dürfen die Kosten dieser digitalen Beherrschung zum großen Teil selbst finanzieren, da ihnen das digitale Zeitalter und die entsprechenden Medien über manipulative Werbestrategien sowie bereits im Kindesalter über Computerspiele schmackhaft gemacht werden.
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Der Mensch zwischen Algorithmen und Werten
So gesehen ist auch das digitale Zeitalter mit gigantischen Renditen für die sich zunehmend ausbreitende und gleichzeitig in riesigen Medienkonzernen konzentrierende digitale Wirtschaft versehen, die das neue Menschenbild und das digitale Verständnis des Modernen in das Denken und Fühlen der Menschen propagandistisch und manipulativ zu implementieren versucht. Ähnlich wie früher Religionen bereits im frühen Kindesalter manipulativen Zugang zum Menschen suchten, werden bereits Kleinkinder an die Displays digitaler Medien gewöhnt und Schritt für Schritt in einen digital-menschlichen Cyborg überführt. Das zunehmende Betreten virtueller Welten (,Virtual Reality‘) auch von Kindern und Jugendlichen mit Hilfe von VR-Brillen durchmischt die reale Wirklichkeit mit der virtuellen Welt ohne die Sicherheit, dass noch Beides auseinander gehalten werden kann bzw. ohne das Wissen, wie es sich gegenseitig beeinflusst. Das Zeitalter der digitalen Hybrid-Menschen ist eingeleitet.
Wenn das ‚Metaverse‘ von Facebook sich durchsetzt, ist davon auszugehen, dass die virtuelle Welt so an Bedeutung gewinnt, dass die reale Welt an Wertigkeit verliert. Dann werden auch gesellschaftliche Krisen und Katastrophen in der realen Welt aus der Sicht der Spielsüchtigen ihre Bedrohlichkeit verlieren – ist doch die Flucht in virtuelle Welten möglich, in denen in Echtzeit dank 5G und Blockchain gelebt werden kann.
Im Zuge der Durchsetzung digitaler Zugriffe ist das Verhältnis zwischen künstlicher Intelligenz und der Eigenart des Humanen zu klären und inwieweit, die künstliche Intelligenz auch in Zukunft noch beherrschbar ist. Entscheidend wird sein, wann die Politik auf diese Problematik aufmerksam wird, ob sie dies unterstützt oder sich widerständig zeigt und ob sie verbindliche ethische Richtlinien zur Entwicklung künstlicher Intelligenz in Kooperation mit den beteiligten Wissenschaftlern_innen entwickelt.
Die Voraussetzung hierfür ist, dass ein Diskurs stattfindet, was den Menschen eigentlich ausmacht. Ist es Liebesfähigkeit, Fähigkeit zu verstehen oder Einfühlungsvermögen, ethisch geleitete Kritikfähigkeit? Sind dies die Eigenschaften, die den Menschen von den intelligenten Maschinen unterscheiden? Genauso muss gefragt werden, was die technologisch möglichen Reichweiten künstlicher Intelligenz sind, und welche Gefährdungen für den Fortbestand der Menschheit hierin zu sehen sind – so Ulrich Schnabel (2018, 39):
„Ob all die Fähigkeiten des Homo sapiens – Liebe, Empathie, Kunst, Fehleranfälligkeit, Flexibilität, Innovationskraft, moralisches Denken und Zuversicht – am Ende ausreichen, die Maschinen auf Dauer unter Kontrolle zu halten, wird man sehen. Aber wenn wir nicht beginnen, über Unterschiede nachzudenken, haben wir schon jetzt verloren.“
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ChatGPT
Das KI-Informationssystem ChatGPT („Generative Pre-trained Transformer“, deutsch: Generativ vortrainiertes Transformationssystem) ermöglicht als App den Zugriff auf Informationsbestände des Internet, wenn ihm entsprechende Fragen digital gestellt werden. ChatGPT kann ohne Weiteres in Schulen, Universitäten und Ausbildungsstätten eingesetzt werden. Auf den ersten Blick klingt dies so, als wenn hier eine Erleichterung in der Informationsbeschaffung gegeben wäre. Das gesamte Wissen der Menschheit könnte mit wenigen Klicks verfügbar werden.
Doch der Schein trügt. Mit etwas Nachdenken wird deutlich, dass sich dadurch auch eine Negativvision menschlicher Entwicklung einstellen könnte. Wenn Wissensbestände ständig und leicht verfügbar sind, wenn vorformulierte Antworten auf die meisten Fragen von jedem ohne großen Aufwand erhalten werden können, was macht dies mit dem Menschen als lernendes und aufnahmebereites Individuum? Die Folge könnte ein lernfauler und denkunfähiger Mensch sein, der sich auf seine ChatGPT-App verlässt. Hier entstünde ein Zwitterwesen, das in Abhängigkeit zu einem digitalen Programm gerät, das sich einer kritischen Überprüfung entzieht. Die eigene Kreativität im Denken scheint keiner Mühe mehr wert. Das Programm liefert bereits alles – allerdings nur die Wissensbestände, die im Internet verfügbar sind und kann nicht zwischen richtigen und falschen Informationen unterscheiden. Man stelle sich eine Wissenswelt vor, die nur Vorhandenes reproduziert, in privatwirtschaftlicher Hand ist und natürlich auch immer wieder von Hackern autoritärer Systeme bedroht ist, die das menschliche Wissen in ihre Richtung manipulieren wollen.
So warnt Marie-José Kolly (2023) entsprechend:
„Deshalb sind die Inhalte immer wieder falsch. Manchmal offensichtlich, manchmal nur subtil. Und deshalb sind auch die Leitplanken, die den Bot vor manipulativen Nutzern schützen sollen, manipulierbar. Das bedeutet: Jede Antwort vom Bot ist a priori unzuverlässig. Man kann ihr nicht trauen.
Nun geistert in verschiedenen Ecken des Internets Halbwahres, Unwahres und Absurdes herum. Manchen Seiten sieht man das an. Manchmal braucht es mehrere Klicks, um eine Information zu überprüfen. Aber dem Chat mit einem Bot sieht man die Qualität nicht an. Und was Bots schreiben, klingt mitunter so richtig, dass es auch Profis blendet. So dachte etwa der einstige Google-Mitarbeiter Blake Lemoine, Googles Sprachmodell habe ein Bewusstsein. Chatbots tun so, als wären sie etwas, was sie nicht sind. Kein Wunder, glauben wir, dass dahinter jemand – etwas – denkt.
Diese Mischung – der Bot schreibt überzeugender als viele Menschen, aber ihn kann gar nicht kümmern, ob das Geschriebene wahr ist – ist brandgefährlich.“
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Moegling/Bläsius (2024) warnen vor einer sich im Internet selbstständig weiterentwickelnden KI, z.B. über ChatGPT. Es könnte nur noch eine Frage der Zeit sein, wann sich eine Superintelligenz im Internet bilde, die sich verselbstständige und die Gefahr bestehe, dass sich eine dem Menschen überlegene Intelligenz in die zivile kritische Infrastruktur insbesondere in militärische Abwehr- oder Angriffssysteme einmische:
„Bei zivilen KI-Anwendungen gab es in den letzten Jahren einige Überraschungen, wobei unerwartete Fähigkeiten erreicht wurden, wie zuletzt mit Systemen der generativen KI, wie z.B. ChatGPT. Weltweit führende KI-Wissenschaftler und auch Chefs von großen KI-Unternehmen haben in 2023 eindringlich vor den möglichen Risiken dieser Entwicklung gewarnt. Auch eine Superintelligenz, bei der das menschliche Intelligenzniveau weit überschritten wird, wird in den nächsten Jahren für möglich gehalten.“
Das chinesische ‚Social Credit System‘
Hunderte Millionen digitaler Videokameras sollen zukünftig in China eine absolute Transparenz und Kontrolle über die Menschen erreichen. Zurzeit laufen in China regionale Testprogramme zur Implementierung des chinesischen ‚Social Credit System‘, im Rahmen dessen Chinas Bürger lückenlos überwacht und sanktioniert werden sollen.
Die Aufnahmen der Videokameras werden vermischt mit digital ermittelbaren Informationen z.B. aus digitalen Netzwerken oder behördlichen Aufzeichnungen über einzelne Personen, der gerichtlichen Aktenlage, finanziellen Daten sowie schulischen und beruflichen Beurteilungen und ergeben zusammen genommen eine Bewertung nach Punkten, deren Bewertungskriterien für alle Chinesen gleich sein soll.
Hierbei wird im gegenwärtigen Pilotversuch noch positives Verhalten positiv sanktioniert, was sich natürlich nach der vollständigen Implementierung auch schnell ändern kann, so dass abweichendes unerwünschtes Verhalten generell als negativ betrachtet wird und zu Punkteabzug mit entsprechenden Konsequenzen führt. Allerdings ist das System auch 2023 noch nicht landesweit und vollständig implementiert - so Mattheis (2024):
"Nach wie vor befindet sich das Sozialkreditsystem im Aufbau. Alle Elemente zur totalen Überwachung sind vorhanden und kommen wie zum Beispiel in der von Uiguren bewohnten Region Xinjiang auch zur Anwendung. Ob sie eines Tages wirklich zu einem großen zentralisierten System verknüpft werden, ist ungewiss. Die technischen Voraussetzungen jedenfalls sind vorhanden."
Auf einmal bekommt ein betroffener Bürger die Nachricht, dass er nicht mehr mit der Eisenbahn fahren dürfe, dass eine Behandlung von ihm im Krankenhaus nicht mehr möglich ist oder dass bei einem Dating-Portal niemand mehr reagiert, weil der angezeigte Punktestand zu niedrig ist.
Eine Gesellschaft wird somit im Auftrag des Staates digital bis in die Feinheiten des Sozialverhaltens kontrolliert. Dies geht weit über Orwells oder Huxleys Utopien hinaus.[8]
Eine aktuelle Variante eines solchen Negativszenarios, das kommen kann, aber nicht eintreten muss, ist die digitale Gesundheitsdiktatur. Die Corona-Krise hat gezeigt, wie schnell sich Menschen angesichts der Gesundheitsgefahr beeinflussen und ihre Freiheiten massiv einschränken lassen (Ausgeh- und Versammlungsverbote, Abschaffung der Demonstrationsfreiheit, Einschränkung der Pressefreiheit). Es besteht hier die Gefahr, dass zukünftige Pandemien ausgenutzt werden, grundsätzlich die bürgerlichen Freiheitsrechte abzuschaffen und dies u.a. mit verpflichtenden digitalen Apps in obligatorisch zu benutzenden Kommunikationsmedien zu kontrollieren.
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2.8 Massenhafte Sinnkrisen, psychische Verwerfungen und Fluchten
Auch Wilhelm Reich analysierte in seiner 1948 erstmals veröffentlichten „Rede an den kleinen Mann“ die psychischen Verwerfungen des sich über autoritäre Persönlichkeiten und nationale Größe identifizierenden Menschen, den er als gefährlich und krank ansieht:
„Deshalb habe ich Angst vor dir, kleiner Mann, unbändige Angst. Denn von dir hängt das weitere Schicksal der Welt der Menschen ab. Ich habe Angst vor dir, weil du nichts so sehr fliehst wie dich selbst. Du bist krank, sehr krank, kleiner Mann. Es ist nicht deine Schuld; aber es ist deine Verantwortung, dich von deiner Krankheit zu befreien. Du hättest deine wahren Unterdrücker längst abgeschüttelt, wenn du nicht Unterdrückung geduldet und oft direkt unterstützt hättest. Keine Polizei der Welt wäre mächtig genug, dich zu unterdrücken, hättest du ein Quentchen Selbstrespekt im praktischen Alltag.“ [9]
Werden demokratische Ansprüche unglaubwürdiger und werden die politischen Systeme autoritärer und intoleranter, dann werden auch Widerstandsbewegungen dagegen entstehen. Es wird zu Massenprotesten auf den Straßen, zu Wahlverweigerungen und zur Wahl extremistischer Parteien sowie auch zu einer Zunahme terroristischer Aktivitäten kommen. Der Mainstream einer Gesellschaft wird sich allerdings möglicherweise ängstlich wegducken, sich anpassen oder sich zum Teil auch an der Organisation einer autoritären Gesellschaft beteiligen. In der Negativvision gesellschaftlicher Entwicklung werden in den Bildungs- bzw. Erziehungsinstitutionen dann autoritäre Persönlichkeiten mit einem extrem eingeschränkten und neurotischen Persönlichkeitspotenzial erzogen. Das Treten nach unten, das Buckeln nach oben, das opportunistische Verhalten, eine latente Ängstlichkeit und ein ungenügendes Bewusstsein über das eigene Denken, Fühlen und Handeln sind dann die Folgen einer solchen Erziehung. Parallel hierzu treten daher auf Seiten der von einer solchen Sozialität Betroffenen massive Befindlichkeitsstörungen auf – so die Gesundheitswissenschaftlerin Annelie Keil (1988, 115):
„Unterdrückung kann auf vielerlei Arten auf das Individuum ausgeübt werden – durch Armut, Hunger soziale Ungerechtigkeit und politische Gewalt oder durch die familiären und persönlichen Zusammenhänge, in denen sich Gewalt eher psychisch auswirkt. Der Betroffene versucht, die Erfahrung der Unterdrückung zu kompensieren: durch Abstumpfung des Bewußtseins, durch Anpassung, durch Ersatzzuwendungen, viel seltener durch Auflehnung und Kampf. Die häufigste Schwierigkeit aber, auf die Erfahrung der Unterdrückung zu reagieren, tritt uns gerade in den Befindlichkeitsstörungen gegenüber: die Ursachen der Unterdrückung und damit die Ursachen über die Störungen des Befindens werden verkannt. Es herrscht Verwirrung über das Wesen der Unterdrückung. Diesen Ursprung zu verkennen, bedeutet nicht nur, unglücklich zu sein, ohne zu wissen warum, sondern etwas sehr viel Schlimmeres: es bedeutet die Annahme, daß es unsere Schuld ist, wenn wir unglücklich sind.“
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Entwickeln sich des Weiteren westliche Gesellschaften scheinbar und vor allem auf einer formalen Ebene demokratisch im Sinne einer Anspruchs- bzw. Fassadendemokratie, bei durchgehender digitaler staatlicher Kontrolle, bei gleichzeitig spätkapitalistischer Raubtierökonomie, dann drohen der menschlichen Psyche ebenfalls erhebliche Probleme über das Fehlen einer positiven Vision und Lebensperspektive. Wenn Ziele und Möglichkeiten fehlen, aus einem Leben ohne Sinn und echtem Glück herauszukommen, dann drohen psychosomatische Reaktionen, wie Depression und weitere psychosomatische Erkrankungen, wie z.B. Migräne, Schlafstörungen, chronische Angst oder Herzrhythmusstörungen. Die Zahl der weltweit an Depression erkrankten Menschen ist nach einer 2017 veröffentlichten Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in den letzten 10 Jahren um 18% gestiegen. 322 Millionen Menschen waren weltweit zu diesem Zeitpunkt an Depression erkrankt. Oft verbindet sich hierbei die Depression mit einer neurotischen Erkrankung, insbesondere einer Angststörung. [10] Auch ist die Depression immer mehr mit dem Gefühl von Einsamkeit verbunden.
"Laut des Hohen Kommissariats der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR) lebt weltweit jede zehnte Person mit einer psychischen Erkrankung – Tendenz steigend. Allein im ersten Jahr der Pandemie nahm die Zahl der Menschen, die an einer Depression oder Angststörung erkrankt waren, um 25 Prozent zu. (...) Zu den häufigsten Erkrankungen zählen Depressionen, Angsterkrankungen sowie affektive und bipolare Störungen. Menschen mit psychischen Erkrankungen haben zudem im Schnitt eine um zehn Jahre verringerte Lebenserwartung. Global betrachtet sollen es der WHO zufolge sogar 20 Jahre sein. " (Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen, 2023)
Suizide in unterschiedlichster Form
Chronische Erkrankungen mit psychosomatischem Hintergrund entstehen durch Unterdrückung des Lebendigen in einer Person, durch nicht gelebtes Leben aufgrund von Überanpassung und der damit unterdrückten Möglichkeit, für sich einen positiven Lebenssinn zu suchen und zu entwickeln. [11] Nicht gelebtes Leben und subjektiv erfahrene Sinnlosigkeit innerhalb entsprechender gesellschaftlicher Strukturen führen nicht nur zur beschriebenen Form der psychosomatischen Erkrankung, sondern auch zu lebensvernichtenden Anfälligkeit für Drogen, wie halluzinative chemische Drogen als auch dem zwanghaften und dauerhaften Verweilen in virtuellen Realitäten. Möglicherweise wird die Zukunft für viele Menschen im Rahmen eines negativen Entwicklungsszenarios in einer Kombination aus biochemischer Manipulation und virtueller Flucht bestehen. Milliarden Gamer werden, z.T. auch unter Drogeneinfluss, in virtuellen Räumen töten, sexuelle Erfahrungen machen, erniedrigen und sich selbst erhöhen.
Der Weltdrogenbericht [12], der sich hierbei nicht auf die Drogen Alkohol und Nikotin sondern auf chemische Drogen insbesondere auf der Basis von Opiaten bezieht, weist folgende Zahlen auf und markiert die Schwere der Problematik:
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“About 275 million people worldwide, which is roughly 5.6 per cent of the global population aged 15-64 years, used drugs at least once during 2016. Some 31 million of people who use drugs suffer from use disorders, meaning that their drug use is harmful to the point where they may need treatment. Initial estimations suggest that, globally, 13.8 million young people aged 15-16 years used cannabis in the past year, equivalent to a rate of 5.6 per cent. Roughly 450,000 people died as a result of drug use in 2015, according to WHO. Of those deaths, 167,750 were directly associated with drug use disorders (mainly overdoses). The rest were indirectly associated to drug use and included deaths related to HIV and hepatitis C acquired through unsafe injecting practices. Opioids continued to cause the most harm. PWID – some 10.6 million worldwide in 2016 – endure the greatest health risks. More than half of them live with hepatitis C and one in eight live with HIV.”
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Nach einer 2014 veröffentlichten Untersuchung der WHO starben pro Jahr 3.3 Millionen Menschen an Alkoholsucht. [13] Des Weiteren sterben 7 Millionen Menschen jährlich weltweit durch Nikotin-Konsum. Im Laufe des 21. Jahrhunderts könne sich die summierte Anzahl der Nikotin-Toten auf eine Milliarde Menschen belaufen.[ 14]
Mehrere Hunderttausend Menschen versuchen sich derzeit jedes Jahr bereits das Leben zu nehmen: "Laut Schätzungen der WHO begehen jährlich mehr als 700 000 Menschen weltweit Suizid. Allein in Deutschland nahmen sich 2019 mehr als 9000 Menschen das Leben, damit sterben dreimal mehr Menschen durch Suizid als durch Verkehrsunfälle. " (Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen, 2023)
Alle 40 Sekunden bringt sich auf der Erde ein Mensch um. [15]
Flucht in Drogen, aber auch in Spielsucht, bis hin zum Kontrollverlust und Suizid kennzeichnen bereits jetzt die psychische Labilität eines großen Teils der Weltbevölkerung und die Situation wird sich im Falle eines Negativszenarios gesellschaftlicher Entwicklung sicherlich noch erheblich verschärfen.
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Krisen als Chance nutzen
Wird eine psychosomatisch erlebte Lebenskrise hingegen als Chance zur Suche nach der Ursache einer Erkrankung gesehen und von einer sich gegenüber ehrlichen Sinnsuche – eventuell auch im therapeutischen Kontext – begleitet, dann eröffnen sich positive Möglichkeiten und können Wege der Gesundung begangen werden.
Umso wichtiger ist es bereits jetzt, weltweit gegen gesellschaftliche Strukturen und den damit verbundenen Normen und Werten individuell und in Solidarität mit anderen Betroffenen Widerstand zu leisten. Derartige auf übermäßigen Anpassungsdruck basierende Strukturen führen zu Neurosen und zwingen zu einer damit oftmals verbundenen Überanpassung, zu Sinnverlust und ungelebtem Lebensglück.
Für einen derartigen Widerstand ist eine positive Vision gesellschaftlicher Entwicklung notwendig, um zu wissen, in welche Richtung für sich selbst und für andere Menschen ein kollektiver Weg zum Lebensglück angelegt ist.
Befreite und sinnvoll geordnete gesellschaftliche Verhältnisse stellen dann eine günstige Voraussetzung für subjektive Sinnsuche und für die notwendigen Identitätserfahrungen für ein glücklich gelebtes Leben dar. Wenn der Herrschaftsdruck nachlässt, wenn Lebenssinn – orientiert an den eigenen Bedürfnissen der Menschen – entsteht, dann verlieren neurotische Grundhaltungen ihre gesellschaftliche Funktion. Menschen müssen dann nicht mehr klein gehalten und in psychische Gefängnisse gesperrt werden, damit die ökonomische Ausnutzung existierender Machtverhältnisse gesichert werden kann. Drogenhändler und Drogen aller Art haben dann eine wesentlich geringere Chance, die Menschen zu vergiften. Medial inszenierte Angstinduktionen verlieren dann ihre psychosoziale Basis im Menschen. Erziehung und Bildung erzeugen dann keine ängstlichen und überangepassten Kinder, sondern fördern deren individuelles Potenzial auf dem Weg zu einer befreiten Humanität.
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2.9 Externe planetare Bedrohungen der Zukunft
Wenn man externe Bedrohungen – also Gefahren aus dem Weltall – anspricht, besteht natürlich die Gefahr der Übertreibung und der Fiktion. Man muss sich gut überlegen, ob man hierauf eingehen will, um nicht unter den Verdacht unwissenschaftlicher Spekulation zu geraten.
Dennoch müssen bei der Frage nach dem Einsatz finanzieller Ressourcen realistische externe Bedrohungen einbezogen werden, die in der Vergangenheit nachweisbar den Planeten Erde betrafen und mit einer ernstzunehmenden Wahrscheinlichkeit auch in Zukunft eine Rolle spielen können. Die Menschheit kann sich – abgesehen von den damit verbundenen humanitären und ökologischen Katastrophen – nicht mehr leisten, gegeneinander Kriege unterschiedlichster Art zu führen bzw. ihre Ressourcen zum abschreckenden Aufbau von Armeen, Raketensystemen und ABC-Waffensystemen zu verwenden. Es kommen auf die Menschheit, wenn nicht in 10, 30 oder 50 Jahren, auf jeden Fall in den Jahrhunderten später globale Gefährdungen zu, für die sie vorbereitet sein muss.
Die planetare Bedrohung durch aufschlagende Asteroiden
Erstens: Die Erde ist nachweisbar immer wieder Ziel von Asteroiden aus dem Weltall mit verheerenden Folgen für Flora und Fauna geworden. Es ist nicht auszuschließen, dass in mittlerer Zukunft, also z.B. in den nächsten 50 bis 500 Jahren wieder ein Asteroid auf die Erde treffen wird. Auf diese Situation muss sich die Menschheit im Interesse ihres Weiterbestands vorbereiten. Es müssen weltweit Ressourcen an Finanzmitteln, Experten und Material zur Verfügung gestellt werden, um einen der Erde gefährlich werdenden Asteroiden z.B. über eine Explosion zumindest ablenken zu können. Alles andere wäre fahrlässig, und würde das Interesse der nachfolgenden Generationen auf dem Planeten Erde generationenegoistisch übergehen.
Asteroiden fliegen oft gefährlich nahe an der Erde vorbei. Mitte April 2018 ist beispielsweise ein 650 Meter Durchmesser umfassender Asteroid in 4,6-facher Mond-Erde-Distanz, also relativ nah, an der Erde vorbeigeflogen. Für 2027 ist von der NASA vorausgesagt, dass ein Asteroid („1990 AN10“) nur 380.000 Kilometer entfernt an der Erde, also noch wesentlich näher, vorbeifliegt.
Trifft ein Asteroid dieser Größenordnung die Erde sind die Folgen kaum vorstellbar: Tsunamis, atmosphärische Druckwellen, Verdunkelung des Himmels, Orkane, Feuer und Erdbeben.
Dass dies keine Vorstellungen nur für Zukunftsromane oder Sciencefiction-Filme sind, machen die Vereinten Nationen deutlich:
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„Um das Thema weiter in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken, hat die Vollversammlung der Vereinten Nationen im vergangenen Jahr den 30. Juni zum Welt-Asteroiden-Tag ausgerufen. Das Datum markiert den Jahrestag des größten Asteroideneinschlags der jüngeren Geschichte: Am 30. Juni 1908 hatte ein Treffer in der Tunguska-Region in Sibirien rund 2000 Quadratkilometer unbewohntes Gebiet verwüstet. Der Asteroid hatte nach Forscherschätzung einen Durchmesser von 30 bis 40 Metern. Sollte ein solcher Brocken in seiner Flugbahn wieder Kurs auf die Erde nehmen, gibt es für die europäische Weltraumagentur Esa nur zwei Möglichkeiten: ablenken oder zerstören. Es gebe viele Vorschläge, von Sonnenspiegeln bis zu Wasserstoffbomben. Technisch oder finanziell umsetzbar sind die meisten davon allerdings nicht. Realistischer sei der Einsatz von Einschlagprojektilen zur Bahnablenkung. Kinetischer Impaktor oder einfach „Prellbock“ nennt Wünnemann die Objekte, die einem Asteroiden auf dem Weg zur Erde aktiv in den Weg gesetzt werden sollen. Die gemeinsame „Aida“-Mission von Esa und Nasa, die der Asteroidenabwehr gilt, soll hierüber Erkenntnisse bringen.“ [16]
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Es war schon bezeichnend, dass der ehemalige und nun wieder neu gewählte US-Präsident Trump die Weltraumforschung nur unter einem militärischen Aspekt sah und die militärische Dominanz der USA im Weltraum einforderte und entsprechende Finanzmittel zu diesem Zweck bereitstellen ließ. Trump forderte einen sechsten Arm des US-Militärs in Form einer Weltraumarmee (‚Space Force‘):
„Wenn es darum geht, Amerika zu verteidigen, reicht es nicht, nur eine amerikanische Präsenz im All zu haben. Es muss eine amerikanische Dominanz im All geben“ [17]
Die Weltraumforschung müsste im Gegensatz zu diesen militaristischen Aussagen prioritär den Zweck erfüllen, Asteroiden aus dem Weltraum abwehren zu können. Die im Oktober 2022 erfolgreich durchgeführte DART-Mission der NASA zeigt, dass hier die Notwendigkeit einer zukünftigen Abwehr gefährlicher Asteroiden erkannt wurde. [18] Natürlich muss sie auch mit anderen zivilen Zwecken beschäftigen, wie z.B. dem Einfluss solarer Aktivitäten auf die digitalen Netze auf der Erde.
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Bedrohung durch die Verschiebung der Pole
Ebenfalls sind die derzeit beobachtbaren Verschiebungen des Nord- und des Südpols und die damit zusammenhängenden Veränderungen des planetaren Magnetfeldes zu beachten. Auch kann es in mittelfristiger oder langfristiger Zeit zu einer völligen Umpolung der Erde kommen. Dies ist bereits mehrfach in der Geschichte der Erde passiert. Dies hat natürlich erhebliche Auswirkungen auf die digitale Kommunikation und entsprechende infrastrukturelle Netzwerke auf der Erde. Hierauf muss sich vorsorgend vorbereitet werden.
„Jahrhundertelang war das Erdmagnetfeld stabil, seit 1840 aber schwächt es sich ab, um ein Sechstel mittlerweile. Noch schirmt das weit in den Weltraum reichende Magnetfeld die Erde vor Strahlung aus dem All ab. Wie lange noch?
Eine Animation der US-amerikanischen Wetterbehörde NOAA zeigt, was vor sich geht: Der magnetische Pol, der sich in der Nähe des geografischen Nordpols befindet, schiebt sich mit etwa einem Kilometer pro Woche von Kanada Richtung Russland.
Die Polwanderung ist Symptom des wandelnden Erdmagnetfelds. Noch zeigen Kompassnadeln nach Norden, und das Magnetfeld schützt die Erde – doch die rasante Verschiebung des Pols lässt Forscher fragen: Droht eine gefährliche Polumkehr?“ [19]
Drittens ist die Auswirkung größerer Sonnenstürme auf die globale Infrastruktur weiter zu erforschen und entsprechende Maßnahmen für diese Fälle vorsorgend zu entwickeln. Bereits zu unseren Lebzeiten hat es Sonnenstürme gegeben, die z.T. zum Netzausfall größerer Regionen, z.B. 1989 in Kanada und 2006 in Südafrika, geführt haben. [20]
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Keine weitere Verschwendung von Ressourcen
Wenn man diese externen Bedrohungen mit internen globalen Bedrohungen, wie die eintretende Klimaerwärmung und die steigende Kriegsgefahr, verbindet, muss man noch entschiedener zum Ergebnis kommen, dass die vorhandenen Ressourcen nicht mehr in die Rüstungsindustrie und die Militärtechnologie investiert werden dürfen.
Der Club of Rome fordert hierüber hinaus eine Stabilisierung der Erdbevölkerung auf einer vollen Erde. [21] Es müssen zunehmend Forschungsmittel eingesetzt, Anreizsysteme und Bildungsstrategien entwickelt werden, wie eine weitere ausufernde Vermehrung der Menschheit (April 2017: 7,6 Milliarden Menschen, März 2025 8,3 Milliarden) vermieden werden kann. Die Überbevölkerung der Erde führt zum beschleunigten Ressourcenabbau und beschleunigt die Klimakatastrophe. Auch führt sie zu einer weiter auseinandergehenden Schere zwischen Arm und Reich und zu entsprechenden sozialen Katastrophen und auch natürlich Migrationsbewegungen und den damit verbundenen gesellschaftlichen Konflikten.
Auch im Gesundheitsbereich, z.B. hinsichtlich der Problematik der drohenden Unwirksamkeit von Penicillin bzw. Antibiotika oder auch der Möglichkeit des Auftretens planetarer Epidemien, die bisher noch lokal eingrenzbar sind, muss die Forschung verstärkt werden, geeignete Medikamente in globaler Kooperation entwickelt und Präventionsstrategien geplant werden. Die Corona-Pandemie gibt einen Einblick in das mögliche Ausmaß einer planetaren Bedrohung durch Pandemien.
Diese Liste massiver interner planetarer Bedrohungen ließe sich sicherlich fortsetzen (Dominanz künstlicher Intelligenz, Insektensterben, Plastikvermüllung der Meere, Trinkwasserverknappung, Luftverschmutzung ...), macht aber bereits deutlich: Die Menschheit kann es sich nicht mehr leisten, ihre Ideen und Kreativität, ihre Finanzmittel und ihre Menschen für gewalttätige Auseinandersetzungen unterschiedlichster Art bzw. für den Aufbau von Waffensystemen für den Einsatz gegen andere Staaten oder Gruppierungen zu vernichten. Alle überschüssigen Ressourcen, die nicht für den globalen Frieden, der durch die weltpolizeilichen Maßnahmen im Auftrag der Vereinten Nationen (vgl. Kap. 5.6) unterschiedlichster Art zu sichern ist, notwendig sind, müssen endlich für die drohenden Gefahren für den Planeten Erde und die kommenden Generationen der Menschheit eingesetzt werden.
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Die ehemaligen Club-of-Rome-Präsidenten von Weizsäcker/ Wijkman (1917, 195) nehmen daher ein energisches und gut begründetes Plädoyer für eine radikale Umsteuerung hin zu einer planetaren Neuordnung vor und wenden sich gegen Pessimisten, die meinen, dass sich sowieso nichts mehr ändern lasse:
„Es gibt einen Weg in eine bessere Zukunft. Es ist die Verpflichtung von uns allen zu versuchen, diese bessere Welt zu schaffen. Es ist möglich, dass die Menschheit den Zusammenbruch vermeidet. Aber damit dies geschieht, gibt es eine Sache, die wichtiger ist als alles andere: eine neue Stoßrichtung oder auch ein neues ‚Narrativ‘ oder noch tiefgründiger: eine neue Aufklärung, um dem entgegenzuwirken, was uns auf den rasenden Zug gesetzt hat. (…)
Eine neue Erzählung würde erläutern, wie sich blühendes Leben innerhalb ökologischer Grenzen verwirklichen, wie sich ein universelles, alle Grundbedürfnisse erfüllendes Wohlergehen realisieren ließe und wie eine ausreichende Gleichheit erreicht werden kann, die notwendig ist, um die soziale Stabilität aufrechtzuerhalten und die Grundlage für echte Sicherheit zu schaffen.“
Allerdings dürfen m.E. hier globale Herrschaftsstrukturen und ökonomische Interessensgruppen nicht übersehen werden, die versuchen werden, dieser Vision entgegenzuarbeiten. Auch die hegemonial vermittelte imperiale Lebensweise (Brand/ Wissen 2017), die ein großer Teil der Erdbevölkerung anstrebt, welche Menschen vor allem im globalen Norden bereits entwickelt haben, stellt ein großes Hindernis dar. Daher muss die Forderung nach einer radikalen Veränderung dann auch immer wieder Angaben machen, wer Träger dieser Veränderung sein soll und wie dies über Bildungsprozesse, zivilgesellschaftliches Engagement sowie über regionale und globale Organisation im solidarischen Widerstand gegen die Tendenzen zur Ausplünderung der Erde und der Ausbeutung der Menschen vor allen in den ärmeren Weltregionen zu schaffen ist.
In diesem Sinne soll in den nächsten Kapiteln eine Neuordnung in holistischer Hinsicht, also unter Berücksichtigung der verschiedenen Ebenen bzw. Dimensionen menschlicher Existenz und im Verständnis der Zusammenhänge dieser Ebenen und der einwirkenden Faktoren, entworfen und erste Schritte auf dem Weg dorthin skizziert werden.
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Zwischenreflexion
An dieser Stelle des Buches enden nun die kritische Analyse und auch die von Jonas angedachte Heuristik der Furcht und weichen endlich einer positiven Vision von gesellschaftlicher Entwicklung im globalen Kontext. Sicherlich sind insbesondere die Negativszenarien nicht immer leicht zu ertragen. Doch das Hineinsehen in eine mögliche katastrophale Zukunft kann einen Ruck bewirken, sich gegen diese mögliche Entwicklung entgegenzustemmen.
Seit den letzten 20 Jahren ist die Resilienz des Planeten an ihrer Belastungsgrenze angekommen bzw. ist sie in Teilbereichen nachweisbar überschritten.
Die Doomsday-Clock macht dies deutlich: „The Clock has become a universally recognized indicator of the world’s vulnerability to catastrophe from nuclear weapons, climate change, and disruptive technologies in other domains“ [22] und: Wir stehen – laut der u.a.von Albert Einstein 1947 begründeten und rechnenden Weltuntergangsuhr – im Januar 2025 bereits 89 Sekunden vor der Zerstörung der planetaren Grundlagen. 1991 waren es noch 17 Minuten bis zur Zerstörung.
Aber beim Verweilen bei einer Negativvision und ohne eine positive Vision gesellschaftlicher Entwicklung bleibt dieses Aufbegehren im Negativen und Destruktivem stecken. Eine gemeinsam entwickelte und getragene positive Vision ist notwendig, um mit Engagement, innerem Antrieb und Freude an einer gelingenden Zukunft – gemeinsam mit ähnlich gestimmten Menschen – in unterschiedlichen Zusammenhängen gesellschaftlichen Engagements zu arbeiten.
Hierbei kann man einer solchen Vision nicht vorwerfen, dass sie visionär sei, genauso wie man einer Utopie nicht vorwerfen kann, dass sie utopisch sei. Das ist ja gerade ihr Charakter und ist ihre Eigenart. Eine Vision, die nicht visionär ist, taugt nichts.
Auch kann man einer Vision nicht zu Recht vorwerfen, dass sie nicht unmittelbar am jetzigen Weltgeschehen anknüpfe und nicht dessen Beschränkungen und Begrenzungen zum Inhalt habe. Eine positive Vision gesellschaftlicher Entwicklung muss sich hiervon befreien und idealtypisch klären, wohin die Reise gehen soll – auch wenn sie möglicherweise mehrere Generationen dauern wird.
Erst anschließend lohnt es sich, darüber nachzudenken, welche ersten Schritte anknüpfend am gesellschaftlichen Ist-Zustand in die Richtung dieser entfalteten Vision vorgenommen werden können.
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Anmerkungen zu den Kapiteln 2.6 - 2.9
[1] Hessisch-Niedersächsische Allgemeine, vom 2.3.2018, S. 18.
[2] Vgl. http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/hacker-angriff-russische-hackergruppe-snake-wohl-hinter-angriff-15474037.html, 2.3.2018.
[3] Vgl. die Aussage von v. d. Malsberg in: Die Zeit, 28.3.2018, S. 39.
[4] Meixner (2018).
[5] Marx/Engels (1848/1983), 26 u. 27.
[6] Zum Begriff der menschlichen Antiquiertheit vgl. insbesondere Günther Anders (1956) mit dem gerade heute äußerst wichtigen Titel ‚Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele des Menschen in der zweiten industriellen Revolution‘; sowie Morat (2006).
[7] Meixner (2018).
[8] Vgl. zu Chinas Social Credit System z.B. System Gruber/Kühnreich (2017) sowie Hennig (2018).
[9] Reich (1948/2013, 22).
[10] Vgl. https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/73297/WHO-Millionen-leiden-an-Depressionen, vom 23.2.2017, 27.8.2018.
[11] Vgl. ausführlicher hierzu Keil (1988, 112ff.).
[12] In: http://www.unodc.org/wdr2018/en/exsum.html, o.D., 27.8.2018.
[13] In: http://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/112736/9789240692763_eng.pdf;
jsessionid=D855D8C4D60FA04FF15083420802C288?sequence=1, 2014, 27.8.2018.
[14] In:https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/76041/Rauchen-Millionen-Tote-Milliardenkosten-und-Umweltfolgen, vom 30.5.2017, 27.8.2018.
[15] In: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/76041/Rauchen-Millionen-Tote-Milliardenkosten-und-Umweltfolgen, vom 4.9.2014, 27.8.2018.
[16] In: https://www.noz.de/deutschland-welt/gut-zu-wissen/artikel/913707/was-wenn-ein-asteroid-die-erde-trifft-1, vom 23.6.2017, 27.8.18.
[17] In: https://www.welt.de/politik/ausland/article177796900/Weltraum-Trump-will-US-Militaer-um-Space-Force-ergaenzen.html, vom 18.6.2018, 28.8.2018.
[18] Vgl. Nasa: Dart-Sonde hat Flugbahn von Asteroiden erfolgreich geändert. In: https://www.zeit.de/wissen/2022-10/nasa-dart-sonde-asteroid-erfolgreich-abgelenkt, 11.10.2022, 13.10.2022.
[19] Bojanowski (2018).
[20] Vgl. https://www.tagesspiegel.de/wissen/weltraumwetter-die-gefahr-durch-sonnenstuerme-fuer-unsere-technik/13955920.html, vom 1.8.2016, 27.8.2018.
[21] Weizsäcker /Wijkman u.a. (Hrsg.) (2017, 34ff.).
[22] https://thebulletin.org/doomsday-clock/current-time/,o.D. 13.3.21.
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3 Die Grundlage einer gesellschaftlichen Neuordnung liegt auch in der psychosozialen Bildung des Einzelnen
"Es gilt einen Begriff zu finden, der sich müht, alles Vergangene neu zu betreiben und das Zukünftige neu zu beraten."(...) der dazu hilft, ans Ende zu sehen."
Ernst Bloch (1918/2018, 383): Geist der Utopie.
3.1 Innere Welten, Sozialität und soziale Beziehungen: Wer in seinem Verhältnis zu sich selbst nicht klar ist, verfügt auch über keine Klarheit in seinen Beziehungen
Positiver Frieden im holistischen Sinne
Der norwegische Konflikt- und Friedensforscher Johan Galtung vertrat im Rahmen seiner Konzeption des positiven Friedens die Auffassung, dass Frieden nicht nur als Abwesenheit von Krieg zwischen Gesellschaften zu begreifen ist. Positiver Frieden ist umfassender und vertritt einen als holistisch zu bezeichnenden Ansatz. Dieses Friedensverständnis bezieht sich sowohl auf zwischenstaatliche Konflikte als auch auf innergesellschaftliche Auseinandersetzungen. Hierbei ist es ihm wichtig zu betonen, dass Konflikte zwischen zwei gegnerischen Parteien in der Regel mit Konflikten innerhalb dieser Parteien und natürlich auch mit psychosozialen Problemen der daran beteiligten Menschen in einer Beziehung stehen – so Galtung (1998, 12):
„So müssen Frieden und Gewalt in ihrer Totalität gesehen werden, auf allen Stufen der Organisation des Lebens (und nicht allein des menschlichen Lebens). Zwischenstaatliche Gewalt ist wichtig, wichtiger noch die zwischen den Geschlechtern und den Generationen. Nicht zu vergessen die innerpersönliche Gewalt, als geistige (z.B. als Unterdrückung der Gefühle) sowohl wie als körperliche (Krebs z.B.).“
Wenn die Probleme, die weiterhin z.B. durch die Existenz von Feindbildern bestehen, nicht psychologisch und pädagogisch aufgearbeitet würden, werde nach einem Krieg allenfalls ein Waffenstillstand für eine gewisse Zeit andauern, bevor sich die mentalen Muster wieder ihren Weg zu einem erneuten Ausbruch der Gewalt bahnen.
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Plädoyer für eine universalistische Ethik
Bereits Immanuel Kant verwies in diesem Kontext in seinem 1784 verfassten Aufsatz „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ auf den Zusammenhang zwischen fehlender menschlicher Reife, weltbürgerlicher Unvernunft und destruktivem Agieren auf der Weltbühne des politischen Geschehens:
„Da die Menschen in ihren Bestrebungen nicht bloß instinktmäßig, wie Tiere, und doch auch nicht, wie vernünftige Weltbürger, nach einem verabredeten Plane, im Ganzen verfahren: so scheint auch keine planmäßige Geschichte (wie etwa von den Bienen oder den Bibern) von ihnen möglich zu sein. Man kann sich eines gewissen Unwillens nicht erwehren, wenn man ihr Tun und Lassen auf der großen Weltbühne aufgestellt sieht; und, bei hin und wieder anscheinender Weisheit im einzelnen, doch endlich alles im großen aus Torheit, kindischer Eitelkeit, oft auch aus kindischer Bosheit und Zerstörungswut zusammengewebt findet: wobei man am Ende nicht weiß, was man sich von unserer auf ihre Vorzüge so eingebildeten Gattung für einen Begriff machen soll.“ [1]
Die technologisch fortgeschrittene Entwicklung der Menschheit steht in einem offensichtlichen Missverhältnis zu ihrer unterentwickelten Ethik, der oftmals nur schwach ausgeprägten Bewusstheit im Umgang mit sich selbst, der Unreife im lebensweltlichen Kontext und ihrer Gefährlichkeit im internationalen Kontext. Hier stellt sich u.a., die fundamentale Frage, wie die zukünftigen Generationen vor der Unreife und der Gefährlichkeit eines großen Teils der gegenwärtig lebenden Menschen geschützt werden können. Möglicherweise denken die folgenden Generationen später einmal genauso negativ über die jetzt lebenden und handelnden Generationen, wie es die Nachkriegsgeneration deutscher Jugendlicher in der 68-Kulturrevolution mit ihren (nationalsozialistischen) Eltern- und Großeltern-Generationen getan hat.
Auch Religionen sind in der Regel nicht hilfreich für eine Ausprägung friedlichen Denkens und Fühlens - auch wenn es kirchliche Gruppen gibt, die sich mit Friedensfragen beschäftigt. Im Gegenteil: Religionen dienten seit Jahrtausenden der Legitimation von Gewalt und ‚Heiliger Kriege‘. Sie sind aufgrund des Durchdringens zur Psyche der Menschen und des göttlichen Stellvertreteranspruchs von Herrschenden dazu geeignet, für eine ökonomische und politische Interessensdurchsetzung der jeweils Herrschenden benutzt zu werden. Der Dalai Lama fordert daher als Konsequenz seiner prinzipiellen Religionskritik eine universalistische Ethik für das 21. Jahrhundert ein, die an die Stelle von Religionen treten sollte:
„Ich spreche von einer säkularen Ethik, die auch für über eine Milliarde Atheisten und für zunehmend mehr Agnostiker hilfreich und brauchbar ist. Wesentlicher als Religion ist unsere elementare menschliche Spiritualität. Das ist eine in uns Menschen angelegte Neigung zur Liebe, Güte und Zuneigung – unabhängig davon, welcher Religion wir angehören.“ [2]
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Der Drang danach, über politisches Engagement Verhältnisse und Strukturen zu verändern, muss psychosoziale und ethische Voraussetzungen im Einzelnen besitzen. Ohne dies wird ein Mehr an Demokratie, die vom Wechselspiel zwischen der Wahrung des Einzelinteresses und solidarischer Partizipation und Altruismus lebt, nicht realisierbar sein. Politische Ermächtigung endet in der Regel in persönlicher Bereicherung und Machtkonzentration, wenn die humanen Reifungsprozesse nicht mit politischem Machtgewinn Schritt halten können.
Derartige Reifungsprozesse müssen im Rahmen familiärer und schulischer Sozialisation angelegt werden. Die Bedeutung formaler und informeller Bildung kann hier nicht hoch genug angesetzt werden. Schulen müssten zu einem Erfahrungsfeld werden, das durch gegenseitige Förderung und Unterstützung geprägt ist. Auch spätere informelle Lernprozesse in Lebens- und Arbeitszusammenhängen müssten nicht mehr durch Konkurrenz und Leistungsdruck gekennzeichnet sein. Das psychosoziale Wachstum anhand konstruktiv ausgetragener Konflikte in alternativen Gemeinschaftsformen und das gemeinsame Arbeiten in Projektzusammenhängen solidarischer Ökonomie ermöglichen Reifungsprozesse, die in den auf zwanghafter Abgrenzung und auf Hierarchie beruhenden Formen der Sozialität kaum möglich sind. Aber auch die Weiterentwicklung im Erwachsenenalter über Fortbildungen sowie Selbsterfahrungen im Rahmen von humanistischen Therapieverfahren sowie über das Ernstnehmen meditativer Erfahrungswege können hierbei eine wichtige Rolle spielen.
Wie will man die Welt, die internationalen Beziehungen, autoritäre Strukturen, den Umgang mit Konflikten, das ökologische Verhalten im Umgang mit unserem Planeten sowie das gravierende Reichtumsgefälle verändern, wenn die geistige und emotionale Entwicklung des Menschen weit hinter seinen technisch-zivilisatorischen Möglichkeiten zurückbleibt? [3]
Ebenfalls die Mitarbeit in Bürgerinitiativen, Friedensinitiativen, politischen Institutionen und Gemeinschaftserfahrungen unterschiedlichster Art sind sowohl Übungsfelder für psychosoziale Kompetenzen als auch Anwendung derselben. Besonders Menschen, die sich für den Frieden einsetzen, sollten auch anders miteinander in sozialen Konfliktsituationen umgehen und zeigen, wie im Kleinen bereits das gelingt, was man im Großen einfordern möchte.
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Prozesse innerer Zivilisierung
Wiederum Immanuel Kant erkennt weitsichtig die Notwendigkeit der inneren Zivilisierung und moralischen Kultivierung des Menschen, da nur hierauf aufbauend Friedfertigkeit und Zusammenarbeit im internationalen Zusammenhang entstehen könne:
„So lange aber Staaten alle ihre Kräfte auf ihre eiteln und gewaltsamen Erweiterungsabsichten verwenden, und so die langsame Bemühung der inneren Bildung der Denkungsart ihrer Bürger unaufhörlich hemmen, ihnen selbst auch alle Unterstützung in dieser Absicht entziehen, ist nichts von dieser Art zu erwarten; weil dazu eine lange innere Bearbeitung jedes gemeinen Wesens zur Bildung seiner Bürger erfordert wird. Alles Gute aber, das nicht auf moralisch-gute Gesinnung gepfropft ist, ist nichts als lauter Schein und schimmerndes Elend. In diesem Zustande wird wohl das menschliche Geschlecht verbleiben, bis es sich, auf die Art wie ich gesagt habe, aus dem chaotischen Zustande seiner Staatsverhältnisse herausgearbeitet haben wird.“ [4]
Innere Zivilisierung bedeutet das Durcharbeiten der eigenen Ego-Strukturen, der vorhandenen Feindbilder und des damit verbundenen Verhaltens. Dies kann über die individuelle Verarbeitung eigener biografischer Erfahrungen, über Bildungsprozesse, über Psychotherapien oder über achtsamkeitsbasierte Meditationen bzw. über die Kombination mehrerer dieser Selbsterfahrungsmöglichkeiten geleistet werden. Denn: Eine stärker altruistische Haltung, welche die psychische Voraussetzung für ein friedliches Verhalten des Einzelnen in der Welt ist, tritt selten von allein ein. Des Weiteren müssen aufgrund zahlreicher struktureller Hemmnisse, die eine persönliche Weiterentwicklung und die Entfaltung von Mündigkeit behindern, auch immer eine Bildung und Förderung angestrebt werden, die ebenfalls gegen strukturelle Widerstände Bestand hat.
Auch über Vorbilder und einen altruistisch orientierten gesellschaftlichen Mainstream können Sozialisationsprozesse gefördert werden, die das Selbstverständnis des ausschließlich ‚privaten Menschen‘, der nur sich selbst und sein eigenes Interesse sieht, zugunsten einer stärkeren sozialen Orientierung überwinden helfen. Das Interesse, eigene Bedürfnisse zu verwirklichen, und altruistisch motivierte Handlungsweisen, müssen in eine andere Balance geraten, als dies derzeit der Fall ist.
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Zur Rolle von Therapie und Meditation
Eine besondere Bedeutung bekommen in diesem Zusammenhang persönliche Transformationen anstoßende, begleitende und sichernde Wege achtsamen Übens, wie sie z.B. in vielen Yogastilen, z.B. Hatha-Yoga oder auch Vinyasa-Yoga, und auch beim Sich-Üben im Qigong, Tai Chi und Zazen auf ihre jeweils eigene Weise ermöglicht werden können.[5]
Friedfertigkeit im Herzen, Liebe zu sich selbst als Grundlage für Zuneigung zu anderen Geschöpfen und Empfänglichkeit für personale Transformation in einem achtsamkeitsbasierten und weltzugewandten Sinne sind die Voraussetzung für die eigene Friedfertigkeit im individuellen und sozialen Verhalten. Meditation, so gesehen, arbeitet hier in einem gewissen Sinne an einem kollektiven Selbst der Weltgemeinschaft als Chance für eine global gelebte Friedfertigkeit.
Um die Transformation kriegstreibender und militarisierter Strukturen auf der psychologischen Ebene vorzubereiten und zu stabilisieren, sind also gleichzeitig eine Selbstarbeit der Menschen und Anstrengungen im pädagogischen, spirituell-geistigen und therapeutischen Bereich notwendig. Menschen können sich auf der kollektiven Ebene nur weiterentwickeln, wenn parallel und vernetzt damit eine Selbstvergewisserung und das Erkennen des eigenen Platzes in der Welt über Meditation, Therapie sowie Erziehung und Bildung erfolgt. Globale Friedfertigkeit ist nicht nur auf die Friedfertigkeit von internationalen Organisationen, Institutionen und Gruppen angewiesen, sondern wurzelt in der Friedfertigkeit des Einzelnen, in seinem Wissen und seiner inneren Gestimmtheit, dass es sehr viele Menschen gibt, die ähnlich wie sie_er denken und fühlen. Dann kann diese Kraft in die eigenen lebensweltlichen sozialen Bezüge sowie in das kulturelle und politische Engagement ausstrahlen und einwirken.
Das Sterben einer destruktiven Zivilisation
Der US-amerikanische Journalist und Buchautor Roy Scranton (2015, 27) fordert daher, dass die menschliche Zivilisation, die durch Naturzerstörung und Kriege gekennzeichnet ist, zu sterben lernen müsse:
„We cannot escape our fate. Our future will depend on our ability to confront it not with panic, outrage, or denial, but with patiance, reflection and love.
Our choice is a clear one. We can continue acting as if tomorrow will be just like yesterday, growing less and less prepared for each new desaster as it comes, and more and more desperately invested in a life we can’t sustain. Or we can learn to see each day as the death of what came before, freeing ourselves to deal with whatever problems the present offers without attachment or fear.
If we want to learn to live in the Anthropocene, we must first learn how to die.“
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Das Sterben einer zerstörerischen Zivilisation bedeutet natürlich auch, dass die einzelnen Menschen die vernichtende Zivilisation in sich sterben lassen und offen für eine neue Vision des Humanen werden sollten.
Ohne die personale Transformation vieler sich weltweit vereinigender Menschen wird es keinen gelebten Frieden in und mit der Biosphäre geben.
Dennoch soll auch an dieser Stelle noch einmal erinnert werden, wie das Selbst in gesellschaftliche Strukturen und Mechanismen eingebunden ist und in seiner Wechselbeziehung zwischen System, Struktur und Persönlichkeit zu betrachten ist – so Horkheimer (1936/1992, 47):
„Je reiner die bürgerliche Gesellschaft zur Herrschaft kommt, je uneingeschränkter sie sich auswirkt, desto gleichgültiger und feindseliger stehen sich die Menschen als Individuen, Familien, Wirtschaftsgruppen, Nationen und Klassen gegenüber, desto mehr gewinnt das ursprünglich fortschrittliche Prinzip des freien Wettbewerbs auf der Grundlage sich verschärfender ökonomischer und sozialer Gegensätze den Charakter des dauernden Kriegszustands nach innen und außen. Alle, die in diese Welt hineingezogen werden, bilden die egoistischen, ausschließenden, feindseligen Seiten ihres Wesens aus, um sich in dieser harten Wirklichkeit zu erhalten.“
Dennoch können wir nicht auf veränderte Gesellschaftsstrukturen warten, sondern sind gezwungen, aufgrund der Bedrohungslage und unserer begrenzten Lebensspanne sofort anzufangen, Widerstand zu leisten, Strukturen zu verändern, uns zu verändern und anders zu leben. Theodor W. Adorno wollte mit seinem Hinweis „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ sagen, dass eine Veränderung der existenziellen Voraussetzungen des Lebens für die richtige Lebensweise notwendig ist.[6] Das gesellschaftliche Ganze und wie es strukturiert ist, verhindere das richtige Leben des Einzelnen. Dies ist sicherlich konsequent gedacht, aber doch zu zwingend und zu negativ, wenn man es wörtlich nimmt. Vielleicht wollte er auch gerade diese Erkenntnis mit dieser Aussage provozieren. Des Weiteren gibt es in einer neu geordneten Gesellschaft ebenfalls Probleme, und es entwickeln sich neue Konflikte. [7] Anders herum gesehen sind kapitalistische Gesellschaften in der Regel – mit der Ausnahme faschistischer Gesellschaften – eben keine total verwalteten Systeme, sondern enthalten Strukturen, die politische Spielräume und Inseln alternativen Lebens zulassen. Die zahlreichen weltweiten Massenproteste für den Frieden, gegen die zerstörerischen Auswüchse des Welthandelssystems oder gegen die Klimazerstörung und die vielfältige Existenz alternativer Arbeits- und Lebensformen zeigen, dass es auch in einem bestimmten Ausmaß ein ‚richtiges Leben im falschen‘ geben kann. Auch kann die Selbstarbeit und Weiterentwicklung der Persönlichkeit nicht auf das ‚richtige Leben‘ warten, da ohne dieses auch keine qualitative Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen und des Ganzen gelingen kann.
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Wilhelm Reich macht in seiner Rede an den ‚kleinen Mann‘ (und an die ‚kleine Frau‘) in sich und in uns sehr bildhaft deutlich, dass es bei dieser Selbstarbeit nicht um Unerreichbares, sondern um die Wiedergewinnung des Lebendigen geht. In seiner Vision eines gut gelebten Lebens verbindet er Selbst- und Weltwahrnehmung mit der Hoffnung, dass dies in gemeinsam erkämpfte gesellschaftliche Veränderungen in Richtung auf eine friedlichere und glücklichere Welt einmünde. So seine Ansprache aus der Sicht der ‚großen‘ Frau:
„Und du bist groß, wenn du zu deinem Freunde sagst:
‚Ich danke meinem Schicksal, daß es mir vergönnt war, mein Leben frei von Schmutz und Gier zu leben, das Wachsen meiner Kinder, ihr erstes Lallen, Greifen, Gehen, Spielen, Fragen, Lachen und Lieben zu erleben; daß mein Ich meinen Sinn für den Frühling und seinen milden Wind, für das Rauschen des Baches am Haus und das Singen der Vögel im Wald rein und frei bewahrte; daß ich mich fernhielt vom Geschwätz böser Nachbarn; daß ich in der Umarmung mit meinem Gatten glücklich war und den Strom des Lebendigen in meinem Körper spürte; daß ich in wirren Zeiten die Richtung meines Wesens nicht verlor, und daß mein Leben Sinn und Dauer hatte. Denn ich habe immer in mich hineingehorcht, und ich bin stets der leise mahnenden Stimme nachgegangen, die mir sagte: Es gibt nichts außer diesem: das Leben gut und glücklich zu leben! Folge deinem Herzen, auch wenn es vom Pfade ängstlicher Seelen wegführt. Verhärte nicht, auch wenn dich das Leben quält. Und wenn ich an stillen Abenden, nach getaner Arbeit, mit meinem Geliebten oder meinem Kinde auf der Wiese vor dem Hause sitze, das Atmen der Natur verspüre, dann steigt das Lied in mir auf, das ich so gerne höre, das Lied der Vielen, das Lied der Zukunft:
… Seid umschlungen, Millionen …! Dann flehe ich zu diesem Leben, daß es lerne, seine Rechte zu verwalten, die Harten und die Ängstlichen zu bekehren, die die Musik der Kanonen ertönen lassen. Sie tun es ja nur, weil ihnen das Leben entging.‘ “ [8]
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3.2 Bildung und die Arbeit am sozialen Selbst: Über empathische Gemeinschaftserfahrungen zum gebildeten Selbst
Die Theorie der Kommunikation von Habermas [9] und die damit verbundene Diskursethik stellen die Grundlage von kommunikativen Gemeinschaftserfahrungen dar, die als friedfertig zu bezeichnen sind und auch als Grundlage der internationalen Beziehungen gelten können. Einerseits setzen Kommunikationsprozesse, die auf gleichen Sprechchancen und auf einer diskursiven Beratungs- und Entscheidungskultur beruhen, einen gewissen Bildungsstand der einbezogenen Akteure voraus, andererseits stellen sie auch kommunikative Erfahrungssituationen dar, die aus sich heraus bilden und zur Weiterentwicklung der Kommunikationspartner beitragen können.
Eine empathische Zivilisation
Zentral für die Art kommunikativer Erfahrungen, die hier gemeint sind, ist der Begriff der Empathie. [10] Das Einfühlungsvermögen in emotionaler und kognitiver Hinsicht gegenüber einem Kommunikationspartner ist die psychosoziale Voraussetzung für Gemeinschaftserfahrungen, die bilden können. Der US-amerikanische Ökonom und Publizist Jeremy Rifkin setzt den Empathiebegriff als so bedeutend an, dass er von der ‚Empathic Civilization‘ als der notwendigen gesellschaftlichen Zukunftsform spricht, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sich ein Mensch in einen anderen Menschen hineinversetzt, ihn zu verstehen sucht und anhand dieses Eindrucks sein eigenes Denken, Fühlen und Handeln ergebnisoffen überprüft.
Rifkin ist davon überzeugt – und führt dies an zahlreichen menschheitsgeschichtlichen Beispielen aus – dass der Mensch nicht nur egozentrisch, aggressiv und machtbetont sei, sondern auch von seiner Natur her eine Fähigkeit zur Empathie besitze:
“What does this tell us about human nature? It is possible that human beings are not inherently evil or intrinsically self-interested and materialistic, but are of a very different nature – an empathic one – and that all over the other drives that we have considered to be primary – aggression, violence, selfish behavior, acquisitiveness – are in fact secondary drives that flow from repression or denial of our most basic instinct?” [11]
Nun ist allerdings festzustellen, dass es eine Wechselwirkung zwischen gesellschaftlich dominanten Entwicklungen und psychischen Auswirkungen auf die Menschen in einer Gesellschaft gibt. Gesellschaftliche Strukturen, ökonomische Entwicklungen, Pandemien, ökologische Katastrophen, Migrationsbewegungen und Flucht oder militärische Bedrohungen verändern das Denken und Fühlen der hiervon betroffenen Menschen. Hierdurch werden Fähigkeiten des Menschen zu empathischer Gemeinschaftserfahrung abgeschwächt oder auch gestärkt – je nach den zentralen Intentionen einer gesellschaftlichen Verfasstheit, den charakterlichen Voraussetzungen eines Menschen oder auch eintretenden dominanten Tendenzen.
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Die Bedeutung der Bildung
Genauso unterliegen die Institutionen der Bildung historisch-gesellschaftlichen Entwicklungen. Vormilitärische Härteerziehung und Entwicklung von Feindbildern in der Schule sind in anderen Gesellschaftsformationen gefragt als dies für die Förderung sozialer Empathie gilt. Genauso wie Gesellschaften sich ihre für sie typischen Schulen schaffen, müssten gesellschaftliche Kräfte, die an einer Veränderung der Gesellschaft interessiert sind, Schulen verändern wollen.
Eine Vision einer friedfertigen Weltgemeinschaft benötigt zur Friedfertigkeit in Freiheit geförderte und befähigte Menschen, die ihre Feindbilder überwunden haben.
Die Veränderung globaler Strukturen und die Lösung internationaler Konfliktsituationen haben oft eine Entsprechung im Kleinen, im mikrogesellschaftlichen Raum. Wenn dort schon keine Veränderung gelingt, wird dies im makrogesellschaftlichen Raum auch kaum gelingen. Wenn eine an Solidarität, Pazifizierung und ökologischem Engagement orientierte Identitätsbildung über Bildungsprozesse gelingt, ist eine wichtige Voraussetzung für ein entsprechendes Handeln im Rahmen der subjektiven Möglichkeiten des Einzelnen und der gesellschaftlichen Reichweite handelnder Kollektive, wie z.B. Parteien, Gewerkschaften und anderer zivilgesellschaftlicher Organisationen, gegeben. Oder am Beispiel der ‚sustainable development‘ auch anders ausgedrückt: Eine Bildung für eine nachhaltige Entwicklung fördert einen Lebensstil, ein friedliches und ein ökologisches soziales Miteinander, das auch auf der überregionalen Ebene gesellschaftliche Einflüsse ausübt, Haltungen und Handlungsweisen verändern kann, die in gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen durchaus eine ernst zu nehmende politische und ökonomische Macht ergeben können. Dies ist sicherlich ein langfristiger und nach zivilgesellschaftlicher Courage, nach Kreativität und ausdauerndem gesellschaftlichen Engagement verlangender Prozess.
Bildung im gemeinten Sinne lässt sich nicht verordnen bzw. autoritär anordnen. Hierbei kann es sich nur um selbstbestimmte Bildungsprozesse handeln, um ein selbstverantwortetes Lernen in der Balance von Freiheit und Verantwortung. Das Ziel liegt in der Befreiung von Tendenzen der Unterwerfung und aggressiver Destruktion – so Theodor W. Adorno (1971, 126):
„Die These, die ich gern mit Ihnen diskutiert hätte, ist die, dass die Entbarbarisierung heute die vordringlichste Frage aller Erziehung ist. Das Problem, das sich dabei aufdrängt, ist, ob an der Barbarei durch Erziehung etwas Entscheidendes geändert werden kann. Ich meine dabei mit Barbarei etwas ganz Einfaches, daß nämlich im Zustand der höchstentwickelten technischen Zivilisation die Menschen in einer merkwürdig ungeformten Weise hinter ihrer eigenen Zivilisation zurückgeblieben sind – nicht nur, dass sie in ihrer überwältigenden Mehrheit nicht die Formung erfahren haben, die dem Begriff der Zivilisation entspricht, sondern dass sie erfüllt sind von einem primitiven Angriffswillen, einem primitiven Haß oder, wie man das gebildet nennt, Destruktionstrieb, der noch das Seine dazu beiträgt, die Gefahr zu steigern, dass diese ganze Zivilisation, wozu sie von sich aus schon tendiert, in die Luft geht. Ich halte das zu verändern allerdings für so vordringlich, dass ich dem alle anderen spezifischen Erziehungsideale nachordnen würde.“
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Bildungsprozesse müssten, so Adorno (1971, 137), durch einen Verzicht auf autoritäres Verhalten gekennzeichnet sein, es müsse die „Bildung eines rigorosen, starren und zugleich veräußerten Über-Ichs“ in der Erziehung verhindert werden. Bildungsprozesse müssten daher am Postulat der Mündigkeit orientiert sein und die Möglichkeit zur Selbstbestimmtheit und Kritikfähigkeit anlegen. [12]
Die Entwicklung von Universalismus und Ich-Identität
Die Entwicklung sozialer Empathie stellt hierbei ein zentrales Bildungsziel dar.
Rifkin stellt den Empathiebegriff in einen direkten Zusammenhang mit dem humanen Zivilisierungsprozess, wenn er formuliert:
“A heightened empathic sentiment also allows an increasingly individualized population to affiliate with one another in more interdependent, expanded, and integrated social organisms. This is the process that characterizes what we call civilization. Civilization is the detribalization of blood ties and the resocialization of distinct individuals based on associational ties. Empathic extension is the psychological mechanism that makes the conversion and the transition possible. When we say to civilize, we mean to empathize.” [13]
Empathie ist sicherlich eine zentrale psychosoziale Fähigkeit, untersucht man den Interaktionsprozess genauer, so wie dies im symbolischen Interaktionismus der Fall ist, lassen sich zumindest im Sinne der Identitätsanalyse des Soziologen Lothar Krappmann vier Voraussetzungen qualitativ hochwertigen Rollenhandelns im Versuch bestimmen, eine Balance von sozialer und personaler Identität in sozialen Situationen zu entwickeln:
· Rollendistanz – die Fähigkeit sich von Rollenerwartungen zu distanzieren;
· Ambiguitätstoleranz – die Fähigkeit, auch andere Meinungen auszuhalten;
· Empathie – die Fähigkeit, sich in einen anderen Menschen hinein zu denken und zu fühlen;
· Fähigkeit zur Identitätsdarstellung – die Fähigkeit, sich in der Interaktion als authentische Persönlichkeit zu zeigen und einzubringen. [14]
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Die Förderung dieser vier Fähigkeiten über entsprechend prägende soziale Erfahrungs- und Reflexionssituationen in Bildungsprozessen erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen zu einer weitgehend selbst bestimmten und bewusst vorgenommenen Balance von personaler Identität und sozialer Identität in entsprechenden Interaktionssituationen befähigt werden.
Es gelte, das Dilemma des Rollenzwanges zu überwinden, so zu sein wie kein anderer und doch so zu sein wie jeder andere – eine strukturelle Anforderung in sozialen Situationen, für die in jeder neuen Interaktionssituation immer wieder neu Identitätslösungen gefunden werden müssen.
Das soziale Selbst, d.h. eine Fähigkeit zur Ich-Identität, die sowohl prinzipiengeleitet als auch offen genug ist und auf psychische Vereinfachungen verzichtet, ist die psychosoziale Voraussetzung für eine Weltgesellschaft mit universalistischen Werten und hieran ausgerichteten Strukturen. Die moralisch fundierte Hemmschwelle, nationalchauvinistisch, autoritär und rassistisch zu regredieren, muss sich über Bildungsprozesse unterschiedlichster Art in den Persönlichkeiten aufbauen, um nicht der Verführung von Vereinfachungen angesichts hochkomplexer gesellschaftlicher Anforderungen in einer sich zunehmend vernetzenden Weltgesellschaft zu erliegen.
Hierbei ist es in einem holistischen Sinne wichtig, dass der sich bildende Mensch lernt, sich als Teil eines Ganzen zu begreifen und in seinem alltäglichen Verhalten auch Verantwortung für das damit verbundene Ganze zu übernehmen, soweit dies ihm möglich ist.
Die menschliche Persönlichkeit, die widerständig gegen die Verführungen und Manipulationen national-chauvinistischen Denkens, Natur verschlingender unsinniger Konsumbedürfnisse und aggressiver Militärstrategien ist und die mit einer universalistischen Moral ausgestattet sich als demokratisch orientierter und engagierter Weltbürger fühlt, eher zum Altruismus denn zum Egozentrismus neigt, kann nur eine allseits gebildete Person sein. Eine ethisch geleitete Bildung in seinen unterschiedlichen Facetten ist der Schlüssel zur Weiterentwicklung des Humanen. Dies meint nicht die wissensfixierte Paukschule, sondern meint ein Bildungsverständnis, das schulische Bildung als gekonnte Initiierung zur Selbstbildung in Verantwortung für das Ganze versteht. Schulen und Ausbildungen sollten problemorientiert Kompetenzen fördern, welche die Lernenden auf die Gegenwart und Zukunft einer verantwortbaren Globalisierung und damit auf ein an Nachhaltigkeit, Einhaltung der Menschenrechte und friedlichem Zusammenleben orientiertes Leben vorbereiten sollten. [15] Die Fortführung einer imperialen Lebensweise (Brand/ Wissen 2017) kann kein Ziel schulischer Bildung mehr sein.
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Zentrale Rolle politischer und historischer Bildung
Hierzu gehört natürlich die zentrale Rolle der mit sehr viel mehr zeitlichen Möglichkeiten auszustattenden gesellschaftspolitischen Bildung in den Schulen der Zukunft. Politische und historische Bildung versuchen über die Kontroversität von Themen und Materialien den Lernenden ein eigenständiges politisches Urteil sowie eine eigene historische Narration zu ermöglichen. Im Rahmen eines Wechselspiels zwischen lehrerstrukturierten und projektorientierten Unterrichtsphasen sind die möglichst selbstständige Analyse u.a. von gewalttätigen Auseinandersetzungen und von ökologischen Konflikten, die Beurteilung staatlicher und überstaatlicher Politikstrukturen sowie friedensstiftende und ökologische Handlungsmöglichkeiten im globalisierten Kontext und deren historischer Genese zu erarbeiten.
Insbesondere das exemplarische Prinzip ist hier von großer Bedeutung. So untersuchen die Lernenden im Politik- und Geschichtsunterricht oder auch im Rahmen fächerübergreifender Projekte einzelne Konfliktfälle genauer. Sie suchen sich beispielsweise einen militärischen Konflikt heraus, und analysieren weitgehend selbstständig im Sinne forschenden Lernens, wie es z.B. in Mali zu einer Verknüpfung von Klimawandel, Ressourcenkonflikten, Postkolonialismus, terroristischer Rekrutierung und gewalttätigen Auseinandersetzungen gekommen ist. Hier werden anhand eines einzelnen massiven Konfliktfalls auch allgemeine Aussagen und Beurteilungen möglich, die über den Einzelfall hinausgehen und zeigen, wie das regionale Geschehen in weltsystemische Strukturen und Prozesse eingebunden ist. Vor diesem komplexen Hintergrund gilt es dann gemeinsam zu reflektieren, wie sich eine Gesellschaft aus ihrer desolaten Situation befreien kann und welche Rolle hier z.B. auch die Vereinten Nationen oder die Europäische Union spielen könnten.
Demokratie ist nichts überdauerndes, nichts ein für alle Mal gesichertes, sondern muss immer wieder hinsichtlich ihrer ethisch begründeten Ziele, ihrer Partizipationschancen und deren Bedeutung für das menschliche Zusammenleben sowie des historischen Kampfs um die Demokratie und die dafür gebrachten Opfer in jeder Generation neu erlernt werden.
Eine qualitativ hochwertige politische und historische Bildung im dafür notwendigen Umfang ist eine wichtige Grundlage für das Lernen in der Demokratie für den Erhalt und die Weiterentwicklung der Demokratie, wo sie noch verbessert werden sollte. Eine derartige Bildung ist ebenso die Grundlage für ein Engagement in internationalen Beziehungen und für die Verbesserung der Lebensverhältnisse über die eigene Staatlichkeit hinaus. In diesem Sinne ist ein hochwertiger politischer und historischer Lernprozess auch als weltbürgerliche Bildung zu begreifen.
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Äußerungen, die darauf abzielen, die historischen Katastrophen doch endlich ruhen zu lassen, ist entgegenzuhalten, dass über die schulische Auseinandersetzung mit historisch vergangenem Unrecht von Menschen über Menschen für die Verhinderung zukünftiger Katastrophen gelernt werden kann. Es darf im Geschichtsbild der heranwachsenden Generationen nicht vergessen werden, wie viele Menschen in früheren Zeiten unterdrückt, gequält und getötet wurden, wenn sich Gesellschaftsstrukturen destruktiv entwickelten. Fast jede Nation hat eine derartige Geschichte des Überfalls auf andere Nationen und der Unterdrückung der eigenen Bevölkerung in einem unterschiedlichen Ausmaß aufzuweisen. Hieran ansetzend kann die existenzielle Bedeutung des gesellschaftlichen Ineinandergreifens von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit erkannt werden.
Schulen in der Demokratie müssen anders sein
In diesem Zusammenhang darf die Struktur der Schule nicht in einem Widerspruch zum Metaziel der Mündigkeit stehen. Wenn Mündigkeit mit selbstständigem und kritischem Denken und Handeln verbunden sein soll, dann müssen Schulen auch die Lernenden ernst nehmen und ihnen Möglichkeiten zur Mitbestimmung im Rahmen der Schulstrukturen sowie auch Mitsprache und Wahlmöglichkeiten über die zu bearbeitenden Inhalte und die eingesetzten Methoden geben.
Die Möglichkeit in einer demokratischen Schule, Demokratie lebensweltlich und praktisch über Mitbestimmungsmöglichkeiten und mit wahrnehmbaren Folgen zu erleben, stellt die notwendige Ergänzung zur politik- und geschichtsunterrichtlich vermittelten Bildung dar. Wenn dann in diesem Zusammenhang Schüler_innen z.B. bereit sind, engagiert an der Organisation und Durchführung der Fridays for Future-Demonstrationen teilzunehmen, müssten demokratische Schulen eigentlich Wege finden, dieses Engagement zu unterstützen. Auf jeden Fall dürften den Lernenden hieraus keine Nachteile erwachsen.
Auch die Herstellung kontroverser und zu kritischer Reflexion anregenden schulinternen Öffentlichkeiten in Form von Schülerversammlungen, Ausstellungen, Experten-Hearings und selbstorganisierten Podiumsdiskussionen stellen wichtige Elemente des Demokratie-Lernens dar.
In vielen Regionen und Ländern entwickeln sich innovative Bildungskonzepte und alternative Schulen, die auf staatliche finanzielle Ressourcen angewiesen sind, wenn sie nicht nur Schulen für Kinder aus wohlhabenderen Familien in Form von Privatschulen sein wollen. [16] Umso wichtiger ist der Verzicht auf Rüstungsspiralen bzw. auf die Erhöhung der Wehretats, damit die entsprechenden Ressourcen für den Bildungsbereich und zur inklusiven Förderung aller Kinder in allen Weltregionen zur Verfügung stehen. Zukünftige Gesellschaften können es sich nicht mehr erlauben, Milliarden und weltweit Billionen Dollar für Tod bringende Waffensysteme zu verschwenden.
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Wichtige soziale Erfahrungen können in den offiziellen gesellschaftlichen Bildungsinstitutionen, wie Kindertagesstätten, Schulen, Stätten beruflicher Bildung und den Hochschulen gemacht werden. Wichtiges kann aber auch über nonformale Erfahrungen in den Lebenszusammenhängen, wie z.B. in privat lebenden Familien, in politischen Initiativen, aber auch in alternativen Lebens- und Arbeitsformen, gelernt werden. Letzteren soll nun die Aufmerksamkeit gelten.
Alternative Lebens- und Gesellschaftsformen als Keimzelle für veränderte Bildungsprozesse?
Der Parzellierung menschlicher Lebensgemeinschaften in isolierte Familien- oder Singlehaushalte ist das Gegenmodell kommunitärer Lebensgemeinschaften entgegenzusetzen. Kommunitäre Gemeinschaften, Wohn-Genossenschaften, Ökodörfer und Nachbarschaftsvernetzungen stellen solidarische Formen des menschlichen Miteinanders dar, die politisch (und auch friedenspolitisch) wesentlich handlungsfähiger als parzellierte Formen des sozialen Lebens sind.
Zusammenleben auf einem lokal eingegrenzten Wohnbereich verbunden mit auf Konsens ausgerichteten partizipatorischen Kommunikationsformen, mit regenerativer Energieerzeugung sowie Gemeinschaftseinrichtungen zum gemeinsamen Arbeiten, mit Kulturangeboten, Gelegenheiten zum Meditieren und mit Aktionsformen nach außen können mehr und mehr zu einem Gegengewicht zu den destruktiven Tendenzen der Weltgesellschaft werden, die sich zunehmend über autoritäre Gewalt, Naturausbeutung, soziale Ungleichheit und fehlende Demokratie definieren.
Bereits existierende überregionale und internationale Vernetzungen [17] von kommunitären Gemeinschaften und Ökodörfern sind auch von der öffentlichen Hand auf Wunsch und Antrag finanziell zu fördern, gesellschaftlich zu respektieren und im zivilgesellschaftlichen Sinne zu berücksichtigen.
Das in fünf transnationalen Verbünden [18] zusammengefasste und ca. 10.000 Ökodörfer weltweit umspannende Netzwerk des ‚Global Ecovillage Network‘ (GEN) zeigt, dass es sich hier nicht um einige wenige Versuche handelt, sondern dass es bereits eine umfassende globale Bewegung ökologischer und solidarischer Lebensformen gibt. Das Selbstverständnis einer Gemeinschaft als GEN-Ökodorf ist wie folgt definiert:
„An ecovillage is an international or urban community that is consciously designed through locally owned, participatory processes in all four dimensions of sustainability (social, culture, ecology, economy into a whole system design) to regenerate its social and natural environment. Ecovillages are living laboratories pioneering beautiful alternatives and innovative solutions. They are rural or urban settlements with vibrant social structures, vastly diverse, yet united in their actions towards low-impact, high-quality lifestyles.“ [19]
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GEN hat einen Beratungsstatus als NGO bei dem UN-ECOSOC (Economic and Social Council) und ist Partner der UNITAR-CIFAL [20] Initiative. Das weltweite Netzwerk ist sich bewusst, dass es zu Bündnissen und Partnerschaften in die ‚Normalgesellschaft‘ kommen muss, damit der Einfluss einerseits dorthin hineinwirkt und andererseits auch gesellschaftliche Sicherungsstrategien wirksam werden können. Hierbei könne GEN Verbindungen aus sozialökologischen Innovationen und verwurzelter einheimischer Kultur entwickeln:
„Through the sharing of best practices and innovative solutions and the honouring of deep-rooted traditional knowledge and local cultures, GEN builds bridges between policy-makers, academics, entrepreneurs and sustainable community networks across the globe in order to develop strategies for a global transition to resilient communities and cultures.“ [21]
In diesem Sinne entwickelt auch das I.L.A. Kollektiv (2019) in einer wegweisenden Publikation eine gesellschaftspolitisch fundierte Konzeption, die imperiale Lebensweise in Produktion und Konsumtion zu überwinden, und verweist auf zahlreiche Ansätze und konkrete Projekte für eine solidarische Lebensweise. Die notwendige gesellschaftliche Transformation ist die Voraussetzung für die Abkehr von der imperialen Lebensweise, die die Menschen unsolidarisch miteinander in Konkurrenz setzt, das gute Leben für einige Menschen auf Kosten der Armen ermöglicht, die auf Profitdenken und kapitalistischer Produktion basiert und die ökologischen Grundlagen zerstört. Die solidarische Lebensweise hingegen ist durch Partizipation und Mitbestimmung, durch Sorge für die Mitmenschen, durch ökologische Landwirtschaft, durch einen gesunden Lebensstil und entsprechende Gesundheitsinstitutionen, durch eine umweltgerechte Mobilität, solidarische Produktion und Nutzung der produzierten Güter, eine veränderte Energieinfrastruktur sowie durch eine andere Gestaltung des Lebens- und Wohnraums und des Wohnens gekennzeichnet. Dies existiere bereits als ein aktiv wirkender Faktor der angestrebten gesellschaftlichen Transformation, der in einem Zusammenhang mit anderen, ähnlich gerichteten zivilgesellschaftlichen und politischen Aktivitäten zu sehen sei. [22]
Dieser Ansatz ist anschlussfähig an dem von u.a. Christian Felber (2018) entwickelten Konzept der Gemeinwohlökonomie, das bereits in vielen Unternehmensprojekten international umgesetzt wurde. [23] Hier verpflichten sich Unternehmen nachprüfbar ihre Produktion oder die Erstellung von Dienstleistungen orientiert an ethischen Prinzipien, wie z.B. Solidarität oder Nachhaltigkeit, zu gestalten. Damit verbindet sich die Forderung, diese Unternehmen steuerlich zu entlasten und im Rahmen der Kreditvergabe zu privilegieren.
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Am umfassendsten kommen m.E. die bereits weltweit existierenden politischen Kommunen den Anforderungen zukünftiger Problemstellungen, der Notwendigkeit einer radikalen gesellschaftspolitischen Transformation und den Ansprüchen an eine solidarische Lebensweise entgegen. Politische Kommunen sind in zweierlei Hinsicht als politisch einzustufen: Durch ihre Art des Zusammenlebens, Entscheidens und Arbeitens sowie über ihr politisches Engagement – auch in friedenspolitischer Hinsicht – nach außen:
„Die politischen Kommunen wollen die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern. Dazu tragen wir bereits in gewissem Maße durch unsere alternative Lebensweise bei. Fernziel sind egalitäre (freiheitliche und gleichberechtigte) Strukturen, die ein emanzipatorisches, solidarisches und ökologisches Leben möglich machen. Wir setzen damit ein Zeichen gegen eine zunehmende Vereinzelung in einer stark auf Konsum, Kauf und Naturausbeutung ausgerichteten Gesellschaft und für ein menschliches Miteinander und Teilen. Die einzelnen Menschen in den Kommunen betätigen sich auch in unterschiedlichen politischen Feldern, wie z.B. antifaschistische Arbeit, Anti-Atompolitik, BUKO, freie Medienarbeit, Internationale Solidaritätsarbeit, Engagement für die Erhaltung der Kulturpflanzenarbeit und gegen Gentechnik.“ [24]
Ein ermutigendes Beispiel: Die Kommune Niederkaufungen
Die Kommune Niederkaufungen in Hessen in der Nähe Kassels [25] ist eine der ältesten und größten kommunitären Lebensgemeinschaften in Deutschland (seit 1986). In ihr leben und arbeiten 80 Personen (59 Erwachsene und 21 Kinder). Es handelt sich hierbei um ein ökologisches und radikaldemokratisches Gemeinschaftsprojekt, das bereits seit Jahrzehnten gut funktioniert und eine hohe Anerkennung in der Gemeinde Niederkaufungen besitzt.
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Zum Selbstverständnis „Der englischsprachige Oberbegriff für Lebensgemeinschaften wie unsere ist ‚intentional community‘. Das bedeutet, die Menschen, die sich entschließen, als Kommunardinnen/Kommunarden in die Gemeinschaft einzusteigen, teilen die Grundsätze, Zielvorstellungen, Absichten, Überlegungen, Wertvorstellungen etc., die sich die Gemeinschaft gegeben hat und miteinander weiter entwickelt. Die Kommune Niederkaufungen versteht sich als lebendiges Experiment eines alternativen Lebensstils. Wir möchten ohne Hierarchie solidarischer und ökologisch nachhaltiger miteinander leben und arbeiten lernen.“ [26]
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Die Mitglieder der Kommune Niederkaufungen leben auf einem großen Bauernhof mit Haupthäusern und Nebengebäuden in verschiedenen Wohngemeinschaften, haben verschiedene soziale Einrichtungen im Plenum und in Kleingruppen, um ihre Probleme, Vorhaben und Pläne zu diskutieren, und haben eine Reihe ausgesprochen erfolgreicher ökonomischer Projekte und kollektiver Unternehmensformen entwickelt. Es wird dort versucht, mit Hilfe verschiedener kommunikativer Strategien alle Kommune-Mitglieder an den Entscheidungen zu beteiligen und Entscheidungen nach einem modifizierten Konsensprinzip zu fällen. Es gibt eine Reihe von Kollektivbetrieben der Kommune, die in die Region hineinwirken, wie z.B. eine Kindertagesstätte, eine Pflegeinitiative, ein Bauprojekt, ein Hofladen, ökologische Landwirtschaft, ein Tagungshaus, ein Bio-Caterer-Angebot.
Die Kommune Niederkaufungen ist im Selbstverständnis eine ausgesprochen politische Kommune, die sich für Gewaltfreiheit, Ökologie, Entwicklungsprojekte und gegen Rassismus engagiert:
„Darüber hinaus ergeben sich zu manchen Themen wie Castortransporten und dem Bau der A 44 von selbst mehr oder minder kommuneweit getragene politische Aktivitäten. Die Mitarbeit im Aktionsbündnis gegen Rechts, in der Ökologie- und Frauenbewegung, die BUKO, dem Freien Radio Kassel, den Transitiontown-Gruppen in Kaufungen und Kassel, der Solidarischen Landwirtschaft, sowie in eher herkömmlichen Formen politischer Arbeit wie Flugblätter entwerfen und verteilen, Transparente malen, Demos organisieren, Kontakte zur Kommunalpolitik etc. bleiben jedoch dem Interesse und dem Engagement Einzelner überlassen. Seit vielen Jahren spenden wir ca. 3% unseres Lebensunterhaltes an Projekte im globalen Süden und Organisationen, die solche unterstützen (Medico International, ASW)" [27]). [28]
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Aber insbesondere durch ihre kommunitäre Art zu leben und zu arbeiten stellt die Kommune Niederkaufungen einen gelungenen politischen Gegenentwurf zum Leben in Kleinfamilien und dem Arbeiten im Rahmen des Diktats betriebswirtschaftlich organisierter privatwirtschaftlicher Strukturen oder im Dienste des Staates dar. Solche Lebenskollektive deuten möglicherweise die Utopie kommunitärer Lebensweisen an, die nicht vorgeschrieben werden, sondern sich zunehmend vernetzend sehr eigen und selbstbestimmt entwickeln. Eine neue Lebenskultur lässt sich nicht verordnen, sondern entsteht aus sich heraus und entwickelt mit sozialer Kreativität und Phantasie neue gesellschaftliche Lebensweisen, die möglicherweise in der Zukunft sich als überlegen zu konventionellen Formen des Lebens und Arbeitens erweisen werden.
Hier wird also Ernst damit gemacht, dass es durchaus Ansätze eines richtigen Lebens auch im Falschen geben kann, ein richtiges Leben, das auch transformierend am Falschen wirken kann.
Ein weiteres ermutigendes Beispiel: Salecina (Maloja)
Ein weiteres positives Beispiel stellt das alternative Bildungs- und Begegnungszentrum Salecina in Maloja (Südschweiz/Oberengadin) dar. Anfang der 70-er Jahre wurde der Bauernhof u.a. vom Ehepaar Theo Pinkus und Amalie Pinkus-De Sassi u.a. dafür erworben, um dort in den Zeiten der rechtsstaatlichen Unsicherheit, z.B. in Italien oder Deutschland, zu Unrecht verfolgten politischen Aktivisten eine erste Zuflucht zu gewähren. Nachdem die Verfolgung der europäischen Linken letztendlich nicht in dem antizipierten Ausmaß erfolgte, wurde die Stiftung als internationale Begegnungs- und Seminarstätte umgewandelt. Hier konnte Urlaub in einem solidarischen Rahmen gemacht werden, gab es zahlreiche politische Seminare – auch mit ökologischer Thematik – gab es verschiedenste kulturelle Angebote, fanden viele Begegnungen und politische Diskussionen zwischen Menschen unterschiedlicher Nationen statt.
Ein gestaffeltes Preismodell für die Übernachtung, Verpflegung und Seminargebühr ermöglicht auch Menschen mit einem geringeren Einkommen, an Veranstaltungen teilzunehmen.
Die Stiftung wird von einem international besetzten Stiftungsrat (‚Salecina-Rat‘) in Verbindung mit verschiedenen Kommissionen verwaltet und betreut. Vier Hüttenwärte_innen unterstützen die Gäste in Salecina. Die Gäste übernehmen gemeinsam die verschiedenen Hausdienste, putzen und kochen zusammen. Es wird in der Regel in Mehrbettzimmern übernachtet. Abends bei der Tageskoordination werden diese Dienste abgesprochen, gibt es oft aktuelle politische Informationen, werden gemeinsame Aktivitäten verabredet.
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Zahlreiche bekannte politische Persönlichkeiten diskutierten in Salecina Fragen einer demokratischeren, friedlicheren und ökologischeren Zukunft. So waren z.B. Herbert Marcuse und Max Frisch gefragte Diskussionsteilnehmer in Salecina.
Salecina versucht ein Teil der ökologischen Bewegung im Oberengadin zu sein und sich mit dortigen Aktivitäten zu vernetzen.
Das internationale Seminar- und Begegnungszentrum Salecina ist ein gelungenes Beispiel einer anderen Kommunikationskultur, als selbstverwaltetes Begegnungs- und Bildungszentrum Teil der alternativen Ökonomie und weist Formen zukünftigen solidarischen Zusammenlebens auf. [29]
Tamera – ein sozialökologisches Siedlungsprojekt in Südportugal
Das im Süden Portugals liegende [30], auf Solidarität, Empathie, Naturverbundenheit und zwischenmenschlicher Liebe basierende Siedlungsprojekt ‚Tamera‘ mit circa 200 dort lebenden Menschen ist ebenfalls Ausdruck des kollektiven Versuchs, andere Formen des Lebens, Liebens und Arbeitens bereits jetzt zu finden. [31]
Das kommunitäre Siedlungsprojekt ‚Tamera‘ ist ein Zentrum für Friedensforschung und -ausbildung, so im eigenen Selbstverständnis, aber auch hinsichtlich der tatsächlichen friedenspolitischen Aktionstätigkeit. Es ist Teil des ‚Global Ecovillage Networks‘ (GEN), im Rahmen dessen sich, wie beschrieben, ca. 10.000 Ökodöfer weltweit miteinander verbunden haben.
‚Tamera‘ wurde von Sabine Lichtenfels und Dieter Duhm – bereits im Zuge der Studentenbewegung Autor des damals sehr verbreiteten Werkes ‚Angst im Kapitalismus‘ [32] – und einigen anderen Mitbegründern in einer ursprünglich sehr kargen Landschaft konzipiert. Durch Permakultur-Projekte wurde die verkarstete Landschaft in eine Wasserlandschaft mit zahlreichen Seen, ufernahen Biotopen und Bewässerungsanlagen zur ökologischen Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln verwandelt. Es gibt verschiedene Projekte, wie z.B. die erwähnte ökologische Landwirtschaft, das Permakultur-Projekt, Projekte solarer Energieerzeugung, eine Alternativschule, Forschung u.a. zu regenerativen Siedlungen, ein Verlagsprojekt (Verlag Meiga), ein Gästezentrum, Akademien, Lehrgänge und Kongresse u.a. mit friedenspolitischen Inhalten sowie sogenannte Grace-Wanderungen zu globalen Konfliktherden und dem Versuch, dort für internationale Aufmerksamkeit und friedenstiftende Vermittlung zu sorgen. Die literarische und auch theoretische Begründung dieser kommunitären Siedlungsarbeit ist ausführlich in den Publikationen von Lichtenfels und Duhm [33] sowie auf der Tamera-Homepage dargestellt.
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Das Siedlungsprojekt hatte bereits 1978 verschiedene kommunitäre Vorläuferprojekte und wurde 1995 dann am heutigen Standort in Südportugal in einer größeren Dimension fortgesetzt. Interessant ist hierbei die Verbindung politischer, philosophischer und spiritueller Weltsicht, die nicht zu einem Rückzug in private Welten führt, sondern mit dem Versuch, innere und äußere Heilung zu verbinden, auch nach außen tritt und zu Veränderungen im globalen Maßstab zu gelangen versucht. Es wird dort dezidiert an dem Entwurf einer neuen postkapitalistischen Welt (‚Terra Nova‘) gearbeitet, die durch eine andere Form des Umgangs miteinander und der uns umgebenden Natur gekennzeichnet ist.
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„Wir arbeiten für einen globalen Systemwechsel: Von Krieg zu Frieden, von Ausbeutung zu Kooperation, von Angst zu
Vertrauen. Vision Wir arbeiten für eine Zukunft ohne Krieg – für Terra Nova – durch den Aufbau von Heilungsbiotopen:
futurologische Zentren, in denen die Grundlagen für eine
zukünftige planetarische Kultur des Friedens
erforscht und exemplarisch entwickelt werden. Tamera unterstützt Menschen in aller Welt darin, erneuerbare, gewaltfreie Zentren aufzubauen – durch: Forschung an den ethischen, sozialen, sexuellen, ökologischen, technologischen und ökonomischen Grundlagen einer solchen Gesellschaft Ausbildung und Unterstützung von Menschen, die am
„Plan der Heilungsbiotope“ mitarbeiten wollen Netzwerkarbeit Aufbau einer planetarischen Gemeinschaft, die im Geist von
Terra Nova zusammenkommt“ [34]
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Auch das Thema der Sexualität wird nicht ausgespart, sondern wird im Sinne eines empathischen und befreiten Verhältnisses zwischen Liebespartnern reformuliert. Ernstzunehmende Initiativen zu einer globalen Vernetzung von ähnlich gestimmten Gemeinschaften und Gruppen werden engagiert vorgenommen. Mit den Grace-Pilgerschaften geht ‚Tamera‘ auch in konfliktbeladene und problematische Gebiete hinein und versucht dort für gegenseitiges Verständnis und Empathie zu werben – so Duhm (2011, 129):
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„Die Tränen, die eine israelische Mutter über ihren getöteten Sohn weint, sind dieselben wie die einer palästinensischen Mutter. Viele Tränen sind schon ausgeweint, der Schmerz war zu groß. Anklagen und Verurteilungen haben keinen Sinn mehr, denn sie verlängern nur die Spirale der Gewalt. Die jungen Demonstranten in Kairo oder Tripolis waren so alt wie die Polizisten, die auf sie geschossen haben. Sie hätten Freunde sein können. Auch die Friedensarbeiter im kolumbianischen Friedensdorf San José de Apartadó und die mordenden Paramilitärs könnten Freunde sein, wenn sie aus den Zwängen eines fürchterlichen Systems austreten könnten.“
Somit kann ‚Tamera‘ als eines der spannendsten kommunitären Projekte angesehen werden, das aufgrund seiner Dauer, seines Umfangs, seiner verschiedenen Ebenen, seines Forschungsansatzes und der internationalen Ausstrahlungskraft zukünftig eine bedeutende Rolle auf der Suche nach einer human-ökologischen Neuordnung spielen kann.
Rudolf Bahros Rettungslogik – ein gesellschaftstheoretischer Schiffbruch?
Der ehemalige DDR-Dissident und Autor des international beachteten Werkes „Die Alternative“, Rudolf Bahro, hat nach seiner Inhaftierung in dem DDR-Gefängnis Bautzen II und seiner Auslieferung in die Bundesrepublik eine rasante politische und ideologische Entwicklung genommen. Als Gründungsmitglied der ‚Grünen‘ in der Bundesrepublik versuchte er zunächst eine eher radikale ökosozialistische Politik durchzusetzen. Begegnungen mit Philosophen, eigene Meditationspraxis sowie ein längerer Aufenthalt in der Bhagwan-Kommune in Oregon führten zu einer Abkehr von einer eher politikwissenschaftlich begründeten und auf die demokratische Veränderung gesellschaftlicher Strukturen gerichteten Sichtweise. So kritisierte er die Grünen aus einer eher spirituellen Perspektive heraus als exterministische Partei, die eine technokratische Ökodiktatur anstrebe, trat aus, lebte in kommunitären Zusammenhängen und entwickelte einen sozialphilosophischen Ansatz, bei dem die Verantwortung für den Planeten aus der inneren Veränderung heraus entstehen sollte. In seinen beiden Büchern ‚Logik der Rettung‘ (1987) und ‚Rückkehr‘ (1991) analysiert Bahro die psychische Krise der Menschheit als Ursache der ökologischen und militärischen Zerstörung.
Bahro ist der Auffassung, dass sich die industriell-kapitalistische Megamaschine nur stoppen lasse, wenn eine Politik mit einem spirituellen und moralischen Anspruch im Sinne des Ego-Abbaus betrieben würde:
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„Eine Politik der Umkehr in den Metropolen – so nenne ich en bloc die Länder der Ersten Welt – beginnt mit der Bereitschaft zur Selbstveränderung, ja in einem gewissen Sinne sogar zur Selbstaufgabe des bürgerlichen Individuums“ [35]
Bahro fordert eine radikale Beschränkung im Konsum und Naturverbrauch, die Ausdruck einer anderen Geisteshaltung ist, ohne welche sich die Apokalypse des Planeten Erde nicht aufhalten lasse:
„Entziehen wir der Großen Maschine und ihren Dienern nicht nur unsere Wahlstimme. Wir müssen überhaupt aufhören, mitzuspielen, wo immer das möglich ist. Wir müssen allmählich alles lahmlegen, was in die alte Richtung läuft: Militäranlagen und Autobahnen, Atomkraftwerke und Flugplätze, Chemiefabriken und Großkrankenhäuser, Supermärkte und Lernfabriken.
Laßt uns darüber nachdenken, wie wir uns unabhängig von der Großen Maschine nähren, wärmen, kleiden, bilden und gesund erhalten können. Beginnen wir daran zu arbeiten, ehe sie uns vollends durchgesteuert, einbetoniert, vergiftet, erstickt und eher früher als später atomar totalvernichtet haben.“ [36]
Bahro entwickelt ein Konzept kommunitärer Entwicklung, im Rahmen derer sich Menschen als neuer spiritueller Orden global vernetzen sollten. Leitmotiv sei hierbei eine innere Orientierung bzw. eine Herzensbildung an der im Kosmos eingefalteten göttlichen Ordnung als Voraussetzung zu einem Wirken in der Welt. Die Rettung könne nur in der spirituellen Veränderung des menschlichen Wesens liegen und hätte dadurch eine prioritäre politische Relevanz:
„Nur von dort aus gibt es eine radikale und im genauen Sinne fundamentalistische Antwort. Die Bombe, Tschernobyl, das Elend der Welt, das mit der Ausbreitung unserer Zivilisation anwächst, sind nur Anstöße, allerdings unentrinnbare. Wir müssen die Logik der Selbstausrottung zurückverfolgen bis ins menschliche Herz, weil auch nur von dort die Logik der Rettung ihren Ausgang nehmen kann.“ [37]
Bis hierin könnte man eventuell Bahro noch in der einen oder anderen Position folgen. Aber die weiteren Ausführungen lassen erkennen, wohin Rudolf Bahros Denken dann abdriftet und problematische Züge annimmt: Keine neue Ordnung könne die Menschheit retten, wenn die geistigen Grundlagen der Gier und des damit verbundenen Vernichtungswillens des Menschen nicht beseitigt würden. Bahro fordert daher die Gründung eines weltweiten Netzwerkes von Kommunen, neuen Klostergemeinschaften, die Wiederkehr des Fürsten einer ökologischen Wende [38] sowie die Rückbesinnung auf das Göttliche im Menschen und in der Welt bzw. auf Gott:
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„Die ökologische Krise, sage ich, ist nur der äußere Anstoß, die gleichwohl unvermeidliche Verkehrung aufzuheben, die in dieser herostratischen Position des möchte-gern-allmächtigen Ichs liegt, aus der wir über die Welt verfügen möchten. Diese Gesundung des Herzens, damit es Gott schauen kann, der alles ist, uns eingeschlossen, ist jene zweite Geburt, die Jesus in jener nächtlichen Szene des Johannes Evangeliums dem Nikodemus ans Herz gelegt hat.“ [39]
Bahro bezieht sich nicht auf einen personifizierten Gott, also einen spirituellen Übervater, wie in den monotheistischen Religionen, sondern assoziiert mit dem Begriff ‚Gott‘ das Ganze in jedem Teil, das Universum, das auch im Menschen pulsiert, wenn er es denn noch wahrnehmen kann. Er versteht hierunter das große Gleichgewicht im Kosmos sowie die eingefaltete göttliche Ordnung, die von Natur aus da ist und im Menschen verloren zu gehen droht.
Kritisch ist zu fragen, warum er mit dem Gottesbegriff arbeitet, wenn er sich von den monotheistischen Religionen distanzieren will. Auch wenn er sich zunehmend für Daoismus und fernöstliche Erfahrungswege interessierte, bleibt unverständlich, warum er begrifflich von „Gott schauen“ und der „Rückbesinnung auf das Göttliche“ spricht.
Auch sein Werben für autoritäre Lösungen im globalen Kontext und seine ambivalente Haltung zum Nationalsozialismus sowie Stalinismus sowjetischer Prägung führten dazu, dass er – natürlich gegen sein eigenes Selbstverständnis – eher im Nachhinein zur ‚neuen Rechten‘ bzw. zu Vertretern „völkisch-esoterischer Staatslehren“ [40] zugeordnet wurde. Folgende Aussage Bahros legt dies nahe:
„Ich halte die Frage nach dem Positiven, das vielleicht in der Nazibewegung verlarvt war und dann immer gründlicher pervertiert wurde, für eine aufklärerische Notwendigkeit, weil wir sonst von Wurzeln abgeschnitten bleiben, aus denen jetzt Rettendes erwachsen könnte.“ [41]
Zwar wäre es bedenkenswert, die Welt mit einem Netzwerk von Kommunen zu überziehen und diese auch mit öffentlichen Mitteln zu fördern, doch stellt sich aus der Sicht Bahros die Frage, ob nicht einschneidendere Maßnahmen notwendig wären, um die militärische und ökologische Apokalypse noch aufhalten zu können. In diesem Zusammenhang spricht Bahro von einer „heilsamen Tyrannis“, einem selbstlos zu handhabenden Schwert, von „einer Gruppe von Menschen“, die den Abstand überwindet, „der jeden ‚König der Endlichkeit‘, und jede Königin auch, von der ursprünglichen Großen Ordnung trennen (…)“ [42]
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Bahro distanziert sich vom Linksintellektualismus, von einer „durch den Dünkel der ‚Erzieher‘ belasteten religiös-politischen Pädagogik“, von einer westlichen „Emanzipationsideologie“ ja sogar von verschiedenen Spielarten der Demokratie und den Demokraten und fordert eine „heilsame Tyrannis“, „ökodiktatorische Maßnahmen“, den „Fürsten des Lichts“. [43] Er stellt offen die Institutionen der Demokratie zur Disposition – wenn er formuliert:
„Ich meine vor allem, keine Errungenschaft unserer Zivilisation darf jetzt das Vetorecht gegen lebensnotwendige Veränderungen haben, weil der Exterminismus eine Krankheit des ganzen Organismus ist; Demokratie und Geldwirtschaft hängen engstens zusammen; wer jetzt gar – wie es meistens geschieht, bestimmte Einrichtungen und nicht bloß das demokratische Prinzip um jeden Preis bewahrt sehen möchte und zur Begründung nichts als die Negativerfahrung der Nazizeit vorzubringen hat, blockiert einfach jegliche grundsätzliche institutionelle Veränderung und will das in der Regel auch.“ [44]
Bahro entwirft eine Utopie einer Rettungsgesellschaft, in der ein Oberhaus („Haus der Gottheit“) sowie ein aus Weisen zusammengesetzter Ökologischer Rat den Ausweg aus der Apokalypse suchen müssten. Hierbei schließt er autoritäre Staatslösungen, entsprechende Verfassungsänderungen und despotische Machtausübung nicht aus, um die „große Ordnung“ [45] umzusetzen. Hier befindet er sich in unmittelbarer Nähe zu Heidegger, der ja auch nur allzu gern philosophischer Berater Adolf Hitlers sein wollte und voll und ganz das Führertum unterstützte. [46] Die sich zu solchen Lösungen kritisch verhaltende Linke diskreditiert Bahro als pubertär:
„Die Mentalität der westlichen Linken, die aus Prinzip in einem negativen Bezug zur Autorität verharrt, in einem pubertären Neinsagen zum Vater, bis die eigenen Haare weiß geworden sind, hält jetzt der Kritik durch die Tatsachen nicht stand.“ [47]
Mit diesen Formulierungen beweist Bahro, dass ihm z.B. die intellektuelle Auseinandersetzung und Befassung mit den Arbeiten der ‚kritischen Theorie‘ bzw. der ‚Frankfurter Schule‘ fehlt, die er möglicherweise durch seine DDR-Lebensgeschichte biografisch übersprungen bzw. verpasst hat, die er allenfalls vorschnell als Emanzipationsideologie abtut, aber nicht konkret zur Kenntnis nimmt. Seine politischen Perspektiven im ökologischen und militärischen Untergangsszenario gehen nicht in die Richtung auf eine rechtzeitig einsetzende Demokratisierung, sondern in eine ökodiktatorische Richtung. Mit seiner Forderung nach einer „dosierten Revolution von oben“ und einem „Staat über dem Staat“ [48] zeigt er, dass er sich ideologisch letztendlich nicht von obrigkeitsstaatlichen Modellen bzw. autoritären Modellen des Stalinismus lösen konnte. Hierbei argumentiert er allerdings nicht marxistisch, sondern mit einem diffusen Formulierungsmix in spirituell-religiöser und sozioökonomischer Hinsicht.
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Obwohl Bahro einige wichtige Dinge zum Zusammenhang von innerer Erfahrung und nach außen gerichtetem Verhalten sowie zivilisatorischen Krisen zu sagen hat, verirrt er sich letztendlich in quasi-religiöse Formulierungen und in autoritäre Ansprüche an eine Weltenrettung mit spiritueller Perspektive. Dies ist Ausdruck eines grundsätzlichen Misstrauens gegenüber demokratischen Prozessen und gegenüber der Kraft einer Aufklärung, die an den politischen und psychosozialen Anforderungen hinsichtlich Mündigkeit, kritischen Denkens und gesellschaftlich-emanzipierten Verhaltens in weiterhin zu demokratisierenden Strukturen orientiert ist.
Kommunitäre Lebensgemeinschaften können durchaus geeignet sein, soziale Empathie und noch weitergehender – Ich-Identität – in einer anderen Weise zu fördern, als dies in den auf Individualisierung und Privatisierung abzielenden Lebensverhältnissen, aber auch in den von Bahros Visionen autoritativ funktionalisierten Kommunen, der Fall ist. Letztendlich ist viel radikaler nach den gemeinschaftlichen und lebensweltlichen Voraussetzungen sozialer Liebe zu fragen – einer Liebe, die sowohl das eigene als auch das Glück des anderen zu berücksichtigen weiß.
Die Entwicklung sozialer Liebe im Dreiklang von Ich-Du-Wir weist einen Bezug zur Organisation gesellschaftlichen Lebens auf, widerspricht aber einer Utopie technokratisch und instrumentell vorgenommener Persönlichkeitsprägung. So untersucht der Sozialphilosoph Friedrich Voßkühler (2017) das Wesen und die Beziehungen zwischen dem Dreiklang von Ich-Du-Wir und fasst hierbei die Liebe zwischen Menschen als zwischenmenschliche Wahrhaftigkeit auf, die von gesellschaftlichen Voraussetzungen abhängig sei: „Wahr-nehmung des Anderen in seiner Andersheit und seiner Andersheit Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, dies ist es, was ich unter zwischenmenschlicher Wahrhaftigkeit verstehe.“ (S. 304) Die ideale menschliche Gemeinschaft baue auf wahrhaftige zwischenmenschliche Beziehungen auf. Hierbei müsse zunächst das von Marx entworfene Reich der Notwendigkeit erreicht werden, in dem der Mensch sich nicht mehr von der Natur beherrschen lasse, sondern er den Stoffwechsel mit der Natur gemeinschaftlich kontrolliere, so dass er der eigenen Potentialentfaltung und dem eigentlichen Reich der Freiheit näher käme. (S. 331 ff.) Erst in der idealen menschlichen Gemeinschaft in diesem Sinne finde die Liebe als zwischenmenschliche Wahrhaftigkeit ihren förderlichen gesellschaftlichen Hintergrund. Diese Gemeinschaft kann keine technische Utopie bzw. Vision der „technischen Selbstbemächtigung“ sein (S. 379), die ins Transhumane abgleitet. Die ideale menschliche Gemeinschaft ist durch die Verantwortung füreinander gekennzeichnet. Erst dann findet die Liebe einen zu ihr passenden sozialen Rahmen: „Die Liebe ist die Elementarform der ‚idealen menschlichen Gemeinschaft‘. Sie ist elementare Mitmenschlichkeit.“ (S. 391) Die ideale menschliche Gemeinschaft ist, so Voßkühler, sicherlich keine auf Privateigentum beruhende kapitalistische Gesellschaft:
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„Was ist also gefordert? Die menschlich souveräne Enthaltsamkeit gegenüber den krypto-religiösen Versprechungen des Kapitalismus. Die Enthaltsamkeit gegenüber den Verführungskräften des falschen Glücks. Der Mut, ohne dieses verheißene Glück auskommen zu wollen“ (S. 482)
Und abschließend und zusammenfassend Friedrich Voßkühler: „Die Liebe und der Kampf um die soziale Emanzipation gehören zusammen.“ (S. 484)
Der Psychoanalytiker und Soziologe Dieter Duhm unterstützt diese Einschätzung mit seinen in verschiedenen kommunitären Projekten über 40 Jahre hinweg gewonnen Erfahrungen. Die anwachsende kommunitäre Bewegung, deren Grundlage die zwischenmenschliche Liebe und das Leben im Einklang mit der Natur ist, lässt aus der Sicht Duhms die Hoffnung wachsen, dass es zu einer planetaren Vernetzung derartiger humaner Heilbiotope kommen werde, so Duhm (2015, 67):
„Die neue planetarische Gemeinschaft wird sich rapide ausbreiten, sobald die ersten funktionierenden Modelle existieren. Der Aufbau von Heilungsbiotopen, Modelluniversitäten, regionalen Zentren, neuen Siedlungsmodellen mit Wasser-Retentionslandschaften, von ökologischen Stadtteilen und futurologischen Wüstenstädten, globalen Kommunikationsformen und Netzwerken neuer Art — das sind Dinge, die wir wahrscheinlich schon in den nächsten zwei bis drei Jahrzehnten weltweit erleben werden“
Zusammenfassend lässt sich feststellen: Bildung und die Arbeit am personalen und sozialen Selbst im Sinne der Förderung sozialer Empathie und selbstbewusster Identitätsentwicklung sind auf Gemeinschaftsformen angewiesen, die solidarisch und verantwortlich konzipiert sind. Diese Formen menschlicher Vergesellschaftung bieten die Voraussetzung zur Bildung von Persönlichkeiten, die sich gegen die Zerstörung ökologischer Ordnung, gegen die Militarisierung der Welt, den Demokratieabbau und gegen ungerechte Lebensverhältnisse wehren. Hier wird dann — im Falle des Gelingens eines kommunitären Projekts — über die im sozialen Zusammenleben ausgelösten Prozesse innerer Erfahrung auf die verantwortliche Veränderung äußerer Strukturen vorbereitet.
Die historischen Erfahrungen des Realsozialismus haben hingegen deutlich gemacht, dass eine an Solidarität, Humanität, Umwelterhalt und Verteilungsgerechtigkeit orientierte Gesellschaft nicht über machthungrige, autoritär sozialisierte und intolerante Persönlichkeiten und deren staatlichen Terror errungen werden kann. Über die ‚Diktatur des Proletariats‘ wird es wiederum nur eine unfreie Gesellschaft geben können. Einmal mit autoritären und undemokratischen Persönlichkeiten aufgebaute Herrschaftsstrukturen werden nicht von sich aus in eine befreite Gesellschaftsformation übergehen, sondern werden versuchen, sich selbst über die Errichtung staatsbürokratischer Diktaturen zu erhalten.
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Dies bedeutet, dass ein an der Veränderung äußerer Strukturen ausgerichtetes Engagement auch eine Entsprechung hinsichtlich innerer Erfahrung im Sinne bildungsorientierter Selbstarbeit haben müsste. Auch kann das eigene soziale Umfeld hiervon nicht ausgenommen bleiben, sondern die bewusste Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen – sei es in Form kommunitärer Gemeinschaften oder Beziehungen und Hilfestellungen innerhalb guter nachbarschaftlicher Vernetzung – gehören zur Identitätsbildung und damit auch zur Empathieentwicklung dazu.
Bündnispartner gegen strukturelle Gewalt
Strukturelle Gewalt hat immer auch eine Innenansicht und eine subjektive Komponente, die es zu thematisieren gilt – so noch einmal Johan Galtung (1998, 12):
„Konflikte erschöpfen sich nicht in dem, was das bloße Auge als ‚Unruhen‘, als direkte Gewalt erkennt. Es gibt auch die Gewalt, die in den Strukturen eingefroren ist, und die Kultur, die diese Gewalt rechtfertigt. Im Übrigen besteht die wichtigste Aufgabe beim Versuch, einen Konflikt zwischen Parteien zu transformieren, nicht allein darin, für deren Beziehungen eine neue Architektur zu finden, sondern zugleich darin, den Parteien zu helfen, sich selbst zu transformieren, damit ihre Konflikte sich nicht ewig reproduzieren. Die meisten Konflikte zwischen Parteien haben innerparteiliche Aspekte.“
Eine Neuordnung kann nicht auf die richtige Welt warten, sondern muss jetzt und in naher Zukunft bereits in ersten nachvollziehbaren Schritten erkämpft und erfahren werden, ansonsten bleibt sie nur eine gedankliche Konstruktion.
Überall auf der Erde bilden sich derzeit in unterschiedlichen kulturellen Kontexten alternative Lebensgemeinschaften mit Formen gemeinwohlorientierter Ökonomie und friedlichen und auf diskursiver Partizipation und Empathie beruhenden Kommunikationsformen. Eine Neuordnung im globalen Kontext beginnt hier bereits von der Basis her und könnte die Keimzelle für eine Ablösung der auf Wirtschaftswachstum, Profitorientierung, Umweltzerstörung, auf Scheindemokratie und Autokratie sowie auf Aufrüstung und Kriegen beruhenden Gesellschaftsstrukturen werden. Derartige gedankliche und lebenspraktische Ansätze machen Mut, Neues auszuprobieren und sich selbst für neue Lebensbedingungen zu öffnen. Hier kann im Durchleben von Konflikten, im gemeinsamen Arbeiten im Rahmen einer gemeinwohlorientierten und ökologisch ausgerichteten Ökonomie und in der zwischenmenschlichen Erfahrung humaner Liebe die Zukunft bereits jetzt beginnen.
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Allerdings sind hierbei auch problematische Entwicklungen möglich, wenn die kommunitäre Entwicklung zu spirituellen Autokratien — im Sinne Bahros (1991) — verführt. Daher sind demokratische Strukturen und die Durchsetzung einer gemeinwohlorientierten Ökonomie essentiell für die hier gemeinten kommunitären Lebensweisen als Keimzellen einer globalen Neuordnung.
Ein struktureller Wandel hin zu einer globalen Neuordnung geschieht natürlich nicht zwangsläufig und automatisch, sondern wird ein zähes und langfristiges Auseinandersetzen der sich entwickelnden alternativen Lebensgemeinschaften und Vernetzungen mit denjenigen gesellschaftlichen Beharrungskräften bedeuten, die sich von den vorhandenen destruktiven Strukturen einen politischen und ökonomischen Vorteil versprechen. Daher müssen kommunitäre Vernetzungen Bündnispartner im lokalen, nationalen und internationalen Politiksystem finden, mit denen gemeinsam an einer globalen Neuordnung gearbeitet werden kann. Das Global Ecovillage Network (GEN) mit seinen Vernetzungen und Partnerschaften in das gesellschaftliche Umfeld hinein und auch zu den Vereinten Nationen hin ist hier auf einem vielversprechenden Weg.
Die Zeit hierfür wird aufgrund der bereits eintretenden Klimakatastrophe, der zunehmenden Aufrüstung und der damit wachsenden Weltkriegsgefahr, weiterhin vorhandener sozialer Verelendung sowie der wachsenden Unversöhnlichkeit kultureller Unterschiede zunehmend knapper. Umso wichtiger ist das weltweite Anwachsen dieser Alternativen sozialökologischen Lebens als Keimzellen einer neuen globalen Ordnung.
3.3 Humanistische Psychologie und Therapieverfahren
„Wir sprechen miteinander über Ihr Leben.
Die Menschen sind furchtbar unglücklich, unsicher, elend, zu Millionen arbeitslos, in Armut, Hunger, Leid, Schmerz, genau wie Sie selbst; Sie unterscheiden sich nicht von Ihnen. Sie mögen sich Hindu oder Moslem oder Christ nennen oder was Sie wollen, doch in Ihrem Bewußtsein, innerlich, sind Sie genauso wie der Rest der Welt. Sie mögen dunkelbraun, Sie mögen hellbraun sein, eine andere Regierung haben, doch jeder Mensch hat teil an dieser schrecklichen Welt. Wir haben diese Welt gemacht – verstehen Sie? Wir sind die Gesellschaft.
Wenn Sie wollen, daß die Gesellschaft anders wird, müssen Sie anfangen, Sie müssen Ordnung in Ihrem Haus schaffen, Ihrem Haus, das Sie selber sind.“
(Krishnamurti 1992, 59)
Wenn formale und informelle Bildungsprozesse in Schulen, Familien, Arbeits- und Lebenszusammenhängen oder im Freundeskreis nicht weiterhelfen, können therapeutische Verfahren eingesetzt werden, um z.B. Aggressivität, autoritäre Unterwerfungsphantasien, sexuelle Fixierungen und gesellschaftliche Destruktivität nach innen und außen, Depressionen und neurotische Angstzustände zu lindern, vielleicht sogar zu beseitigen.
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Die Bedeutung der Leiblichkeit
Die Verfahren humanistischer Psychologie [49] verweisen auf die Relevanz des Leiblichen. Biografische Erfahrungen in einer Gesellschaft zeichnen sich im Leiblichen ab, so wie die Jahresringe eines Baumes etwas über sein Alter aussagen. Ein geschulter Therapeut kann an den Körperhaltungen eines Menschen und an seinem Gang erkennen, mit welchen grundsätzlichen biografischen Problemen er sich auseinanderzusetzen hat. Ein Mensch beispielsweise, der einen großen Teil seines Lebens in Abhängigkeit und Unterwerfung zugebracht hat, neigt zum sich leiblichen Abducken, dem Einziehen des Kopfes, zur Verkürzung der Brustmuskulatur und der Einschließung des Herzmuskels. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat in seinen Arbeiten deutlich gemacht, wie sich eine Gesellschaftsstruktur zivilisatorisch über Personalisierungsprozesse habituell in den Menschen einverleibt („Körper gewordene soziale Ordnung“) (Bourdieu 1987, 740).
Die Leibanthropologie, z.B. die Unterscheidung von Plessner (1928/1975) in Leib und Körper, liefert ebenfalls Ansatzpunkte, die leibliche Positioniertheit des Menschen in der Welt als Leib-Sein zu betrachten, dem gegenüber das Leib-Haben, d.h. die Verfügbarkeit des Leiblichen, zu untersuchen ist. Leiblichkeit bezeichnet im deutschen Sprachgebrauch etwas anderes als der Begriff des Körpers. Eine körperorientierte Medizin beispielsweise verdinglicht die Leiblichkeit des Menschen und betrachtet z.B. das Herz oder die Galle unter einer naturwissenschaftlich-medizinischen Perspektive. Dies kann manchmal sinnvoll sein, findet aber seine Grenzen dort, wo es um die psychosomatischen Ursachen von Problemen mit dem Herzen oder der Galle geht. Das Herz beispielsweise unter einer leiblichen Perspektive ist Ausdruck der emotionalen Subjekthaftigkeit eines Menschen, seiner biografisch bedeutsamen Erfahrungen und schließt die psychischen und lebensweltlich-sozialen Dimensionen mit ein.
Am Leiblichen ansetzende Therapien
Insbesondere die bioenergetischen Therapieansätze, die auf Wilhelm Reich und Alexander Lowen aufbauen, setzen dieses Wissen in befreiender Absicht ein. Über Erfahrungen, die in Körperhaltungen, Atemweisen, im Schreien, in Berührungen und in Bewegungen eröffnet werden, wird ein leiblicher Zugang zum Menschen eröffnet, so dass psychische und im Menschen einverleibte Probleme für die reflexive Bearbeitung frei werden.
Auch gestalttherapeutische Verfahren in Anlehnung an Fritz Perls, die an der Wahrnehmung und Imaginationsfähigkeit des Menschen ansetzen, beziehen das Leibliche in die Therapie ein. Die sich in einer Therapie befindliche Person wird auf die eigene gegenwärtige Erfahrung zurückgeführt. Perls bezeichnet einen Menschen, der sich aufgrund seiner latenten Ängstlichkeit nicht zu einer Prioritätenabwägung entscheiden kann, der zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Anforderungen zerrissen wird, als Neurotiker:
„Der Neurotiker hat die Fähigkeit verloren (oder vielleicht nie entwickelt), sein Verhalten mit der notwendigen Hierarchie der Bedürfnisse in Übereinstimmung zu bringen. Er kann sich buchstäblich nicht konzentrieren. In der Therapie muß er lernen, sich zu entdecken und mit seinen Bedürfnissen zu identifizieren; er muß lernen, in jedem Moment an dem, was er tut, voll beteiligt zu sein, so lange in einer Situation zu verharren, bis er die Gestalt schließen und zu anderen Geschäften übergehen kann.“ [50]
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Hieran lassen sich Fragen stellen: Wie neurotisch ist denn dann die Mehrheit der Menschen, die sich zwischen den verschiedenen Konsumbedürfnissen, Karrierewünschen, familiären Erwartungen und manipulativen Angeboten der Medien zerreibt, ohne zu erkennen, wo die wirklichen Prioritäten zu setzen sind? Demokratie, Freiheit, Schutz der Natur und Frieden müssten oberste Prioritäten für das Leben jedes Menschen sein. Aber wo geht die Energie des Menschen hin? Durch welche Mechanismen des Angstaufbaus und der Manipulation wird verhindert, dass der Mensch die richtigen Prioritäten setzt?
Gefährdungen und abgespaltene Bedürfnisse, wie z.B. in der Sexualität, werden oftmals verdrängt, in der Wahrnehmung scheinbar ausgelöscht, kehren aber auf der leiblichen Ebene als wahrgenommene Krankheiten wieder zurück. Die Neurose entsteht über das Sich-Ausliefern an gesellschaftliche Erwartungen in herrschaftsbesetzten Strukturen, ohne eine sinnvolle Balance zwischen Eingehen und Ablehnen von Erwartungen im Rahmen von Prioritätsentscheidungen finden zu können.
Insbesondere bei der von Hilarion Petzold in Europa entwickelten und verbreiteten Integrativen Therapie wird ein noch breiteres Spektrum an Leibarbeit in die Therapie des ganzen Menschen einbezogen, wie z.B. Tanztherapie, Massage, Play-back-Theater und Sitzmeditation. Auch versucht die Integrative Therapie leibliche, soziale, psychische und sozialökologische Ebenen miteinander in Beziehung zu setzen und den Menschen seiner subjektiven Sinnfrage auszusetzen – so Petzold (1988, 342):
„In der therapeutischen Arbeit geht es um die Entlarvung und Beseitigung von Sinn-losigkeit in der individuellen und sozialen Realität des Menschen, geht es um die Konstituierung von Sinn in den intraorganismischen, intrapersonalen und interpersonalen Beziehungen sowie in den Relationen zur näheren und weiteren sozialen und physikalischen Umwelt. (…) Aufgrund dieser anthropologischen Prämissen ist jede Therapie letztlich Leibtherapie und in einen sozialen und ökologischen Kontext gestellt, den der Lebenswelt.“
Insbesondere die Einlagerung von Körperspannungen aufgrund sexueller Verdrängung wird von Alexander Lowen in Anschluss an Wilhelm Reich thematisiert. Über Haltungen, Berührungen, Bewegungsweisen verbunden mit unterschiedlichen Arten zu atmen, werden sexuelle Bedürfnisse und Gefühle freigelegt und einer therapeutischen Bearbeitung zugeführt.
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Eine übertriebene Aggressivität kann – nach Lowen – mit verdrängten sexuellen Bedürfnissen zusammenhängen, wenn die abgespaltenen sexuellen Energien im Körper zu Muskelverpanzerungen führen und sich dann in der zwischenmenschlichen Aggression entladen:
„Ein neurotischer Mensch wahrt das Gleichgewicht, indem er seine Energie durch Muskelverspannungen bindet und seine sexuelle Erregung abwürgt. Ein gesunder Mensch würgt seine sexuellen Empfindungen nicht ab und blockiert seine Energie nicht durch Muskelverpanzerung. Deshalb kann er seine gesamte Energie für sexuelle Betätigung oder eine andere kreative Selbstverwirklichung einsetzen.“ [51]
Das Ausleben einer reichhaltigen und gleichzeitig verantwortlichen Sexualität ist eine Kulturleistung, die im Einverständnis mit einem Partner oder einer Partnerin erfolgt und durch Sensibilität, Herzlichkeit und Zuwendung gekennzeichnet ist. Dies kann sich zwischen Mann und Frau genauso wie zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern entfalten. Auch die erotische Zuwendung zu sich selbst kann Teil dieser verantwortlich gelebten Sexualität sein.
Im Kriegsfall jedoch wird der Leib unterdrückt und im Aufeinanderprallen der Leiber oder ihrer technischen Hilfsmittel vernichtet. Wie wichtig ist da, dass die Menschen sich in ihrem Leib zu Hause fühlen, ihn achten und wertschätzen. Umso größer wird der Widerstand gegen Kriegshetze sein und gegen den obrigkeitsstaatlichen Versuch, sich in den Kriegsdienst pressen zu lassen.
Grundlagen einer heilsamen Wechselbeziehung
Die Verdrängung des Sexuellen, die Missachtung der Emotionalität, die leibliche Aggressivität nach außen und innen und die damit verbundene fehlende Ausprägung zwischenleiblicher Empathie müssten im Rahmen von ganzheitlich angelegten Bildungsprozessen – und in extremen Fällen – in am Leib ansetzenden Therapien bearbeitet werden. Eine Wertschätzung und sensible Zuwendung zum eigenen Leib sind sicherlich zwei von mehreren friedensstiftenden Faktoren auf der Persönlichkeitsebene.
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Wenn das Chaos eingetreten ist, ist es jedoch zu spät. Jede leibliche Ordnung wird im Kriegsfall zerstört, der Mensch wird seines Leibes beraubt – so Gert und Till Bastian (1986, 307):
„Das Zu-Hause-Sein in der Welt und im eigenen Körper versinkt im Chaos des Krieges. Grenzen lösen sich auf, Konturen verdampfen, das fest Gefügte schmilzt ein. Wie kein anderes Ereignis droht der Krieg die Kontinuität der Körper aufzulösen, indem er den Soldaten verbrennt, zerreißt, zerstückelt, zerfetzt, zerschmettert. Diese Maximalbedrohung des Leibes wird vorwegempfunden in einer inneren Kontinuitätszersetzung: Denken verdampft, die Grenzen des Empfindens schmelzen. (…) Auch im Inneren des kriegerischen Menschen setzen sich Energien frei, die nicht weniger destruktiv wirken als Bomben und Granaten auf der Trümmerlandschaft des Schlachtfeldes.“
Im Kapitel 2.8 wurden die erschreckenden Zahlen aus weltweit angelegten Statistiken über Drogenabhängige und -tote, über Depressionen und chronische Angstzustände sowie über Selbstmordversuche und Tote durch Suizid benannt. Als eine wesentliche Ursache dieser massenhaften Erkrankungen der menschlichen Psyche wurden gesellschaftliche Zustände übermäßiger Herrschaftsausübung und strukturellen Machtmissbrauchs sowie oftmals damit verbunden eine fehlgeschlagene biografische Suche nach einem vertretbaren und realistischen Lebenssinn verantwortlich gemacht. Das Gefühl des Ausgeliefertseins in herrschaftsbesetzten Strukturen führt zu Depressionen und Neurosen. Hier soll daher die Auffassung vertreten werden, dass eine positive Vision gesellschaftlicher Entwicklung bei der Stabilisierung der menschlichen Psyche helfen kann. Wenn Menschen sich zunehmend damit identifizieren, wofür sie sich gesellschaftlich einsetzen können, dann macht ihr Leben wieder Sinn. Gerade der Kontakt zu ähnlich gesinnten Menschen im gesellschaftspolitischen Engagement dürfte sich heilend auswirken, befreit von latenten Ängsten und stiftet neue Lebenszusammenhänge. Die positiven Wirkungen werden sehr wahrscheinlich sein: Menschen nehmen weniger Drogen, erkranken in geringerem Ausmaß psychosomatisch und begehen weniger Selbstmord. Heilung ist möglich im gemeinsamen Engagement für eine freie, friedliche, gerechte und ökologisch nachhaltige Welt. Konflikte zwischen den sich engagierenden Menschen kommen auch hier vor. Aber gereifte Menschen müssten mit Konflikten anders umgehen und nach der gemeinsamen Konfliktbearbeitung gestärkt daraus hervorgehen können.
Bei einem solidarisch erzielten Erfolg verstärken sich beide Einflüsse wechselseitig in eine die Gesundheit stärkende Richtung: Der menschliche Reifungsprozess, das gemeinsame Engagement und die zum Positiven veränderbare Welt könnten die Grundlage einer heilsamen Wechselbeziehung sein – so die positive Vision.
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Ein längerer und wiederkehrender Prozess
Das hier vertretene Friedensverständnis orientiert sich, wie bereits angesprochen, daher u.a. an den Überlegungen des Friedens- und Konfliktforschers Johan Galtung, der vor dem Verwechseln von Waffenstillstand und Frieden warnte. Ein Verständnis positiven Friedens ist mehr als Abwesenheit von militärischen Auseinandersetzungen. Es können weiterhin kulturelle Formen der Gewalt vorhanden sein, die sich in Feindbildern und kulturellen Vorbehalten gegenüber ganzen Gesellschaften äußern. Sind solche Ausprägungen kultureller Gewalt an Formen struktureller Gewalt im Rahmen einer obrigkeitshörigen und autoritären Gesellschaft gekoppelt, dann kann kein Frieden eintreten, allenfalls ein Waffenstillstand für eine gewisse Zeit, bevor der Krieg wieder ausbricht. Galtung (2004) beschreibt den Weg eines umfassenden (positiven) Friedens als eine immer wiederkehrende und längerfristige Arbeit an der gesellschaftlichen Zivilisierung:
„Allgemein gesagt kann die direkte, konkret sichtbare Gewaltanwendung zu einem rühmlichen Ende kommen, anderseits nehmen jedoch strukturelle und kulturelle Gewalt in dem Prozess zu. Gewalt-Therapie muss von der Krankheitstherapie lernen: einschließlich der Prävention – man baue am strukturellen und kulturellen Frieden – und schließe Rehabilitation ein, d.h. man baue von neuem am strukturellen und kulturellen Frieden. Und immer wieder von neuem.“
Versöhnung anstatt Hassspirale: Die südafrikanische ‚Truth and Reconciliation Commission‘
Ein herausragendes Beispiel einer Versöhnungskultur innerhalb einer gesellschaftlichen Konzeption positiven Friedens, bei der es um mehr geht als um die Abwesenheit von innergesellschaftlichem Krieg, ist in der Arbeit der von Nelson Mandela unterstützten südafrikanischen ‚Kommission für Wahrheit und Versöhnung‘ zu sehen.
Die farbige südafrikanische Bevölkerung hätte nach den langen Jahren der menschenverachtenden Apartheid in Südafrika die Macht besessen, sich an der weißen Bevölkerung brutal zu rächen. Unter dem Einfluss des späteren Friedensnobelpreisträger und südafrikanischen Präsidenten Nelson Mandela wurde nach einem entsprechenden Parlamentsbeschluss (1995) die ‚Truth and Reconciliation Commission‘ (TRC) gegründet, deren Aufgabe es war, u.a. in der persönlichen Begegnung von Opfern und Tätern Traumata zu verarbeiten, Einsicht und Reue zu fördern, Amnestie zu gewähren sowie Prozesse der Vergebung trotz der schrecklichen Erfahrungen im Apartheidsregime einzuleiten.
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Der TRC wurde zunächst gegründet, um für die öffentliche Feststellung und Dokumentation der Verbrechen während der Zeit der Apartheid zwischen 1960 und 1994 zu sorgen. Er bestand aus zwei Kammern. Der Menschenrechtsausschuss war zuständig für Petitionen der Opfer und öffentliche Anhörungen. Der Amnestieausschuss ermöglichte eine Amnestie im Anschluss an die vollständige Enthüllung der vergangenen Verbrechen und einer Aussprache mit den Opfern dieser Verbrechen.
Traumatische Erfahrungen im Zuge von erlittenen Gewaltsituationen können einen (überlebenden) Menschen sein Leben lang belasten, wenn sie nicht ins Bewusstsein gehoben und bewusst verarbeitet werden. Oft werden traumatisierte Menschen aufgrund dieser unverarbeiteten traumatischen Erfahrungen selbst wieder zu Gewalttätern. [52]
Das Mitglied des TRC, Pumla Gobodo-Madikizela[53], Professorin für klinische Psychologie an der University of Cape Town, blickt auf die Versöhnungsarbeit der TRC zurück:
„In der Zeit zu Beginn des 21. Jahrhunderts, die vom Streben nach Rache durch ruchlosen Mord und blutige Massaker geprägt ist, wo grausame Kriege mit Massenvernichtungswaffen geführt und Friedensverträge zwischen früheren Feinden aufgekündigt werden und im endlosen Kreislauf blutiger Konflikte münden, sich Staatsoberhäupter nicht zu schade dafür sind, öffentlich ihren Wunsch zu äußern, andere Führer ins Visier zu nehmen und sie ‚auszulöschen‘, bin ich stolz, eine Südafrikanerin zu sein. Südafrika dient heute als mahnendes Beispiel dafür, wie politische Führer Hass überwinden und eine Vision des Dialoges, des Friedens und der Versöhnung verkörpern können.“ [54]
Über die Begegnung und Kommunikation von Tätern und Opfern gelang es in einem großen Ausmaß, dass Traumata überwunden werden konnten, kein neuer Hass generiert wurde und Vergebung auf der einen Seite, Einsicht und Reue auf der anderen Seite entstanden. Hierbei mussten beide Seiten lernen, sich als Menschen wahrzunehmen – einerseits nicht als minderwertige Schwarze und auf der anderen Seite nicht als gewalttätige weiße Monster.
Allerdings muss auch angemerkt werden, dass nicht alle die Intentionen und die Arbeit der TRC unwidersprochen teilten. Manche Opfer des Apartheid-Regimes verlangten nach einer strengeren Bestrafung der Täter; aus Täterkreisen wurde wiederum in den Ausschüssen der TRC ein Racheakt der schwarzen Bevölkerung an den Weißen gesehen also genau das Gegenteil der humanitären Intention der TRC. Dennoch kann insgesamt die Tätigkeit der TRC aufgrund der vielen Erfahrungen von Aussprache und Versöhnung als ein bisher historisch einmaliger Erfolg angesehen werden, der für die – noch immer wieder zu erkämpfende – Transformation der südafrikanischen Gesellschaft hin zu einer demokratischeren Struktur maßgeblich war.
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Pumla Gobodo-Madikizela resümiert klug die Arbeit und Intention der Kommission:
„Gewöhnliche Menschen sind unter bestimmten Umständen dazu fähig, noch viel schlimmere Verbrechen zu begehen, als wir jemals für möglich gehalten hätten. Genauso sind wir zu weit größerer Tugend fähig, als wir jemals annehmen würden. Um den humanitären Geist in unserer Gesellschaft wiederherzustellen, um die Türe für die Möglichkeit der Transformation zu öffnen, müssen wir uns vom Mitgefühl leiten lassen, das uns als menschliche Wesen verbindet. Dieses Ziel – unsere Menschlichkeit wiederzuerlangen – erreichen wir nur durch fortwährenden Dialog über unsere Vergangenheit.“ [55]
3.4 Meditation als Selbst- und Welterfahrung
Zum vorliegenden Meditationsverständnis
Es gibt verschiedene bedeutsame Wege einer ganzheitlichen Verarbeitung biografischer Erfahrungen und einer Bewusstseinsöffnung für neue Lebensperspektiven und gesellschaftliche Entwicklungen. In diesem Zusammenhang spielt, neben institutionellen Bildungserfahrungen, solidarisch geteiltem Leben, Therapien und systematischer Konfliktbearbeitung im Rahmen gesellschaftlicher Transformationsprozesse, die Meditation eine bedeutende Rolle – auch (oder vielleicht gerade deswegen) wenn dies ein Weg ist, der nicht primär aus dem westlichen Kulturraum stammt.
In zenbuddhistischer und daoistischer Tradition soll unter Meditation die Erfahrung von Wachheit nach innen und nach außen verstanden werden. Es geht hierbei um eine komplexe und gleichzeitig differenzierende Achtsamkeit gegenüber allen Prozessen des Lebendigen. Hier wird also Meditation nicht als Abdriften ins Nirvana und als mystische Spekulation oder auch nicht als Gottheitserfahrung gesehen. Daher verliert Meditation seinen vereinnahmenden religiösen Zugriff. Meditation, so als intensive Achtsamkeitserfahrung verstanden, hält in einem holistischen Sinne sowohl Anschluss an sorgfältig ausgearbeitete Übungswege alter Kulturen als auch an Verfahren humanistischer Psychologie [56], an ökologische Forderungen, an friedenpolitische sowie gesundheitswissenschaftliche Ansätze. [57]
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Das Aufmerksamwerden auf die eigenen psychischen Strukturen, auf die eigene Leiblichkeit sowie auf die Umweltverhältnisse im Rahmen eines meditativen Übungswegs und vielleicht auch meditativen Zu- und Umgangs mit der Welt ist eine gute Voraussetzung für ein politisches Engagement im regionalen und überregionalen Kontext. Meditative Achtsamkeit ist der Kern jeder leibökologischen Übungspraxis. Hier kommt eine ökologische Einstellung zur Welt in Harmonie mit dem eigenen Zugang zum Leib. Es geht in beiden Zugangsweisen um Achtsamkeit sowie um Achtung.
Gerade in der Re-Sensibilisierung für das Leibliche im Sinne eines leibökologischen Verständnisses, könnte der Bewusstseinsschlüssel für die Achtung und schonende Nutzung der Natur im außerleiblichen Bereich liegen.
Auch wenn Krishnamurti (1992, 131ff.) zurecht meint, dass in den vorherrschenden Meditationsmethoden, z.B. täglich eine halbe Stunde sitzend zu meditieren, nicht das eigentliche Ziel angelegt sei, sondern es im alltäglichen Aufmerksam-werden auf die eigenen Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle und Handlungen begründet ist, sollen hier nun einige geeignete Meditationspraktiken kurz vorgestellt werden. Sie können zumindest dabei helfen, zu sich selbst zu finden und aufmerksam zu werden, sind allerdings kein Selbstzweck und durchaus durch vergleichbare Übungswege zu ersetzen.
Aufmerksamkeit ist eine Prioritätsentscheidung für das Hier und Jetzt. Was ich tue, tue ich bewusst. Dies widerspricht sowohl der beruflichen Anforderung nach ‚Multitasking‘ als auch medialen Inszenierungen, die manipulieren und für gesellschaftliche Zwecke zurichten wollen.
Verschiedene nicht-religiöse und philosophisch begründete Meditationspraktiken, die an leiblicher Erfahrung ansetzen, können hier den Weg zu Aufmerksamkeit und Achtsamkeit weisen: [58]
Zazen
Der Zen-Buddhismus darf nicht mit religiösen Strömungen des Buddhismus, wie z.B. dem Shintoismus, verwechselt werden. Beim Zen-Buddhismus handelt es sich um eine Lehre der Achtsamkeit – um keine Religion, die durch die fiktive Gottespräsens und -anbetung gekennzeichnet ist. Zen ist mit der bewussten Wahrnehmung des Alltäglichen verbunden – so der japanische Professor für zenbuddhistische Philosophie und praktizierende Zenbuddhist Daisetz T. Suzuki (1984, 50):
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„Denn Zen hat keinen Gott zum Anbeten, hat keinen zeremoniellen Ritus zu beachten, keine Zukunft im Jenseits, der die Toten überantwortet sind, und schließlich hat Zen auch keine Seele, deren Heil von irgendeinen anderen bedacht werden müßte, und mit deren Unsterblichkeit andere Leute sich abzugeben hätten. Zen ist frei von allen solchen dogmatischen und ‚religiösen‘ Lasten.“
Daher ist der Zen-Buddhismus anschlussfähig an aufgeklärtes westliches Denken. Es handelt sich bei den zenbuddhistischen Praktiken – ähnlich wie bei den daoistischen Praktiken – um ein strenges und genau geordnetes Erkenntnissystem, das mit seinen erfahrungsorientierten Methoden, wie z.B. dem Zazen und dem Kinhin, den Menschen zur Aufmerksamkeit für die Gegenwart heranbildet.
Hierin ist nichts Spektakuläres und ist keine übertriebene Mystik enthalten:
„Zen sucht das Leben zu ergreifen, wo es fließt. Nichts Außergewöhnliches oder Geheimnisvolles liegt im Zen. Ich hebe meine Hand; ich nehme ein Buch von der anderen Seite des Schreibtisches; ich höre, wie die Knaben draußen vor meinem Fenster Ball spielen; ich sehe, wie die Wolken über die nahen Wälder hinziehen: mit alldem übe ich Zen aus, lebe ich Zen. (…) Ich weiß nicht warum – und es bedarf auch keiner Erklärung, aber wenn die Sonne aufgeht, so jauchzt die ganze Welt vor Freude, und alle Herzen sind von Seligkeit erfüllt. Ist Zen überhaupt begreiflich, so muß es von hier aus gefaßt werden.“
(Suzuki 1984, 103)
Die wichtigste Übungsmethode im Zenbuddhismus ist sehr schlicht – das Zazen. Beim Zazen sitzt man in einer genau aufgebauten Körperhaltung in Ruhe und Gelassenheit. Gedanken, die auftauchen, werden wie vorbeiziehende Wolken am Himmel betrachtet und auch wieder gehen gelassen. Irgendwann tritt es dann ein: Gedankenleere Präsenz. Es handelt sich um vollständige Aufmerksamkeit und um ein komplexes Wahrnehmen im Sitzen.
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Gern wird zwischen zwei Phasen des Zazen auch eine Phase des meditativen Gehens eingefügt. Hier wird auf einem festgelegten Weg ein Raum in Zeitlupe mit den Händen vor dem Herzbereich durchquert (z.B. im Kreis oder im Viereck). Hierbei wird tief in den Bauchraum eingeatmet und die Füße werden sehr langsam und aufmerksam aufgesetzt und abgerollt.
Dieses achtsamkeitsbasierte Meditationsverständnis lässt sich auch in anderen Zen-Künsten wiederfinden. Im Zen-Bogenschießen findet nach einer langen Phase der inneren Einkehr und der Konzentration auf das Ziel der Schuss des Pfeils statt, ohne dass willentlich geschossen wird („Es schießt“). Diese Präsenz findet sich beispielsweise ebenfalls in der Kunst des Blumensteckens, der Tee-Zeremonie oder in der als Meditation verstandenen Kalligrafie wieder.
Zum Zenbuddhismus gehören auch schwer oder gar nicht lösbare Rätsel („Hörst du das Klatschen der einen Hand?“), sogenannte ‚Koans‘, in die man sich versenken kann und dadurch aus den normalen Gleisen des Denkens austritt. Auch die Unterredung mit dem Meditationslehrer bzw. Zenmeister (‚Sanzen‘) ist Teil der Zen-Praktiken.
Der geistige Zustand in der Bewusstheit und Einheit von Tagesbewusstsein und Unterbewusstsein, in der meditativen Verbindung von Selbst und Welt wird im Zen ‚Satori‘ genannt. Das Erreichen einer höheren Bewusstseinsform, die durch Friedfertigkeit und Reife gekennzeichnet ist, findet ohne einen Gott und ohne metaphysische Erfahrungen statt, die über eine göttliche Führung eintreten. Noch einmal: Das Wesen des Zen ist praktische Übung und kann sich in alltäglichen Dingen zeigen,
„denn Zen vermag einen unergründlich tiefen Gedanken einzig beim Aufheben eines Fingers erleben, bei einem Gutenmorgengruß an einen Freund, den wir zufällig auf der Straße treffen. In den Augen der Zen-Lehre ist das Verborgenste zugleich das Praktischste und umgekehrt. Das ganze Lehrsystem der Zen-Schule ist nur der Niederschlag dieser Erfahrungsgrundlage.“
(Suzuki 1984, 45).
Durch Zen ist ein Weg gegeben, aus der Unbewusstheit herauszutreten und sein durch das Unbewusste und die kulturellen Einengungen konstruiertes inneres Gefängnis zu verlassen. Es geht darum zu lernen, in das eigene Wesen zu schauen, sich diesem bewusst zu werden und dies zu leben – so noch einmal Suzuki (1984, 59):
„Wird Zen im Tiefsten verstanden, so erreicht der Geist den vollkommenen Frieden, und ein Mensch lebt, wie er leben sollte. Was wollen wir Höheres wünschen?“
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Qigong
Qigong wurde in den frühesten Texten als Tui-na (推拿), Atem-Übung, Dao Yin (导引) oder als Übungshaltungen beschrieben. Es war auch ein Weg, um die körperliche und geistige Langlebigkeit zu steigern. Qi Gong ist ein Begriff, der eine sehr komplexe und breit gefächerte Tradition eines Übungsgutes geistiger Reifung, meditativer Bewegungskunst und traditioneller chinesischer Medizin beschreibt. Qigong ist eine Begrifflichkeit, die mehr als 1500 Übungspraktiken umfasst.
Qigong ist eine meditative Bewegungskunst, die u.a. über die Beachtung des Yin-Yang-Prinzips, das Prinzip des Nicht-Zwingen-Wollens (‚Wu-Wei‘), über den Bezug zwischen Atmen und Energie im Verständnis des ‚Qi‘ und die Orientierung an der Bewegungsqualität langsam fließenden Wassers dem Daoismus (Taoismus) und dem NeiJing (内经)/TCM zuzuordnen ist. Der Daoismus in den Jahrhunderten vor unserer Zeitrechnung, der sich mit den Namen Lautse, Tschuangtse und Lietse verbindet, ist ebenfalls keine Religion, sondern eine Philosophie, die sehr naturnah und friedensliebend ist.
Das zentrale daoistische Werk von Laotse (Laodse, Laotzi oder auch Laudse), das Daodejing (auch Tao te king oder Daudejing) – übersetzt ‚Das Buch vom Sinn und vom Leben‘ (in der von Richard Wilhelm vorgenommenen Übersetzung) – wurde mit seinen 5000 Zeichen und 81 Versen im 4. Jahrhundert vor der westlichen Zeitrechnung verfasst. Zwei Ausschnitte aus den Versen des dem Laotse maßgeblich zugeschriebenen Werks machen dessen friedlichen Hintergrund in einer Zeit zahlreicher kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Reichen deutlich – so zunächst ein Ausschnitt aus dem Vers 31:
„Waffen sind unheilvolle Geräte, alle Wesen hassen sie wohl.
Darum will der, der den rechten SINN hat, nichts von ihnen wissen. (…)
Nur wenn er nicht anders kann, gebraucht er sie.
Ruhe und Frieden sind ihm das Höchste. (…)“
Klug wird das Thema Krieg und Frieden auch im Vers 46 angesprochen:
„Wenn der SINN herrscht auf Erden,
so tut man die Rennpferde zum Dungführen.
Wenn der SINN abhanden ist auf Erden,
so werden Kriegsrösse gezüchtet auf dem Anger.“
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Dementsprechend handelt es sich beim Qigong in der Regel um friedliche, langsame und fließende Bewegungen, die aufgrund ihrer Sanftheit niemanden Schmerzen zufügen können und wollen.
Das Qigong (Übersetzung: Traditionelles Übungssystem zur Pflege von Atem und Energie, auch Chi Kung) ist eine chinesische Übungstradition, die in inneres bzw. stilles Qigong (内功) und äußeres Qigong (外功) unterschieden wird. Beim stillen Qigong werden in der Regel spezielle Stellungen eingenommen und nicht sichtbare Atem- und Energielenkungen vorgenommen. Über z.B. das regelmäßige Atmen im kleinen Energiekreislauf entsteht u.a. eine innere Ruhe und Ausgeglichenheit.
Das imaginierte Lenken der Energie, des Qi, z.B. beim Standpfahl-Qigong, ist ein Beispiel für inneres Qigong.
Das äußere Qigong beinhaltet auch innere Prozesse, aber ist vor allem durch sichtbare Bewegungen gekennzeichnet. Das Baduanjin (Pa Tuan Chin), die 8-fache elegante Bewegungsreihe, mit seinen acht Positionen und heilgymnastisch begründbaren Bewegungsweisen ist ein sehr bekanntes Beispiel äußeren Qigongs.
Es gibt zahlreiche und sehr verschiedene Wege des Qigong und eine weit ausdifferenzierte Qigong-Bewegungskultur. Aber alle Qigong-Übungswege dienen der inneren Beruhigung, der Wachheit nach innen und nach außen, verbinden Atmung und Bewegung miteinander und sind daher auch Bestandteil der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM).[59]
Hierbei basiert das Qigong auf einem Verhältnis des Menschen zur Natur, das ihn bewusst als Teil der Natur sieht. Das Studium des Yin-Yang-Prinzips in der Natur war die Grundlage der Qigong-Übungen, bei der z.B. Anspannung (Yang) und Entspannung (Yin) in Balance sind. Gerade in diesem Punkt ist ein derart leibökologisches Übungssystem, wie das Qigong, von erheblicher Bedeutung für den modernen Menschen, der sich oftmals nicht mehr im Einklang mit der Natur wahrnimmt. So verwies der ungarische Sinologe und Kenner fernöstlicher Meditationspraktiken, Stephan Pálos, auf den Aspekt der Naturintegration beim in der TCM beheimateten Qigong:
„Dementsprechend stehen die körperlichen Prozesse mit den in der Natur wirkenden Elementen, Kräften und Prozessen in einer untrennbaren Verbindung. Hinter dieser Auffassung steht auch die Erkenntnis und Erfahrung, daß der Mensch nicht aus der Natur herausgelöst werden kann, daß er mit dem gesamten Kosmos in einer engen Abhängigkeit steht, da es selbst einen Teil dieses Kosmos bildet.“
(Pálos 1980, 29)
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Die Trennung des Menschen von seiner ihn umgebenden Natur, das fehlende Bewusstsein für seine innere und äußere Natur und von deren Verbindung zueinander ist einer der Grundlagen für die planetare Naturzerstörung. Wer Wert auf seinen Atem legt, wird auf saubere Luft achten wollen. Wer den Wechsel von Anspannung und Entspannung kennengelernt hat, wird sich und seine Umwelt nicht durchgehend überfordern wollen. Auch dies sind die Konsequenzen eines holistischen Wahrnehmungsansatzes.
Taijiquan
Das Taijiquan (im Westen oft auch Tai Chi genannt) ist ebenfalls vor dem Hintergrund des Daoismus und der TCM zu begreifen. Taijiquan besteht aus langsamen und fließenden Bewegungen, die – korrekt und regelmäßig ausgeübt – zuordenbare heilgymnastische Wirkungsweisen haben und als Bewegungsmeditation aufzufassen sind. Auch hier geht es in einer entschleunigten Bewegungsqualität darum, sehr aufmerksam, zentriert nach innen und wach nach außen, Achtsamkeitserfahrungen zu machen. Das Taijiquan wird in Taijiquan-Solo-Formen und Partner-Taijiquan unterschieden. Die Taijiquan-Solo-Formen bestehen zum einen aus verschiedenen ‚Handformen‘ sowie aus Waffen-Formen, die ebenfalls in Zeitlupe in festgelegten Bewegungsabfolgen ausgeführt werden. So wird das Taijiquan-Schwert auch das ‚friedliche Schwert‘ genannt. Das Partner-Taijiquan besteht zum einen aus festgelegten Bewegungsweisen zu zweit, die miteinander im Hand-Arm-Kontakt und z.T. mit Schritten und Drehungen, wie ein meditativer Tanz, miteinander durchgeführt werden. Sehr weit Fortgeschrittene gehen dann auch miteinander in das freie Partner-Taijiquan, bei dem es darum geht, dem anderen freundlich darauf hinzuweisen, dass er nicht aufmerksam war, z.B. durch ein Drücken am Ellenbogen oder einem sanften Zug am Arm aus der Balance gekommen ist. Es ist, so wie es die alten Menschen am Perl-Fluss im südchinesischen Guangzhou (Kanton) jeden Morgen übten (und der Autor dies am eigenen Leib erfahren konnte), ein friedliches Miteinander in spielerischer Konkurrenz und großer Achtsamkeit.[60]
Die Beschreibung der Haltungen und Bewegungsweisen sind in einem Zusammenhang mit der Selbst- und Welterfahrung zu sehen, die diese Bewegungssysteme kennzeichnen. Es geht um friedliche und meditative Selbst- und Welterfahrung, auch wenn dies natürlich von der konkurrenzorientierten Versportung und bewegungskolonialen Vereinnahmung – auch in China – bedroht ist.
Vor allem aber bedeutet Tai Chi aufgrund der Verlangsamung der Bewegungen ein Innehalten und Verweilen. Die Verlangsamung der Bewegung eröffnet die Möglichkeit, auf sich aufmerksam zu werden. Sie ist eine Gegenwelt zur Beschleunigungskultur und zum Sich-Abhetzen in druckvollen Arbeitsverhältnissen.
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Mit Bezug auf der im Qigong und Taijiquan enthaltenen ökologischen Verständnismöglichkeit der ‚Fünf Wandlungsphasen‘ formuliert der Osnabrücker Taiji- und Zen-Lehrer Klemens J. P. Speer (2019) hinsichtlich eines spirituell-gesellschaftlichen Engagements gegen die Klimakrise:
„Hier wäre die geistige Kampfkunst des Taiji gefragt. Da Taiji sich weltweit ausgebreitet hat, könnte es auch weltweit agieren und sich einsetzen (ein ‚neuer, diesmal weltweiter Boxeraufstand‘), wie natürlich auch viele andere nationale und globale Organisationen. Könnten Taiji-Übende nicht tatsächlich, mit ihrer Kenntnis der Wandlungsphasen, ein für alle Menschen leicht nachvollziehbares, hilfreiches Verständnis zu einem globalen sozialökologisch-ökonomischen Gleichgewicht vermitteln?“
Yoga
Yoga (Übersetzungsmöglichkeit: Vereinigen) besteht aus sehr vielfältigen Traditionen, von beispielsweise dem Hatha-Yoga, Vinyasa-Yoga, Raja-Yoga, Integraler Yoga bis zum Kundalini-Yoga. Yoga muss nicht zwangsläufig in Verbindung mit der hinduistischen Religion stehen, sondern kann ein leiborientierter Selbst- und Welterfahrungsweg sein, der mit Hilfe von Dehnungspositionen (Asanas), fließendem Stellungswechsel, Atemübungen (Pranayama), Konzentrationsübungen und auch Mantra-Singen zu innerer Ruhe und psychosomatischer Ausgeglichenheit führen kann. [61]
Yoga ist in die traditionelle, lebensphilosophisch begründete Kultur des Ayurveda (Sanskrit: Wissen vom Leben) eingebettet und hat hier einen festen Platz in der ayurvedischen Heilkunst.
Hierbei sind die ca. 2000 alten, aus 195 Versen bestehenden Suren des Patanjali ein wichtiger – natürlich auf heutige Verhältnisse zu übertragender – philosophischer Hintergrund, ohne die Übenden wieder in eine Religion einzubinden und einem Gottesbild zu verpflichten.
Der ‚Gruß an die Sonne‘ (Surya Namaskar) [62] und die sogenannte ‚Rishikesh-Reihe‘ [63] sind sehr berühmte Verbindungen von Asanas, die intensive Konzentrations- und Atemübungen beinhalten und gleichzeitig dehnen, kräftigen und das Herzkreislaufsystem aktivieren. Alle Bewegungsfolgen, Haltungen und Positionen des Yoga werden in Achtsamkeit und Sensibilität für den eigenen Leib vorgenommen, in einer meditativen Grundhaltung erfahren.
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Sicherlich gibt es noch weitere meditative Übungswege, die ähnlich strukturiert sind und vergleichbar wirken können, wie z.B. Kum Nye, Polarity, Akupressur oder Tantric Shiatsu (‚Tantsu‘).
Bei allen diesen philosophisch und gesundheitsethisch begründeten Übungspraktiken geht es darum, ausgehend von der eigenen Mitte, geerdet, achtsam und mit innerer Ruhe dem anderen friedvoll und mit menschlicher Reife zu begegnen – psychosoziale Voraussetzungen, die einem friedlichen und gewaltfreien Miteinander zuträglich sein dürften.
Sympathisch ist auch an diesen Übungswegen, dass sie nicht auf innerer Abschottung im Sinne ‚falscher Innerlichkeit‘ beruhen, sondern nach einer ausreichenden Phase meditativer Selbsterfahrung den Übenden dazu aufrufen, sich in das gesellschaftliche Leben wieder einzumischen. Die Geschichte des Zen-Mönchen, der den Büffel reitet, die Querflöte spielt und sich auf dem Marktplatz den Menschen zuwendet, ist eine gute Illustration für diese Geisteshaltung.
Die ehemalige Mitbegründerin der taz, Fernsehjournalistin und Yoga-Lehrerin, Gudrun Kromrey, konkretisiert im Interview den gesellschaftspolitischen Bezug des Yoga aus ihrer Sicht:
„Ahimsa, die erste Regel von Patanjali, bedeutet Nicht-Verletzen oder auch Mitgefühl. Das Schädigen von Menschen, Tieren und allem Lebendigen ist hier ausgeschlossen. Sozialdarwinismus, Massentierhaltung und unökologisches Verhalten entsprechen eben nicht dem yogischen Gedanken, dass wir keine losgelösten Individuen sind, sondern verbunden sind mit allem, was uns umgibt. Genau das Gegenteil hat uns das kapitalistische System immer eingeredet. Sätze wie: „Mache dir die Welt untertan“, „Jeder ist seines Glückes Schmied“ oder „Survival of the Fittest“ führen uns direkt ins stupide Hamsterrad, in die Hölle der aussichtslosen Abhängigkeiten und in die weitere ökologische Zerstörung.“ [64]
Ihre mögliche Anschlussfähigkeit an die Leistungen der europäischen Aufklärung erhalten diese fernöstlichen Methoden über den Verzicht auf die Unterwerfung und Anbetung eines Gottes. [65] Der geistige Reifungsweg zu Friedfertigkeit und Sozialität erfolgt durch die psychosoziale Leistung des Einzelnen, oft auch in gemeinsamer Übung mit geistig ähnlich gestimmten Personen. Lehrer auf diesem Weg bauen sich unter den Bedingungen einer Gesellschaft mit demokratischem Selbstanspruch nicht als autoritäre Meister auf, sondern sind erfahrene Wegbegleiter, die partnerschaftlich anleiten und beraten sowie zunehmend loslassen können, wenn ein Mensch sich weiter zu entwickeln beginnt.
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Insbesondere in den meditativen Praktiken, leiborientierten Erfahrungswegen, die größtenteils bereits vor 2000 bis 3000 Jahren im fernöstlichen Kulturkreis (China, Indien, Japan) entwickelt wurden, ist ein wichtiger kultureller Transfer vom Osten in den Westen zu sehen. Hier gilt es von den Errungenschaften einer anderen Kultur hinsichtlich eines friedfertigen Weges, der am Leiblichen ansetzt, zu lernen. Es werden Meditationswege eröffnet, denen achtungsvoll zu begegnen ist, und die den großen Zugewinn zeigen können, wenn sich Kulturen in Frieden begegnen und miteinander austauschen.
Meditative Bewegungspraktiken könnten auch ein Teil der kulturellen Lebenspraxis kommunitärer Lebensgemeinschaften sein. Hierbei müsste die Trennung in Freizeit und Arbeit aufgehoben werden und das Sich-Üben in einer meditativen Praxis als existenziell relevanter Beitrag zur Lebensgemeinschaft gesehen werden. Hier passen die alternativen Lebens- und Arbeitsformen zur Bewusstheit und leibökologischen Intention dieser Bewegungspraktiken als Teil einer alternativen Bewegungskultur [66] im Kontext kommunitärer, demokratischer und solidarischer Lebensgemeinschaften.
„'Yogas chitta vritti nirodha', sagt Patanjali, Yoga führt zum Zur-Ruhe-Kommen der Gedanken im Geist. Und dann, und nur dann, sind wir in der Lage mit einem unverstellten, einem nicht manipulierten Blick in die Welt zu gucken und auf uns selber zu schauen. Nur dann können wir Entscheidungen treffen, die für uns und andere gut und gedeihlich sind. Mit Atemübungen und Meditationen gelangen wir zu Orten in unserem Bewusstsein, an denen noch keine Angst vorhanden ist. Wir gehen also vor die Angst. Hier können wir Gedankenmuster auflösen, die uns begrenzen und schädlich für uns sind. Das ist der Ort, an dem noch keine Geschlechter- oder soziale Rollenmuster existieren. Hier liegt das wahre Wissen über uns selbst und unsere Rolle, die wir in dieser Welt spielen sollten und wollen. Erkennt man das, dann kann man deutlich souveräner mit anerzogenen und gesellschaftlichen Zwängen umgehen oder sich sogar gänzlich von ihnen befreien. Angst ist der Treibstoff unseres Gesellschafts- und Wirtschaftssystems. Wer Angst hat, der stellt keine Forderungen. Stellen wir uns also einmal vor, wie eine Gesellschaft aussehen könnte, in denen die Individuen angstfrei, heiter und gelassen agieren sowie aufrecht und stabil mit Haltung — körperlich und intellektuell — durch das Leben gehen.“ [67]
Wilfried Belschner, Psychologieprofessor und Kursleiter für 'leibbasierte Bewusstseinsbildung' verweist allerdings darauf, dass die geistige Kultivierung über Meditation auch auf gesellschaftliche Widerstände stoßen wird, wenn zunehmend mehr Menschen durch ihr verändertes Leben einen systemverändernden Einfluss bekommen - so Belschner (2025, 16):
Die Gegner einer Bewusstseinskultivierung "werden ihre vielfältigen personellen, wirtschaftlichen und medialen Mittel mit aller verfügbaren Macht in gnadenlos rücksichtsloser Weise einsetzen, um Menschen, die solche Methoden der Bewusstseinskultivierung praktizieren, zu stigmatisieren und zur 'freiwilligen' Aufgabe ihres Befreiungsprojektes zu veranlassen, wenn sie befürchten, die bestehende Ordnung ihrer Vorteile könnte in Frage gestellt werden."
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Noch einmal zurück zum Daodejing
Sharon Rose, Taijiquan- und Qigong-Praktikerin, die das vorliegende Kapitel zur gesellschaftlichen Bedeutung der meditativen Praktiken gegengelesen hat, kommentiert hier:
„It would be wonderful for our world to come together to create and live in such harmonious society. Can we accomplish this through meditative practices alone? I think these practices are good vehicles to get us to a place of peace and freedom within ourselves. However, the spiritual benefits from these meditative practices can only be fully realized if the driving principles/philosophies behind them are fully understood and absorbed. The unification of mind and body will enlighten and empower us as individual, as well as a society as a collective when such individuals come together as a whole.“
Die Weisheit der daoistischen Lehre wird abschließend noch einmal in zwei Ausschnitten aus dem Daodejing mit Bezügen zur Friedensthematik und zu verantwortlicher Politikgestaltung deutlich – zunächst aus dem Vers 13:
„Wer in seiner Person die Welt ehrt,
dem kann man wohl die Welt anvertrauen.
Wer in seiner Person die Welt liebt,
dem kann man wohl die Welt übergeben.“
Die Botschaft des Daodejing ist auch an anderen Stellen des Werks durchaus politisch und mit einer positiven Vision verbunden, wenn im 54. Vers formuliert wird:
„Wer seine Person gestaltet, dessen Leben wird wahr.
Wer seine Familie gestaltet, dessen Leben wird völlig.
Wer seine Gemeinde gestaltet, dessen Leben wird wachsen.
Wer sein Land gestaltet, dessen Leben wird reich.
Wer die Welt gestaltet, dessen Leben wird weit.“ [68]
Wie weitsichtig sind diese Sätze formuliert! Sie fordern geradezu zu einem gesellschaftspolitischen Engagement heraus und stellen die Verbindung zur Qualität des eigenen Lebens her. Die 81 Verse des Daodejing stellen, neben den Sutren des Patanjali und den klassischen Zen-Texten, eine sehr geeignete philosophische Grundlage für das Sich-Üben in den meditativen und am eigenen Leibe ansetzenden Selbsterfahrungswegen dar.
Und abschließend noch einmal in kluger Zusammenfassung, Sharon Rose, im Schreiben an den Verfasser:
„My understanding is that what these three ancient philosophies have in common is the emphasis on individual cultivation, responsibility and respect for laws of nature. Ultimately, living in harmony with nature to seek and obtain balance is the premise for health and happiness. Meditations and martial arts practice are physical expressions of such philosophy in action. They are good vehicles to help one learn and cultivate self-awareness and therefore, find self-enlightenment. When every individual achieves health and harmony within oneself, the society will become so as a whole. That's the Dao of nature.“
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3.5 Demokratiebildung auf dem Weg zu einem neuen Politiker_innen-Typus
„Sei du selbst die Veränderung,
die du dir wünschst für die Welt“
Mahatma Gandhi
Merkwürdige Männer sind an der Macht
Weltweit sind die Zunahme von politischen Führern und die Durchsetzung eines psychischen Musters zu beobachten, das Adorno zutreffend als autoritäre Persönlichkeit ("authoritarian personality)" beschrieben hat. Hierbei versuchen autoritäre Persönlichkeiten in der Politik unbedingten Gehorsam unter ihren Willen und ihre Entscheidungen zu erzwingen, maßen sich ein Monopol auf die Wahrheitsfindung an, verhalten sich aggressiv und repressiv, erklären alle Gegner zu Feinden und bieten populistische Weltbilder an, in denen abweichende gesellschaftliche Strömungen und Minderheiten diskriminiert und ausgegrenzt werden. Auch in der Außenpolitik sind derartige Politiker äußerst gefährlich, da sie dort zu Großmachtsphantasien neigen und insbesondere in Krisenzeiten über das Eingehen militärischer Konflikte Zustimmung im eigenen Land gewinnen wollen.
Politiker, wie z.B. Trump, Putin, Erdogan oder Bolsonaro, sind jeder individuell für sich zu analysieren. Sie sind allerdings aus unterschiedlichen Motiven heraus alle Verächter der an der Aufklärung orientierten Werte. Sie setzen nationalchauvinistische Interessendurchsetzung an die Stelle von auf diplomatischem Wege erzielten multilateralen Vereinbarungen, die als Ausdruck von internationalen Kompromissen gelten können. Das ausdauernde und unterschiedliche Interessen berücksichtigende multilaterale Verhandeln ist ihnen fremd und sie neigen zum Einsatz von Gewalt gegen militärisch schwächere Staaten. Sie tragen keine Verantwortung für die Weltgemeinschaft, sondern wollen nur die Vorteile für die besitzende Klasse (sich selbst einschließend) und die geostrategischen Interessen ihres Landes (und damit ihrer eigenen Interessen) durchsetzen.
So schreibt der Pulitzer-Preisträger Thomas Friedman (2018) in der New York Times beispielsweise über die fragwürdige Persönlichkeit des ehemaligen und nun Ende 2024 wieder gewählten US-Präsidenten Donald Trump im Kontext einer sich selbst aufgebenden republikanischen Partei:
“Day in and day out, he proves to us that he has no shame. We’ve never had a president with no shame – and it’s become a huge source of power for him and trouble for us.
And what makes Trump even more powerful and problematic is that this president with no shame is combined with a party with no spine and a major network with no integrity – save for a few real journalists at Fox News like the outstanding Chris Wallace.
When a president with no shame is backed by a party with no spine and a network with no integrity, you have two big problems.”
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Auch der russische Präsident Wladimir Putin hat keine Skrupel, vermeintliche russische Interessen international durchzusetzen und hierbei die Fakten zu verdrehen. Auch wenn er vor zwei Jahrzehnten bereit war, sich dem Westen anzunähern und demokratische Reformen in Aussicht stellte, ist dies längst Vergangenheit. Das ‚System Putin‘ dient Putins Machterhalt, unterdrückt brutal die politische Opposition, stützt Diktaturen und führt zu einer maßlosen persönlichen Bereicherung. [69] Das 'System Putin' bedeutet eine ständige Bedrohung für den globalen Frieden. Das brutale Vorgehen Putins als befehlsgebendem Oberhaupt der russischen Föderation in Tschetschenien, in Syrien und in der Ukraine zeigt seine Menschenverachtung, wenn es gilt, imperiale Ziele durchzusetzen.
Der ebenfalls sich und seine Familie bereichernde türkische Präsident Recep Erdogan wiederum vernichtet Teile der demokratischen Opposition in der Türkei mit dem Argument der vermeintlichen Kontakte zur Gülen-Bewegung, die er mit einer terroristischen Organisation gleichsetzt. Auf einmal ist es möglich, mehr als Hunderttausend ihm kritisch gegenüberstehende Verwaltungsbeamte, Polizisten, Richter, Lehrer oder Professoren mit dem Hinweis zu entlassen und ihre berufliche Existenz zu zerstören, sie ständen der Gülen-Bewegung nahe und seien daher Terroristen. Überdies werden mit dieser fiktiven Konstruktion zehntausende politischer Persönlichkeiten in der Türkei unter menschenunwürdigen Bedingungen mit dem gleichen Argument inhaftiert und ohne Prozesse und Anklageschrift jahrelang eingesperrt.
Der die Diktatur verherrlichende und frauenfeindliche ehemalige brasilianische Präsident Jair Bolsonaro befürwortet die ökonomische Nutzung des brasilianischen Regenwaldes, die zur Abholzung und Brandrodung des Regenwaldes führt. Er bezweifelt hierbei die ökologische Funktion des Regenwaldes für das globale Klima. Auch negiert er die Rechte der im Regenwald lebenden indigenen Völker und kritisiert das brasilianische Militär, das es nicht geschafft habe, die indigenen Völker rechtzeitig zu erledigen. Solche Aussagen sind als motivierender Hintergrund für das dann tatsächlich eintretende Morden zu sehen. [70]
Alle vier benannten Politiker konstruieren sich ihre eigene Welt und bestrafen Menschen, die eine andere Weltsicht haben, auf unerträgliche Weise. Sie stehen der freien Presse, der Wissenschaft, der unabhängigen Bildung und der kritischen digitalen Medienöffentlichkeit feindlich gegenüber, diskriminieren sie („fake news“) oder versuchen sie zu verbieten (Russland) bzw. ihre Vertreter zu inhaftieren (Türkei).
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Sie verbindet des Weiteren, dass sie ihr Land auf Kosten anderer Staaten und Regionen groß machen wollen (z.B. „Make America great again“, „America first“).
Der ehemalige philippinische Präsident Rodrigo Duterte, der für seinen blutigen Kampf gegen die Drogen berüchtigt war und während der Coronakrise Polizisten aufforderte, Menschen die „Ärger machen“ zu erschießen, stellt eine weitere Variante autoritärer und menschenverachtender Politiker dar: „Statt Ärger zu machen, werdet ihr von mir ins Grab geschickt“. [71]
In der Europäischen Union hingegen ist mit Viktor Orbán ebenfalls ein Ministerpräsident vorhanden, der demokratische Grundrechte über die Corona-Krise zugunsten seiner eigenen Machtfülle außer Kraft setzte und die Wiedereinsetzung dieser Rechte von seiner Person und seiner Partei Fidesz abhängig machte. Hiermit nutzte er die Corona-Krise aus, um die Schwächung der ungarischen Demokratie unter seiner Regierung fortzusetzen. [72]
Der Belarussische Präsident Lukaschenko befiehlt den 'Sicherheitskräften', brutal auf Demonstranten einzuprügeln, die transparente und neutral überwachte Wahlen fordern. Tausende oppositionelle Kräfte werden aufgrund ihres (friedlichen) Protests verhaftet. Es gibt Tote und Verletzte. Oppositionspolitikerinnen fliehen ins Ausland. Es ist auch ein Geschlechterkrieg: Insbesondere Frauen stellen sich gegen den belarussischen Autokraten und sein System der Korruption und Selbstbereicherung.
Es ließe sich sicherlich die Reihe derart männlicher, 'merkwürdiger' Präsidenten fortführen. …
Eine Demokratie benötigt Demokraten
Im Gegensatz hierzu steht die von Linklater [73] entworfene universalistische Moralentwicklung, die Menschen hervorbringt, die differenzsensibel, an sozialer Gerechtigkeit interessiert und diskursethisch an der Inklusion von Menschen orientiert sind.
Hier sind eher Politiker_innen, wie z.B. der Friedensnobelpreisträger Nelson Mandela, gemeint, der auf die Kultivierung von Feindbildern und Rache gegen die Handlanger der Apartheidsregierung verzichtete und die Verfahren der Aussöhnung initiierte und institutionell sicherte. Die deutsche Politikerin Elisabeth Selbert wiederum steht für ein mutiges Eintreten für die Rechte der Frauen und die Aufnahme der Gleichberechtigung in die Verfassung. Die dänische EU-Kommissarin Margrethe Vestager ist bekannt für ihr Engagement gegen Wirtschaftskonzentration und ökonomischen Machtmissbrauch.
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Dies sind einige positive Beispiele einer ethisch geleiteten Politikfähigkeit, die durchaus eine hohe gesellschaftliche Anerkennung erhalten hat und die eine wesentliche Voraussetzung für das Gelingen von Demokratie ist.
Doch auch international geehrte Politiker können, wenn sie unter Druck geraten, von einem friedlichen Weg abkommen. Ein Beispiel hierfür ist der äthiopische Staatspräsident Abiy Ahmed, der ebenfalls den Friedensnobelpreis (2019) u.a. für die Stärkung des inneren Friedens seines konfliktreichen und in regionale Volksgruppen zerrissenen Landes sowie für die Friedensverhandlungen mit dem Nachbarstaat Eritrea erhielt. Er stand für einen Neubeginn in Äthiopien, indem er u.a. Tausende inhaftierter Dissidenten und Journalisten aus den Gefängnissen und korrupte Beamte aus dem Dienst entließ. Dann aber schaffte er es nicht, einen blutigen Konflikt mit der Provinz Tigray zu verhindern, dem viele Zivilisten zum Opfer fielen. Insbesondere durch die von Abiy zugelassene Beteiligung eritreischer Milizen fanden massenhafte Hinrichtungen und systematische Vergewaltigungen statt. [74]
Zur Rolle der Bildung in der politischen Sozialisation
Auch gebildete Menschen sind nicht vor dem Missbrauch der Macht geschützt, wenn sie um ihre politische Position fürchten. Dennoch kann eine ethisch geleitete Bildung Menschen hervorbringen, bei denen die Wahrscheinlichkeit höher ist, dass sie politische Krisen überstehen bzw. lösen können, ohne in menschenfeindliche Verhaltensmuster bzw. völkerrechtswidriges Verhalten zurückfallen.
Bildungsprozesse können der geeignete Weg sein, um die an Empathie und Verantwortlichkeit orientierte Moralentwicklung und entsprechende ethisch begründete Verhaltensweisen zu fördern. Insbesondere die interdisziplinär anzulegende politische und historische Bildung in den Schulen ist – wie bereits angesprochen – in einem viel größeren Ausmaß zu fördern als dies bisher international der Fall ist. Gerade die politisch-historische Bildung ermöglicht eine kritische Analyse und Beurteilung übergriffiger Machtstrukturen und Herrschaftsverhältnisse. Sie ermöglicht die Untersuchung politischer, ökonomischer und ökologischer Konfliktfälle in einem Bezug zum systemischen Ganzen. Insbesondere sind hier anhand exemplarischer Konfliktfälle die Analyse unterschiedlicher Interessenlagen und die Suche nach gerechten Lösungen möglich. Hierdurch kann ein Denken gefördert werden, dass nicht an nationalchauvinistischer Interessendurchsetzung sondern an internationaler Zusammenarbeit und empathischer Kompromissfindung orientiert ist.
Im Rahmen einer kritischen politischen Bildung kann sogar die App von ChatGPT eine konstruktive Rolle spielen. Hierbei geht es dann nicht darum, eine bequeme und schnelle Informationsrecherche zu erledigen, sondern es steht die kritische Durchleuchtung der von der App erhaltenen Antworten im Vordergrund. Es gilt also, die Lernenden über eigene Entdeckungen von Unwahrheiten, Verkürzungen und Desinformationen bzw. Fake News für den Umgang mit dieser App zu sensibilisieren bzw. auf sie zugunsten eigener Nachforschungen und Recherchen zu verzichten.
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Auch das Konzept der Demokratiebildung (‚Civic Education‘), das über den Politikunterricht hinausgeht, gibt den Schülerinnen und Schülern im Rahmen ihrer Schulgemeinschaften und darüber hinaus Erfahrungsgelegenheiten mit Demokratieprozessen: Beteiligung an den innerschulischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen, Mitarbeit in den Gremien, die schülerorientierte Organisation von Hearings und Podiumsdiskussionen, die Teilnahme und Mitwirkung an örtlichen, regionalen und internationalen Bildungsveranstaltungen, die mediale Einmischung in öffentliche Diskurse oder auch die Mitarbeit in Kinder- und Jugendparlamenten sind Bestandteile der Demokratiebildung. So wird die Bildung zu einem wesentlichen Faktor im Rahmen politischer Sozialisation, der durchaus für aktuelle und spätere Handlungen wirksam werden kann.
Zum Konzept der Demokratiebildung
Schulen müssen in einer Demokratie auf die Demokratie vorbereiten, da Demokratie erst erlernt werden muss und Kinder keineswegs als kleine Demokraten auf die Welt kommen. Demokratie-Bildung bezieht sich auf die Unterrichtsziele und -inhalte, auf die Unterrichtsweise, auf die gemeinsamen Umgangsformen genauso wie auf das Schulleben sowie den Kontakt zur umgebenden politischen Gemeinde. In der Schule sollte nicht nur über die Demokratie gelernt werden, sondern durch demokratische Erfahrungen auf die Demokratie vorbereitet werden. Wolfgang Edelstein, der ehemalige Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, fasst dieses bildungspolitische Anliegen treffend zusammen:
„Zusammenfassend können Kontexte eines demokratieförderlichen Lernens und Lebens in der Schule als die schulischen Erfahrungsbereiche bestimmt werden, die Information über Demokratie, Kompetenzen für Demokratie und Erfahrung durch Demokratie vermitteln. Deshalb sollten die Strukturen des Lernens und des Lebens in der Schule als Gelegenheitsstrukturen für die Erfahrung demokratischer Verhältnisse gestaltet werden. Wer in einer demokratischen Lern- und Lebenswelt aufwächst, wird in der Regel einen demokratischen Habitus erwerben. Die Schule soll einen überschaubaren Erfahrungsraum darstellen, der Gelegenheit bietet, im Kleinen – durchaus als Ernstfall – einzuüben, was hernach im Großen die zivilgesellschaftliche Praxis bestimmen soll.“ [75]
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Der Typus der ‚Demokratischen Schule‘, den es im Rahmen eines Schulverbundes in Israel gibt, ist beispielhaft für ein Lernen, das aus der demokratischen Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden heraus entsteht. In dem Schulverbund der israelischen ‚Demokratischen Schulen‘ bestimmen die Lernenden weitgehend selbst, was sie zusammen mit wem lernen möchten. Sie ziehen selbstständig Lehrer_innen zu Rate, wenn dies notwendig erscheint. Sie arbeiten verantwortlich in den schulischen Gremien mit, wählen die Schulleitung und sind bei der Neueinstellung von Lehrpersonal beteiligt. Auch arbeiten sie in den innerschulischen Schiedsgerichten maßgeblich mit. [76]
Ebenfalls die Schulbewegung des aus Indien stammenden Rishi Valley Institute für Educational Resources (RIVER) ermöglicht in vorbildlicher Weise Bildungserfahrungen, die sich von einem neoliberal orientierten Bildungsverständnis im Sinne einer konkurrenzorientierten Individualisierung wohltuend abheben. Die sich zunehmend weltweit verbreitenden RIVER-Schulen wurzeln in der regionalen Kultur ihrer Schülerinnen und Schüler und eröffnen, hieran anknüpfend, über das Prinzip des weitgehend selbstständigen ‚Lernens mit Lernleitern‘ systematisch den Blick auf neue Lernwelten. Nachhaltigkeit, Solidarität, kulturelle Toleranz und Achtung der eigenen kulturellen Traditionen sind hier zentrale Werte, die diesen schulreformerischen Ansatz leiten. [77]
Wer solche Schulen und Bildungsprozesse fürchtet und wer sie dringend benötigt.
Eine derartige Bildungskonzeption zieht schulisches Lernen nach sich, das nicht durch Unterwerfung und Anpassung gekennzeichnet ist, sondern durch Vertrauen, Verantwortlichkeit und einen unterrichtlichen Freiraum, der insbesondere durch Projektlernen, fächerübergreifendes Lernen, Verbindung von kognitiver und leiblich-sinnlicher Erfahrung, sowie entdeckendes und forschendes Lernen [78] bestimmt ist. Ein solches Lernen hat einen großen Grad an Selbstwirksamkeit und bezieht den Lernenden als ganzen Menschen, als denkende, fühlende und sinnlich erfahrende Persönlichkeit, ein.
Demokratische Partizipation und Transparenz für Entscheidungsstrukturen und -prozesse sind hier notwendige Prinzipien demokratischer Schulen und müssen sich sowohl auf der schulorganisatorischen als auch auf der unterrichtlichen Ebene strukturbildend vorfinden lassen. Wenn derartige Lernprozesse im notwendigen Umfang und mit dem nötigen Einsatz finanzieller Ressourcen qualifiziert eröffnet werden, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass junge Menschen als demokratische Persönlichkeiten gefördert werden und sich in Zukunft genügend zivilgesellschaftlicher und demokratischer Widerstand gegen Autokraten wie Trump, Putin, Erdogan & Co. präventiv entfalten kann, also derartig autoritär, ignorant, repressiv und ungerecht agierende Führerpersönlichkeiten es zunehmend schwerer haben, die politische Herrschaft an sich zu reißen. Dementsprechend werden sie versuchen Schulen und Bildungsangebote zu verhindern, die durch die Prinzipien einer demokratischen Bildung gekennzeichnet sind.
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Eine ethisch geleitete Bildung, die u.a. mit den Werten Demokratie, Toleranz, Kritikfähigkeit, Empathie, Solidarität und Verantwortlichkeit zu umschreiben ist, stellt aus einer holistischen Sicht eine nicht zu unterschätzende Einflussgröße dar. Diktatoren und Autokraten haben dies längst verstanden, demokratisch orientierte Politiker sollten dies endlich auch verstehen und entsprechende Veränderungen ihres Bildungssystems wesentlich entschiedener für alle Lernenden - unabhängig von ihrer Schichtzugehörigkeit - unterstützen. In einer ethisch geleiteten, hochwertigen Bildung, im hier skizzierten Sinne, liegt eine große Chance für die Zukunft von Gesellschaften, die es endlich mit einem größeren gesellschaftspolitischen Engagement zu ergreifen gilt.
Anmerkungen zu den Kapiteln 3.1 - 3.5
[1] Kant (1784, 41).
[2] Dalai Lama (2015, 12).
[3] Vgl. zu dieser Diskrepanz auch Adorno (1971, 126).
[4] Kant (1784, 49).
[5] Vgl. Kapitel 3.4.
[6] Adorno (1951/1997, 43) sowie interpretierend Roth (2002).
[7] Vgl. Seel (2014).
[8] Reich (1948/2013, 123).
[9] Vgl. Habermas (1981).
[10] Vgl. auch hierzu Moegling (2019a).
[11] Rifkin (2009, 18).
[12] Vgl. die Rekonstruktion der Kritischen Theorie im Zusammenhang mit dem Bildungsanliegen bei Moegling (2017, 32-49).
[13] Rifkin (2009, 24).
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[14] Vgl. Krappmann (1971 u. 1978).
[15] Vgl. u.a. Moegling (2017).
[16] Internationale Beispiele für bildungsinnovative Schulen finden sich bei Moegling (2017, 504ff.).
[17] Vgl. z.B. Würfel (2014), Kommuja (Netzwerk politischer Kommunen) (2014), und das Global Ecovillage Network: https://ecovillage.org/about/about-gen/, o.D., 26.10.19.[
18] Die fünf Vernetzungs-Regionen von GEN sind: Afrika, Europa, Lateinamerika, Nordamerika, Asien und Ozeanien. Näheres zu den einzelnen regionalen Netzwerken auf: https://ecovillage.org/regions/, o.D., 26.10.129.
[19] https://ecovillage.org/about/about-gen/, o.D., 26.10.19.
[20] Vgl. https://unitar.org/about/offices-training-centres-around-world/cifal-global-network, o.D., 24.4.20
[21] https://ecovillage.org/our-work/, o.D., 26.10.19.
[22] Vgl. ausführlicher I.L.A. Kollektiv (2019) sowie vertiefend zur imperialen Lebensweise Brand/ Wissen (2017).
[23] Vgl. ausführlicher Kap. 4.1.
[24] Redaktion Kommunebuch (2014, 130); BUKO = Bundeskoordination Internationalismus, http://www.buko.info/wer-wir-sind/, o.D., 25.918.
[25] In: https://www.kommune-niederkaufungen.de/.
[26] In: https://www.kommune-niederkaufungen.de/, o.D., 30.7.2018.[27] ASW = Aktionsgemeinschaft Solidarische Welt e.V., https://www.aswnet.de/projekte/afrika/projektuebersicht.html?no_cache=1, o.D., 25.9.2018.[28] In: https://www.kommune-niederkaufungen.de/uber-uns/grundsatze/linkes-politikverstandnis/, o.D., 30.7.2018.
[29] Vgl. http://www.salecina.ch/salecina/, o.D., 28.8.2018.
[30] Anschrift: Tamera, Healing Biotope 1, Monte do Cerro, 7630-392 Reliquias, Portugal,
[email protected].
[31] Während ich eigene Erfahrungen und Beobachtungen in den Gemeinschaftsprojekten ‚Salecina‘, ‚Kommune Niederkaufungen‘ sowie mit Rudolf Bahro/‚Kommune Niederstadtfeld‘ (siehe weiter hinten) machen konnte, kann ich ‚Tamera‘ nur aus seiner Anlage heraus, über Gespräche und aufgrund von Videomitschnitten, Buchpublikationen sowie Konferenz-Live-Schaltungen beschreiben.
[32] Vgl. Duhm (1972).
[33] Vgl. z.B. Lichtenfels/Duhm (2015), Lichtenfels (2017), Duhm (2015), Duhm (2011).[
34] Entnommen am 23.8.19 aus der Startseite der Homepage von Tamera auf https://www.tamera.org/de/.
[35] Bahro (1987, 10).
[36] Bahro (1987, 17)
.[37] Bahro (1987, 19).
[38] Bahro (1987, 459).
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[39] Bahro (1991, 90).
[40] Schölzel (1998, 74).
[41] Bahro (1987, 461).
[42] Bahro (1987, 472)
.[43] Bahro (1987, 472ff.).
[44] Bahro (1987, 481).
[45] Bahro (1987, 493).
[46] Ellenberger (2018, 401).
[47] Bahro (1987, 495).
[48] Bahro (1987, 480).
[49] Bei der Skizzierung der Therapieansätze sollen am Leib ansetzende Verfahren besonders berücksichtigt werden. Natürlich helfen auch Verfahren der Psychoanalyse oder der konventionellen Verhaltenstherapie bei entsprechenden Indikationen. Der leibliche Bezugspunkt soll hervorgehoben werden, da der Leib die Verankerung des Menschen in der Welt ist, wohl wissend, dass auch militärische Interventionen mit der Dressur des eigenen Leibes und mit der Vernichtung des Leibes der anderen verbunden sind.
[50] Perls (1982, 37).
[51] Lowen (1984, 9).
[52] vgl. ausführlicher zum Zusammenhang zwischen erlittenen kollektiven Traumata und gesellschaftlicher Befriedung Gobodo-Madikizela (2006).[
53] Mitglied in der TRC von 1996-1998.
[54] Gobodo-Madikizela (2006).
[55] Gobodo-Madikizela (2006).
[56] Vgl. z.B. zum Verhältnis von Zen-Buddhismus und Psychoanalyse Fromm/Suzuki/de Martino (1971).
[57] Vgl. hierzu auch Moegling (2019b).
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[58] Es werden hier nur solche aus Asien stammende Meditationspraktiken vorgestellt, mit denen der Autor erstens mehrjährige Eigenerfahrungen aufzuweisen hat und zweitens, die auf dem hier gemeinten Ansatz von Achtsamkeitsbildung basieren.
[59] Vgl. ausführlicher hierzu z.B. Zöller (1986) und Pálos (1980).
[60] Vgl. zu den kulturellen Bedeutungen, den subjektiven Konstruktionen sowie die Bewegungsqualität des Taijiquan u.a. Wissenschaftlicher Beirat des DDQT (2009) und Landmann (2005) sowie für die unterschiedlichen Übungsmethoden des weltweit verbreitetesten Stils, des Yang-Stils, Yang (1991) und Song (1991).
[61] Vgl. u.a. Yesudian/Haich (1990) und Lysebeth (1982).
[62] Vgl. Lysebeth (1982, 273ff.).[
63] Vgl. Lysebeth (1982, 103ff.).
[64] Kromrey (2019).
[65] Natürlich versuchen auch die Religionen, diese Praktiken in ihr System einzugliedern, was aber nicht aus dem Übungsgut heraus notwendig und durchaus vermeidbar ist.
[66] Vgl. zum Verständnis und den Prinzipien einer alternativen Bewegungskultur Moegling (1988).
[67] Kromrey (2019).
[68] Beide Versausschnitte stammen aus dem Daodejing von Laudse wiederum in der Übersetzung von Richard Wilhelm (1982).
[69] Genauere Angaben zum Vermögen des Milliardärs und ehemaligen Geheimdienstlers Putin vgl. u.a. https://www.vermoegenmagazin.de/wladimir-putin-vermoegen/, 5.1.2020, 25.4.2020.
[70] In: https://www.zeit.de/2019/33/abholzung-amazonas-regenwald-brasilien-spekulation-jair-bolsonaro, 10.8.2019, 11.10.19.
[71] Vgl. https://kurier.at/politik/ausland/ausgangssperre-wegen-coronavirus-auf-den-philippinen-rodrigo-duterte-will-stoerenfriede-erschiessen/400800992, 2.4.2020, 25.4.2020.[72] Vgl. https://www.dw.com/de/corona-krise-orb%C3%A1ns-erm%C3%A4chtigungsgesetz-spaltet-europa/a-52997872, 2.4.2020, 25.4.2020.
[73] Vgl. Linklater (2007a und b).
[74] Vgl. https://www.tagesschau.de/ausland/afrika/aethiopien-tigray-eritrea-101.html, 29.3.2021, 2.5.2021.
[75] Edelstein (2015, 21).
[76] Vgl. Simon/Hershkovich (2016) und Hershkovich/Simon (2016).
[77] Vgl. hierzu Müller/Lichtinger/Girg (2015).
[78] Vgl. zum Ansatz des forschenden Lernens u.a. Reitinger (2013 und 2018) sowie Moegling (2017, 208ff.).
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4 Sozioökonomische und sozialökologische Grundlagen einer Friedenspolitik
“You have to act as if it were possible
to radically transform the world.
And you have to do it all the time.
‘Radical’ simply means
grasping things at the root.”
Angela Davis
4.1 Den Tiger zähmen: Die globale Ökonomie im Sinne von Nachhaltigkeit und Friedenssicherung transformieren.
Der Kapitalismus in seiner aktuellen Form hat keine Zukunft mehr. Kern des bisherigen Kapitalismus sind das Privateigentum an den Produktionsmitteln und der immer wiederkehrende Versuch, aus den Ergebnissen der Warenproduktion und Vermarktung Mehrwert abzuschöpfen zulasten arbeitender Menschen und zulasten der Natur. Nicht kalkulierbare Finanzspekulation verschärft das Problem eines auf Ungerechtigkeit basierenden Wirtschaftssystems.
Marx/Engels sahen in einer kommunistischen Gesellschaft, die sich über den Umweg einer sozialistischen Entwicklungsphase entfaltet, die Utopie einer vollkommen entwickelten Gesellschaft.
An die Stelle einer gespaltenen Gesellschaft „tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“. [1] Dies ist sicherlich eine positive Vision. Doch wie wird sie konkret aussehen? Eine Form der im marxistischen Sozialismus-Konzept vorgesehenen Diktatur des Proletariats kann dies sicherlich nicht sein. Eine Diktatur bietet niemals einen gesellschaftlichen Rahmen „für die freie Entwicklung aller“. Über Unterdrückung kann keine Freiheit entstehen.
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Aber – auf der anderen Seite stellt sich die Frage: Wie kann eine demokratische und friedliche Entwicklung in einer Welt der Rücksichtslosigkeit und herrschenden Gewalt etabliert werden? Eine grundlegende Antwort ist diese: Eine solche Umgestaltung – so notwendig sie auch ist – kann nur in einem friedlichen und radikalen Umbruch Wirklichkeit werden, denn die Gefahren, die von technischen Prozessen der Naturbearbeitung sowie von Natur und Zivilisation zerstörenden Produkten in der High-Tech-Gesellschaft ausgehen und die mit einem unkritischen ökonomischen Wachstumsdenken verbunden sind, müssen unter Kontrolle bleiben bzw. überwunden werden. [2]
Welche Form der Marktwirtschaft ist gemeint?
Die historische Entwicklung der sogenannten ‚realsozialistischen‘ Staaten in ihren unterschiedlichen Varianten hat gezeigt, dass dieser Versuch, ‚den Tiger zu zähmen‘, nicht geeignet war, in eine freie Gesellschaft in sozialer und ökologischer Verantwortlichkeit einzutreten. Die Natur wurde dort, genauso wie in den kapitalistischen Staaten, extrahistisch ausgeplündert. Zudem funktionierte die Ökonomie nicht zum Wohle aller sondern allenfalls zur luxuriösen Versorgung einer korrupten 'Elite'.
Die zentralstaatliche Verplanung ökonomischer Prozesse, bis in die Feinheiten von Allokation, Akkumulation, Produktion und Konsumtion hinein, ist weder leistbar noch sinnvoll. Sie vernichtet produktive Freiräume und Entscheidungsspielräume für Menschen, die für ein funktionierendes Wirtschaftssystem notwendig sind. Menschliche Bedürfnisse lassen sich nur in einem begrenzten Ausmaß lenken, verplanen und über zentrale Entscheidungen befriedigen. Auch wird das motivierende Potenzial einer in einem sozialökologischen Rahmen eingebetteten marktwirtschaftlichen Ökonomie nicht genutzt, bei der der Einzelne oder einzelne Gemeinschaften auf dezentralen Märkten (und nun auch digital) selbstwirksam produzieren und verkaufen können. Hier bekommen sie motivierend den Erfolg ihrer ökonomischen Leistung spürbar rückgemeldet.
Daher stellt sich die Frage, wie neue Gesellschaften auf lokaler, regionaler und globaler Ebene entstehen können, die einerseits die positiven Anteile von (verantwortungsvollen) Marktmechanismen ermöglichen und gleichzeitig große Wirtschafts- und Finanzkonzentrationen und damit die entsprechende politische Machtkonzentration verhindern können.
Es darf einerseits nicht sein, dass die durchaus konstruktiven Antriebe von Menschen, in ihren lokalen und regionalen Kontexten zu produzieren, zu bewerben, zu handeln und zu verkaufen, unterdrückt werden – der Fehler des Realsozialismus sowjetischer Prägung. Andererseits ist die Marktmacht von Monopolen oder monopolähnlichen Strukturen zu verhindern, die ja gerade die dezentralen Wettbewerbs- und Marktstrukturen zerstören – der Systemfehler der westlichen, kapitalistisch geprägten Gesellschaftsformen.
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Formen solidarischer Ökonomie in einer nicht-fossilen Gesellschaft
Der Politologe Elmar Altvater kommt dem hier vertretenen Ansatz bereits sehr nahe, wenn er die neuen Ordnungselemente in einer nicht-fossilen Gesellschaft gekoppelt mit neuen solidarischen und ökologischen Produktionsweisen, dezentralen Aneignungsprozessen und veränderten Konsummustern sieht – einer Entwicklung, die Zeit benötige:
„Das geht nur langfristig, und wenn der Übergang denn gelingt, ist dies der Übergang zu einem Ufer, an dem nicht mehr ‚Kapitalismus‘ steht, sondern irgendetwas anderes. Wir haben keinen einfachen Namen dafür, nachdem der Sozialismus des 20. Jahrhunderts gescheitert ist. Sozialismus des 21. Jahrhunderts? Vielleicht ist es sinnvoller, das Projekt als solare (weil nachhaltige) und solidarische (weil auf die Ressourcen bauende) Gesellschaft zu bezeichnen.
Überzeugende Alternativen gibt es also. Die Fortsetzung des Kapitalismus, wie wir ihn kennen, endet im Desaster. Ein ‚Imperium der Barbarei‘ droht, wenn es nicht bereits entstanden ist. Ein Regime erneuerbarer Ressourcen mit den dazu passenden sozialen Formen und einer solidarisch gestalteten Ökonomie ist das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen. Neue soziale Formen können entwickelt werden. Die Geschichte ist nicht am Ende, sie ist offen und geht weiter.“
(Altvater 2006, 21)
Anstelle einer auf soziale Spaltung und ökonomische Vorteilsnahme setzenden kapitalistischen Gesellschaft ist in allen Weltregionen, ansetzend am gesellschaftlichen Ist-Zustand, Schritt für Schritt eine Gesellschaft zu entwickeln, bei der die Ökonomie für die Gesellschaft da ist und nicht umgekehrt. Altvaters Bezeichnung einer derartigen Gesellschaft als solar-solidarische Gesellschaftsform trifft dies bereits gut.
Steuernder Ansatz zu einer nachhaltigen Produktionsweise
Hierzu gehört natürlich auch eine Orientierung industrieller und landwirtschaftlicher Produktion an dem Gedanken der Nachhaltigkeit. Dies ließe sich über ein effektiveres System international zu vergebender Umweltzertifikate, über eine ökologisch orientierte Besteuerung und eine entsprechende Preispolitik gewährleisten. Auch sind zeitnahe Grenzen festzusetzen, ab denen es nicht mehr erlaubt ist, Öl und Kohle für die Verbrennung zur Energiegewinnung aus der Erde zu holen.
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Neben einem wirksameren Handel mit Emissionszertifikaten gibt es eine weitere internationale ökonomische Strategie mit Staaten umzugehen, die sich den aus der Klimakrise entstehenden Verpflichtungen zu entziehen versuchen.
Der US-amerikanische Träger des Nobelpreises für Wirtschaft des Jahres 2015, William Nordhaus, wendet sich zunächst dagegen, dass internationale Klimakonventionen grundsätzlich wirkungslos seien –so Nordhaus (2020):
„In light of the failure of past agreements, it is easy to conclude that international cooperation on climate change is doomed to fail. This is the wrong conclusion. Past climate treaties have failed because of poor architecture. The key to an effective climate treaty is to change the architecture, from a voluntary agreement to one with strong incentives to participate.“
Kernpunkt einer derartigen verbindlichen Architektur eines Klimavertrags ist die Bildung von zwischenstaatlichen Kooperationspartnern (‚Climate Clubs‘), die sich auf gemeinsame Standards und Regeln sowie auf Preise für CO2-Emissionen verständigen. Wenn sich nun andere Staaten außerhalb dieses ‚Climate Club‘ nicht an dessen klimaschonende Standards und Regeln halten, müssen sie für ihre Exportprodukte einen wirksamen Steueraufschlag zahlen. In diesem Fall lohnt es sich für diese Staaten nicht mehr, als ‚free riding nations‘ umweltfeindlich zu produzieren. Die Verständigung der Club-Staaten auf gemeinsame ökologische Schutzzölle hätte somit einen erheblichen auf die Bekämpfung der Klimakrise bezogenen systemischen Hebeleffekt. Dies sei – so Nordhaus (2020) einer von mehreren effektiven Wegen zu einer verbindlichen Vertragsarchitektur zu kommen:
„There are many steps necessary to slow global warming effectively. One central part of a productive strategy is to ensure that actions are global and not just national or local. The best hope for effective coordination is a Climate Club – a coalition of nations that commit to strong steps to reduce emissions and mechanisms to penalize countries that do not participate. Although this is a radical proposal that breaks with the approach of past climate negotiations, no other blueprint on the public agenda holds the promise of strong and coordinated international action.“
Natürlich können mit Strafzöllen belegte Staaten mit Gegenzöllen reagieren, doch wenn mehrere größere Staaten und auch transnationale Zusammenschlüsse, wie z.B. die EU, zu diesen gemeinsamen Absprachen finden, dann dürfte es einem einzelnen Staat schwerfallen, sich gegen eine derartige Wirtschaftsmacht zu stellen. Auch müsste möglicherweise über Ausgleichszahlungen an ärmere Länder für eine Übergangszeit nachgedacht werden, damit dies auch klimagerecht vorgenommen wird (vgl. auch Schieritz 2021).
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Gemeinwohlökonomien stärken
Kommunitäre Formen solidarischer Ökonomie stellen die radikalste Form einer Systemtransformation auf lokaler Ebene dar. Hier leben und arbeiten Menschen gemeinschaftlich, ohne diese Ebenen voneinander zu trennen. Die hier lebenden und arbeitenden Menschen erwirtschaften einen Wert, an dem sie zu gleichen Teilen beteiligt sind. Oftmals sind sie auch dem Gedanken kommunitärer Demokratie und ökologischer Nachhaltigkeit in ihrem Handeln verpflichtet. Die Bewegung kommunitärer Formen solidarischer Ökonomie beginnt sich zunehmend auch international zu vernetzen. [3]
Der Ansatz der maßgeblich von Christian Felber entwickelten Gemeinwohl-Ökonomie kann in diesem Zusammenhang ebenfalls eine Alternative anbieten und ihm ist eine weitere Verbreitung zu wünschen. Kurz zusammengefasst geht es hierbei darum, so zu produzieren bzw. Dienstleistungen zu erstellen, dass in den Bereichen ökologischer Nachhaltigkeit, sozialer Gerechtigkeit, Menschenwürde, Solidarität und demokratischer Mitbestimmung/Transparenz positive Leistungen erzielt werden. Gemeinwohlorientierte Unternehmen sollten dann auch Steuervorteile erhalten. Auch das Bankenwesen sollte Vorteile bei der Kreditvergabe für gemeinwohlorientierte Unternehmen einräumen, bzw. es sind spezielle Banken für zertifizierte gemeinwohlorientierte Unternehmen oder entsprechende Unternehmensgründungen einzurichten. Hierdurch wird sich eine friedliche und schrittweise Transformation des Kapitalismus von einer ökonomischen Ausbeutungsgesellschaft hin zu einer sich weltweit ausbreitenden Gesellschaftsform versprochen, die nicht der Profitrate weniger Reicher sondern dem Gemeinwohl aller Menschen dient – so Felber im Rahmen des Konzepts der Gemeinwohlökonomie (2018, 8):
„Die Wirtschaft muss menschlicher, sozialer, verteilungsgerechter, nachhaltiger, demokratischer – rundum ethischer werden: gemeinwohlorientierter.“
Die Weltökonomie und die Friedensthematik sind in einem Zusammenhang zu sehen. Wenn die soziale Schere weltweit aufgrund der dem Gemeinwohl entgegen gerichteten Aktivitäten multinationaler Konzerne und spekulierender Hedgefonds sowie einer dies unterstützenden neoliberal orientierten Wirtschaftspolitik immer weiter auseinandergeht, kann es keinen Frieden in den verschiedenen Regionen geben. Die gewaltigen sozialen Unterschiede, die aus den verschiedenen Positionen im Produktions-. und Dienstleistungsprozess resultieren, sind in dieser Größenordnung äußerst ungerecht, führen zu sozialen Spannungen, begünstigen durch Armut induzierte Kriminalität, führen zu Massenmigration und liefern gerade auch in den ärmeren Weltregionen dem Terrorismus eine förderliche Grundlage.
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Human Development Index (HDI) anstelle des Bruttoinlandsprodukts (BIP)
Das Bruttoinlandsprodukt und ebenso das Bruttoweltprodukt sind kein sich verselbstständigender ökonomischer Maßstab mehr, da hiermit ein unreflektiertes Wirtschaftswachstum zum Bezugspunkt der volkswirtschaftlichen Leistung wird. Sogar Umweltzerstörung, wie z.B. die Havarie eines Öltankers, geht über zu bepreisende Versuche zu deren Beseitigung positiv in die Bilanz ein. Externe Effekte, wie z.B. die Zunahme von Klimagasen in der Atmosphäre, werden hingegen nicht berücksichtigt. Bei zunehmender sozialer Ungleichheit kann zudem das Bruttoinlandsprodukt bzw. das Bruttoweltprodukt wachsen und gleichzeitig kann es der Mehrheit der Bevölkerung immer schlechter gehen.
Joseph Stiglitz schlägt daher vor, an die Stelle des Bruttoinlandsprodukts den HDI (Human Development Index) des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen als volkswirtschaftliche Messgröße zu verwenden, da hier im Unterschied zum BIP auch Gesundheit, Bildung und die Einkommensverteilung Berücksichtigung finden:
„Ziel der volkswirtschaftlichen Produktion ist es, das Wohlergehen der Mitglieder einer Gesellschaft zu steigern, wie auch immer dieses definiert wird. Nicht ein Maß allein kann die Komplexität der Vorgänge in einer modernen Gesellschaft erfassen, doch die Kenngröße BIP versagt in einer ganz entscheidenden Weise. Wir brauchen Messgrößen, die das individuelle Wohlfahrtsniveau erfassen (Maße des medianen Einkommen sind viel aussagekräftiger als Maße des Durchschnittseinkommens), Kennziffern der Nachhaltigkeit (die zum Beispiel die Erschöpfung von Ressourcen und die Verschlechterung der Umwelt sowie die Erhöhung von Schulden erfassen) sowie zur Situation in Sachen Gesundheit und Bildung.“
(Stiglitz 2010, 356)
Dies bedeutet eine Loslösung vom einseitigen Interessen dienenden Wachstumsdenken hin zu einem Verständnis weltwirtschaftlicher Entwicklung, welche die Verantwortlichkeit für die Biosphäre und das Wohlergehen der darin Lebenden zum prioritären Ziel erklärt.
Es wird sogar notwendig sein, Nullwachstum und sogar Negativwachstum anzustreben, wenn gleichzeitig darauf Wert gelegt wird, die Grundbedürfnisse aller Menschen zu befriedigen, Ressourcenverbrauch abzubauen und die Produktion sinnloser und nicht notwendiger Produkte zu vermeiden.
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Kennzeichen einer Postwachstumsökonomie
Hierbei sind wesentliche Elemente der beispielsweise u.a. vom Nachhaltigkeitsforscher Nico Paech (2018) angedachten Postwachstumsökonomie zu berücksichtigen, wie z.B. der Rückbau eines größeren Teils ökologisch belastende und unsinnige Produkte herstellender industrieller Fertigungsanlagen, die Regionalisierung von Produktion und Konsumtion bei gleichzeitiger Verkürzung der Transportwege, eine lokale Subsistenzwirtschaft zur Selbstversorgung u.a. in kommunitärer Form, Energieeinsparung und Dezentralisierung der Energieversorgung, aufgrund der digitalisierten Produktion eine deutliche Reduktion der Lohnarbeitszeit bei gleichzeitiger Erhöhung der in die Eigenwirtschaft eingebrachten Arbeitszeit sowie die Befreiung von unnötigem Konsumballast durch partiellen Konsumverzicht. [4]
Schaut man genauer hin, müssten im Rahmen einer Postwachstumsökonomie manche Bereiche weiterwachsen, andere deutlich verringert werden, insgesamt aber eine Umkehrung des Wachstumstrends erzielt werden – so die Soziologin Silke van Dyk (2017):
„Soziale Dienstleistungen und Sorgetätigkeiten sollten weiterwachsen, hier haben wir nicht zu viel, sondern zu wenig. In der fossilen Energieproduktion ist es besonders wichtig, dass wir schrumpfen. Die Frage ist, wo kann es gelingen, aus den Wachstumszwängen des Kapitalismus auszusteigen. Er ist ein System, das allein, um stabil zu bleiben, auf permanente Steigerung angelegt ist. Hier liegt das Problem: Alles Wirtschaften schließt Stoff- und Energietransformationen ein – das kann in einer Welt mit begrenzten Ressourcen nicht unbegrenzt funktionieren. Und die Effizienzversprechen eines grünen Kapitalismus sind vollkommen illusorisch.“
Da die ökonomischen Strukturen sich längst neoliberal globalisiert haben, muss auch auf der globalen Ebene auf ökonomische Ungleichgewichte reagiert werden: Marktwirtschaft und Handel müssen möglich sein, aber nach strengen Regeln und einem sozialverantwortlichen und ökologisch vertretbaren Ordnungsrahmen funktionieren. Finanzspekulationen, wie Wetten auf die Entwicklung von Zinssätzen oder Aktienkursen, werden verboten. Im Übrigen sind Finanzspekulationen mit wirksamen Finanztransaktionssteuern zu belegen, damit die finanziellen Ressourcen von Banken und Fonds wieder in die Realwirtschaft fließen.
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Die Akteure, Institutionen, Gruppen und Initiativen, die diesen radikalen Wandel anstreben, haben die Verantwortung, sich an gewaltfreie Mittel des Wandels zu halten, um sicherzustellen, dass ihre Ziele einer nachhaltigen und gerechten Zukunftsgesellschaft nicht durch gewalttätige Aktionen und Entwicklungen gefährdet werden, die zu einem Kontrollverlust und zur gesellschaftlichen Barbarei führen können.
Die Akteure haben dann die größten Erfolgsaussichten, wenn sich Wissenschaftler und Lohnabhängige sowie Menschen, die insbesondere auf das Gemeinwohl angewiesen sind, beteiligen, da sie die Notwendigkeit der Veränderung am intensivsten erfahren.
Die Rolle der Vereinten Nationen im Zuge der ökonomischen Neuordnung
Große Wirtschaftskonzentrationen und -verflechtungen müssen unter Leitung der entsprechenden UN-Sonderorganisationen entflochten und gezähmt werden. Internationale Konzerne sind transnational zu enteignen und zu verstaatlichen, d.h. unter die Aufsicht und Leitung der entsprechenden Fachorganisationen der UN zu stellen, wenn sie gegen die Prinzipien der UN, z.B. die an Nachhaltigkeitskriterien orientierte Produktion und Distribution oder gegen das Verbot von Waffenexporten in Spannungsgebiete, verstoßen.
Auch die Rechte der Arbeitnehmer_innen in den Unternehmen sind weltweit durchzusetzen. Dazu gehören die Freiheit zur gewerkschaftlichen Betätigung und die Einrichtung von Betriebsräten – Errungenschaften, die nur in manchen Weltregionen und auch dort nur z.T. in Ansätzen vorhanden sind.
Weltweit sind über die Koordination des Wirtschafts- und Finanzrats der Vereinten Nationen Steuerkorridore einzurichten, deren Varianz an der Bedürftigkeit der jeweiligen Region orientiert ist und eine festgelegte Schwankungsbreite hat. Hierdurch werden die globalen Steuerschlupflöcher geschlossen und Gewinne und Gehälter werden gerechter versteuert. Dies schließt ebenfalls eine Mindeststeuer von z.B. 20% oder 25% für multinationale Konzerne ein, um das Steuerdumping von Staaten und die indirekte Steuerhinterziehung der Konzerne zu vermeiden.
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Nationale Zölle sind nur auf Antrag an den Wirtschafts- und Sozialrat der UN bzw. dessen dafür vorgesehene Sonderorganisationen für den Fall zu genehmigen, dass ein Land einen ökonomischen Entwicklungsnachteil auszugleichen hat und dessen Produktion über Schutzzölle zu begünstigen ist. Strafzölle im nationalen Alleingang sind zu verbieten, sind nur durch demokratische Beschlüsse der Vereinten Nationen im Falle fortgesetzter Regelverletzung eines Staates weltpolizeilich zu verhängen.
Währungsspekulationen, die ganze Regionen in einen gesellschaftlichen Abwärtsstrudel reißen können, werden unmöglich, indem – in längerfristiger Perspektive – eine von den Vereinten Nationen herausgegebene und kontrollierte Weltwährung eingeführt wird. Krypto-Währungen sind durch die Vereinten Nationen zu verbieten, da sie intransparent und spekulativ sind.
Ökonomischen und politischen Hegemonieabsichten einzelner Akteure im Rahmen postkolonialer Strukturen ist ein Konzept inklusiven Multilateralismus entgegenzusetzen, das die Interessen der Länder und Institutionen des Globalen Südens umfassender und achtungsvoller als bisher berücksichtigt – so Plagemann/ Maihack (2023, 225):
„Langfristig wichtiger als einzelne, auch besonders geschätzte bilaterale Beziehungen sind verlässliche multilaterale Prozesse, wie sie nicht nur von uns, sondern auch von dem Großteil der Gesellschaften im Globalen Süden gewünscht werden. Weil nur so die Macht der wenigen über die vielen gebrochen werden kann.“
Hierzu gehören dann auch eine bessere Interessenvertretung von Ökonomen und Politikern des Globalen Südens und günstigere Finanzierungsbedingungen in multilateralen Institutionen, wie z.B. der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds. Natürlich gehört hierzu auch eine verbesserte Vertretung im UN-Sicherheitsrat, solange es diesen mit den vorhandenen Rechten ausgestattet noch gibt.
Der neoliberalen Globalisierung ist im globalen Kontext – also nicht nur für Initiativen im Globalen Norden – ein Konzept nachhaltiger und gemeinwohlorientierter Entwicklung gegenüberzustellen, das für die Versorgungssicherheit für alle mit den Allmende-Gütern Wasser, Luft, Boden und Nahrung sorgt – so Peter/Moegling (2005, 27):
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„Während der Neoliberalisierungsprozess enteignet, eignet der Prozess nachhaltiger Entwicklung an. So lautet die politische Forderung der Nachhaltigkeit noch immer: Sozialisierung und Demokratisierung derjenigen Schlüsselbereiche und gemeinnützigen Güter, die Grundlage für das Leben der Völker sind: primäre Ressourcen wie Wasser, Boden, Luft, Nahrungsmittel und sekundäre Ressourcen wie z.B. Gesundheitsangebote und Bildung. Insbesondere der Bildung kommt hierbei eine zentrale Rolle zu: Prozesse der Nachhaltigkeit sind auf ein hohes Bildungspotenzial seiner Träger angewiesen.“
Bereits existierende Formen solidarischer Ökonomie [5] und die Verbreiterung und Vernetzung dieser Bewegung könnten die Keimzellen einer neuen Gesellschaft werden, die sich mit gewerkschaftlichen Organisationen, mit auf Demokratisierung drängenden NGO’s, mit Umweltinitiativen sowie der internationalen Friedensbewegung verbinden. Eine neue Gesellschaft kommt nicht wie zufällig daher, sondern baut sich bereits in der alten Gesellschaft auf. Wenn die Unzufriedenheit der Menschen im Zuge von Wirtschafts- und Finanzkrisen, brutaler kapitalistischer Ausbeutung und ungerechter Vermögensverteilung im globalen Maßstab ansteigen wird, dann werden überall, in allen Regionen und Orten der Erde Initiativen solidarischer und ökologischer Ökonomie und die Wiederaneignung von Land, Produktion und Wertschöpfung in eine für sie günstige Zeit eintreten.
Hiermit wird auch der gesellschaftliche Druck auf die Institutionen der Politik – auch über veränderte Wahlergebnisse – steigen, sich gegen den Widerstand der Hedge-Fonds, der internationalen Konzerne, der Großbanken sowie der Superreichen durchzusetzen und sich für alternative Politikkonzepte zu öffnen.
Transformation der Rüstungsindustrien
Zentral für die ökonomischen Grundlagen des Friedens wird die Rüstungskonversion sein, d.h. die Umwandlung des größten Teils der nationalen Rüstungsproduktion in Friedensproduktion. Waffen und technische Sicherungssysteme sind nur für weltpolizeiliche Einrichtungen und Maßnahmen unter der Kontrolle der UN zu produzieren. Die nukleare Bewaffnung erlebt ihr Ende; alle Atomwaffen werden verboten, abgebaut und entsorgt.
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Hierzu gehört, dass einer ausufernden privatwirtschaftlich organisierten Rüstungsindustrie Schritt für Schritt die finanzielle Grundlage entzogen wird. Dies geschieht im Zuge der Entmilitarisierung der einzelnen Nationen und Regionen dadurch, dass die öffentlichen Abnehmer, die Nationalstaaten, wegbrechen. Die von den UN kontrollierten Bereiche der internationalen Rüstungsindustrie, die für die notwendige Ausrüstung der UN-Polizeiorgane und des UN-Militärs weiterhin erforderlich sind, werden hinsichtlich der notwendigen Finanzierungskosten nur noch einen Bruchteil des bisherigen nationalstaatlichen Finanzierungsaufwandes benötigen. Hierdurch entsteht eine enorme Friedensdividende, die Investitionsprogramme für gemeinwohlorientierte, ökonomische Projekte, für soziale und ökologische Zielsetzungen finanzierbar werden lässt.
Aber auch Banken müssen dazu bewegt und möglicherweise gezwungen werden – und sei es durch den massenhaften Druck ihrer Kunden – aus der Finanzierung militärischer Rüstungsprojekte auszusteigen. So sind beispielsweise norwegische und niederländische Pensionsfonds bereits jetzt aus der Finanzierung der militärisch genutzten Atomtechnologie ausgestiegen. In den USA und in Deutschland beispielsweise – so ICAN – finanziert eine Vielzahl von Banken noch immer Projekte atomarer Rüstungspolitik. [6]
Überwindung der Rüstungsexportbestimmungen durch die Rüstungskonzerne
Weltweit wird derzeit gegen die internationalen und nationalen Selbstverpflichtungen gegen Waffenexporte in Spannungsgebiete verstoßen. Staaten der Europäischen Union und dort insbesondere Deutschland bilden hier keine Ausnahme – im Gegenteil: Sie sind führende Waffenexporteure und schrecken auch nachweisbar nicht vor der Waffenlieferung in Spannungsgebiete zurück.
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Eine Greenpeace-Studie z.B. zur deutschen Rüstungsexportpolitik bringt die Verfassungswidrigkeit eines solchen Regierungsverhaltens für Deutschland auf den Punkt:
„Trotz des prinzipiellen Friedensgebots im Grundgesetz in Artikel 26 Abs. 1 exportiert Deutschland Kriegswaffen und Rüstungsgüter an umstrittene Drittstaaten. Rüstungsexporte an Drittstaaten aus Deutschland sind zum Regelfall geworden – in den vergangenen zehn Jahren gingen wiederholt bis zu 60 Prozent deutscher Kriegswaffen und Rüstungsgüter an Drittstaaten.“ [7]
Hierüber hinaus werden verschiedene Strategien von Seiten der Rüstungsindustrie eingesetzt, um vorhandene Exportbeschränkungen zu umgehen:
· Lobbytätigkeit, formale Beantragung des Waffenexports und Versuch hierdurch eine Genehmigung durch das Bundeswirtschaftsministerium bzw. im Bundessicherheitsrat zu erhalten;
Bei einem Misserfolg im offiziellen Genehmigungsverfahren:
· Auslagerung der Produktion in Staaten, die gelockerte Exportrichtlinien haben;
· Umgehung der Exportauflagen über eine Lieferung in andere Länder der EU, der NATO oder in die der NATO-Mitgliedschaft gleichgestellte Staaten, die dann in das Spannungsgebiet liefern;
· Aufbau von Waffenfabriken direkt im Spannungsgebiet als Joint-Ventures, um Waffenexportbeschränkungen zu umgehen;
· Auslieferung von einzelnen Teilen, die im Zielland zusammengesetzt werden,
· Lieferung von dual einsetzbaren Gütern in Spannungsgebiete, z.B. Lieferung von Militär-LKW’s, auf die dann Lafetten mit Maschinengewehren zur Aufstandsbekämpfung montiert werden oder von Schnellbooten, die dann vor Ort mit MGs ausgerüstet werden, um Hafenembargos durchzusetzen.
Die Greenpeace-Studie bestätigt noch einmal zusammenfassend die Internationalisierungsstrategie der Rüstungsindustrie am Beispiel des internationalen Rüstungskonzerns Rheinmetall mit dem Blick auf die Bedeutung der Produktion und Lieferung von Munition:
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„Munition spielt aber nicht nur für die Funktionsfähigkeit von Klein- und Leichtwaffen eine Rolle, sondern auch als ein breites Spektrum für Land-, See- und Luftstreitkräfte beispielsweise in Form von Munition für Panzer, Haubitzen, Artilleriewaffen oder als Schiffsgeschütze. Gerade am Thema der Munitionsproduktion lässt sich ein weiteres Muster deutscher Rüstungsexportpolitik erkennen, nämlich die Inkaufnahme eines Trends zur Internationalisierung deutscher Rüstungsunternehmen. Joint-Ventures wie das der Firma Rheinmetall in Südafrika, die mit der Übernahme von Denel einen neuen Standort gründete, zielen auch darauf ab, die konflikt- und spannungsträchtigen Länder der MENA-Region, Lateinamerikas und Süd(ost)asiens mit Munition zu versorgen.“ [8]
Forderungen zur Kontrolle der Rüstungsexporte
Resultierend aus der hier vorgenommenen Analyse der Rüstungsexporte ist Folgendes zu fordern, will man sich tatsächlich an die normativen Ansprüche der internationalen und nationalen Regelungen für Waffenexporte halten:
1. Beendigung aller Waffenexporte in Spannungsgebiete: Hierfür müssen der Àrms Trade Treaty‘ der UN (ATT), der ‚Gemeinsame Beschluss des Rats der EU‘ sowie die nationalen Bestimmungen um verbindliche Kontrollmechanismen und empfindliche Sanktionsmöglichkeiten ergänzt werden. Einschränkungen und Ausnahmen, die Waffenexporte in Spannungsgebiete ermöglichen, sind zu beseitigen. Die diesen Prozess überwachenden Expertengruppen müssen von parlamentarischen Kommissionen kontrolliert werden, die der gesamten UN-Generalversammlung über ihre Arbeit und Ergebnisse Bericht erstatten müssen.
2. Auf europäischer Ebene ist zu fordern, dass ein Sonderbeauftragter mit ausreichend personellen und finanziellen Ressourcen ausgestattet die Waffenexporte aus der EU genauestens beobachtet und kontrolliert und ein Veto-Recht sowohl für Waffenexporte als auch für Technologieexporte sowie für Joint-Ventures in Spannungsgebiete besitzt.
3. Für die Bundesrepublik Deutschland ist ein strenges Waffenkontrollgesetz zu fordern, das die gegenwärtigen unterschiedlichen und z.T. unübersichtlichen rechtlichen Regelungen stringent zusammenfügt und zu einem transparenten und verbindlichen Gesetz entwickelt.
4. Es ist die Möglichkeit von Postshipment-Kontrollen mit dem Überprüfungsrecht für das Ausfuhrland und dies als europäischer Standard einzurichten.
5. Es ist die rechtliche und vertragliche Grundlage zu schaffen, dass auch bereits erteilte Genehmigungen von Rüstungsexporten zurückzuziehen sind, wenn sich die Situation im Empfängerland zum Negativen verändert.
6. Es dürfen keine Bankkredite und keine staatlichen Hermes-Bürgschaften für Rüstungsexporte in Spannungsgebiete gewährt werden.
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Auf der Ebene der UN ist eine Stärkung der Kontrollfunktion vorzusehen, wenn nationalstaatliche und regionale Kontrollen versagen. In diesem Zusammenhang sind dann auch Wirtschaftssanktionen und weitere Maßnahmen gegen Staaten vorzusehen, wenn aus ihnen Waffen in Spannungsgebiete transportiert werden.
Um dies zu erreichen ist jedoch eine Demokratisierung der Vereinten Nationen erforderlich, die u.a. mit einer Reform des UN-Sicherheitsrats sowie einer Einrichtung eines demokratisch gewählten UN-Parlaments verbunden sein müsste. Ansonsten würden die Kontrollen und Sanktionen von denjenigen Staaten blockiert, die wiederum selbst die größten globalen Waffenexporteure sind.
Wichtig wäre in den verschiedenen Nationalstaaten auch eine Erhöhung des zivilgesellschaftlichen Drucks, indem gerichtsfeste, von Initiativen und NGOs, wie z.B. Greenpeace oder Transparency International, unterstützte Klagen gegen Waffenexporte in Spannungsgebiete vorgenommen werden, die sich auf den ATT, auf den Gemeinsamen Europäischen Standpunkt oder auf nationale Verfassungen wie z.B. dem deutschen Grundgesetz beziehen. Im deutschen Grundgesetzartikel 26 (1) u. (2) heißt es beispielsweise – neben der Genehmigungspflichtigkeit von Waffenexporten – dass „Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören (…) unter Strafe zu stellen“ sind (Art. 26 (1)). Und: Deutsches Grundgesetz Artikel 20 (4): "Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht auf Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist."
Eine derartige gerichtliche Klage kann sich sowohl gegen spezielle Rüstungskonzerne und Waffenhändler als auch gegen Waffenexporte in Spannungsgebiete genehmigende Regierungsmitglieder richten. Neben der Öffentlichkeitswirkung einer solchen Klage in den Medien könnte auch bereits die Durchführung eines derartigen Prozesses und die Notwendigkeit der eigenen Beteiligung der verantwortlichen Akteure für diese eine abschreckende Wirkung haben.
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Waffenexporte generell verbieten?
In einem weiteren Schritt ist zu fragen, ob nicht Waffenexporte grundsätzlich verboten werden sollten. Dies würde existierende und zukünftige militärische Auseinandersetzungen austrocknen und den friedenschaffenden Aktivitäten der Vereinten Nationen ein größeres Gewicht geben.
In diesem Zusammenhang hört man sogleich das Argument: Wenn wir den Waffenexport stoppen, springen sofort andere Staaten und Rüstungskonzerne ein.
Mit dem gleichen Argument könnte man allerdings auch den Drogenanbau bzw. die chemische Herstellung synthetischer Drogen und den Drogenhandel in Deutschland erlauben. Auch hier handelt es sich um eine Ökonomie des Todes. Beide Ökonomien – Drogenhandel und Handel mit Waffen –sind besonders profitträchtig.
Dann wird häufig argumentiert: Beispielsweise ein Land wie Deutschland habe nur einen Anteil von wenigen Prozent der weltweiten Rüstungsexporte und daher wäre ein Verzicht auf Waffenexporte nur unbedeutend.
Hiergegen ließe sich argumentieren: Wenn Deutschland ein Signal setzen würde, hätte dies eine Wirkung mit Ausstrahlungskraft und deutsche Forderungen nach dem Stopp von Waffenexporten wären glaubhaft.
Auch wird immer wieder argumentiert, es würden Arbeitsplätze durch die Beschädigung der Rüstungsindustrie vernichtet.
Hier ist zunächst noch einmal zu betonen, dass nicht alles produziert werden darf, was produziert werden kann, zumal wenn es gesellschaftlich und auch ökologisch schädlich ist. Außerdem gibt es eine Reihe von Möglichkeiten der Rüstungskonversion, die bereits konzeptionell entwickelt sind und mit denen sich die Rüstungsindustrie, auch in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften, endlich einmal ernsthaft beschäftigen müsste. Es geht hierbei um die Umstellung der Produktion auf gesellschaftlich nützliche und sozialökologisch verantwortliche Güter.
Die Umstellung der Rüstungsproduktion auf zivile, friedliche Güter einerseits und die Umlenkung staatlicher Gelder in die Förderung helfender und unterstützender Berufe, z.B. im Pflegebereich oder zur Beseitigung militärbedingter ökologischer Schäden [9], sind gute Beispiele für eine Konversion einer Kriegsbranche in eine Friedensindustrie sowie der vernünftigen Verwendung öffentlicher Ressourcen. Hierüber hinaus werden hier mehr Arbeitsplätze entstehen können, als diese im Bereich der Rüstungsindustrie erhalten bleiben.
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Europäische Lösungen
Ein erster Zwischenschritt und eine strategische Forderung könnten darin liegen, Waffenexporte grundsätzlich nur noch in die EU und nicht mehr von der EU nach außen vorzunehmen. Damit würde auch die Frage nach den Waffenexporten in Spannungsgebiete weitgehend entfallen.
Solange eine internationale Abrüstung noch nicht auf den Weg gebracht werden kann, könnte in deutlicher Abwendung zu den kostensteigernden Vorgaben der ‚Permanent Structured Cooperation‘ (PESCO) zumindest auf europäischer Ebene eine nationalstaatliche Abrüstung erfolgen, indem die Verteidigungsbemühungen auf der EU-Ebene gebündelt und damit ein deutlich verringerter Einsatz von Ressourcen zu planen ist. Dies würde eine bewusste Abkehr von der 2%-BIP-Doktrin der NATO (oder noch einer höheren Quote) bedeuten. Hierbei könnte eine in ihrer Bedeutungszuschreibung deutlich veränderte ‚European Defensive Agency‘ (EDA) eine führende Rolle spielen.
Die EDA ist eine zwischenstaatliche Agentur, die dem Rat der Europäischen Union untergeordnet ist. Sie könnte im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) mit dem erklärten Ziel der Reduktion der europäischen Verteidigungskosten ausgebaut werden – gegenüber der bisher weitgehend isolierten und sehr teuren nationalstaatlichen Technologieentwicklung. Die GSVP müsste parallel dazu weiterentwickelt werden, um eine gemeinsame Verteidigungspolitik zulasten nationalstaatlicher Aufrüstung und Verteidigungsbereitschaft zu erreichen. Hieraus könnte eine europäische Friedensdividende gekoppelt mit einer Intensivierung auf Diplomatie beruhender EU-Außenpolitik resultieren, die auf dem Abbau von Feindbildern, z.B. gegenüber Russland und China, beruht. Allerdings muss hierbei über entsprechende Beschlüsse, z.B. des EU-Parlaments, gewährleistet sein, dass die GSVP nicht für eine weitere Aufrüstung genutzt wird, sondern im Sinne einer verbesserten friedensorientierten Politik definiert wird, um ein internationales System der Beilegung von Konflikten auf der Basis gegenseitiger Verhandlungen und Vereinbarungen zu etablieren. Dies bedeutet dann eine politisch gewollte Abwendung ebenfalls von den Vorstellungen der PESCO zur mittelfristigen Steigerung der Verteidigungsausgaben von 20% für alle beteiligten EU-Staaten. [10] Es würde hingegen priorisiert, eine internationale Friedensordnung zu schaffen, die die Sicherheitsinteressen aller Staaten, egal wie mächtig sie sind, respektiert.
Abschließend zur Frage der Umsteuerung in der Rüstungspolitik sollte der damals um die Beendigung des Korea-Kriegs bemühte US-Präsident Dwight Eisenhower in einer Rede am 16.4.1953 zu Wort kommen:
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„Every gun that is made, every warship launched, every rocket fired signifies, in the final sense, a theft from those who hunger and are not fed, those who are cold and are not clothed.
This world in arms is not spending money alone.
It is spending the sweat of its laborers, the genius of its scientists, the hopes of its children.
The cost of one modern heavy bomber is this: a modern brick school in more than 30 cities.
It is two electric power plants, each serving a town of 60,000 population. It is two fine, fully equipped hospitals.
It is some fifty miles of concrete pavement.
We pay for a single fighter plane with a half million bushels of wheat.
We pay for a single destroyer with new homes that could have housed more than 8,000 people. (…) This is not a way of life at all, in any true sense. Under the cloud of threatening war, it is humanity hanging from a cross of iron.“ [11]
Es ist daher für die gegenwärtige politische Auseinandersetzung im Rahmen eines Gesellschaftssystems mit demokratischem Selbstanspruch für die jeweils anstehenden Wahlen notwendig, dass überprüft wird, ob sich Parteien entschieden gegen Waffenexporte in Spannungsgebiete positionieren und glaubhaft eine konsequente Friedenspolitik vertreten. Demokratische Parteien, die grundsätzlich für die Abschaffung aller Waffenexporte aus der EU und auch für die Reduktion der nationalen Rüstungsausgaben eintreten, wären dementsprechend dann von den an Kriegsprävention und Friedenssicherung interessierten Wählerinnen und Wähler besonders zu unterstützen.
Der Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 zeigt jedoch, dass es eine Ausnahme für Waffenexporte in Spannungsgebiete geben sollte: Wird ein Staat von einem anderen Staat angegriffen und muss er sich gegen den Aggressor verteidigen, so liegt hier eine Notsituation vor, die im Sinne der UN-Charta auch Waffenlieferungen zulässt. Versagen alle diplomatischen und auf Verhandlung basierenden Schritte, ist der Widerstandskampf des angegriffenen Staates mit Waffenlieferungen mit Augenmaß zu unterstützen. Besser wäre es allerdings, wenn eine funktionsfähige UN hier weltpolizeilich einschreiten könnte. Auf jeden Fall dürfen weder die UN noch transnationale Organisationen wie die EU dabei untätig zusehen, wie ein anderer Staat vernichtet und eine Bevölkerung von einem militärischen Aggressor abgeschlachtet wird. Hier muss diesem Staat durch die Weltgemeinschaft auch militärische Hilfe geleistet werden – wohl wissend, dass hierin die Gefahr einer militärischen Eskalation besteht. Daher muss die militärische Stärkung des angegriffenen Staates auch immer intensiv und wirkungsvoll von glaubhaften Verhandlungsangeboten begleitet werden, die im Falle eines Friedensschlusses die Rücknahme von Sanktionen und von Waffenlieferungen sowie Regelungen zu Reparationszahlungen und Maßnahmen internationaler Gerichtsbarkeit für die Verfolgung von Kriegsverbrechen vorsehen.
Wie fragwürdig ist es hingegen von Seiten weltweit rechtspopulistisch argumentierender Politiker, sich über die Anzahl der Flüchtlinge im eigenen Land zu ereifern, aber mit dem Argument der zu erhaltenden Arbeitsplätze in der Rüstungsindustrie für Waffenexporte in Spannungsgebiete einzutreten. Hierdurch wird dazu beigetragen, dass immer mehr Menschen aus den Spannungsgebieten fliehen müssen - insbesondere in die Regionen des reichen Nordens, aus der die ihre Heimat destabilisierenden Waffen stammen.
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Mayors for Peace
Eine weitere friedenspolitische Initiative, die zur Beendigung der Nuklearwirtschaft und der Produktion, Lagerung und Stationierung von Atomwaffen aufruft, wurde 1982 eingeleitet, als der damalige Bürgermeister von Hiroshima die Bürgermeister und die Städte der Welt aufrief, die nationalstaatlichen Grenzen zu überschreiten, sich zusammenzuschließen und Druck auf die Atomwaffenindustrie und auf Staaten mit Atomwaffen auszuüben. Aus diesem Aufruf und verschiedenen Kooperationsvorhaben und Konferenzen von Bürgermeistern im internationalen Maßstab ging 2001 die NGO ‚Mayors for Peace‘ hervor. Sie beschreibt ihre weitgehende Mission wie folgt:
„The purposes of the ‘Mayors for Peace‘ are to contribute to the attainment of lasting world peace by arousing concern among citizens of the world for the total abolition of nuclear weapons through close solidarity among member cities as well as by striving to solve vital problems for the human race such as starvation and poverty, the plight of refugees, human rights abuses, and environmental degradation.“ [12]
Bis zum August 2023 hatten sich bereits 8.200 Bürgermeister aus 166 Staaten den ‚Mayors for Peace‘ angeschlossen. [13] Dies ist ein wichtiges friedenspolitisches Signal von gewählten und hierfür legitimierten Persönlichkeiten aus Städten der verschiedensten Weltregionen. Es ist des Weiteren ein Ausdruck der Diskussionen in einer Stadt und in den städtischen Gremien. Diese Bewegung gilt es auszubauen und von dieser dezentralen Ebene aus in Verbindung zu den zentralen Aktionen der gesamten NGO den Druck auf die Nuklearindustrie und die Regierungen der Atomstaaten zu erhöhen. Dementsprechend ist es auch die Aufgabe des friedenspolitisch engagierten Teils der Stadtbevölkerung, in ihrem kommunalen Kontext Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit zu leisten, mit lokalen Initiativen für den Frieden und den Schutz der Umwelt zusammenzuarbeiten, Gespräche mit ihren Stadtverantwortlichen und den zuständigen Gremien zu führen sowie Beschlüsse zu initiieren, den ‚Mayors for Peace‘ beizutreten und ihre Stadt in eine internationale städtische Friedensbewegung einzugliedern.
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Ziele der internationalen NGO ‚Mayors for Peace‘:
1. „Immediately de-alert all nuclear weapons. Even today, thousands of nuclear weapons around the world stand ready to launch on warning. This level of alert is madness, and stepping down is the quickest, easiest way to prevent an accidental nuclear holocaust.
2. Immediately start substantive negotiations toward a universal nuclear weapons convention. After repeated promises at NPT Review Conferences and other occasions by the nuclear-weapon states to eliminate their nuclear arsenals, we call on national governments to start substantive negotiations now to achieve a nuclear weapons convention.
3. Conclusion of a nuclear weapons convention. We call on national governments and other institutions to work toward the conclusion of a nuclear weapons convention that comprehensively prohibits the development, production, testing, stockpiling, or use of nuclear weapons and provides for their elimination.
4. Physical destruction of all nuclear weapons by 2020. The weapons can be destroyed. Fissile materials can be rendered unusable. Strict international control is technically feasible. A nuclear-weapon-free world is possible. [14]
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Des Weiteren ist durch nationale und internationale Gesetzgebung die Entwaffnung von privaten Organisationen und von Privatpersonen, die Kleinwaffen besitzen, ebenfalls Schritt für Schritt vorzunehmen. Hierbei müssen zunächst die Bestimmungen für den Waffenerwerb in internationaler Abstimmung verschärft werden. Letztendlich sind nach einer Übergangsphase alle Waffen in Privatbesitz abzugeben und zu vernichten bzw. als Rohstoffe für Friedensprodukte zu recyceln. Das Ausdrucken von Waffen über 3D-Drucker ist unter strenge Strafe zu stellen. Die Entwicklung von Killer-Robotern mit künstlicher Intelligenz ist weltweit zu verbieten. Universitäten dürfen keine Rüstungsaufträge annehmen (verbindliche Zivilklauseln). Private Militärfirmen, die Söldner vermieten, sind zu schließen. Wissenschaftler und Unternehmer, die chemische und biologische Waffen erfinden, sind anzuklagen und zu verurteilen. Der Schutz der Menschen hat Priorität vor den Profitinteressen der Waffenindustrie.
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Zusammenfassung: Es wurde im Rahmen des vorliegenden Kapitels das Gegenmodell eines neoliberalen Raubtierkapitalismus entwickelt, das an den ethischen Prinzipien der Solidarität, ökologischer Nachhaltigkeit sowie Demokratie und Gerechtigkeit orientiert ist. Die Ökonomie muss dem Menschen dienen und nicht umgekehrt. Sie muss mit den planetaren Ressourcengrenzen kompatibel und an ökologischer Nachhaltigkeit orientiert sein. Eine sozialökologische Marktwirtschaft unter dem Primat einer derart verstandenen Gemeinwohlorientierung stellt einen deutlichen Systemwechsel dar. Wenn sich eine derartig sozialökologisch ausgerichtete und solidarisch gestaltete Marktwirtschaft auf der ökonomischen Ebene mit einer weiterentwickelten Demokratie auf der politischen Ebene verbindet, liegt eine schrittweise und friedliche Transformation des Kapitalismus auf der Systemebene vor. Diese eher lokalen, nationalen oder regionalen Prozesse sind durch eine Veränderung der weltwirtschaftlichen Strukturen, der Einrichtung von Steuerkorridoren, einer Entflechtung und Eindämmung der großen Konzerne sowie der Verhinderung unverantwortlicher Finanzspekulation von Seiten der entsprechenden Institutionen einer gestärkten und demokratisierten UN zu begleiten und zu kontrollieren.
Die Rüstungsindustrie wird streng kontrolliert und arbeitet im Rahmen der hier vorliegenden Vision [15] einer umfassenden Reform der UN ausschließlich und im wesentlich geringeren Produktionsumfang für die weltpolizeiliche Funktion der Vereinten Nationen. Hierdurch wird eine jährlich Billionen Dollar umfassende Friedensdividende frei, die für den Aufbau einer solidarischen Weltwirtschaft, für soziale Maßnahmen und für den Kampf gegen die ökonomisch verursachte Klimakrise genutzt werden kann.
Der hier angestrebte geordnete Systemwechsel unterscheidet sich deutlich von den Vorstellungen eines „Great Reset“, wie dies 2020 vom ‚World Economic Forum‘ (WEF) vorgeschlagen wurde. Die Covid-19-Krise müsse zu einem großen Umbruch genutzt werden, der zu einer Umsteuerung in ökologischer, wirtschaftlicher und politischer Hinsicht führen müsse, indem in der Unternehmenskultur an die Stelle des Shareholder-values das Stakeholder-value trete, so dass hier weitergehende Interessen berücksichtigt werden könnten. [16] Beim „Great Reset“ handelt es sich daher eher um eine notdürftige Reparatur des Kapitalismus, ohne dessen Grundprinzipien anzugreifen. WEF-Leiter Klaus Schwab selbst relativiert den systemverändernden Ansatz des „Great Reset“ und betont im Interview:
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„Nein, der Kapitalismus ist nicht das Problem. Ich bin davon überzeugt, dass die unternehmerische Kraft jedes Einzelnen die Triebfeder für echten Fortschritt ist – und nicht der Staat. … Ich plädiere nicht für eine Systemänderung. Ich plädiere für eine Systemverbesserung.“ [17]
Hier werden also weder die Fragen nach der Begrenzung privatwirtschaftlichen Eigentums und der Auflösung bzw. Vergesellschaftung multinationaler Konzerne, noch nach dem zerstörenden Charakter kapitalistischen Profitstrebens und auch nicht die Frage nach einer entschieden gerechteren Verteilung gesellschaftlichen Reichtums gestellt. Aber gerade die Lösung dieser Fragestellungen ist entscheidend für die Lösung von globalen Problemen, wie der Zerstörung der natürlichen Mitwelt, der Erodierung demokratischer Systeme, dem Verlust der Lebensgrundlage für viele Menschen und der Flucht aus ihren angestammten Regionen sowie für die Zerstörung von Weltregionen durch Militär und Krieg.
Das strukturelle Grundproblem der kapitalistischen Wirtschaft und Gesellschaft ist die Kombination aus Privatbesitz, Mehrwertabschöpfung, Wettbewerb und Egoismus im Kampf um Vorteile auf Kosten der Konkurrenten. Dies ist ein strukturelles Hindernis auf dem Weg zu Kooperation, Solidarität, Verteilungsgerechtigkeit und ökologischem Verhalten, die die eigentliche Grundlage einer solar-solidarischen Gesellschaft (Altvater) und dafür sind, einen Weg zur Überwindung der zukünftigen Bedrohungen zu finden.
Anmerkungen Kapitel 4.1
[1] Marx/Engels (1848/1983, 47).
[2] An dem Kapitel 4 hat u.a. Bernhard Trautvetter korrigierend und beratend mitgearbeitet. Seine englischsprachigen Übersetzungsvorschläge und weiterführenden inhaltlichen Überlegungen waren unentbehrlich für die Überarbeitung dieses Kapitels.
[3] Vgl. Kap. 3.2.
[4] Vgl. u.a. Paech (2012, 2018) und u.a. die Webseiten https://www.degrowth.info/de/sowie das Netzwerk Wachstumswende auf https://wachstumswende.de/, beide o.D., 1.12.2019.
[5] Vgl. zur Konzeption und Begründung solidarischer Ökonomie Altvater (2006, 203ff.), Felber (2018), Burkhart/Schmelzer/Treu, Konzeptwerk Neue Ökonomie (2017), Brand/Wissen 2017 u. 2021) und auch Kap. 3.2 im vorliegenden Buch.
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[6] Vgl. die ICAN-Studie unter http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/atomwaffen-banken-investieren-milliarden-in-atomwaffen-produzenten-1.3894464,7.3.2018, 16.3.2018.
[7] Greenpeace (Hrsg.), 2020, a.a.O., 30.
[8] Greenpeace, 2020: a.a.O., 31f.
[9] Vgl. zur Rüstungskonversion u.a. Brandt, Götz/Peil, Karl-Heinz, 2010, Militär und sozial-ökologische Transformation. In: http://xn--umwelt-militr-mfb.info/userfiles/downloads/2020/2020-07_BzU32_Militaer-Konversion.pdf, Juli 2020, 74. [10] Vgl. zu den Gefahren einer anders gelagerten und Ausgaben steigernden europäischen Rüstungsstrategie Roithner (2020, 197ff. sowie kritisch über die Ausgabensteigerungen im Zuge der ‚Permanent Structured Cooperation (PESCO) bei Ruf (2020, 82ff.).
[11] Eisenhower, Dwight D., 1953, The Chance for Peace
http://www.edchange.org/multicultural/speeches/ike_chance_for_peace.html, Washington, D.C. vom April 16, 1953, 14.7.2021.
[12] https://en.wikipedia.org/wiki/Mayors_for_Peace, 13.2.2025, 6.3.2025.
[13] Vgl. Ebenda
[14] http://www.mayorsforpeace.org/english/vision/index.html, o.D., 12.2.21
[15] Vgl. zur Reform der UN Kap. 5.
[16] Vgl. zusammenfassend zum ‚Great Reset‘ Loos (2020), Schwab (2020) und ausführlicher Schwab/ Malleret (2020)
[17] Schwab (2020)
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4.2 Demokratische Erneuerung von Gesellschaften, Institutionen und Lebensweisen
Viele Menschen in den westlichen, reicheren Gesellschaften, die in einer repräsentativen Demokratie leben, verfügen über ein Maß an Meinungs- und Organisationsfreiheit, wie es dies im Vergleich zu vergangenen Gesellschaften noch nicht gegeben hat. Auch in einem Vergleich aktueller politischer Systeme schneiden die meisten westlichen Demokratien überdurchschnittlich ab. Erfolge gesellschaftlicher Auseinandersetzungen um das politische System in Verbindung mit einem extrahistischen Wirtschaftssystem, das sich im übrigen Teil der Welt an den Ressourcen, wie Bodenschätzen und billigen Arbeitskräften, bedient, das insbesondere den globalen Süden hierbei ausplündert, führten zu einem relativ großen Verhaltensspielraum für deren Bürger, soweit sie einen wirtschaftlichen Standard oberhalb der Armut erreicht hatten.
Beobachtbare Tendenzen zu einer autoritären Demokratie und entsprechenden Grundrechtseinschränkungen in Zeiten der Corona-Pandemie auch in westlichen Gesellschaften sollen hier nicht als konstitutives Strukturmerkmal dieser Gesellschaften angesehen werden. Derartige Grundrechtseinschränkungen sind in den von der Weltwirtschaft profitierenden Staatensystemen im Regelfall nicht notwendig, um ihre systemische Stabilität zu erhalten.
Wie aber werden herrschende und profitierende Eliten reagieren, wenn das Wirtschaftssystem in eine längerfristige Krise gerät und die Menschen gegen die kapitalistische Verfasstheit der Ökonomie wirkungsvoller zu protestieren beginnen und Formen solidarischer Ökonomie durchzusetzen versuchen? Werden dann die demokratischen Verfassungen und die Möglichkeiten zur demokratischen Partizipation erhalten bleiben? Es bleibt noch offen, in welche zukünftigen Strukturen sich die Institutionen der Vergangenheit und Gegenwart dann entwickeln werden.
Gerade die imperiale Lebensweise westlicher Gesellschaften zu Lasten der armen Gesellschaften des globalen Südens ist es, die vielen ihrer Bürger erhebliche politische Freiheiten verschaffte, da hierdurch bisher in westlichen Gesellschaften von nur wenigen Menschen und gesellschaftlichen Gruppen die Systemfrage gestellt wurde. Dennoch finden sich erhebliche strukturelle Probleme im politischen System einer vorwiegend repräsentativen Demokratie und einer stecken gebliebenen Demokratisierung des ökonomischen Bereichs. Existierten - laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) 1996 in Deutschland noch 49% der Betriebe, die einen Betriebsrat besaßen, waren es im Jahr 2024 nur noch 7% der Betriebe in Deutschland, die einen Betriebsrat besitzen. Nur knapp jeder dritte Arbeitnehmer in einem privaten Betrieb wird noch von einem Betriebsrat vertreten. (Klauth, 2025). Neben einem veralteten und bürokratischen Betriebsverfassungsgesetz werden u.a. die Einschüchterung von Arbeitnehmern_innen genannt, die Betriebsräte gründen wollen. Auch prekär und zeitlich befristete Arbeitnehmer_innen haben es schwieriger, sich im Rahmen der betrieblichen Mitbestimmung zu engagieren.
Brand/ Wissen (2017, 185) verweisen daher darauf, dass im Zuge einer Beseitigung der imperialen Lebensweise auch die Demokratisierung vorangetrieben werden müsse:
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„Die Beschränkungen einer liberalen, zunehmend autoritären Demokratie zugunsten einer umfassenden gesellschaftlichen Demokratie aufzuheben ist ein zentraler Bestandteil der Auseinandersetzungen um eine solidarische Lebensweise. Dies beinhaltet Abwehrkämpfe gegen den gesellschaftlichen und politischen Rechtsruck ebenso wie die Zurückdrängung imperialer Praxen und die institutionelle Absicherung des Neuen. Ihr Ausgangspunkt ist die Einsicht, dass die sozialen und ökologischen Verwerfungen, mit denen wir heute konfrontiert sind und die unendliches Leid verursachen, ihre Ursachen in den globalen gesellschaftlichen Verhältnissen haben – und nicht (…) in endogenen Prozessen des globalen Südens.“
Die Demokratie ist umfassender zu denken, als dies oftmals im alltagspolitischen Diskurs vorgenommen wird. Demokratie ist als Herrschafts-, Gesellschafts- und Lebensform zu denken (Himmelmann 2016). Dies bedeutet, dass Gesellschaften auf allen Ebenen demokratisch zu gestalten sind: In der Wirtschaft, in der Verwaltung, in den Medien, in Vereinen und Verbänden sowie in den Schulen und Familien. Und natürlich: auf der Ebene der Vertretung der Bürgerinteressen.
Dies ist eine gewaltige Aufgabe, die struktureller Reformen aber auch weiterer Bewusstseinsbildung bedarf. Sicherlich werden auch die Schulen im Sinne von Demokratiebildung noch enorme Anstrengungen hinsichtlich ihrer demokratischen Partizipationsformen und ihrer Unterrichtsinhalte und -methoden vornehmen müssen.
Medialer Ausbau demokratischer Öffentlichkeiten
Eine Chance soll daher hier im weiteren Ausbau einer deliberativen Demokratie (Habermas 1992) gesehen werden. Konstitutiv hierfür ist die demokratische Öffentlichkeit, über die sich für alle zugänglich und mit gleichen Sprechchancen über verschiedene Begründungen, Einschätzungen und Meinungen ausgetauscht werden kann, bevor eine politische Entscheidung getroffen wird.
Hierfür ist die Unabhängigkeit der Medien konstitutiv, einer Unabhängigkeit, die aufgrund der weitgehend privaten Besitzrechte an den Medien, wie Zeitungen, einem großen Teil der Fernsehsender sowie der digitalen Medien keineswegs realisiert ist.
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Zu fordern wären hier also vergesellschaftete Lösungen für den Medienbesitz, wie z.B. genossenschaftlich organisierte Verfügungsformen und an der Gemeinwohlökonomie orientierte Besitzverhältnisse. Sicherlich sind auch die öffentlichen Fernsehsender zu erhalten, aber im Sinne von Bürgerbeteiligung weiter zu demokratisieren.
Erst wenn die Verbindung aus privatwirtschaftlicher Medienmacht und einer entsprechend interessengeleiteten Steuerung politischer Einstellungen und Urteile aufgehoben ist, kann sich eine deliberative Demokratie weiter entfalten. Bereits vorhandene Beispiele einer Vergesellschaftung und Demokratisierung von Medien zeigen sich in der Schweizer Online-Zeitschrift ‚Republik‘ und der deutschen Zeitschrift ‚Die Tageszeitung‘ (taz).
Auch die digitalen Medien, wie Facebook, Twitter, Instagramm oder LinkedIn, sind von den privatwirtschaftlich bedingten Algorithmen zu befreien, die eine öffentlichkeitswirksame Kommunikation erst ermöglichen, wenn dies auch entsprechend bezahlt wird. Ansonsten erhält nur ein kleiner, begrenzter Teil der eigenen Kontakte die gepostete Information, die eigentlich für eine größere Öffentlichkeit gedacht ist.
Ausbalancierung direktdemokratischer und repräsentativer Strukturen
Wenn man von ‚westlichen Demokratien‘ hinsichtlich ihrer Legitimation von Demokratie und ihrer Verfassungsrealität spricht, ist es notwendig, zwischen den verschiedenen politischen Systemen westlicher Demokratien zu unterscheiden. So unterscheiden sich das politische System der USA, der Schweiz, Deutschlands oder Frankreichs erheblich voneinander. Sowohl die Verfassungskonstruktionen als auch das Verhältnis von Verfassungsanspruch und Verfassungsrealität sind in den genannten Staaten sehr unterschiedlich ausgeprägt.
Zu lernen gilt es von politischen Systemen, die eine ausgewogene Balance von repräsentativen und direktdemokratischen Elementen des politischen Systems aufweisen. So weist beispielsweise Deutschland hier deutliche Defizite hinsichtlich direktdemokratischer Strukturen auf Bundesebene auf. Hingegen stellt die Schweiz ein Beispiel für die Kombination von repräsentativ-demokratischen und direktdemokratischen Verfahrensweisen dar, von dem es in kritischer Überprüfung dieses Modells zu lernen gilt.
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Hierbei ist für eine Neuordnung des demokratischen Systems genau zu analysieren, welche Problemstellungen und Konflikte geeignet sind, direktdemokratisch entschieden zu werden. Die Frage nach der Wiedereinführung der Todesstrafe oder der Abschaffung rechtsstaatlicher Strukturen darf sicherlich weder im repräsentativen noch im direktdemokratischen System zur Abstimmung gestellt werden. Allerdings gibt es durchaus Fragen, die auf nationalstaatlicher Ebene direktdemokratisch entschieden werden können, z.B. die Frage, ob ein Staat einem multinationalen wirtschaftlichen Bündnis wie CETA oder MERCOSUR beitreten sollte. Gerade dann wird es aber auch darauf ankommen, dass eine deliberative Öffentlichkeit vorhanden ist, deren mediale Kommunikation nicht prioritär durch privatwirtschaftliche Interessen und Unternehmen, wie z.B. Cambridge Analytica, beeinflusst wird. Einer solchen Entscheidung muss ein sorgfältig ausgearbeiter Prozess der Information, der Diskussion und Entscheidungsfindung vorausgehen.
Einerseits wird durch eine derartige Vorgehensweise ein Beitrag zu einer spezifischen Problemlösung erfolgen können. Zum anderen entwickelt sich durch die Beteiligung an mehreren derart aufgebauten direktdemokratischen Verfahren die Demokratiekompetenz in der Bevölkerung im Sinne eines Aufbaus verstandenen Wissens und einer Analyse-, Urteils- und Handlungskompetenz.
Auch könnte wesentlich kreativer mit direkten Formen der Demokratie umgegangen werden. Neben Bürgerbegehren und Volksbefragungen könnten auch Versuche mit Bürgertribunalen, Selbstverwaltungselementen in Wohnblocks (Bürgerräte), Klimaräten, mit erweiterter Bürgermitbestimmung im öffentlichen Fernsehen und Radiosendern und institutionalisierter Beteiligung von NGOs bei bestimmten parlamentarischen Entscheidungen vorgenommen werden.
Diese Überlegungen und Vorschläge bezogen sich primär auf nationale Gesellschaften. Wie nun die demokratische Neuordnung auf der multilateralen Ebene vorgenommen werden könnte, wird im Rahmen des Kapitels 5 am Beispiel der Neuordnung der Vereinten Nationen genauer beschrieben.
Einführung bzw. Wiederbelebung der betrieblichen Mitbestimmung
Einerseits gab es in vielen Staaten des globalen Südens noch niemals eine betriebliche Mitbestimmung, die nennenswert ausgebaut war. Hier wäre natürlich zunächst erst einmal zu fordern, dass die gesetzlichen Grundlagen für eine betriebliche Mitbestimmung geschaffen werden. Dies verhielt sich in den reicheren Staaten, die sich eine betriebliche Mitbestimmung leisten konnten, anders. Die weitgehende Verdrängung der betrieblichen Mitbestimmung, z.B. in Deutschland entweder durch eine aktive Behinderung von Betriebsratswahlen durch die Konzernspitze oder durch andere, rechtlich weniger abgesicherte Mitarbeitermodelle, müsste im Rahmen einer sich weiterentwickelnden gesellschaftlichen Demokratisierung wieder aufgehoben werden. Es ist zu fordern, dass eine Behinderung von Betriebsratsinitiativen bzw. -wahlen unter deutlichere Strafen zu stellen ist. Auch ist ein Kündigungsschutz für Wahlintiatoren_innen zu fordern.
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Die demokratischste Form von betrieblicher Mitbestimmung ist sicherlich in solidarischen Kollektiven zu sehen, wo zumindest in kleineren Betrieben das Unternehmen den Mitarbeitenden gehört, die über die zentralen Entscheidungen gemeinsam beraten und abstimmen. Ein derartiger Ansatz betrieblicher Demokratisierung ist ebenfalls in der Gemeinwohlökonomie begründet.
Demokratie darf nicht an den Betrieben vorbei gehen. Ansonsten bleibt der systemische Widerspruch zwischen ökonomischer Basis und politischem Überbau, zwischen Kapitalismus und Demokratie bestehen.
4.3 Soziale Gerechtigkeit in einer internationalen Perspektive
Im Kapitel 2.5 wurden detailliert die gegenwärtige soziale Ungleichheit und das drohende Szenario einer Welt beschrieben, in der immer weniger Reiche versuchen immer größere Teile der Weltbevölkerung vom gesellschaftlichen Reichtum auszuschließen.
Der Soziologe Stephan Lessenich (2018) fasst die Problematik anhand der Oxfam-Armuts-Reichtums-Studien noch einmal zusammen - und 2025 sieht dies auch nicht anders aus:
„Jedes Jahr aufs Neue offenbart der Oxfam-Bericht zu Armut und Reichtum Erschreckendes: Die Lebenschancen auf dieser Welt sind in einem geradezu unglaublichen Maße ungleich verteilt.
Man kann aber auch sagen, dass Oxfam alle Jahre wieder das allseits Bekannte enthüllt: Der globale Kapitalismus kennt wenige Gewinner, denen es möglich ist, sich auf geradezu obszöne Art und Weise zu bereichern. Und er schafft viele Verlierer, die in menschenunwürdigen Verhältnissen leben und unter unsäglichen Bedingungen arbeiten müssen.
Dass beides, Gewinnen und Verlieren, im globalen Kapitalismus miteinander zusammenhängt, kann nicht oft genug deutlich gemacht werden: Die Einkommen und Vermögen der Reichen und Superreichen dieser Welt werden aus der Arbeit und der Armut von großen Bevölkerungsmehrheiten rund um den Globus geschöpft. Das ist das eigentlich Skandalöse an den Verhältnissen, die Oxfam zu Beginn eines jeden Jahres dokumentiert: Die einen bereichern sich auf Kosten der anderen.
Dieses Prinzip gilt in jedem einzelnen Land dieser Welt – und es gilt ebenso im Weltmaßstab. In praktisch allen Ländern der Welt wächst die soziale Ungleichheit, können Reiche und Superreiche immer mehr Einkommen und Vermögen auf sich konzentrieren. Aber auch weltweit sind die Ungleichheiten nach wie vor extrem: Wäre die gesamte Welt ein einziges Land, so läge die Einkommensungleichheit desselben auf dem Niveau Südafrikas, seines Zeichens eines der ungleichsten Länder überhaupt.“
Es ist zu fragen, mit welchen Strukturen und systemischen Prozessen diese globale und auch in einzelnen Nationalstaaten vorhandene ungleiche Verteilung des Reichtums zusammenhängt.
Natürlich hat die neoliberale Auslegung des Weltkapitalismus noch einmal die Armutssituation verschärft. Geduldete Steueroasen für die Reichen, über die der Mehrheit der Bevölkerung das öffentliche Eigentum gestohlen wird, der Zusammenhang zwischen Machtmissbrauch, Korruption und persönlicher Bereicherung, ungebremste Finanzspekulation, die Externalisierung ökologischer Kosten und ein weltweit beobachtbarer Abbau demokratisch kontrollierter sozialstaatlicher Errungenschaften sind insbesondere in ihrer wechselseitigen Verflechtung die Ursache für die sich immer weiter öffnende soziale Schere.
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Eine globale Umverteilung über veränderte Besteuerungssysteme
Maßnahmen zur Schaffung sozialer Gerechtigkeit für eine Neuordnung im globalen Maßstab müssen hieran ansetzen. Eine demokratisch kontrollierte Weltregierung der Zukunft müsste in Zusammenarbeit mit druckvollen sozialen und zivilgesellschaftlichen Bewegungen in allen Teilen der Welt daran arbeiten und entgegengesetzte Tendenzen wirksam einleiten. Hierbei muss es um eine drastische Umverteilung im lokalen, regionalen und globalen Kontext zunächst über veränderte Besteuerungssysteme und deren strenge Kontrolle gehen. Es sind für verschiedene Regionen unterschiedliche Steuerkorridore einzurichten, um Schritt für Schritt zu einem Ausgleich im Armutsgefälle zu kommen. Spekulationssteuern werden so erhoben, dass sich die Spekulation auf den Finanzmärkten nicht mehr lohnt. Steueroasen, in denen Konzerne und superreiche Einzelpersonen keine oder fast keine Steuern mehr zahlen müssen, werden geschlossen. Eine wirksame globale CO2-Steuer auf jede Tonne emittiertes CO2 kann für die Einleitung einer globalen sozialökologischen Wende verwendet werden.
Eine global gültige Mindestbesteuerung insbesondere der multinationalen Konzerne ist weltweit und ohne Ausnahmen endlich durchzusetzen.
OXFAM (2025c) fordert angesichts der überdurchschnittlichen Einkommenszuwächse eine zusätzliche Vermögenssteuer für Milliardäre und Multimillionäre:
"Einführung einer Mindeststeuer (Milliardärssteuer) von 2 Prozent auf das Vermögen von Milliardär*innen und Hochvermögenden, um steuerliche Privilegien bei hohen Vermögenseinkommen auszugleichen."
Eine grundlegende Sozialversicherung und ein würdiger Mindestlohn für alle Menschen
In der Auseinandersetzung um die Ziele für Nachhaltigkeit (‚Sustainable Development Goals‘, SDGs) der Vereinten Nationen wird insbesondere eine grundlegende Sozialsicherung insbesondere für die ärmeren Bevölkerungsschichten in den unterschiedlichen Weltregionen gefordert, um für sie einen Zugang zu Grundnahrungsmitteln, Bildung und medizinischen Leistungen, also die Einlösung der grundlegendsten Menschenrechte, zu ermöglichen – so das Global Policy Forum u.a. (2017):
„Für eine nachhaltige Armutsbekämpfung sind soziale Sicherungssysteme unerlässlich. Wenngleich das Recht auf soziale Sicherheit im Sozialpakt völkerrechtlich festgeschrieben ist, haben bis heute 73 Prozent der Weltbevölkerung keinen Zugang zu den wichtigsten sozialen Sicherungssystemen. Sie verfügen über keine Absicherung gegen elementare Lebensrisiken wie Krankheit, Altersarmut oder Arbeitslosigkeit. Die Internationale Arbeitsorganisation ILO hat vor diesem Hintergrund die Mitgliedsstaaten aufgefordert, zumindest einen universellen sozialen Basisschutz einzuführen, der den Zugang zu medizinischer Grundversorgung und eine elementare Einkommenssicherung vorsieht. Soziale Sicherheit mindert die Armutsrisiken und trägt zum sozialen Ausgleich bei.“
Die neoliberalisierte Globalisierung setzte darauf, die Arbeitskraft von Arbeitnehmern_innen in den ärmeren Weltregionen ausbeuten zu können (‚Billiglohnländer‘). Daher ist längerfristig weltweit ein Mindestlohnniveau einzuführen, das an die Kaufkraft der jeweiligen Währung anzupassen ist und ein würdiges Leben für alle Menschen ermöglicht.
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Zusätzlich ist endlich ein strenges Lieferkettengesetz global, also für alle Konzerne weltweit wirkend, durchzusetzen, das die beauftragenden Konzerne in die Verantwortung für menschenwürdige Standards und angemessene Belohnung in den vorgelagerten Produktionsstätten in die rechtlich verbindliche Verantwortung nimmt. Dies ist auch über den Einbau sozialpolitischer und ökologischer Regelungen in bi- und multilateralen Staatsverträgen zu unterstützen.
Zur Finanzierung der sozialen Absicherung, des Mindestlohnniveaus und des regionalen sozialen Ausgleichs werden neben dem steuerpolitischen Paradigmenwechsel, der Reduktion der Profite von multinationalen Konzernen riesige Summen in Billionenhöhe frei, indem die nationalen Rüstungsbudgets entfallen bzw. wesentlich geringere Gelder notwendig sind, um die globalen Ordnungskräfte der UN zu finanzieren.
Ein globaler Strukturausgleich und die Rückzahlung der geraubten Ressourcen
Über einen globalen Strukturausgleich, strengen Lieferkettengesetzen, einen akzeptablen globalen Mindestlohn und den globalen Aufbau der zentralen sozialen Absicherungssysteme werden die Kolonialisierungsgewinne der reichen Staaten, u.a. die Auswirkungen der ungerechten weltwirtschaftlichen ‚Terms of Trade‘, der organisierte Menschenraub sowie die Ausplünderung der Bodenschätze, an diejenigen Weltregionen zurückgezahlt, die sich hiervon ohne diesen Ausgleich nicht erholen würden. Diese Ressourcen fließen in den dortigen Aufbau der Wirtschaft, wobei vor allem kollektive Betriebe und nicht-privatwirtschaftliche Unternehmungen in Form von Genossenschaften oder ähnlichen Rechtsformen zu fördern sind – insbesondere, wenn sie ökologisch produzieren. Auch durch Frauen partizipatorisch geführte Betriebe sind gesondert zu fördern. Hierdurch entstehen in diesen Regionen solidarische und ökologisch orientierte Wertschöpfungsketten und damit verbunden qualitativ hochwertige Arbeitsplätze.
Mit diesem globalen Strukturausgleich entfallen dann auch wesentliche Ursachen von Landflucht und Migration. Es ist nun möglich, in der eigenen Heimat zu bleiben und dort zu helfen, sich für eine sozial gerechte, friedliche und ökologisch verträgliche Neuordnung einzusetzen.
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4.4 Die ökologischen Voraussetzungen des Friedens
Die australischen Klima- und Energieexperten Spratt/Dunlop (2019, 10) markieren das gesellschaftliche Risiko, wenn keine grundlegende Einstellungsänderung und damit verbunden einschneidende Maßnahmen zur Rettung des Weltklimas unternommen werden:
„This scenario provides a glimpse into a world of ‘outright chaos‘ on a path to the end of human civilisation and modern society as we have known it, in which the challenges to global security are simply overwhelming and political panic becomes the norm.
Yet the world is currently completely unprepared to envisage, and even less deal with, the consequences of catastrophic climate change.
What can be done to avoid such a probable but catastrophic future? It is clear from our preliminary scenario that dramatic action is required this decade if the ‘hothouse Earth‘ scenario is to be avoided. To reduce this risk and protect human civilisation, a massive global mobilisation of resources is needed in the coming decade to build a zero-emissions industrial system and set in train the restoration of a safe climate. This would be akin in scale to the World War II emergency mobilisation.“
Hiermit dürfte das Ausmaß der notwendigen Maßnahmen deutlich werden: Die Klimakatastrophe kann nur noch mit einem ressourciellen Aufwand verhindert werden, wie er im Zuge des durch den 2. Weltkrieg verursachten Notstands betrieben wurde.
Hier soll allerdings nicht die Auffassung vertreten werden, dass bisherige Anstrengungen zur Eindämmung der Klimakrise umsonst gewesen sind. Auch die UN- Umwelt- und Klimakonferenzen haben zwar nicht das notwendige Optimum erreicht, dennoch wäre ohne sie die Klimakrise bereits noch heftiger ausgefallen, als dies bereits der Fall ist. Sowohl das Wirksamwerden der Klimarahmenkonvention von 1994 als auch die Pariser Klimaverträge von 2015 haben durchaus wirksame Impulse für eine schrittweise Umsteuerung in der Energieversorgung gesetzt – auch wenn dies bei weitem noch nicht ausreicht.
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Zukünftige Maßnahmen, z.B. in der Energieversorgung oder in der Landwirtschaft, müssen streng auf ihre Klimawirkung geprüft werden, um Klimaneutralität zu erreichen. Innerhalb eines Zeitraums von 5-10 Jahren muss erreicht sein, dass keine zusätzlichen Klimagasemissionen ausgestoßen werden. Ist dies danach noch im geringen Ausmaß der Fall, dann müssen die Emissionen sorgfältig verbucht und kontrolliert über technische oder biotische Maßnahmen kompensiert werden. Hierzu gehört das Ersetzen fossiler Energiegewinnung z.B. durch Photovoltaik- oder Windkraftanlagen oder die Schaffung zusätzlicher CO2-Senken z.B. durch Waldanbau. Insgesamt aber ist neben der Klimaneutralität künftiger Maßnahmen auch der Abbau der bereits geschehenen Treibhausgasemissionen vorzunehmen. Es darf sich nicht allein auf Kompensation verlassen werden, da sich dadurch der Ausstoß von klimaschädlichen Gasen z.B. bei der Produktion nicht verhindern lässt. Hierfür sind eine entsprechend hohe CO2-Steuer sowie eine verbesserte und wirksame Handhabung des Handels mit Emissionszertifikaten sinnvolle Maßnahmen. Letztendlich ist der weitgehende Verzicht auf fossile Brennstoffe die wirksamste Methode für den Klimaschutz: Insbesondere Kohle und Erdöl weitgehend in der Erde zu belassen, mit Energie sparsamer umzugehen und regenerative Formen der Energiegewinnung klimaneutral einzusetzen.
Das Ziel muss ein Herunterfahren der Netto-Emissionen [1] klimafeindlicher Gase, wie CO2, Methan oder Lachgas, gegen Null sein. Klimaneutralität bedeutet, dass alle durch den Menschen vorgesehenen Klimagasemissionen, die nicht durch natürliche Senken, wie z.B. Wälder oder Moore, neutralisiert werden können, verhindert werden müssen.
Für eine klimatische Veränderung darf jedoch nicht, wie z.B. bei Maßnahmen des Geo-Engineerings, die Erde mit dem gleichen industriell-technologischen Bewusstsein bearbeitet werden, das zu den ökologischen Problemen erst geführt hat. Beispielsweise das Dimmen der Sonne über in die Atmosphäre einzuleitendes SO2, um die Biosphäre abzukühlen, übersieht das komplexe und hochsensible Wechselspiel zwischen atmosphärischen Veränderungen und den Regenfällen oder dem Pflanzenwachstum. Ökologische Katastrophen wären vorprogrammiert. [2]
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So fordert der Klimawissenschaftler Niklas Höhne (New Climate Institute, 2023) auch zusammenfassend:
Regierungen „must stop trying to adopt false solutions like carbon capture and storage with fossil fuels - this is simply the fossil fuel industry attempting to extend its life, when it needs to face up to the reality of a fossil fuel phase out.“
Ein verändertes Bewusstsein zur Natur
Der Mensch ist nun in der Verantwortung, die richtigen Maßnahmen zu treffen. Der Umweltforscher und ehemalige Wuppertaler Oberbürgermeister Uwe Schneidewind fasst die veränderte Rolle des Menschen im Umgang mit der Natur im Anthropozän zusammen:
„Die Menschheit ist nicht mehr allein Getriebene erdgeschichtlicher Prozesse. Sie gestaltet ihre ökologische Zukunft selbst mit. Die Erde ist somit in die Hand der Menschheit gelegt, und dies führt zu einer neuen Dimension der Verantwortung“
(Schneidewind 2018, 134)
Hierzu ist allerdings ein Bewusstseinswandel im Mainstream der Menschheit notwendig. Viele Menschen betrachten sich nicht mehr als integrierten Teil der Natur, sind von der Natur entfremdet, nutzen die Technologie, um von der Natur getrennt zu sein. Solche Menschen bewegen sich zu wenig in der Natur, betreiben keinen Gartenanbau, ernähren sich ungesund, bieten ihrem Körper nicht den Biorhythmus, den er benötigt, verzehren auf Tierquälerei basierende Fleischgerichte, konsumieren im Übermaß Alkohol und Zigaretten, vernachlässigen ihren Körper über einen ausufernden Medienkonsum, Arbeiten bis zum Burnout.
Dem Menschen ist daher – gerade im digitalen Zeitalter – zur Aufgabe gestellt, die Natur in sich und um sich herum zu achten und schonend zu behandeln. Die Umwelt ist eher als Mitwelt wahrzunehmen, also in ein subjektives Verhältnis zusetzen, das keine distanzierte Abspaltung ermöglicht. Ohne einen Bewusstseinswandel im Verhältnis Mensch-Natur werden politische Maßnahmen zur Wiederherstellung des ökologischen Gleichgewichts im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung auf unüberwindbare Hindernisse stoßen.
Dies bezieht sich sowohl auf die innere sowie die äußere Natur und auch die Verbindung von Beidem.
Der ökologische Bewusstseinswandel muss mit einem verantwortungsvolleren Verständnis von nationalstaatlicher Souveränität und multilateraler Zusammenarbeit einhergehen, da die ökologische Krise nicht an nationalstaatlichen Grenzen Halt macht, so Stewart M. Patrick (2021):
"The natural world obeys no sovereign boundaries, and neither does the worsening ecological crisis. It is time to take bold steps to overcome the disconnect between an international system divided into 195 independent countries, each operating according to its own imperatives, and a global calamity that cannot be resolved in a piecemeal fashion. It is time to govern the world as if the earth mattered."
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Kriterien einer an Nachhaltigkeit orientierten Politik
In dem hier vertretenen ganzheitlichen Zugang ist Nachhaltigkeit mehr als eine oberflächliche Modefloskel, sondern mit einer großen Komplexität versehen und mehrdimensional zu verstehen. Nachhaltigkeit hat ökologische, ökonomische, soziale und kulturelle Dimensionen und eine am Prinzip der Nachhaltigkeit orientierte Politik kann mit folgenden Kriterien näher bestimmt werden:
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Regeln einer an Nachhaltigkeit orientierten Politik: (ergänzte Übersicht orientiert an Peter/Moegling/Overwien 2011, 84) Statt des langläufigen Verständnisses einer wachstumsorientierten Verfolgung ökonomischer und sozialer Ziele – also einer an Effizienz und Rendite orientierten Regulierung des kapitalistischen Wirtschaftsprozesses – geht es bei sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit um eine dauerhafte und lebenswerte Welt, in der die Menschen anders und besser leben können. Nachhaltigkeit bedeutet: Es darf nicht länger auf Kosten der Zukunft produziert und gelebt werden. Jede Maßnahme und jede Lebensweise sind daraufhin zu befragen, welche Wirkung sie auf die Biosphäre und für die Lebensmöglichkeiten gegenwärtiger und zukünftiger Generationen haben. Das Verständnis von Nachhaltigkeit beinhaltet eine Priorität der ökologischen Dimension – wohl wissend, dass die verschiedenen Dimensionen ökologischer und gesellschaftlicher Koexistenz miteinander zusammenhängen. Will man wirtschaftliche Stabilität bei wesentlich reduziertem Ressourcenverbrauch erreichen, müssen sich sowohl der Norden als auch der Süden ändern, um die zentralen Nachhaltigkeitsregeln einzuhalten. Diese beinhalten:
- Nutzung erneuerbarer Rohstoffe nur unter Beachtung der Nachwachsrate (Regenerativregel);
- Sparsame Nutzung nicht erneuerbarer Rohstoffe bzw. unter Berücksichtigung ihrer Substituierbarkeit (Sparsamkeitsregel);
- Beachtung der Assimilationsgrenzen des Naturhaushalts und präventive Vermeidung von Schädigungen des Klimas und der Biodiversität (Anpassungsregel);
- Weitgehende Vermeidung der Gefahren und Risiken des Einsatzes von Großtechnologie (Vorsorgeregel);
- Steigerung der Wirksamkeit in der technologischen Nutzung natürlicher Ressourcen, um deren Verbrauch zu verringern (Effizienzregel);
- Elementare Existenzsicherung für alle einschließlich des Schutzes vor den großen Lebensrisiken und der Zugang zu elementarer Bildung;
- Gerechte Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen und gesellschaftlichen Reichtums unabhängig von sozialer Lage, Geschlecht, Kultur oder geografischer Lage;
- Verzicht auf die Verbrennung fossiler Rohstoffe zugunsten regenerativer Energieerzeugung und Energieeinsparung;
- Konsumverzicht in Bezug auf Produkte, wenn durch deren Produktion und Vertrieb Ressourcen zerstört werden, die das Leben zukünftiger Generationen maßgeblich beeinträchtigen;
- Beendigung der Tierquälerei im Rahmen industrieller Massentierhaltung zugunsten einer globalen Abnahme des Fleischkonsums und ausschließlich artgerechter Tierhaltung;
- Bewahrung kultureller Diversifizierung im globalen Kontext, insbesondere dort, wo sie zur toleranten kulturellen Identität und zu einer an Nachhaltigkeit orientierten Lebensweise beiträgt;
- Demokratisierung politischer und ökonomischer gesellschaftlicher Bereiche, um die ökologische Kontrolle zentraler gesellschaftlicher Bereiche in die Hände der Betroffenen zu geben.
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Ein kritisches Verständnis von Nachhaltigkeit geht über den modischen Gebrauch dieser Kategorie hinaus und ist widerständig gegen die Täuschungsversuche, Nachhaltigkeit für lebensfeindliche Technologien zu missbrauchen (‚Greenwashing‘). Eine an einem kritischen Verständnis von Nachhaltigkeit orientierte Analyse und Beurteilung deckt Strukturen der Kollaboration zwischen gekauften Wissenschaftlern, Lobbyisten, abhängigen Politikern und fossiler Großindustrie auf. Auch setzt sich ein derartiger Zugang zur Nachhaltigkeitsthematik kritisch mit der Verlagerung der CO-2-Emissionen und des westlichen Mülls in den globalen Süden auseinander. Hierbei wird nicht akzeptiert, wenn Menschen im globalen Norden sich ein reines ökologisches Gewissen verschaffen, wenn sie Umweltzerstörungen in ihrer Lebenswelt vermeiden, dabei aber ökologische Zerstörungen in den globalen Süden verlagern.
Eckpunkte einer Politik der Nachhaltigkeit
Solare Energieversorgungsinfrastruktur, sauberes Wasser, atembare Luft und Entschleunigung des Bevölkerungswachstums
Wie kann beispielsweise Trinkwasser – die Essenz des Lebens, genauso wie saubere Atemluft – zum Gegenstand von Spekulation und Gewinnmaximierung werden? Der Kampf um das Wasser wird zunehmend die Zukunft der Menschheit bestimmen. Diese primäre Lebensquelle ist mit allen legitimen Mitteln vor dem privatwirtschaftlichen Zugriff zu schützen. Innergesellschaftlicher und intergesellschaftlicher Frieden kann ohne einen Schutz und eine öffentliche Verfügbarkeit sauberen Trinkwassers nicht eintreten.
Dies gilt genauso für die Luft, die wir atmen. Insbesondere in größeren Städten atmen ärmere Menschen an den Ausfallstraßen, wo die Mieten geringer sind, die verschmutzte und ungesunde Luft. Diese Ungerechtigkeit ist über veränderte Mobilitätskonzepte und innovative Konzepte einer Wiedergewinnung städtischen Lebensraums zu beseitigen.
Die auf Kohlenstoffdioxid-Verstromung ausgerichtete Energiewirtschaft ist mit dem Blick auf die bereits eintretende klimatische Veränderung schneller und global verbreiteter auf eine solare Energiewirtschaft umzustellen. Gerade die Länder des globalen Südens haben hier eine unerschöpfliche Energiequelle und eine natürliche Ressource, die sie schneller und umfassender nutzen sollten. Stromerzeugung durch Photovoltaikanlagen kombiniert mit Stromspeichern und Wall-box für die Aufladung der E-Autos, Wärmeerzeugung durch Solarthermen auf den Dächern sowie Ausbau der Windenergie (on- und off-shore) verbunden mit großen Speicherkapazitäten, wie z.B. 600 Megawatt-Speichern, sowie eine effizientere Nutzung der erzeugten Energie über Blockheizkraftwerke, mit grünem Strom versorgte Wärmepumpen oder die Nutzung der bei der Stromerzeugung anfallenden Wärmeenergie als Fernwärmeversorgung sind Elemente einer solaren Energieversorgungsinfrastruktur.
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Der 6. Assessment Report des Weltklimarats (IPPC 2021, 38) legt auf wissenschaftlicher Basis die CO2-Restbudgets fest:
Mit einer Wahrscheinlichkeit von 17% kann das 1,5 Grad Celsius-Ziel der Klimaerwärmung gehalten werden, wenn noch weltweit Emissionen von 900 Giga Tonnen CO2 emittiert werden. Da dies eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit ist, müsste das globale Restbudgets für CO2 eher bei 300 Giga Tonnen CO2 liegen (83% Wahrscheinlichkeit). Erst unter 300 Giga Tonnen CO2 wird es eine sichere Wahrscheinlichkeit geben, dass das 1,5-Grad-Ziel bis zum Ende des 21. Jahrhunderts noch erreicht werden kann. An diesem Restbudgets müssen sich die Regierungspolitik sowie die Klimapolitik der Vereinten Nationen orientieren. Mit dem Blick auf die notwendige Klimagerechtigkeit müssen hierbei reichere Weltregionen die C02-Emissionen schneller senken als ärmere Regionen, denen noch mehr Zeit für den Übergang gelassen werden müsste.
Die Energieversorgung über Atomkraftwerke und nuklearer Energie entfällt aufgrund deren unbeherrschbarer Gefährlichkeit und der bisher nicht zu lösenden Entsorgungsproblematik. Auch erfordert der Aufwand, das gefährliche Material von der Biosphäre getrennt zu halten, einen enormen Energieaufwand und Einsatz von Ressourcen, den die Befürworter der Kernkraft ignorieren. Des Weiteren ist die die durch AKWs erzeugte Energie mit Abstand die teuerste Energie (Kempfert 2021), die nur durch hohe staatliche Subventionen überhaupt konkurrenzfähig ist.
Entscheidend ist auch angesichts einer überfüllten Erde das Bevölkerungswachstum über Bildung, kostenfreie Verteilung von Verhütungsmitteln – und wenn dies nicht entscheidend hilft – durch Beschränkungen der Geburtenzahl abzubremsen, um eine der verschiedenen Ursachen für die anwachsenden Migrationsbewegungen und damit zusammenhängenden Verdrängungskämpfe zu vermeiden und gleichzeitig die Ressourcen der Erde zu schonen. Hierbei ist auf die Versuche Chinas zu schauen, wie dort die Geburtenrate gesenkt wurde. So ist auch aus den Fehlern Chinas zu lernen, die in einer zu drastischen Absenkung im Rahmen der Ein-Kind-Politik und in den damit verbundenen, gezielten Abtreibungen, insbesondere von Mädchen, bestanden.
Die Grenzen des Wachstums der Weltbevölkerung müssen von allen Ländern respektiert werden, um die Tür zur Zukunft der Menschheit auf dem Planeten Erde offen zu halten.
Auch könnte zumindest ein Teil der durch den nationalen Rüstungsverzicht freiwerdenden Billionen Dollar in die Heilung der Biosphäre bzw. des perspektivischen Entgegenwirkens gegen die drohende Klimakatastrophe investiert werden, was nicht nur ökologische, sondern auch – wie bereits angesprochen wurde – friedensstiftende Funktionen in mittel- bis langfristiger Hinsicht hat.
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Ökologische Verkehrspolitik und Wiedergewinnung des städtischen Raums
Die Abschaffung des Benzinmotors muss mit der Schaffung ökologisch verträglicher Mobilitätslösungen im globalen Maßstab über positiv verstärkende Besteuerungsanreize durchgesetzt werden. Hierbei ist die E-Mobilität aufgrund ihres Umweltverschleißes kritisch zu sehen, wenn sie keinen solar erzeugten Strom verwendet und auf Batterie getriebener Technik basiert, die eine Zerstörung großer Flächen im globalen Süden und dort eine Absenkung des Grundwasserspiegels, z.B. im Zuge des Lithium-Abbaus, verursacht. Die Lösung ist eher in E-Mobilität mit anderen Speichertechniken zu suchen, wie z.B. in der primär auf Wasserstoff basierenden Technologie verbunden mit Lithium-freien Akkus – auch wenn derzeit noch zu viel Energie zur Herstellung von Wasserstoff benötigt wird. Voraussetzung hierfür ist des Weiteren, dass die für die Erzeugung des Wasserstoffs notwendige Energie regenerativ gewonnen wird. [3] Nur ‚grüner Wasserstoff‘ stellt eine ökologisch vertretbare Option dar.
Natürlich ist hier auch der Ausbau eines gut getakteten und zuverlässigen Nahverkehrssystem sowie ein sicheres und ausgebautes Radwegenetz zu fordern, um die umweltfeindlichen Mobilitätslösungen mit Hilfe von Verbrennungsmotoren zu ersetzen. Im Hinblick auf die individuelle Mobilität stellt "grüner Wasserstoff" eine ökologisch vertretbare Option dar; die Schlüssellösung liegt hier jedoch im Ausbau der öffentlichen Verkehrssysteme und im Ersatz von motorbetriebenen Fahrzeugen durch Fahrräder.
Der ökologische Mehrwert eines veränderten Mobilitätsverhaltens kann gleichzeitig zu einer vergrößerten Sicherheit und zur Verbesserung der Lebensqualität im öffentlichen städtischen Raum genutzt werden. Die Straßen würden vom Durchgangsverkehr befreit und wieder zum öffentlichen Lebensraum werden. Städtische Plätze würden ihre Nutzung als Parkplatz zugunsten lokaler Märkte, Renaturierung und kommunikativer Treffpunkte transformieren. Auch würde ein verändertes Mobilitätsverhalten zur Wiedergewinnung sauberer Luft führen, die neben der Verfügbarkeit über sauberes Wasser ein zentrales Grundrecht darstellt. Die durch den unerträglichen Smog in den globalen Großstädten aller Weltregionen verursachte Beeinträchtigung des Atmens und der einhergehenden Atemwegserkrankungen und massiven Mortalitätsraten verweisen auf die Notwendigkeit einer Befreiung der Luft von Abgasen wie Kohlenstoffdioxid oder Kohlenmonoxid.
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Diese Verbesserung der Lebensqualität könnte durch verschiedene kommunale Maßnahmen unterstützt werden [4]:
- Ausbau des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs;
- Sammelparkplätze an den Stadträndern bei gleichzeitigem Anschluss an Bahnen und Bussen mit kurzer Zeittaktung;
- Prämien für die Abschaffung von Verbrennungsmotoren zugunsten ökologischer Mobilitätslösungen;
- Erhöhung der Steuern für Autos, die mit Benzin oder Diesel betrieben werden;
- Einführung eines Mietertickets bei gleichzeitiger Verteuerung des innerstädtischen Parkraums;
- Ausbau des Netzes sicherer und komfortabler Fahrradwege;
- Reduzierung der städtischen Höchstgeschwindigkeit;
- Gezielter Rückbau und Renaturierung von städtischen Straßen und Plätzen;
- Einführung einer City-Maut für Unternehmen mit vielen Kraftfahrzeugen;
- Förderung von Photovoltaikanlagen auf Dächern, um E-Autos und E-Bikes über die Energieerzeugung auf den Dächern zu betanken.
Zu einer ökologisch ausgerichteten Verkehrpolitik gehört natürlich auch der Verzicht auf Inlandsflüge zugunsten der Nutzung des öffentlichen Fernverkehrs. Dazu gehört genauso die technische Umstellung der Flugzeuge auf elektrische bzw. mit Wasserstoff versehene Antriebe, deren primäre Energiequelle solar erzeugter Strom ist. Diese Umstellungsprozesse im Flugverkehr sind durch eine wirksame Kerosinsteuer, Mindestquoten für solar erzeugte Antriebsenergie und einen strengeren Emissionshandel zu fördern und zu beschleunigen, die wiederum dem technologischen Transformationsprozess zugutekommen könnten.
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Renaturierung und Aufforstung als Teil eines ökologischen Programms
Eine hohe Besteuerung des globalen Warentransports führt zu einer Stärkung der regionalen Produktion. Diese Besteuerung ist noch einmal zu steigern, wenn die Produkte, wie z.B. Soja oder Rindfleisch, aus der Abholzung von Regenwald resultieren. So früh wie möglich jedoch ist die Vernichtung von Regenwaldbeständen weltweit unter Federführung der Vereinten Nationen zu verbieten. Gleichzeitig muss mit der Renaturierung und der Wiederaufforstung von Wäldern begonnen werden. Natürlich reicht es nicht aus, über Aufforstung die CO2-Emissionen auszugleichen bzw. abzusenken. Dennoch kann das weltweite Pflanzen von Bäumen ein wichtiger Faktor von verschiedenen Faktoren in der Bekämpfung der Klimakrise sein. [5]
Die Zunahme von Waldbränden als Begleiterscheinung der Klimakatastrophe erhöht die Relevanz von Renaturierung und Wiederaufforstung.
Ein brasilianischer Förster zeigt hierbei, dass der Regenwald nicht zwangsläufig zum Opfer von Bodenspekulanten, Goldgräbern, Rinderzüchtern und Sojabauern werden muss. Derartige Initiativen gilt es – auch gegen den Widerstand der herrschenden Politik und der dominanten Konzerne – zu stärken:
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„Der brasilianische Förster Rafael Fernandes ist in diesen Tagen ein zufriedener Mensch. Er kann dabei mithelfen, dass der bedrohte Regenwald wieder ein Stück größer wird. Anderthalb Autostunden nordwestlich der Megacity São Paulo leitet er ein Waldversuchszentrum, das die niederländische Bierfirma Heineken und ihre NGO namens SOS Mata Atlântica gemeinsam betreiben. Seit 2007 sind sie hier auf einer ehemaligen Kaffeeplantage, restaurieren ringsherum ein heruntergekommenes Waldstück und pflanzen neue Bäume an. ‚Zuletzt haben wir 206 zusätzliche Vogelarten gezählt‘, sagt Fernandes stolz, ‚und kürzlich wurde ein Puma gesichtet.‘ Fernandes ist in der Region rings um São Paulo keineswegs allein: Der dortige Regenwald, der sogenannte atlantische Wald mit seinen mindestens 8.000 ureigenen Tier- und Pflanzenarten, kehrt nach jahrzehntelangem Raubbau durch Kaffee- und Zuckerrohrfarmer zurück. Aus Daten des brasilianischen Forschungsinstituts Mapbiomas geht hervor, dass im Südwesten des Landes binnen 16 Jahren neuer Regenwald in der Größe von Belgien entstanden ist.“
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Förderung von Subsistenzwirtschaft
Es ist auch ein Umdenken der Konsumenten erforderlich, die lokale Produkte bevorzugen und auf dem See- oder Luftweg interkontinental transportierte Produkte bei ihrer Kaufentscheidung ablehnen müssten. Auch der Eigenanbau landwirtschaftlicher Produkte findet in diesem ökologischen Rahmen seine subsistenzwirtschaftliche Wiederbelebung. Dies erscheint relativ einfach im ländlichen Raum, wo genügend Grundstücke und Flächen dies ermöglichen. Aber auch im städtischen Raum gibt es bereits zahlreiche Ansätze im Sinne der Gemeinwohlökonomie gemeinschaftlich bewirtschafteter Gärten und Anbauflächen sowie Versuche, Gemüsegärten auf den Flachdächern von Häusern in größerem Stil zu bewirtschaften. Das ‚Urban Gardening‘, zum Beispiel in New York, findet dort bereits im größeren Umfang statt:
„Das ökonomische Potenzial für Möhren, Salat oder Radieschen vom Dach erscheint groß – manche sprechen gar von einer neuen grünen Revolution. Deutschlands Städte bieten nach Einschätzung der Fraunhofer-Forscher 360 Millionen Quadratmeter Dachfläche, die sich für den Anbau von Obst und Gemüse eignen würden. (…)
In Ghanas Hauptstadt Accra liefern Stadt-Farmer bis zur Hälfte der Nahrung. Auf dem Dach eines früheren Lagerhauses im New Yorker Stadtteil Brooklyn gedeihen in Sichtweite der Wolkenkratzer von Manhattan auf 6000 Quadratmetern Salat, Tomaten, Pfeffer und Kräuter – alles in Bio-Qualität, wie die Betreiberin der Navy-Yard-Farm in ihrer Selbstdarstellung betont.“ [6]
Hier entfallen die Umweltemissionen durch die Transportkosten und bieten sich die Möglichkeiten ökologischer Landwirtschaft an. Wenn die Dachstatik die schwere Erde nicht vertragen, können auch Hydrokulturen angelegt werden.
Aber nicht nur die landwirtschaftliche Bewirtschaftung von Flachdächern sondern auch die gemeinschaftliche Anlage und an Prinzipien landwirtschaftlicher Nachhaltigkeit orientierte Nutzung von Brachflächen findet zunehmend in den Städten statt. Hierbei kommt es zu Saat-, Pflege- und Erntegemeinschaften, die einen großen Anteil des Ernährungsbedarfs auf pflanzlicher Basis decken und auf die Zuführung von giftigen Pflanzenschutzmitteln sowie auf belastende Formen der Bodendüngung verzichten. [7]
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Hier zeigen sich individuelle und kollektive Wege sinnvollen ökologischen Verhaltens auf der lokalen Ebene. Dennoch darf die strukturelle Ebene hinsichtlich der globalen Welthandelssituation nicht vernachlässigt werden. Es muss daher auch nach Wegen gesucht werden, internationale Freihandels- und Investitionsschutzabkommen aufgrund der vorhandenen ökologischen Bedrohungslage zu revidieren. Wenn derartige Verträge, wie CETA oder der Vertrag der EU mit den MERCOSUR-Staaten, zur verstärkten Regenwaldabholzung führen, dann müssen die Vereinten Nationen rechtliche Rahmenbedingungen schaffen, die eine Revision derartiger für das Weltklima bedrohlicher Verträge ermöglichen.
Die Durchsetzung einer Solarwirtschaft und solaren Energieversorgung sowie einer sinnvollen Balance von zentraler und dezentraler Energieversorgungstrukturen erhält Arbeitsplätze und wirkt sich ökologisch sinnvoll aus, wenn die zugrundeliegende Technik ebenfalls naturverträglich produziert und auch wieder recycelt wird.
Insbesondere ist auf eine deutliche Effizienzzunahme im Bereich der Energieproduktion bei gleichzeitigen Energiesparmaßnahmen zu achten. [8] Die Kraft-Wärme-Kopplung ist ein hocheffektives Instrument zur Steigerung der Energieeffizienz, das sowohl in dezentralen als auch in zentralen Systemen eingesetzt werden kann.
Des Weiteren ist eine strikte Kreislaufwirtschaft global durchzusetzen, die Müllvermeidung, Mülltrennung und Müllwiederverwertung vorsieht, um die Vermüllung der Erde zu stoppen und den Rohstoffabbau zu vermindern.
Bausteine einer ökologischen Landwirtschaft
Die Düngung der Felder mit aus Massentierhaltung stammender Gülle ist umweltverträglich zu regulieren. Des Weiteren ist die Unkraut- und Schädlingsbekämpfung mit gesundheitsschädlichen Pestiziden zu verbieten und durch naturverträgliche Maßnahmen biologisch-ökologischer Landwirtschaft zu ersetzen. Aufzeichnungspflichten und genaue Rechenschaftslegung über die ausgebrachte Düngermenge sind an zu verschärfende Regulierungen zu binden, um den Schutz des Bodens und des Wassers zu gewährleisten.
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Der Weltklimarat (IPCC) sieht in diesem Sinne positive Einflüsse einer am Prinzip der Nachhaltigkeit orientierten Land- und Forstwirtschaft auf die zukünftige Klimaentwicklung:
„Sustainable land management, including sustainable forest management, can prevent and reduce land degradation, maintain land productivity, and sometimes reverse the adverse impacts of climate change on land degradation (very high confidence). It can also contribute to mitigation and adaptation (high confidence). Reducing and reversing land degradation, at scales from individual farms to entire watersheds, can provide cost effective, immediate, and long-term benefits to communities and support several Sustainable Development Goals (SDGs) with co-benefits for adaptation (very high confidence) and mitigation (high confidence). Even with implementation of sustainable land management, limits to adaptation can be exceeded in some situations (medium confidence).“ [9]
Müllentsorgung in ärmeren Weltregionen zu niedrigen Preisen und Umweltstandards sowie Müllverklappung, u.a. Altöl und Plastik, im Meer sowie in den ärmeren Landregionen der Welt sind unter hohe Strafen zu stellen und international zu ächten.
Eine weitere ökologische Voraussetzung einer gerechten Umweltpolitik ist die Beendigung des ‚Land Grabbings‘ sowie die Rückführung des gestohlenen Landes an die davon vertriebenen Familien und landwirtschaftlich arbeitenden Kollektive, was ein entscheidender Beitrag zur Auflösung der Slums in den Großstädten des globalen Südens sein kann.
Die Co-Benefits der Nachhaltigkeit
Derartige Maßnahmen für den industriellen, land- und forstwirtschaftlichen Naturverbrauch sind mit einem effektiven System des Umweltzertifikatehandels und steuerlicher Begünstigung ökologisch verträglichen Verhaltens zu unterstützen. Hierbei müssen die Zertifikate preislich so gestaltet werden, dass sie tatsächlich relevant werden. Auch das individuelle Umweltverhalten ist durch Gesetzgebung und finanzielle Anreize ökonomisch zu regulieren. Dies muss vom verantwortlichen Gesetzgeber und insbesondere unter der Koordination und Kontrolle der Vereinten Nationen international wirkungsvoll eingeleitet werden – so Uwe Schneidewind:
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„Die politische Herausforderung liegt darin, einen volkswirtschaftlich sinnvollen aktiven Klimaschutz so mit Gesetzen zu flankieren, dass er sich auch für einzelne Unternehmen und Branchen sowie den einzelnen Bürger lohnt: Nur wenn es auch für den Einzelnen günstiger ist, sein Haus energetisch zu sanieren, für Energieversorger Anreize da sind, ihre Energieproduktion zügig auf regenerative Energien umzustellen und Automobilhersteller Anreize zum Umstieg auf andere Antriebsformen sowie neue Mobilitätsmodelle haben wird, wird sich die entsprechende Transformation vollziehen.“ (Schneidewind 2018, 153)
Hierbei wirken sich die ‚Co-Benefits‘ an Nachhaltigkeit orientierten Verhaltens beschleunigend für die angestrebte Transformation aus. Wenn die Einführung ökologischer Technologien mit einer Effizienzsteigerung, auch mit einer Einsparung von Finanzmitteln, einer verbesserten Wettbewerbsposition oder der Luftverbesserung in den Innenstädten verbunden ist, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit eines an Nachhaltigkeit orientierten Wirtschaftens in Industrie und Landwirtschaft sowie eines entsprechenden Konsumentenverhaltens. [10]
Wenn die Ursachen ökologischer Probleme, wie ungebremstes Wachstums- und Profitdenken und entsprechende Strukturen, ökologische Ignoranz oder Korrumpierbarkeit der Politik, Maßlosigkeit im Konsum sowie fortschreitende Überbevölkerung der Erde, die zu einem Verdrängungswettbewerb und zu Massenmigration führen, deutlich gemindert bzw. beseitigt sind, kann dies die Grundlage einer friedensschaffenden Entwicklung sein.
Die Verringerung des Kohlenstoff-Fußabdrucks des Einzelnen und der Gesellschaften muss durch den ökologischen Handabdruck von Einzelnen und Gruppen ergänzt werden; dies würde alle Beteiligten zu einer ganzheitlichen Haltung gegenüber dem alltäglichen Verhalten in unserer natürlichen und sozialen Umwelt ermutigen. Das Erleben von Zusammengehörigkeit und Entschlusskraft sowie die empathische Solidarität ökologisch engagierter Menschen kann die Resilienz auf allen Ebenen des menschlichen Lebens stärken.
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Auch Wissenschaftler_innen engagieren sich international für Nachhaltigkeit und Klimagerechtigkeit
Die gegenwärtigen insbesondere von Jugendlichen und Schüler_innen getragenen ökologischen Initiativen wie ‚Fridays for Future‘ oder ‚Extinction Rebellion‘ in vielen Weltregionen zeigen, dass sich die kommende Generation zunehmend der ihnen und nachfolgenden Generationen drohenden Katastrophen bewusst wird. Hier werden basisdemokratische Ansätze eines radikalen und zivilgesellschaftlichen Widerstands gegen die Vernichtung kollektiver Zukunftschancen deutlich.
Eine breite und qualifizierte Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung der Gruppen, die sich für die Vermeidung künftiger Bedrohungen engagieren, ist notwendig, um den Einfluss dieser Bewegungen auf den gesellschaftlichen Prozess zu stabilisieren und auszuweiten.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben die Klima-Forderungen der Scientists for Future unterzeichnet. Auch unterstützen Wissenschaftler in einem noch größeren globalen Rahmen die Klimaproteste der Jugendlichen (‚Alliance of World Scientists‘). 27.000 Wissenschaftler aus Deutschland, Österreich und der Schweiz haben eine entsprechende Erklärung mit Bezug auf die Pariser Klima-Konferenz der UN unterschrieben – hier ein Auszug aus der Erklärung:
„Das Pariser Klimaschutzabkommen von 2015 verpflichtet die Staaten völkerrechtlich verbindlich, die globale Erwärmung deutlich unter 2 C zu halten. Darüber hinaus haben alle Länder Anstrengungen versprochen, die Erwärmung auf 1,5 C zu begrenzen. Es kommt nun darauf an, die Netto-Emissionen von CO2 und anderen Treibhausgasen schnell abzusenken und weltweit spätestens zwischen 2040 und 2050 auf null zu reduzieren. Eine schnellere Absenkung erhöht hierbei die Wahrscheinlichkeit, 1,5 C zu erreichen. Die Verbrennung von Kohle sollte bereits 2030 fast vollständig beendet sein, die Verbrennung von Erdöl und Erdgas gleichzeitig reduziert werden, bis alle fossilen Energieträger durch klimaneutrale Energiequellen ersetzt worden sind. Unter Berücksichtigung von globaler Klimagerechtigkeit müsste in Europa dieser Wandel sogar noch deutlich schneller ablaufen. (…) Nur wenn wir rasch und konsequent handeln, können wir die Erderwärmung begrenzen, das Massensterben von Tier- und Pflanzenarten aufhalten, die natürlichen Lebensgrundlagen bewahren und eine lebenswerte Zukunft für derzeit lebende und kommende Generationen gewinnen. Genau das möchten die jungen Menschen von ‚Fridays for Future/Klimastreik‘ erreichen. Ihnen gebührt unsere Achtung und unsere volle Unterstützung.“ [11]
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Die „Sustainable Development Goals“ (SDG)“ der UN
Auch wenn es sicherlich einige berechtigte Kritik an der bisherigen internationalen Vorgehensweise hinsichtlich der Nachhaltigkeitsthematik und den SDG der UN gibt, sollen sie hier zumindest benannt werden. Sie markieren immerhin das Spektrum der anzugehenden Nachhaltigkeitsprojekte.
Einleitend formulieren die UN im Jahr 2015 zunächst ihre sinnvollen und weitsichtigen Intentionen für eine sozialökologische Neuordnung wie folgt:
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“The Goals and targets will stimulate action over the next 15 years in areas of critical importance for humanity and the planet. People We are determined to end poverty and hunger, in all their forms and dimensions, and to ensure that all human beings can fulfill their potential in dignity and equality and in a healthy environment. Planet We are determined to protect the planet from degradation, including through sustainable consumption and production, sustainably managing its natural resources and taking urgent action on climate change, so that it can support the needs of the present and future generations. Prosperity We are determined to ensure that all human beings can enjoy prosperous and fulfilling lives and that economic, social and technological progress occurs in harmony with nature. Peace We are determined to foster peaceful, just and inclusive societies which are free from fear and violence. There can be no sustainable development without peace and no peace without sustainable development. Partnership We are determined to mobilize the means required to implement this Agenda through a revitalized Global Partnership for Sustainable Development, based on a spirit of strengthened global solidarity, focused in particular on the needs of the poorest and most vulnerable and with the participation of all countries, all stakeholders and all people. The interlinkages and integrated nature of the Sustainable Development Goals are of crucial importance in ensuring that the purpose of the new Agenda is realized. If we realize our ambitions across the full extent of the Agenda, the lives of all will be profoundly improved and our world will be transformed for the better.” (United Nations 2015a)
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Die Vereinten Nationen formulieren nun hiervon ausgehend 2015 für ein auf das Jahr 2030 ausgerichtetes Nachhaltigkeitsprogramm 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals (SDG)) unter dem Titel „Transforming our World: the 2030 Agenda for Sustainable Development“:
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Sustainable Development Goals (United Nations) [12] ·
- no poverty (1) ·
- zero hunger (2) ·
- good health and well-being (3) ·
- quality education (4) ·
- gender equality (5) ·
- clean water and sanitation (6) ·
- affordable and clean energy (7) ·
- decent work and economic growth (8) ·
- industry, innovation and infrastructure (9) ·
- reduced inequalities (10) ·
- sustainable cities and communities (11) ·
- responsible consumption and production (12) ·
- climate action (13) ·
- life below water (14) ·
- life on land (15) ·
- peace, justice and strong institutions (16) ·
- partnerships for the goals (17)
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Natürlich ist zuerst die unkritische Verwendung des Verständnisses von Wirtschaftswachstum in der achten Zielsetzung zu kritisieren. Anstelle prioritär die Grenzen des Wachstums zu thematisieren, wird das Wachstumsdenken bestärkt. Die Notwendigkeit zur Suffizienz geht hier unter. [13]
Des Weiteren: Bei so vielen gut gemeinten Ansprüchen und Zielsetzungen, die zu einem Teil bereits ebenfalls vor Jahrzehnten bereits im Rahmen des Agenda 21-Prozesses der UN-Rio-Konferenz in ähnlicher Weise formuliert wurden, fragt man sich nun, warum nicht schneller und wirkungsmächtiger gehandelt wird. Mit den Zielen verbinden sich immer noch keine wirksamen Sanktionen, verbindliche Zwischenevaluationen und Kontrollinstrumente, so dass sie viel Richtiges und gut Gemeintes enthalten, aber zunächst auf der Ebene präambelhafter Formulierung stecken bleiben.
Die UN müssen hier offensiver vorgehen, lieber eine UN-Tagung ohne Ergebnis auslaufen lassen, als nur Ansprüche formulieren, die sich gut präsentieren lassen, aber keine Konsequenzen nach sich ziehen.
Da sind die Klimaanforderungen der EU hinsichtlich der CO2-Emissionen schon etwas anders ausgefallen, da hier tatsächlich hohe Summen von einem EU-Staat gezahlt werden müssen, wenn er die Reduktion der Emissionen nicht im festgelegten Rahmen leistet. [14]
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Klimapolitik für den Frieden - Friedenspolitik für das Klima
Ohne Frieden zwischen den Völkern kippt das Klima und die Umwelt. [15]
Die Schädigung der Umwelt verletzt die psychische Gesundheit vieler Menschen. Die Menschheit hat sich nie von den Traumata der Kriege erholt. Sie lähmen die Wahrnehmung und die Reflexion des Erlebten und seiner Zusammenhänge; dies schränkt die Handlungsfähigkeit der Menschen in einer Zeit ein, in der es darauf ankommt, dass die Menschheit ihr volles Potenzial zur Abwendung von Bedrohungen der Zukunft der Menschheit einsetzt.
Der Krieg in der Ukraine bindet beispielsweise Ressourcen, die für die Bekämpfung der Klimakrise notwendig gewesen wären.
Teile der Klimaschutzbewegung sehen den Zusammenhang zwischen der Klimaentwicklung und den Auswirkungen von Militär, Rüstung und Krieg noch nicht, obwohl Abrüstung der größte Beitrag zur Sicherung der ökologischen Zukunft wäre.
Die durch Krieg und militärische Aktivitäten verursachten Umweltschäden widersprechen den Bestimmungen der Genfer Konvention. Diese Umweltverbrechen sind unter anderem ein Verstoß gegen Artikel 35 des Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte - Zitat:
"Es ist verboten, Methoden oder Mittel der Kriegsführung anzuwenden, die dazu bestimmt sind oder von denen nach vernünftigem Ermessen erwartet werden kann, dass sie umfangreiche, anhaltende und schwere Schäden an der natürlichen Umwelt verursachen."
Die Tatsache, dass die US-Regierung auf Klimakonferenzen durchgesetzt hat, dass die US-Armee nicht über ihre Klimaschäden berichten muss, trägt dazu bei, dass viele Klimaaktivisten den Zusammenhang zwischen Militär und Ökologie nicht sehen.
Es muss daher gefordert werden:
1. Klimaschäden, die durch Kriege und militärische Aktivitäten entstehen, müssen in die internationalen Klimaverhandlungen einbezogen werden.
2. Verstöße gegen die ökologischen Bestimmungen der Genfer Konvention sind durch die UN-Gerichtsbarkeit streng zu ahnden. Kein Land darf sich dieser Gerichtsbarkeit entziehen.
3. Die militärische Abrüstung muss – auch aus ökologischen Gründen – international über die UNO koordiniert werden, denn das Klima wird nicht nur im Kriegsfall, sondern auch im militärischen Alltag massiv geschädigt.
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Genauso ist eine konsequente Klimapolitik ein wichtiger Aspekt für den globalen Frieden. Klimakatastrophen führen zur Flucht aus verwüsteten Gebieten und haben meist gewaltsame Vertreibungskonflikte und Kämpfe um Ressourcen zur Folge.
Im Krieg wird das Klima geschädigt und umgekehrt wird der Krieg durch die Klimazerstörung provoziert. Hier gibt es eine fatale Wechselwirkung. (siehe ausführlicher Kapitel 1.4.1.3)
Fazit: Eine ökologische und an Nachhaltigkeit orientierte regionale und internationale Politik muss sich an dem Prinzip der CO2-Neutralität über die Transformation der Fossilindustrien – am besten bis 2035, spätesten bis 2045 – orientieren, um die dramatische Klimaentwicklung aufhalten zu können. Es ist konsequent eine Energiewirtschaft und ein Verkehrswesen auf dem Land und in der Luft aufzubauen, die auf solarer Energieversorgungstechnologie bzw. grüner Wasserstofftechnologie basieren. Die Rodung des Regenwaldes und anderer klimarelevanter Waldbestände, die Intensivnutzung unter Einsatz von Pestiziden, die Vergiftung des Trinkwassers, die Plastikvermüllung der Meere und weiter Landstriche müssen in internationaler Absprache zeitnah gestoppt und mit strengen Sanktionen und Kontrollen belegt werden. Industrielle Emissionen müssen mit hohen Emissionssteuern belegt werden, um eine Externalisierung von Umweltkosten zu verhindern. Umweltfeindliche internationale Freihandels- und Investitionsschutzverträge sind mit Unterstützung der UN zu revidieren. Die Landwirtschaft muss sich an ökologischen Prinzipien orientieren und als Öko-Landwirtschaft hochwertige Produkte vor allem zu regionalen Vermarktung naturverträglich produzieren. Dies ist weltweit steuerlich zu regulieren und zu begünstigen. Auch der Konsum umweltschädlich erzeugter Produkte muss ebenfalls für den Konsumenten finanziell belastend werden. Der globale Handel mit Umweltzertifikaten ist so zu verändern, dass nicht-nachhaltiges Verhalten der beteiligten Akteure teuer wird und nachhaltiges Handeln deutlich belohnt wird.
Sauberes Trinkwasser, das für die Menschen frei zugänglich ist, und saubere Luft in den großen Städten sind elementare Voraussetzungen des Lebens auf diesem Planeten. Dies ist allen Menschen zu ermöglichen – und nicht nur den wohlhabenden Eliten.
Die Städte müssen von der Flut der Kraftfahrzeuge befreit werden, deren Antriebsenergie auf der Verbrennung von fossilen Energieträgern beruhen. Batteriebetriebene Fahrzeuge, die ohne 'grünen Strom' fahren und ohne diesen produziert werden, dürfen nicht als Null-Emissions-Technologie angepriesen werden, da dies nur für den Moment der aktiven Mobilität gilt, nicht aber für die Produktion und das Laden der Fahrzeuge.
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Die Städte müssen wieder zu einem ökologischen wertvollen Lebensraum mit einer verbesserten Lebensqualität werden. Insbesondere den Slums in den großen globalen Metropolen ist ihre Grundlage zu entziehen, indem den dorthin geflüchteten Menschen der ländliche Lebensraum zur kollektiven und solidarischen Versorgung zurückgegeben wird. Hierbei sind Prinzipien einer ökologischen Subsistenzwirtschaft umzusetzen und zu fördern.
In ohnehin armen Regionen, erhöht sich, wenn deren politische Verfassung in einem fragilen bzw. problematischen Zustand ist, die Gefahr gewalttätiger Konflikte bei eintretenden Klimakatastrophen. Insbesondere in diesen Regionen ist durch die Weltgemeinschaft im präventiven Sinne auf den Aufbau zuverlässiger politischer Strukturen zu achten sowie für einen strukturellen Ausgleich hinsichtlich der Ressourcenverteilung im Vorhinein zu sorgen. Doch auch reiche Weltregionen sind in ihrer Stabilität gefährdet, wenn hier Naturkatastrophen eintreten und rechtsstaatliche Institutionen diese Regionen nicht mehr erreichen können. Daher sind weltpolizeiliche Eingreiftruppen global und dezentral zu stationieren, um im Falle ökologischer Verwüstungen orts- und zeitnah die Zuverlässigkeit rechtsstaatlicher und institutioneller Strukturen sichern zu können.
Umwelt- und Klimaschäden durch militärische Aktivitäten und Krieg sind durch die UN-Rechtsprechung streng zu ahnden.
Diese Maßnahmen haben allerdings nur eine an Nachhaltigkeit orientierte Perspektive, wenn sie in eine wirksamere und umfassendere ökologisch orientierte gemeinsame Weltpolitik eingebettet sind, die mittel- und langfristig für eine Abnahme der von Menschen verursachten Probleme und auch für die Beseitigung der ökologischen Gerechtigkeitslücke sorgt. Es kann nicht länger sein, dass der reichere Teil der Welt seinen Reichtum über die Externalisierung der Umweltkosten erwirbt und gleichzeitig der ärmere Teil der Welt die von ihnen verursachten Umweltschäden erleiden muss. So fordert OXFAM (2021) zu Recht:
„It is time to use regulation and taxation to end extreme wealth altogether, to protect people and the planet. Such measures alongside wider progressive tax reforms are critical to reduce the wealth of the richest substantially, to shift the behaviour of the polluter elite and to generate the revenues needed to fund the wider fight against the climate and inequality crises. The climate crisis has been driven by extreme inequality to this point. But now governments must urgently reach for solutions which address both.“
Hier liegt eine zentrale Gestaltungsaufgabe einer zu reformierenden Organisation der Vereinten Nationen für eine Neuordnung der regionalen, nationalen und internationalen Zivilisationsstrukturen unter einer sozialökologisch zu begründenden Gerechtigkeitsperspektive auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens.
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4.5 Der digitalen Weltbeherrschung Grenzen setzen
Transparenz kann für eine Demokratie insofern nützlich sein, als Entscheidungsprozesse für die Bürgerinnen und Bürger nachvollziehbar und transparent werden, um die Menschen zu befähigen und zu ermutigen, sich zu beteiligen. Dabei haben die Medien eine wichtige Funktion in der Demokratie. Eine freie und kontroverse Medienöffentlichkeit ist ein unverzichtbarer Baustein demokratischer Gesellschaftsordnungen.
Wenn aber das Maß an Transparenz, das ein Staat, die Behörden, für seine Bürgerinnen und Bürger bereitstellen, ein bestimmtes Maß übersteigt, wenn absolute und einseitige Transparenz von oben nach unten als Kontrollsystem jeden Winkel des Lebens durchdringt, indem überwachende Maßnahmen die Privatsphäre der Bürgerinnen und Bürger kontrollieren, dann führt die für die Menschen intransparente Transparenz zur totalen Kontrolle, sie führt zur Zerstörung individueller Lebensspielräume und zwingt die Menschen zur Anpassung an vorgegebene Normen.
Dies stellt insbesondere ein Problem dar, wenn ein Staat demokratisch erodiert und autokratisch wird, wie dies derzeit beispielsweise in der Türkei der Fall ist. So wird zur gegenseitigen Bespitzelung aufgerufen, werden die sozialen Netzwerke auf regimefeindliche Aussagen durchsucht und wird beispielsweise das Instrument des ‚IMSI-Catcher‘ eingesetzt. Hierbei saugt die türkische Polizei die Identifikationsnummern eingeschalteter Handys von Demonstranten während einer oppositionellen Demonstration ab. Am nächsten Tag steht die Polizei vor der Tür und nimmt Verhaftungen vor.
Eines der illegalen Spionageprogramme, die von Geheimdiensten entwickelt und eingesetzt werden, ist Pegasus, das von der israelischen Firma NSO entwickelt wurde, ursprünglich zur Kontrolle der Palästinenser in den besetzten Gebieten. Pegasus überträgt Smartphones auf Instrumente zur systematischen Überwachung von Bürgern.
Die Verwendung von IMSI-Catcher, von WLAN-Catcher, stillen SMS in Kombination von Kontrollmaßnahmen im Rahmen des Funkzellenabfragens wird in autokratischen Staaten gegen die politische Freiheit ihrer Bürger eingesetzt.
Auch Chinas ab 2020 flächendeckend vorgesehene digitale Kontrollmaßnahmen mit dem Label ‚Social Credit System‘ führen zur absoluten Transparenz über fast alle Aktivitäten der Einwohner Chinas. Durch diese staatliche Kontrolle und Herstellung absoluter Transparenz wird versucht, ein angepasstes Mainstream-Verhalten zu erzeugen, oppositionelles Verhalten zu unterdrücken. Der gläserne Mensch wird dort bereits zur Realität (vgl. Kap. 2.7).
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Wenn digitale Kontrolle weltbeherrschend wird, z.B. auch unter Mithilfe von digitalen Imperien, wie z.B. Google oder Facebook, und hierbei auch noch eine maßgebliche Steuerung über digital verankerte künstliche Intelligenz dominiert, dann ist dies in dieser zweifachen Hinsicht deutlich entgegengesetzt zum demokratischen Anliegen und zur Durchsetzung bzw. dem Erhalt der Menschenrechte.
Hier stellt sich auch die Frage, inwieweit die Weiterentwicklung künstlicher Intelligenz, orientiert an ethisch begründeten Richtlinien und Kriterien des humanen Wesenskerns, stärker kontrolliert und reguliert werden sollte. Wenn Forscher beispielsweise bereits darüber nachdenken, das menschliche Gehirn auf eine Computer-Festplatte zu programmieren, mit der Begründung, die Erde sei ohnehin nicht mehr als längerfristiger Standort menschlicher Entwicklung geeignet, und nur die Digitalisierung des menschlichen Gehirns könne einen Transport auf ferne Galaxien gewährleisten, dann ist die Grenze des Zumutbaren sicherlich überschritten.
Moegling/Bläsius (2024) fordern daher eine internationale Kontrolle der KI-Entwicklung über die Vereinten Nationen und insbesondere eine Loslösung kritischer Infrastruktur und nuklearer Waffensysteme vom Internet:
„Auch weltweite Vereinbarungen zum Verbot autonomer Waffensysteme und einer Regulierung der KI werden dringend benötigt. Die Abhängigkeit von Internetdiensten sollte nicht weiter steigen. Stattdessen müssen wichtige Infrastruktursysteme, wie das Gesundheitswesen und die Stromversorgung auch ohne Internet fehlerfrei funktionieren. Auch muss sichergestellt werden, dass gefährliche Waffensysteme, wie Atomraketen, nicht über das Internet ansteuerbar sind.“
Auch die Frage nach dem Sich-Aufhalten in virtuellen Welten und der Frage, was in virtuellen Welten erlaubt sein darf und was nicht, ist breit zu diskutieren und in demokratischen Diskursen dringend zu klären.
Wenn Menschen über VR-Brillen [16] zunehmend Erfahrungen in einer künstlichen Realität machen, dann ist danach zu fragen, welche Einfluss derartige Erfahrungen auf menschliche Persönlichkeiten und ihr Verhalten in der primären (echten) Welt haben. Auch die Kombination und Vermischung von primärer und sekundärer (virtueller) Realität müssten u.a. hinsichtlich der Folgen für die Gesundheit bzw. die Erkrankung von Menschen zuerst untersucht werden, bevor man entsprechende Medien und Software vertreibt und hier versucht Profite zu erzielen. Die Immersion, d.h. die psychische Einbindung in die virtuelle Welt, basiert auf der Illusion, dass eine tatsächliche Interaktivität zwischen dem Nutzer und den Ereignissen in der virtuellen Welt vorhanden ist.
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Was aber, wenn die Einflüsse der virtuellen Erfahrung übermächtig werden? Wie verändert sich ein Mensch, wenn er sich täglich in vielen Stunden in virtuellen Welten aufhält und dort schießt, zusticht, hackt, zerteilt, foltert und Menschen zerfetzt? Was bedeutet es, wenn ein Mensch im Cyberspace gewaltpornografische Erfahrungen macht, vergewaltigt und tötet?
Menschen übernehmen im Cyberspace die Identität von Avataren. Was passiert psychisch mit einem solchen Menschen, der sich regelmäßig in einem Avatar aufhält? Welche Halluzinationen entstehen, wenn hier eine neue menschliche Erfahrungsebene vorhanden ist, bei der Robotik, künstliche Intelligenz und virtuelle Realität zusammenwachsen? [17] Was bedeuten solche Veränderungen in der Erfahrung des Einzelnen für soziale Gruppen und für die Gesellschaft, wenn sie zu einem Massenphänomen werden?
Destabilisierungsprozesse im Zuge von Erfahrungen zwischen realer und virtueller Welt wirken sich nicht nur negativ auf das Individuum aus, indem sie verunsichernde Emotionen aufkommen lassen, sondern können in gleicher Weise störende Auswirkungen auf die gesamte auf Mensch-Mensch-Beziehungen basierende soziale Architektur haben.
Eine positive Vision gesellschaftlicher Entwicklung wird für eine Neuordnung der Welt hinsichtlich der Nutzung virtueller Welten an Prinzipien des Humanismus orientierte, verbindliche Regeln aufstellen müssen, mit denen der Nutzungsrahmen für virtuelle Welten festgelegt werden muss. Die Menschheit kann es sich nicht erlauben, aufgrund des Profitstrebens von Konzernen, die mit virtuellen Kriegsspielen oder gewaltpornografischen Angeboten Geld verdienen wollen, sich ihre Monster selbst heranzuzüchten.
Wie bereits in zwei Kapiteln angesprochen, ist es des Weiteren notwendig, alle lebenswichtigen Einrichtungen entweder aus der weltweiten digitalen Vernetzung herauszunehmen oder so abzusichern, dass kein digitaler Angriff von Außen möglich wird. Atomanlagen, nukleare Waffentechnik oder Verkehrssteuerung sind so zu isolieren und sicher zu machen, dass keine Hacker-Angriffe oder sogar sich verselbstständigende Algorithmen zu Katastrophen führen können.
Diese Problematik muss weltweit, z.B. unter dem Vorsitz der UNESCO, gelöst werden.
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Vorbereitung auf die Arbeitswelt 4.0
Die Arbeitswelt 4.0 sieht die digitale Steuerung und Durchführung der Arbeitsprozesse vor: Automatisierung, intelligente Roboter in der Fertigung, Arbeitssubstitution durch Computeralgorithmen und smarte Technik in Büros. Hierbei findet die Zukunft der Arbeit laut OECD in den nächsten Jahren ohne 14% der bisherigen Jobs statt und weitere 32% sind einschneidenden Veränderungen unterworfen. [18]
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„Unter den Technologien, die in den letzten Jahren marktreif geworden sind, ist vor allem der mobile, kollaborative Roboter zu nennen. Statt wie ein klassischer Industrieroboter, der an einem Ort feststeht und immer wieder die vorprogrammierten Arbeitsschritte erledigt, kann er unterschiedliche Tätigkeiten an verschiedenen Orten verrichten und dabei mit Menschen zusammenarbeiten. Bisher waren beim Einsatz von Industrierobotern trennende Schutzeinrichtungen notwendig, um Personen, die sich im Arbeitsfeld des Roboters befanden, sicher gegen Verletzungen durch die sich schnell bewegenden Roboter zu schützen. Kollaborierende Roboter dagegen sind mit Sensoren ausgestattet, die Verletzungen des menschlichen Mitarbeiters verhindern. Damit wird es möglich, dass Menschen eng mit Robotern zusammenarbeiten. Ein kollaborativer Roboter kann zum Beispiel eingesetzt werden, um schwere Werkstücke zu heben und zu positionieren, um dem Menschen die Arbeit zu erleichtern.“ [19]
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Bisherige Widerstandsbewegungen richteten sich insbesondere gegen Umweltzerstörung, gegen Kriegstreiberei und Aufrüstung oder gegen gesellschaftliche Ungerechtigkeiten, wie z.B. der Verlust von Arbeitsplätzen oder die ungerechte Vermögensverteilung. Der Protest gegen Arbeitsplatzverluste wird nun eine neue Dimension durch die sich beschleunigende Entwicklung von Zukunftstechnologien bekommen.
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Der zu erwartende Sprung in der Technologieentwicklung ist bereits angesetzt und dürfte in einer Kombination von digitalen Technologien und Biotechnologien bestehen. Diese Technologieentwicklung ist u.a. durch Genmanipulation, Künstliche Intelligenz, Robotik, integrierte Netzwerke von Menschen und Algorithmen, Chip-Implementation, Blockchain und Kryptowährungen, digitale Beschleunigung von Informationsflüssen, digitale Automatisierung und maschinelles Lernen gekennzeichnet. Hierbei ergibt sich eine doppelte Problematik: Zum einen wird der Mensch in seinem Wesenskern durch Genmanipulation, invasive Chiptechniken oder die Integration in durch Algorithmen gesteuerte neuronale Netzwerke verändert. Andererseits entfällt ein Großteil der vorhandenen Arbeitsplätze, ohne dass die meisten hiervon betroffenen Menschen zunächst die Qualifikationen haben, in die neue Arbeitswelt zu wechseln. Der Schriftsteller Yuval Noah Harari, der als Historiker in der Lage ist, sich nicht nur in die Vergangenheit zu versetzen, sondern auch weit in die Zukunft zu denken, sieht hierin eine gegenüber früheren Protestbewegungen gewandelte Problematik:
„Möglicherweise werden populistische Revolten im 21. Jahrhundert nicht gegen eine Wirtschaftselite aufbegehren, welche die Menschen ausbeutet, sondern gegen eine solche, welche die Menschen schlicht nicht mehr braucht. Kann gut sein, dass die Menschen diese Schlacht verlieren. Denn es ist viel schwerer, gegen Bedeutungslosigkeit zu kämpfen als gegen Ausbeutung.“ [20]
Harari sieht in der Substitution traditioneller Arbeitsplätze durch Künstliche Intelligenz aber nicht nur Nachteile, sondern auch erhebliche Vorteile. Mehr als eine Million Menschen kämen jährlich durch menschenverschuldete Verkehrsunfälle (Fehlentscheidungen, Alkohol am Steuer) ums Leben. KI-gesteuerte selbstfahrende Autos würden Menschenleben verschonen. KI-Ärzte könnten über die Internetverbindungen allen Bereichen der Welt, auch ärmeren Regionen, eine ärztliche Gesundheitsversorgung bieten – so Harari:
„Dank lernender Algorithmen und biometrischer Sensoren könnte ein armer Dorfbewohner in einem unterentwickelten Land über ein Smartphone eine weit bessere ärztliche Versorgung erhalten, als der reichste Mensch heute im fortschrittlichsten Krankenhaus bekommt.“ [21]
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Hierbei wäre natürlich anzusprechen, wie wichtig der soziale Kontakt zwischen Arzt und Patient ist, und inwieweit eine digitale Therapie und medikamentöse Versorgung unter den Bedingungen von Armut möglich sind. Auch wird hier ausgeblendet, welche ethischen Probleme es bei selbstfahrenden Autos gibt (Entscheidungsdilemmata). Es dürfen allerdings auch positive Funktionen gerade der Künstlichen Intelligenz nicht übersehen werden, z.B. bei der Erkennung von Hautkrebs oder zur Präzisierung in maschinellen Arbeitsprozessen, die hierauf angewiesen sind.
Einerseits gehen durch Maschinenlernen, Roboterisierung und KI Arbeitsplätze verloren, andererseits entsteht auch die Möglichkeit neuer Arbeitsplätze. Hierbei muss genau geprüft werden, welche Arbeitsplätze tatsächlich wegfallen sollten, da sie menschenunwürdig und gesundheitsschädlich sind, und durch intelligente Maschinen ersetzt werden sollten. Andererseits sollte nicht alles ersetzt werden, das substituierbar ist, wenn hier zufriedenstellende und qualitativ hochwertige Arbeitsplätze ersetzt werden sollen, nur weil sie dadurch mehr Gewinn abwerfen könnten.
Auch müssen Menschen auf die Substituierbarkeit und die Veränderung ihrer Arbeitsplätze im notwendigen Ausmaß vorbereitet werden. Hieran sollten Forderungen nach der Fort- und Weiterbildung von betroffenen Arbeitnehmern_innen ansetzen:
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„In den letzten Jahren sind also vor allem mobile, kollaborative Roboter und selbstlernende Computerprogramme sowie erste Anwendungen von 3DDruck und Virtueller Realität so weiterentwickelt worden, dass immer mehr berufliche Tätigkeiten als potenziell ersetzbar eingestuft werden müssen. Gleichzeitig haben sich aber auch die Berufsbilder verändert. Weil automatisierbare Tätigkeiten von Robotern oder Computeralgorithmen erledigt werden können, müssen sie nicht mehr vom Menschen ausgeführt werden. Sie verlieren an Bedeutung oder sind für die Ausübung des Berufes nicht mehr relevant. In der Regel schlägt sich das darin nieder, dass eine bislang als Kerntätigkeit deklarierte Tätigkeit in Stellenausschreibungen oder Ausbildungsordnungen nicht mehr erwähnt wird oder für die Ausübung des Berufes nicht mehr als zentral gewertet wird. So werden 2016 Tätigkeiten wie „Modelle anfertigen“ oder „Berechnen“ seltener als Kernkompetenz beschrieben als noch 2013.“ [22]
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Daher muss die Forderung gestellt werden, dass automatisierte Arbeitsabläufe, die einen Arbeitsplatz ersetzen, mit einer Automatisierungs- bzw. Digitalsteuer belegt werden sollten, die einen ernstzunehmenden Anteil an dem durch die Digitalisierung und Automatisierung erzielten Mehrwert ausmacht. Mit dem hieraus resultierenden finanziellen Volumen sind Fort- und Weiterbildungen für Arbeitsnehmer_innen zu finanzieren, die ihren Job aufgrund der Automatisierungstendenzen der Arbeitswelt 4.0 verloren haben. Dies dürfte für die Zukunft eine zentrale gewerkschaftliche Forderung sein, die es durchzusetzen gilt.
Die digitale Umwälzung der Arbeitsverhältnisse ist seit geraumer Zeit absehbar und wird auch noch einige Zeit benötigen. Daher bleibt genügend Zeit, hier – neben der Arbeitszeitverkürzung – über weitere Modelle für notwendige sozialpolitische Maßnahmen nachzudenken. Die Digitalsteuer, zu der auch eine Roboter-Steuer gehört, ist hier ein sinnvoller Vorschlag, der finanzierbar ist und nicht zu Lasten der Arbeitnehmer_innen geht.
Bei allen Maßnahmen einer digitalen Transformation der Arbeit sind die Vertreter der Arbeitnehmer_innen maßgeblich zu beteiligen, die Gewerkschaften und die Betriebsräte, um zu verhindern, dass der Unternehmensprofit im Sinne des privatwirtschaftlich nutzbaren Mehrwerts den Prozess dominiert. Dies bedeutet dann auch, dass qualitativ hochwertige Arbeitsplätze nicht durch eine digitalisierte und vollautomatische Produktion zu ersetzen sind. Die Lebens- und Arbeitsqualität der arbeitenden Menschen muss Vorrang vor einer einseitigen Renditementalität haben.
Es ist zu bezweifeln, dass dies unter den gegenwärtigen systemischen Bedingungen leistbar ist. [23] Erst wenn sich eine Tendenz zu einer ethisch geleiteten systemischen Neuordnung im hier skizzierten Sinne ergibt, wird die Entwicklung Künstlicher Intelligenz verantwortlich kontrolliert werden können.
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Anmerkungen Kapitel 4.4. und 4.5
[1] Der Begriff der Netto-Emissionen zielt darauf ab, dass „die Klimabilanz der Erde netto, also nach den Abzügen durch natürliche und künstliche Senken, Null beträgt.“ (https://www.myclimate.org/de/informieren/faq/faq-detail/detail/News/was-bedeutet-netto-null-emissionen/, o.D., 5.11.2019.
[2] Vgl. Klein (2019).
[3] Vgl. ausführlicher hierzu die Analyse von Jürgen Stüber in: https://www.welt.de/wirtschaft/gruenderszene/article188631963/Brennstoffzelle-Was-bringt-die-Wasserstofftechnologie-fuers-Auto.html, 12.2.2019, 14.3.2019.
[4] Das hier angedeutete städtische Mobilitätskonzept und die Aufzählung der Maßnahmen einer Transformation von Mobilität wurden angeregt durch einen Vortrag des Mobilitätsforschers Dr. Ramón Briegel auf Einladung der Scientist for Future am 20.4.2021.
[5] Vgl. Fischermann (2019) am Beispiel des brasilianischen Regenwaldes.
[6] Gassmann (2015).
[7] Hierbei ist allerdings auf die vorherige Bodenverschmutzung mit belastenden Stoffen zu achten, und es sind vorher erst entsprechende Gutachten zu erstellen.
[8] Vgl. Weizsäcker/Hargroves/Smith (2010).
[9] IPCC (2019, 24).
[10] Vgl. hierzu ausführlicher Schneidewind (2018, 152 ff.).
[11] Aus: https://www.scientists4future.org/stellungnahme/, o.D., abgerufen am 15.3.2019.[12] Zusammengestellt nach UN (2015b).
[13] Vgl. hierzu ausführlicher Seidl/Zahrnt (2015).
[14] Vgl. z.B. den Bericht über für Deutschland fällig werdende Zahlungen an die EU in: https://www.tagesspiegel.de/politik/eu-strafen-in-milliardenhoehe-versaeumter-klimaschutz-wird-noch-teurer-fuer-deutschland/24351844.html, 17.5.2019, entnommen 14.10.2019.
[15] Ich bedanke mich insbesondere bei diesem Abschnitt „Klimapolitik für den Frieden - Friedenspolitik für das Klima“ bei Bernhard Trautvetter für dessen wertvolle inhaltliche Anregungen.
[16] VR = Virtual Reality[
17] Vgl. hierzu auch die Überlegungen bei Metzinger (2016) sowie bei Weber (2017).
[18] http://www.oecd.org/berlin/themen/zukunft-der-arbeit/, o.D., 22.11.2019.
[19] Dengler/Matthes (2018, 2).
[20] Harari (2019, 30).
[21] Harari (23019, 48f.)
[22] Dengler/Matthes (2018, 4).
[23] Vgl. zur systemsprengenden Kraft digitaler Entwicklungsprozesse u.a. Trautvetter (2018).
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Extra:
Artikel zur notwendigen Rolle der UNO im Krieg in der Ukraine
(Der folgende Beitrag ist in einer früheren Version in der Zeitschrift ‚Telepolis‘ erschienen und stellt eine weiterentwickelte und aktualisierte Fassung dar.
Quelle: https://www.heise.de/tp/features/UNO-und-Ukraine-Totalversagen-oder-Erfolg-der-kleinen-Schritte-7273618.html, 25.9.2022, entnommen am 30.9.2022.)
Welchen Einfluss kann die UNO noch auf den Krieg in der Ukraine nehmen?
von Klaus Moegling
2.10.2022
Wann wollen die Vereinten Nationen endlich eingreifen? Der Krieg in der Ukraine eskaliert täglich. Völkerrechtswidrige Annexionen, Angriffe auf die kritische Infrastruktur, eine große Zahl ziviler Tote und die wachsende Gefahr eines nuklearen Desasters droht (Angriffe auf AKWs, Einsatz von Nuklearwaffen). Will oder kann die UNO nicht eingreifen?
Jetzt wäre es höchste Zeit, vielleicht noch die letzte Möglichkeit, im Krieg in der Ukraine einen entscheidenden Vermittlungsversuch durch den UN-Generalsekretär, unterstützt von einflussreichen Kräften, u.a. der VR China, vorzunehmen. Das Ziel müsste zunächst ein Waffenstillstand, die Einrichtung einer entmilitarisierten Zone entlang eines zu vereinbarenden ukrainischen Gebiets und schließlich ein von beiden Seiten akzeptierter massiver Einsatz von UN-Polizeitruppen unterschiedlicher Staaten in diesem Grenzgebiet sein. Hiernach könnte unter Vermittlung des Generalsekretärs der UN und der OSZE ein Friedensvertrag innerhalb einer europäischen Sicherheitsarchitektur geschlossen werden. [1]
Doch warum handelt die UNO nicht erkennbar? Oder ist sie doch im Zuge einer Hintertür- und Brückendiplomatie wirkungsvoll tätig?
Das Dilemma der UNO
Als der Vertreter Russlands bzw. der Russischen Föderation im UNO-Sicherheitsrat, Wassili Nebensja, am 25.2.2022 sein Veto gegen eine Resolution einlegte, die sich gegen den russischen Angriff in der Ukraine richtete, wurde die Reformbedürftigkeit der Vereinten Nationen erneut sehr deutlich. Wie kann einem angreifenden Staat, der ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der UNO ist, erlaubt werden, die Verurteilung und Maßnahmen in Bezug auf seine eigene militärische Aggression mit einem Veto zu blockieren? Eine solche Vorgehensweise ist absurd. Diese Möglichkeit zum Veto der Russischen Föderation widerspricht moralisch fundierten Gerechtigkeitsnormen und ist Ausdruck der inzwischen historisch überholten Machtverhältnisse zum Ende des 2. Weltkrieges.
Wie wichtig wäre hier zumindest eine Reform des Abstimmungsmodus im Sicherheitsrat, der gerade dies verhindern könnte. Im Falle einer militärischen Aggression eines Veto-berechtigten Sicherheitsratsmitglieds, seien es nun Russland, die USA oder beispielsweise China, müsste dieser Staat auf Antrag des UNO-Generalsekretärs oder eines Mitgliedsstaates des Sicherheitsrats von der ihn betreffenden Abstimmung ausgeschlossen werden.
Auf der Vollversammlung der Vereinten Nationen forderte der ukrainische Präsident Selenskyj dementsprechend eine Bestrafung Russlands für dessen Angriff, die u.a. auf die Wegnahme auch der russischen Sonderrechte in den UN abzielte – so Selenskyj am 21.2.2022:
"Nehmt das Stimmrecht weg! Entzieht den Delegationen ihre Privilegien! Hebt das Vetorecht auf, wenn es sich um ein Mitglied des UN-Sicherheitsrats handelt!" [2]
Zwar gab es Anfang März 2022 bereits eine spätere Verurteilung der russischen Aggression in der damaligen als Dringlichkeitssitzung einberufenen UN-Vollversammlung, bei der keine Blockade durch ein Veto eines Mitgliedsstaats möglich ist. 141 Mitgliedsstaaten verurteilten den russischen Angriff auf die Ukraine und forderten die Russische Föderation auf, den Angriff zu stoppen und die Truppen zurückzuziehen. Die fünf Gegenstimmen kamen von Russland, Belarus, Eritrea, Nordkorea und Syrien. China, Indien und der Iran zählten zu den 35 Staaten, die sich enthielten. [3] Die Mehrheit in der UNO-Generalversammlung kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Beschlüsse nur einen Empfehlungscharakter haben und völkerrechtlich nicht verbindlich sind. [4]
Einschneidende Reformen der Vereinten Nationen
Wenn die UNO demokratisch strukturiert sein und die UN-Vollversammlung das zentrale Organ sein sollte, dann müssten, fasst man entsprechende Reformvorschläge zusammen [5], insbesondere fünf Reformmaßnahmen ergriffen werden:
1. Die UNO-Vollversammlung dürfte – langfristig gesehen - nicht mehr aus delegierten Vertretern und Vertreterinnen der einzelnen Regierungen bestehen, sondern die Mitglieder müssten in globalen, demokratischen Wahlen ermittelt werden.
2. Eine demokratisch gewählte UNO-Vollversammlung, also ein UN-Parlament, müsste mit unterschiedlichen, qualifizierten Mehrheiten verbindliche Entscheidungen fällen können, welche die Haupt-, Neben- und Sonderorganisationen – also auch der UNO-Sicherheitsrat – auszuführen haben. Hierbei käme dem UN-Generalsekretariat und dem/r Generalsekretär/in eine koordinierende und kontrollierende Rolle hinsichtlich der verschiedenen exekutiven Institutionen zu.
3. Alle UNO-Sicherheitsratsmitglieder werden von der UN-Vollversammlung gewählt, ohne dass es ständige Mitglieder und ein Veto-Recht für diese Mitglieder gibt. Die Befugnisse des UNO-Sicherheitsrats werden dann zukünftig nur noch im Bereich der Beratung und der Vorbereitung einer exekutiven Umsetzung der von der Vollversammlung gefällten Entscheidungen liegen.
4. Alle UNO-Mitglieder – auch Staaten wie die USA, Russland oder China – haben sich der UNO-Gerichtsbarkeit zu unterwerfen.
5. Die weltpolizeiliche Funktionen und Möglichkeiten der UN-Polizeikräfte und der UN-Blauhelme sind im Rahmen einer globalen Sicherheitsarchitektur zu stärken. [6]
Derartige Reformen bedürfen nach geltendem Recht einer Veränderung der UN-Charta. So wäre für die Reform des UN-Sicherheitsrats, z.B. für die Veränderung oder gar die Abschaffung des Veto-Rechts, eine Zweidrittelmehrheit in der UNO-Vollversammlung notwendig. Anschließend müsste die beabsichtigte Änderung der UN-Charta von zwei Dritteln der Mitgliedsstaaten einschließlich der fünf ständigen Mitglieder entsprechend deren nationaler Bestimmungen ratifiziert werden. [7]
Hier ließe sich leicht (und auch vorschnell) argumentieren, dass keine der Veto-berechtigten Staaten bereit wäre, ihren privilegierten Einfluss zu verlieren. Doch die Gefährlichkeit bereits eingetretener und drohender globaler Krisen könnte hier zu einem Einlenken und zur Reformbereitschaft führen. Auch die ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats sind von Kriegen, Pandemien und Umweltkatastrophen betroffen.
So schwierig eine derart radikale Reform der UNO derzeit erscheint, darf sie daher nicht im Zuge eines verkürzten politischen Realismus im Vorhinein verworfen werden. Nur wenn konsequente Reformvorstellungen entwickelt werden, können die ersten umsetzbaren Schritte systematisch in diese Richtung vorgenommen werden. Maßgebliche UN-Vertreter, wie z.B. der UN-Generalsekretär António Guterres [8], und zahlreiche Parlamentarier sowie transnationale Parlamente, wie z.B. das EU-Parlament, [9] denken bereits in diese Richtung und fordern erste Schritte einer einschneidenden Reform der Vereinten Nationen ein. Auch der ukrainische Präsident Selenskyj fordert über die Umstrukturierung des Sicherheitsrats hinaus gravierende Veränderungen der Vereinten Nationen auf der strukturellen Ebene, die auf einer zukünftig in Kiew stattfindenden internationalen Konferenz entwickelt werden sollten – so Selenskyj im Rahmen der Generaldebatte der 77. UN-Vollversammlung: "Wir müssen alles tun, was in unserer Macht steht, um der nächsten Generation eine effektive UN zu übergeben." [10]
Doch unabhängig von der Diskussion über notwendige Reformen der Vereinten Nationen: Wie handlungsfähig ist die UNO im Rahmen der bereits vorhandenen Strukturen, wenn eine weltpolitische Katastrophe, wie der russische Überfall auf die Ukraine, eintritt? Sind sie völlig machtlos bei einem Krieg, der von einem ständigen Mitglied ihres Sicherheitsrates begonnen wird? Haben sie hinsichtlich des Kriegs in der Ukraine bisher nichts oder nur wenig erreichen können?
Zur Wirksamkeit der UNO-Interventionen im Krieg in der Ukraine
Die Maßnahmen und begrenzten Möglichkeiten im UN-Sicherheitsrat - Blockade durch das Veto-Recht - und für die UNO-Vollversammlung – keine völkerrechtlich verbindliche Relevanz sicherheitspolitischer Beschlüsse - wurden bereits skizziert.
Daher sollen insbesondere die Vermittlungsbemühungen des UNO-Generalsekretariats genauer analysiert und eingeordnet werden.
Hierzu äußerte der UN-Generalsekretär António Guterres während eines im zeitlichen Kontext der 77. UN-Vollversammlung durchgeführten Interviews seine eindeutige Einschätzung des russischen Angriffskriegs, sprach aber gleichzeitig auch die begrenzten Möglichkeiten der UN an:
„Die russische Invasion war eine Verletzung der Charta der Vereinten Nationen und des internationalen Rechts, und wir haben klar zum Ausdruck gebracht, dass diese Tatsache dramatische Konsequenzen hat. Zugleich organisieren wir die humanitäre Hilfe für die Ukraine und umliegende Staaten. Und wir sind fest entschlossen, eine Lösung für die Ernährungskrise zu finden. Leider sind wir nicht in der Lage, diesen Krieg zu stoppen.“ [11]
Hinsichtlich einzelner Maßnahmen des UN-Generalsekretariats sind also zunächst die Getreideexporte aus der Ukraine zu nennen. Russland und die Ukraine haben im Juli 2022 über die Vermittlung des UN-Generalsekretärs in der Türkei ein Abkommen unterzeichnet, das die Auslieferung von Millionen Tonnen Getreide aus den drei Häfen Odessa, Tschornomorsk und Juschne zukünftig ermöglichen sollte. Die Ukraine verpflichtete sich, den Seeweg von Minen zu räumen und Russland sagte u.a. zu, Transportschiffe mit landwirtschaftlichen Produkten aus der Ukraine, wie z.B. Getreidetransporte, nicht anzugreifen. Im Gegenzug unterzeichnete Guterres ein Memorandum, bei dem sich die UN verpflichtet, sich für den Export russischer landwirtschaftlicher Produkte sowie von Düngemitteln einzusetzen. [12] Auch wenn diese Maßnahmen recht zögerlich begannen [13] und auch Russland bereits schon wieder über die Blockade der Getreidelieferungen Andeutungen gemacht hat, zeigte sich hier, dass der UNO ein Verhandlungserfolg gelungen ist, der nicht nur für die Ukraine sondern auch für andere von Hunger betroffene Weltregionen eine große Bedeutung hat.
Die UNO will des Weiteren in diesem Zusammenhang ein Koordinationszentrum einrichten, um die Umsetzung der vertraglichen Vereinbarungen zu überwachen. [14]
Ein weiteres Vermittlungsprojekt der Vereinten Nationen in der Ukraine bezieht sich auf das ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja, das bereits mehrfach mit schwerer Artillerie und Raketen beschossen wurde. Um eine nukleare Katastrophe zu vermeiden wurde das seit März von der russischen Armee besetzte AKW immer wieder abgeschaltet. Der russische Vertreter im UN-Sicherheitsrat, Wassili Nebensja, warf während einer Sitzung des UN-Sicherheitsrats vom 23.8.2022 der Ukraine vor, das AKW fast täglich zu beschießen und eine nukleare Katastrophe in Kauf zu nehmen. [15] Die Ukraine hingegen beschuldigte das russische Militär, für den Beschuss verantwortlich zu sein.
Die Untergeneralsekretärin der Vereinten Nationen, Rosemary DiCarlo, rief beide Staaten auf, jegliche militärische Aktivität um das Kernkraftwerk einzustellen und einer Expertengruppe der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) die Inspektion des AKWs zu ermöglichen. Inzwischen hat bekanntlich die IAEA-Expertengruppe das größte Atomkraftwerk Europas besucht und einen umfassenden Bericht vorgelegt. Dieser Bericht verweist auf die gefährliche Situation in Saporischschja. Der Generaldirektor der IAEA, Rafael Grossi, warnte im Juli 2022 vor dem UN-Sicherheitsrat, als er dort die Einschätzung des IAEA-Experten-Teams vortrug:
"Wir spielen mit dem Feuer und etwas sehr, sehr Katastrophales könnte passieren." [16]
Grossi forderte eine entmilitarisierte Schutzzone um das AKW herum. Guterres betonte, dass sich russische und ukrainische Streitkräfte verpflichten müssten, weder vom Werksgelände aus noch in Richtung des Werksgeländes militärische Aktivitäten zu entwickeln.
Inzwischen fand allerdings erneuter Beschuss des AKW-Geländes statt, für den sich wiederum beide Seiten verantwortlich machten.
Die russische Regierung zeigte zunächst ihr Desinteresse hinsichtlich weiterer Vermittlungsangebote der UN. So verweigerte Putin wochenlang dem UN-Generalsekretär eine Begegnung. Nicht einmal telefonieren wollte er mit ihm. Erst im April 2022 fand eine Begegnung im Kreml statt, wo die russische Regierung Guterres deutlich machte, dass sie nicht an Friedensverhandlungen oder einem Friedensplan interessiert seien. Man könne aber über humanitäre Angelegenheiten sprechen. Im Zuge dieser Gespräche erreichte Guterres den Abzug der letzten ukrainischen Kämpfer aus dem Stahlwerk Asow in Mariopol, was allerdings dann auch den Russen die vollständige Kontrolle über die Stadt ermöglichte. [17]
Guterres setzte ein weiteres Zeichen und forderte des Weiteren zu Beginn der Generaldebatte der 77. UN-Vollversammlung, dass den Ölunternehmen, die während des Kriegs in der Ukraine zusätzliche Gewinne erzielt hätten, eine Übergewinnsteuer abgezogen werden sollte.
Auch dies wäre m.E. sicherlich eine sinnvolle Maßnahme, würde allerdings ebenfalls nicht den Krieg in der Ukraine eindämmen helfen. [18]
Eine weitere Maßnahme der Vereinten Nationen – neben verschiedenen humanitären Maßnahmen in der Ukraine und benachbarten Staaten – ist die Untersuchung einer UN-Menschenrechtskommission, die vereinzelte Verbrechen ukrainischer Soldaten und deutlich massivere Verstöße russischer Soldaten, u.a. Vergewaltigungen, Anwendung von Folter und Erschießungen sowie systematischer Bombardierungen ziviler Objekte mit zahlreichen Toten, ermittelte. [19] Diese Untersuchung ist ein weiterer Hinweis auf das moralisch illegitime Vorgehen insbesondere der Russischen Föderation, das durch keine der von ihr vorgebrachten Legitimationen der „militärischen Spezialoperation“ gedeckt ist.
Der Krieg in der Ukraine tobt – trotz der UNO-Vermittlungsbemühungen – weiter, Menschen werden getötet, Infrastruktur zerstört und die Umwelt massiv belastet. Eine weitere Eskalation ist möglich. Ein nuklear ausgetragener Krieg ist nicht ausgeschlossen. Der Welt fehlt immer noch ein handlungsfähiges friedenspolitisches Organ, das diese Destruktion beenden könnte.
Die UN ist bisher nur erfolgreich im Rahmen ihrer beschränkten Möglichkeiten
Die UNO ist noch immer ein Ort, an dem über Verletzungen des Völkerrechts, wie dem russischen Überfall auf die Ukraine, öffentlich diskutiert werden kann. Hierdurch wird durch die Behandlung der militärischen Aggression im UN-Sicherheitsrat und in der UN-Vollversammlung eine kritische Weltöffentlichkeit hergestellt. Möglicherweise ist diese symbolische Handlung im Kontext einer Weltöffentlichkeit derzeit noch die wichtigste Funktion der Vereinten Nationen zumindest aus der Sicht des Westens in Bezug auf den Krieg in der Ukraine. Allerdings machte die UN-Generaldebatte auch deutlich, dass den afrikanischen oder lateinamerikanischen Staaten der Krieg in der Ukraine nicht prioritär ist und für sie andere Probleme, wie z.B. die mangelnde Unterstützung durch westliche Staaten sowie die Klimakrise, eher von Interesse sind. [20]
Das UN-Generalsekretariat hat im Zuge seiner Hintertür-Diplomatie und offizieller Vermittlungsangebote hinsichtlich verschiedener durch den russischen Krieg in der Ukraine ausgelösten Gefahren zumindest Teilerfolge erzielt. Daher kann man nicht von einem Totalversagen der UN im Krieg in der Ukraine sprechen. Der UN gelingt das weitgehend, was mit großem Einsatz im Rahmen ihrer bisherigen Strukturen möglich ist.
Guterres erste singuläre Erfolge als Brückenbauer für die UNO und erste Vermittlungserfolge im Krieg in der Ukraine – so wichtig sie sind – täuschen daher nicht darüber hinweg, dass die UNO nicht mächtig und handlungsfähig genug ist, einen derartigen Konflikt präventiv zu verhindern oder im Falle des Kriegsausbruchs einzudämmen und zu beenden.
Diese strukturelle Unzulänglichkeit der UN zeigt sich – hierauf soll deutlich hingewiesen werden – nicht zum ersten Mal. Auch UN-Vermittlungsversuche gegen die militärischen Aggressionen und Angriffskriege der USA, wie z.B. in Vietnam oder im zweiten Irak-Krieg, scheiterten. Die UNO konnte keine Resolution gegen den US-amerikanischen Krieg in Vietnam durchsetzen, obwohl die völkerrechtliche Schuldfrage eindeutig zulasten der USA zu beantworten war. [21] Der zweite Irak-Krieg (2003) wurde federführend durch die USA ohne eine dies eindeutig legitimierende Resolution der Vereinten Nationen begonnen. Im Gegenteil: Der Angriff gegen den Irak in 2003 wurde vom damaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan als illegal und somit völkerrechtswidrig eingestuft. [22] In beiden historischen Beispielen waren die UN letztlich handlungsunfähig, der US-Aggression vorzubeugen bzw. diese einzudämmen oder sogar zu verhindern.
Ohne einschneidende strukturelle Reformen werden daher die Vereinten Nationen ihre weltpolitische Rolle hinsichtlich ihrer 17 Nachhaltigkeitsziele nicht einnehmen können. Es gilt die UN zu demokratisieren und sie gleichzeitig zu stärken. Der erste Schritt wäre die Abschaffung des Veto-Rechts für angreifende ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrats. Doch hierbei dürfen die Reformmaßnahmen nicht stehenbleiben. Erste Signale für eine Reform der Vereinten Nationen waren auf der 77. Vollversammlung der UN wahrzunehmen. Diese Impulse gilt es aufzugreifen. Die UNO wird andernfalls ein erheblich blockierter internationaler Akteur bleiben, und wird die notwendigen Maßnahmen nicht ergreifen können, die global zur Beseitigung schwerwiegender Krisen notwendig sind. Dies bezieht sich u.a. auf die Bekämpfung der Klimakrise, auf die Beseitigung des Welthungers sowie auf die Beendigung von Kriegen – alles für die Menschheit existenzielle Anlässe, über eine neue Rolle der UNO und über radikale Reformen der UN-Charta ernsthaft nachzudenken und zu verhandeln.
UN-Initiativen im letzten Moment?
Und dennoch: Die berechtigte Forderung nach strukturellen Reformen der UN, um welche die globale Gemeinschaft nicht herum kommen wird, darf nicht davon ablenken, dass jetzt (!) Lösungen gefragt sind. In dieser Entwicklungsphase des Kriegs in der Ukraine, die in kurzer Zeit zu einem nuklear ausgetragenen Krieg eskalieren kann, ist der unmittelbare Einsatz der UN gefragt, um den eskalierenden Krieg in einem ersten Schritt zunächst einzufrieren. [23]
Der Vorschlag des mexikanischen Außenministers, Marcelo Ebrard Casaubon, vorgebracht auf der 77. UN-Vollversammlung, enthält eine Chance, diesen Krieg zu beenden. Casaubon schlug vor, dass UN-Generalsekretär António Guterres aufgrund der Lähmung des UN-Sicherheitsrats zusammen mit hochrangigen internationalen Persönlichkeiten, wie z.B. dem indischen Premierminister Narendra Modi und Papst Franziskus, eine Kommission bildet, die mit den Regierungsspitzen der Ukraine und der Russischen Föderation verhandelt. Mexiko sei bereit, einen diplomatischen Kanal zu den Konfliktparteien zu öffnen, um diese Verhandlungen zu ermöglichen. [24]
Dem mexikanischen Vorschlag wäre aus meiner Sicht hinzuzufügen, dass in diese Verhandlungskommission dringend auch ein hochrangiger Vertreter der VR China hineingehört. Dies müsste der chinesische Staatspräsident Xi Jinping oder der chinesische Außenminister sein, um zu gewährleisten, dass die russische Führung die Folgen einer weiteren Eskalation auch für das Verhältnis zu China mit bedenkt. Das Verhandlungsgewicht der VR China dürfte für einen Erfolg der Kommission entscheidend sein.
Des Weiteren ist m.E. die Generalsekretärin der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) Helga Maria Schmid (Österreich) in die Verhandlungskommission aufzunehmen, die 57 Mitgliedsstaaten und 11 Partnerstaaten repräsentiert und eine hohe Legitimation für eine Interessenabwägung zwischen den Kriegsparteien hat.
Inzwischen ist der Krieg in der Ukraine in eine weitere Eskalationsstufe eingetreten. Russland hat vier eingenommene ostukrainische Gebiete in die russische Föderation eingegliedert, also völkerrechtswidrig annektiert. Gleichzeitig erklärte Putin, dass diese annektierten Gebiete bei zukünftigen ukrainischen Angriffen nun unter dem atomaren Schutzschirm Russlands stünden (Putin: „Dies ist kein Bluff!“). [25] Das Damokles-Schwert eines Nuklearkriegs schwebt über Europa: Was wird passieren, wenn das ukrainische Militär die russischen Streitkräfte auf den vier annektierten ostukrainischen Provinzen angreift? Auch Angriffe auf die kritische Infrastruktur nehmen zu. Die Sprengung der beiden Nordstream-Pipelines ist ein Ausdruck hiervon. Der mehrfache Beschuss des größten europäischen Kernkraftwerks gehört ebenfalls hierzu. Ein Super-GAU im AKW Saporischschja würde Tschernobyl in seiner destruktiven Wirkung deutlich übertreffen. Umso wichtiger wäre ein solcher Vorstoß im Sinne des mexikanischen Vorschlags unter Führung des UN-Generalsekretärs, den Krieg in der Ukraine zunächst zu deeskalieren und anschließend im anfangs beschriebenen Sinne zu beenden.
(Der Beitrag ist in einer früheren Version in der Zeitschrift ‚Telepolis‘ erschienen und stellt eine weiterentwickelte und aktualisierte Fassung dar. Quelle: https://www.heise.de/tp/features/UNO-und-Ukraine-Totalversagen-oder-Erfolg-der-kleinen-Schritte-7273618.html, 25.9.2022, entnommen am 30.9.2022.)
Anmerkungen:
[1] Dies entspricht zusammen gefasst den Schritten des italienischen Friedensplans vom Frühjahr. Vgl. ausführlicher zu den verschiedenen Stufen des italienischen Friedensplans bei Moegling, Klaus (2022): Russlands Krieg gegen die Ukraine: Vier Schritte nur zum Frieden? In: Telepolis, https://www.heise.de/tp/features/Russlands-Krieg-gegen-die-Ukraine-Vier-Schritte-nur-zum-Frieden-7132665.html?seite=2, 6.6.2022, 6.6.2022.
[2] https://www.sueddeutsche.de/politik/international-krieg-gegen-die-ukraine-so-ist-die-lage-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-220922-99-853202, 22.9.2022, 2.10.2022.
[3] https://unric.org/de/generalversammlung-verurteilt-russlands-ueberfall-mit-grosser-mehrheit-nur-fuenf-gegenstimmen/, 2.3.2022, 14.9.2022.
[4] Dies gilt auch für eine Dringlichkeitssitzung der UNO-Generalversammlung im Sinne des ‚Uniting for Peace‘, deren Beschlüsse einen durchaus symbolischen Wert, aber letztlich auch nur einen Empfehlungscharakter haben.
[5] Vgl. zur weitergehenden Vorstellung und Diskussion von UN-Reformmaßnahmen z.B. John Trent/Laura Schnurr (2021): Renaissance der Vereinten Nationen. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich; vgl. insbesondere zur Forderung nach einem demokratisch gewählten UN-Parlament mit umfassenderen Vollmachten sowie der Reform des UN-Sicherheitsrats Leinen, Jo/ Bummel, Andreas (2017): Das demokratische Weltparlament. Bonn: Dietz-Verlag. Zumach, Andreas (2021): Reform oder Blockade. Welche Zukunft hat die UNO? Zürich: Rotpunktverlag und Moegling, Klaus (2020): Neuordnung. Eine friedliche und nachhaltig entwickelte Welt ist (noch) möglich. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich. Auf Englisch die internationale Ausgabe (2022, frei lesbar): https://www.klaus-moegling.de/international-edition/
[6] Vgl. zur Konzeption einer UN-Weltpolizei bei ‚Sicherheit neu denken‘: Turning the Perspective. Overcoming Helplessness. Rethinking Security Report 2022. https://www.sicherheitneudenken.de/media/download/variant/269297/rethinking-security-report-2022-turning-the-perspective.pdf, 18.2.2022, 14.9.2022.
[7] Vgl. https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/internationale-organisationen/uno/05-reform-sicherheitsrat/205630, 14.1.2022, 14.9.2022.
[8] Vgl. https://unric.org/de/070222-guterres/, 7.2.2022, 14.9.2022.
[9] Vgl. die internationale Kampagne für ein demokratische UN-Parlament: https://www.unpacampaign.org/de/, o.D., 14.9.2022.
[10] https://www.sueddeutsche.de/politik/selenskyj-un-sicherheitsrat-ukraine-1.5561576, 5.4.2022, 21.9.2022.
[11] https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-09/antonio-guterres-uno-ukraine-russland/komplettansicht, 19.9.2022, 21.9.2022.
[12] Vgl. https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-07/ukraine-russland-und-un-vereinbaren-ausfuhr-ukrainischen-getreides, 22.7.2022, 14.9.2022.
[13] https://www.n-tv.de/politik/UN-Generalsekretaer-Guterres-Getreide-Export-nur-Teil-der-Loesung-russischer-Duenger-entscheidend-article23537746.html, 22.8.2022, 14.9.2022.
[14] Vgl. https://unric.org/de/ukraine22072022/
[15] Vgl. https://www.stern.de/news/russland-und-die-ukraine-machen-sich-erneut-gegenseitig-fuer-akw-beschuss-verantwortlich-32659302.html, 24.8.2022, 14.9.2022.
[16] https://www.sueddeutsche.de/politik/ukraine-atomkraftwerk-saporischschja-iaea-bericht-1.5652334, 6.9.2022, 14.9.2022.
[17] Vgl. hierzu auch den Aufsatz von Fredy Gsteiger (2022), der zu einer ähnlichen Situationsbeschreibung und Einschätzung kommt: https://www.srf.ch/news/international/vermittlung-im-krieg-versagt-die-uno-in-der-ukraine, 25.7.2022, 14.9.2022.
[18] https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/un-vollversammlung-161.html, 20.9.2022, 20.9.2022.
[19] Vgl. Kliver, Christian (2022): Russlands Krieg in der Ukraine. UN sehen Kriegsverbrechen bestätigt – auch ohne Gerichtsurteil. In: Telepolis, https://www.heise.de/tp/features/Russlands-Krieg-in-der-Ukraine-UN-sehen-Kriegsverbrechen-bestaetigt-auch-ohne-Gerichtsurteil-7275551.html, 26.9.2022, 26.9.2022.[20] Vgl. hierzu den Artikel von Andreas Zumach in: https://www.infosperber.ch/politik/welt/uno-cassis-und-scholz-hinterlassen-wenig-glaubhaften-eindruck/, 22.9.2022, 22.9.2022.
[21] Vgl. Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen (Hrsg): Vereinte Nationen, Heft 5/1966, 159ff., in: https://zeitschrift-vereinte-nationen.de/publications/PDFs/Zeitschrift_VN/VN_1966/Heft_5_1966/05_Beitrag_5-1966.pdf, 1.10.1966, 28.9.2022.
[22] Vgl. https://www.faz.net/aktuell/politik/vereinte-nationen-kofi-annan-nennt-irak-krieg-illegal-1176615.html, 16.9.2004, 28.9.2022.
[23] Die Forderung nach einem ‚Einfrieren‘ des Kriegs in der Ukraine vertritt insbesondere der Politikwissenschaftler Johannes Varwick (Universität Halle-Wittenberg), der hierbei auch der Auffassung ist, obwohl völkerrechtlich die Lage eindeutig sei, müsse man zunächst einige Tatsachen des Status Quo akzeptieren, um eine nukleare Eskalation zu verhindern. Zumal man nicht mit Maximalforderungen an Russland, wie z.B. die Rückgabe der Krim, einen Verhandlungserfolg erzielen kann. Anderes wäre dann nachzuverhandeln. Vgl. u.a. Varwick, Johannes (im Interview mit Alexander Graf Lambsdorff) (2022): Sollte Deutschland auch die Rückeroberung der Krim unterstützen?, Interviewer: Jochen Bitter und Martin Macowecz, in: Die Zeit, 29.9.2022, 12.
[24] Vgl. zum mexikanischen Vermittlungsvorschlag: https://www.msn.com/de-de/nachrichten/politik/mexiko-schl%C3%A4gt-die-einrichtung-einer-hochrangigen-diplomatischen-delegation-vor-die-zwischen-russland-und-der-ukraine-vermitteln-soll/ar-AA1294kT , 25.9.2022, 26.9.2022.
[25] Vgl. zur Drohung Putins, Atomwaffen einzusetzen: https://www.fr.de/politik/drohung-usa-ukraine-krieg-putin-russland-atomwaffen-atombombe-nuklear-zr-91817393.html, 30.9.2022, 30.9.2022.
5 Neuordnung des Systems internationaler Beziehungen
Auch wenn einige der hier vorgebrachten Vorschläge den weltpolitischen Zielsetzungen des US-Department of State von 1961, strategischen Überlegungen des Council on Foreign Relations, der ‚Trilateral Commission‘ bzw. des Bilderberger-Clubs [1] sowie des 2020 von Schwab/ Malleret skizzierten ‚Great Reset‘ [2] im Zuge der Diskussion um eine ‚New World Order‘ scheinbar ähneln, haben sie doch einen gänzlich anderen Charakter. Die von den USA ausgehenden, den politischen Diskurs beeinflussenden Diskussionszirkel und ideologischen Rekrutierungskommissionen interessieren sich nicht für Modelle einer internationalen Vereinigung aus am Gemeinwohl orientierten Motiven, sondern sind eher an der Schaffung von Rahmenbedingungen für die Dominanz US-amerikanischer multinationaler Konzerne und der Ausschaltung von geopolitischer Konkurrenz interessiert. Während des Weiteren die genannten Institutionen eine durch eine elitäre Elite eingeführte und getragene Weltregierung fordern, wird im Rahmen des vorliegenden Buches angesichts der Notwendigkeit zur Bewältigung globaler Bedrohungen von einer umfassenden internationalen Demokratisierung ausgegangen, deren Ergebnis die Umstrukturierung der Vereinten Nationen, die Bedeutungszunahme transnationaler Regionalisierung sowie die Abrüstung der Nationen bei gleichzeitiger Einrichtung weltpolizeilicher Funktionen und Institutionen ist.
Autokratische und elitäre Vorgehensweisen sind kontraproduktiv für einen weltweit miteinander zu beratenden und zu erringenden Konsens über die wichtigsten Maßnahmen, die für die Friedenssicherung und Kriegsprävention, eine human verträgliche und gesellschaftspolitisch akzeptable Digitalisierung, für die Bekämpfung der sozialen Ungleichheit, eine sinnvolle Klimapolitik und die Rettung der Biosphäre notwendig sind. Da die erforderlichen Maßnahmen nur über die Akzeptanz der Mehrheit der Erdbevölkerung getroffen werden können und auch die Menschenrechte, z.B. Meinungsfreiheit und Freiheit zur politischen Betätigung, nur innerhalb demokratischer Strukturen gewährleistet sind, muss die globale Zukunft in einem Ausbau der Demokratie auf gesellschaftlicher, staatlicher und transnationaler Ebene liegen. Gleichzeitig ist das weltbürgerliche Bewusstsein der Menschen im Sinne einer Verantwortung für das Ganze zu stärken.
Nur vor diesen ethischen und politischen Voraussetzungen sind die folgenden Eckpfeiler einer Neuordnung zu begreifen. Alle bisherigen historischen Versuche, wie z.B. sowjetisch-sozialistischer Art, die versuchte globale Machtergreifung des Nationalsozialismus, Versuche religiös-kirchlicher Art oder der US-Hegemonie, zu einer neuen Weltordnung über elitäre, unilaterale und diktatorische Konzepte zu gelangen, haben zu Millionen Toten und unsagbarem Leid geführt und sind gescheitert und werden auch in Zukunft scheitern.
Eine Neuordnung der Welt wird sich nur über Prozesse der Demokratisierung, über die Macht zivilgesellschaftlichen Widerstands, über den Ausbau und die Sicherung demokratischer Strukturen sowie über Multilateralität und demokratische Kompromisssuche auf allen Ebenen ergeben und Bestand haben können.
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Immanuel Kant hat diesen Zusammenhang zwischen Staatsform und Friedfertigkeit eines Staates bereits in seiner Schrift ‚Zum ewigen Frieden‘ vorausgedacht. Der republikanisch geordnete Staat wird als die Voraussetzung für die Friedfertigkeit der Menschen sowie für den Frieden angesehen werden. So verknüpft Kant (1795/ 2014) in seinem ‚ersten Definitivartikel zum ewigen Frieden‘ einen andauernden Frieden mit der Voraussetzung einer republikanischen Verfasstheit und der Möglichkeit der Staatsbürger, bei der Frage von Krieg und Frieden mitentscheiden zu können:
„Wenn (wie es in dieser Verfassung nicht anders seyn kann) die Beystimmung der Staatsbürger dazu erfordert wird, um zu beschließen, »ob Krieg seyn solle, oder nicht,« so ist nichts natürlicher, als daß, da sie alle Drangsale des Krieges über sich selbst beschließen müßten (als da sind: selbst zu fechten; die Kosten des Krieges aus ihrer eigenen Haabe herzugeben; die Verwüstung, die er hinter sich läßt, kümmerlich zu verbessern; zum Uebermaße des Uebels endlich noch eine, den Frieden selbst verbitternde, nie (wegen naher immer neuer Kriege) zu tilgende Schuldenlast selbst zu übernehmen), sie sich sehr bedenken werden, ein so schlimmes Spiel anzufangen: Da hingegen in einer Verfassung, wo der Unterthan nicht Staatsbürger, die also nicht republikanisch ist, es die unbedenklichste Sache von der Welt ist, weil das Oberhaupt nicht Staatsgenosse, sondern Staatseigenthümer ist, an seinen Tafeln, Jagden, Lustschlössern, Hoffesten u. d. gl. durch den Krieg nicht das Mindeste einbüßt, diesen also wie eine Art von Lustparthie aus unbedeutenden Ursachen beschließen, und der Anständigkeit wegen dem dazu allezeit fertigen diplomatischen Corps die Rechtfertigung desselben gleichgültig überlassen kann.“
5.1 Entnationalisierung und Stärkung demokratischer Strukturen auf regionaler Ebene
Die verstärkte Rückkehr nationalchauvinistischen und rechtspopulistischen Denkens und Handelns verweist auf die Notwendigkeit, die Institution der Nationalstaatlichkeit kritisch zu überdenken. Waren unter einer historischen Perspektive die Nationalstaaten ein wichtiger Schritt in der Überwindung der an Fürstentümer gebundenen Kleinstaaten und der damit verbundenen politischen und ökonomischen Beschränkungen, so sollten zukünftig Nationalstaaten lediglich im Übergang zu einer universalistisch orientierten politischen Kultur im globalen Maßstab eine Rolle spielen. Nationalstaaten basieren auf der Trennung von Staatsbürgern einer Nation und denjenigen Menschen, die diesen Status nicht aufweisen können. Der Staat hat die Aufgabe, diese Exklusion abzusichern, Grenzen zu bewachen, soziale Differenzen zu garantieren sowie Güter und Dienstleistungen selektiv zu verteilen. Im Gefolge einer weltumspannenden Vernetzung der Kommunikation, der Dienstleistungen und der globalen Güterproduktion, -allokation sowie -distribution verlieren die Nationalstaaten viel von ihrer Bedeutung bzw. werden zunehmend zu transnationalen Verbünden unter partieller Aufgabe ihrer staatlichen Souveränität vernetzt. Dies lässt sich bereits ähnlich bei der EU oder der APEC-Kooperation beobachten. [3] Die transnationale Regionalisierung kann ein erster Schritt hin zu einer demokratisch kontrollierten Weltregierung sein, deren Verfassung den Regionen und den Staaten bzw. den Regierungen und deren Parlamenten partielle demokratische Autonomierechte auf der Grundlage dieser Verfassung im Zuge des zu verankernden Subsidiaritätsprinzips belässt.
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Sicherlich ist der Weg bis dahin noch weit. Er wird immer wieder abgebremst durch nationalchauvinistische Regression, ‚Failed States‘, globale Regionen, die nicht einmal zur transnationalen Kooperation in der Lage sind, sowie durch militärische Konflikte aufgrund von Hegemonialbestrebungen unterschiedlichster Art.
Erst die Ablösung nationalchauvinistischen Denkens und der damit verbundenen nationalen Emotionen und Identifikationen durch eine weltbürgerliche Identität sowie eine regionale politische Integration über die bisherigen Landesgrenzen hinweg führen zu einer neuen Regionalisierung der Welt als Grundlage einer demokratisch kontrollierten Weltgemeinschaft.
Regionalisierung als Grundprinzip einer universalistisch organisierten Welt kann unter zwei Perspektiven betrachtet werden. Erstens können Regionen als transnationale Regionen verstanden werden, die größere geografische Einheiten umfassen, wie z.B. Europa, Südamerika, Nordamerika, Afrika, Ozeanien oder Südostasien.
Bereits vorhandene Kooperationsstrukturen, wie z.B. die Europäische Union, die Afrikanische Union, die APEC oder die NAFTA [4]-Staaten, könnten hierfür Vorläufer sein. Hier werden politische Kompetenzen übernational gebündelt und werden Funktionen des Nationalstaats abgegeben. Dies erleichtert Verhandlungen über zentrale weltpolitische Projekte im globalen Maßstab im Rahmen von Global Governance-Strukturen.
Zweitens sind Regionen unterhalb der nationalen Ebene zu bilden, deren Bedeutung zu steigern ist, die ebenfalls Teilkompetenzen des Nationalstaats übernehmen können. Dies könnten dann auch traditionelle subnationale Regionen sein, die durch künstlich gezogene nationalstaatliche Grenzen getrennt wurden, wie z.B. Elsaß-Lothringen im heutigen deutsch-französischen Grenzgebiet oder die Kurdenregion, die sich vor allem über Gebiete der Türkei, des Iraks und Syrien erstreckt.
Regionale Parlamente und Regierungen – sowohl im transnationalen als auch im subnationalen Sinne – sind demokratisch zu wählen und arbeiten im Sinne des Transparenzprinzips. Hierbei gilt in der Entscheidungskette Weltregierung - Transnationale Regierungen - nationalstaatliche Regierungen -subnationale Regierungsinstitutionen - lokale Gemeindeverwaltungen das Prinzip der Subsidiarität. Alles, was auf einer regionaleren, örtlicheren und Bürger näheren Ebene geregelt werden kann, ist dort – natürlich auf der Basis der weltgesetzlichen Voraussetzungen – zu regeln.
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Erst durch das Prinzip der Regionalisierung entsteht eine ausgewogene Balance zwischen einer weltstaatlichen Ordnung und dezentralen Entscheidungsstrukturen unterschiedlicher Abstufung. [5]
Mit der abnehmenden Bedeutung von Nationalstaaten verschwindet auch die übertriebene Identifizierung mit dem Nationalen und das sich zur Zeit wieder ausbreitende nationalchauvinistische Denken, das immer wieder mit der dahinter stehenden Doppelherrschaft von Staat und Kirchen dafür verantwortlich war, Bevölkerungsmassen für Kriege zu aktivieren („Kämpfen für Gott und Vaterland“). Durch die Machtbalance von zentralen und dezentralen politischen Entscheidungsinstitutionen unter Mitarbeit von Nicht-Regierungsorganisationen im Rahmen einer Global-Governance-Architektur findet eine vielfache Kontrolle über Entscheidungsprozesse statt. Hierdurch entsteht eine an Kooperation, Beratung und Dialog orientierte gemeinsame Interessenlage, so dass der Eintritt in kriegerische und militärische Handlungssituationen zur regionalen oder nationalen Interessensdurchsetzung unwahrscheinlicher werden dürfte.
So macht Voßkühler (2017, 12) den dreifachen Zusammenhang zwischen Friedfertigkeit, gegenseitiger Achtung und einer sinnvollen politischen Ordnung deutlich:
„Aber das ist nicht alles. Denn der Blick auf die säkulare Katastrophe des Ersten Weltkrieges und dann auf das, was in Hannah Arendts Worten ‚einfach nicht geschehen durfte‘, der Holocaust, macht noch eins klar. (…) Es wird nämlich klar, dass der eben genannte dreifache Fragenkomplex ohne die politische Dimension nicht angegangen werden kann. Das meint: Nicht ohne das Bedenken der Möglichkeit einer guten politischen Ordnung. Im Grunde steht auch hier wiederum Platon Pate. Zwischenmenschliche Wahrhaftigkeit und unbedingte Achtung des ‚Anderen‘ sind nur gewährleistet, wenn das Gemeinwesen gut geordnet ist.“
Zusammenfassend lässt sich feststellen: Die Idee der Nationalstaatlichkeit hatte zwar in der Vergangenheit ihre wichtige historische Funktion, ist aber angesichts der notwendigen transnationalen und strukturell zu sichernden Anstrengungen der Weltgemeinschaft hinsichtlich der Grenzen überschreitenden drängenden Problemstellungen nun historisch abgewertet.
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Die sich derzeit bereits in den Anfängen befindliche und herannahende Klimakatastrophe, die zunehmende soziale Ungerechtigkeit, gehäufter auftretende Pandemien und die drohende Verwüstung weiter Regionen der Erde durch modernste Militärtechnologien sind die am vordringlichsten global zu lösenden Problemstellungen. Dies aber erfordert ein Überwinden einer Vorherrschaft nationalstaatlicher Strukturen und nationalstaatlicher Identifikation zunächst zugunsten einer ‚postnationalen Konstellation‘ (Habermas 1998) [6] und Regionen übergreifender Anstrengungen der Weltgemeinschaft unter Federführung der (zu demokratisierenden) Vereinten Nationen. Hierbei ist der Ansatz der Subsidiarität der Leitgedanke in der Verantwortungsübernahme, so dass jedes Problem dort gelöst werden kann, wo die hierfür am besten ausgeprägte Problemlösungskompetenz und von der Sache her die wirkungsmächtigste Zuständigkeit vorhanden ist.
5.2 Weiterentwicklung von Global Governance
Global Governance ist ein weltpolitischer Ansatz, die Tätigkeit von Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen miteinander weltweit zu vernetzen, um politische Synergieeffekte zu ermöglichen. Bei dem Prinzip der Global Governance geht es nicht um die Organisation einer Weltregierung, sondern um eine Weltinnenpolitik zwischen Regierungen, trans- und subnationalen Regionen sowie transnationalen Institutionen unter Beratung durch Nicht-Regierungsorganisationen, die nach festzulegenden Regeln funktionieren kann. Global Governance könnte ein funktionierendes multilaterales, polyzentrisches und mehrdimensionales Politikkonzept darstellen, im Rahmen dessen versucht wird, eine ökologische, friedensstiftende, die Menschenrechte achtende und auf sozialen Ausgleich setzende Verantwortungsethik durchzusetzen. Es handelt sich also um ein Politikkonzept, das die Bedeutung der Nationalstaatlichkeit im Sinne einer Weltinnenpolitik transzendiert und das auch eine UN-geführte und demokratisch kontrollierte Weltregierung zu berücksichtigen hätte. Gewissermaßen wäre im Konzept der Global Governance eines der weiteren Korrektive einer Weltregierung – u.a. neben den institutionalisierten parlamentarischen Entscheidungs- und Kontrollgremien und der internationalen Gerichtsbarkeit – zu sehen.
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„Global Governance (…) bringt nicht nur eine Neudefinition staatlicher Souveränität unter Infragestellung der unbedingten Geltung von Souveränität mit sich, sondern erfordert auch die Verdichtung und Verrechtlichung der internationalen Beziehungen durch internationale Organisationen und Regime (institutionalisierte Formen des norm- und regelgeleiteten Verhaltens in abgegrenzten Sachbereichen, die auf gemeinsame Prinzipien, Normen, Regeln und Entscheidungsverfahren aufbauen) und die Einbeziehung neuer Akteure bzw. neue Kooperationsformen zwischen öffentlichen und privaten Akteuren.“ [7]
Hier besteht die Chance, dass regionale und überregionale Regierungsorganisationen, wie z.B. die EU oder die UN, NGO’s, wie z.B. Amnesty International, die Friedensinitiative ICAN, Transparency International, der World Future Council, SIPRI, PBI oder Greenpeace, vorbereitend in Entscheidungen hinsichtlich der Menschenrechte, der Abrüstung oder der globalen Ökologie systematisch über Akkreditierungen im Sinne deliberativer Demokratie eingebunden werden. Dies hatte bisher seine Grenzen aufgrund der noch vorhandenen Machtfülle der Regierungsorganisationen und des Nicht-Ernstnehmens der NGO-Tätigkeit aus dieser Richtung gehabt – so Peter/Moegling (2005, 24):
„Hierbei zeigt das Modell der regionalen Agenda-21-Gruppen, dass es nicht reicht, dezentrale Gruppen im globalen Auftrag diskutieren zu lassen, sondern lokale Diskussionsergebnisse müssen auf der lokalen Ebene, regionale Aktivitäten auf der regionalen, nationale Ergebnisse auf der nationalen und internationale Diskussionsergebnisse auf der multinationalen Ebene zumindest mit partieller Macht ausgestattet werden.
Ansonsten gibt es für die traditionellen politischen Entscheidungsträger keinen Grund, sich auf Ergebnisse diskursiver Gruppen einzulassen (‚Schön, dass ihr darüber gesprochen habt.‘).
Konsultation, Dialog und Konsens werden nicht funktionieren, wenn nur die eine Seite der ‚Partnerschaft’ mit Macht und institutioneller Legitimation ausgestattet ist. Deshalb bedarf ein so angelegter politischer Prozess auf der jeweiligen politischen Ebene – von der Kommune bis hin zu supranationalen Organisationen – eigener legitimierter institutioneller Strukturen.“
Nur in diesem Sinne ist hierin ein interessanter Ansatz zu sehen, wenn also die nationalen und internationalen Regierungsorganisationen sowie die verschiedenen parlamentarischen Versammlungen auch über den achtungsvollen Einbezug von NGO’s zunehmend problemlösende Informationen erhalten und neue Wertepotenziale kennenlernen. Dabei ist allerdings auch zu beachten, dass NGO’s ebenfalls dem Demokratisierungsgebot unterliegen, keine verdeckten Lobby-Organisationen multinationaler Konzerne sind und sich den Regeln der Transparenz unterwerfen. [8]
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Hierfür müssen verbindliche Ethik-Richtlinien und Regeln entwickelt werden, welche die Voraussetzung einer Beteiligung von ‚Non-Governmental Organizations‘ an der Vorbereitung demokratischer Entscheidungsverfahren definieren (non-profit, democratic principles, human rights support, transparency …).
Die institutionalisierte Einwirkung der NGOs könnte in einem ersten Schritt dadurch gesichert werden, dass in gesetzgebenden Verfahren durch die Parlamente der unterschiedlichen Ebenen im Laufe des parlamentarischen Verfahrens die für das angesprochene Politikgebiet zuständigen NGOs verpflichtend in die Beratung einbezogen und deren Beratungsleistung öffentlich gemacht werden.
5.3 Stärkung und gleichzeitige Demokratisierung der Vereinten Nationen
Die Zukunft der Globalisierung kann nicht in unilateralen Vorgehensweisen oder selektiven bi- oder multilateralen Strategien einzelner Staaten liegen, sondern ist angesichts der Größenordnung der global zu bewältigenden Probleme und des drohenden planetaren Kollaps nur in der Neuformierung der Vereinten Nationen zu sehen – so Gareis/Varwick (2014, 358):
„Tragfähige Antworten auf die zentralen Menschheitsprobleme sind im 21. Jahrhundert allenfalls multilateral zu geben, und in dem Geflecht multilateraler Regime und Organisationen spielen die Vereinten Nationen trotz allem eine herausragende Rolle. Auch im Bereich der Friedenssicherung sind die oft gescholtenen Vereinten Nationen unverzichtbar: Wer nicht die Rückkehr des Faustrechts in der internationalen Politik will, wer nicht weltweite Instabilität möchte, weil sich auch andere Staaten das Recht zum unilateralen Handeln nehmen werden, wer nicht einem weltweiten Rüstungswettlauf riskieren möchte, der muss für einen Mechanismus werben, bei dem nicht grundsätzlich einzelne Staaten oder Staatengruppen allein über die Zulässigkeit von Gewaltanwendung entscheiden.“
Hierbei werden die Vereinten Nationen ihre friedensstiftende Funktion und ihre Aufgabe hinsichtlich der politischen, ökonomischen und ökologischen Gestaltung der Welt nur erfüllen können, wenn sie sich aufgrund der faktischen Intransparenz, der ungleichen Machtverteilung und fehlender Demokratisierung einer wirkungsvollen Strukturreform unterziehen. [9] Folgende Reformziele müssten hierfür durchgesetzt werden:
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Visionärer Baustein 1:
Reform der UN-Vollversammlung
Bisher kann die UN-Vollversammlung (auch UN-Generalversammlung genannt) nicht als Weltparlament bezeichnet werden, da ihre Mitglieder keine gewählten Delegierten sind. Sie werden bisher von ihren sie entsendenden Nationalstaaten – auch von Autokratien und Diktaturen – als diplomatische und weisungsgebundene Beamte zur Vollversammlung hin abgeordnet. Dies stellt ein deutliches Demokratiedefizit der UN dar. Beschlüsse der UN-Generalversammlung haben bisher keine Verbindlichkeit für den UN-Sicherheitsrat, nur Empfehlungscharakter.
Im hier vorliegenden Vorschlag wird die UN-Vollversammlung aller Nationen zum gewählten obersten Beschlussorgan der UN. Dies bedeutet, dass die Beschlüsse der UN-Vollversammlung nicht mehr Empfehlungscharakter haben, sondern verbindlich für alle UN-Organe, alle Weltregionen und die Weltbevölkerung sind. Wahlen zum UN-Parlament finden alle sechs Jahre statt, damit den Parlamentariern genügend Zeit für die Bewältigung der globalen Problemstellungen innerhalb einer Legislaturperiode bleibt. In der UN-Vollversammlung entscheiden die demokratisch gewählten Vertreter der einzelnen Nationen, solange noch Nationen vorhanden sind, später dann Regionen, entsprechend eines Stimmenanteils, der sich aus einem jeweils für alle gleichen Stimmensockel pro Nation und der jeweiligen Bevölkerungsgröße zusammensetzt. Vergleichbare Umrechnungsverfahren gelten für Weltregionen, die als transnational zu begreifen sind, welche also die Nationalstaatlichkeit überwunden haben und eigene Delegationen besitzen. Dies könnte z.B. für eine sich weiterentwickelnde Europäische Union gelten.
Beschlüsse der UN-Vollversammlung werden entsprechend der Tragweite der Beschlüsse mit unterschiedlichen Mehrheiten gefasst. Für das Gesetzgebungsverfahren könnte eine ‚qualifizierte Mehrheit‘ reichen und für die Veränderung der UN-Charta wäre eine ‚verstärkte qualifizierte Mehrheit‘ notwendig. [10]
Der Europapolitiker Jo Leinen und der internationale Netzwerker Andreas Bummel (‚democracy without borders‘) fordern ebenfalls ein demokratisch gewähltes Weltparlament und integrieren dies in eine multilaterale Struktur und eine Reform der UN:
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„Das Weltparlament würde als Hauptorgan einer Weltorganisation der dritten Generation verankert werden. Als zentrale Säule einer Weltfriedensordnung sollte es beispielsweise bei Zwangsmaßnahmen und Friedenseinsätzen mitentscheiden und im Zuge vollständiger nuklearer Abrüstung an einem globalen Inspektionssystem mitwirken. Neue supranationale Institutionen, die bereits in der Diskussion sind und früher oder später auf die Tagesordnung kommen werden, wie zum Beispiel eine Weltzentralbank, eine Weltsteuerbehörde, eine globale Antikartellbehörde, eine Kriminalpolizei und eine Eingreiftruppe ebenso sowie die Einführung globaler Steuern oder eines globalen Grundeinkommens bedürfen der demokratischen Legitimation und der parlamentarischen Kontrolle durch ein Weltparlament.“ (Leinen/Bummel (2017, 374)
Der von Leinen/Bummel und der internationalen NGO „Democracy Without Borders“ entwickelte Vorschlag einer ‚United Nations Parliamentary Assembly‘ (UNPA) sieht vor, dass das demokratische Weltparlament durch einen Beschluss der UN-Generalversammlung beschlossen und zunächst als UN-Nebenorgan im Sinne des Art. 22 der UN-Charta eingerichtet wird. Dies bedeutet, dass hierfür ein Beschluss der UN-Generalversammlung ausreicht und keine Abstimmung im UN-Sicherheitsrat erforderlich ist. Dieses Parlament würde zunächst aus Abgeordneten der nationalen und transnationalen Parlamente zusammengesetzt und könnte dann mit dem Schritt für Schritt erfolgten Ausbau der Kontroll- und Mitentscheidungsrechte direkt im globalen Kontext gewählt werden. [11] Hierbei könnte ein gemischtes Wahlrecht zum Zuge kommen, bei dem sowohl Direktkandidaten als auch Parteien gewählt werden können. Die Anzahl zur Verfügung stehender Parlamentssitze für ein Land bzw. eine transnationale Region könnte m.E. über einen Schlüssel aus Bevölkerungszahl, räumlicher Größe und qualitativen Faktoren, wie z.B. dem Beitrag zur Erfüllung der CO2-Klimakonvention und einen Demokratie-Index ermittelt.
Die entsprechende „Kampagne für eine Parlamentarische Versammlung bei den Vereinten Nationen“ (UNPA-Kampagne) existiert seit 2007. Die Forderung nach einem demokratischen Weltparlament wird derzeit (Stand März 2025) von ca. 1850 Abgeordneten aus ca. 160 Ländern und Hunderten NGO‘s und zahlreichen Bürgern_innen weltweit unterstützt. Auch die Sozialistische Internationale, die Liberale Internationale und der Grüne Weltkongress unterstützen die Kampagne. [12] [13]
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Hierbei sind hinsichtlich der Institutionalisierung zwei Wege denkbar: Der erste Weg würde zu einem schrittweisen Ersetzen der existierenden UN-Vollversammlung durch das demokratische Weltparlament führen. Die zweite Möglichkeit würde in der Koexistenz von UN-Generalversammlung und Weltparlament im Sinne eines Zwei-Kammersystems liegen. Beide Wege haben Vor- und Nachteile. Während das Zwei-Kammer-System einerseits eine intensive gegenseitige Kontrolle ermöglichen würde, könnte dies aber auch zu institutionellem Kompetenzgerangel, unnötiger zeitlicher Verzögerung der Entscheidungsabläufe und zur Blockierung von notwendigen Entscheidungen führen. Das Ersetzen der UN-Vollversammlung durch ein demokratisch zu wählendes Weltparlament hätte den Vorteil, dass hier die abgeordneten Beamten von Nationalstaaten (auch undemokratischer Staaten) durch gewählte Vertreter ersetzt werden würden. Die kollektive Entscheidungsgewalt läge dann bei in weltweiten Wahlen demokratisch ermittelter und selbstständig entscheidender Delegierten. Auch würden die zeitlichen Entscheidungsabläufe voraussichtlich zügiger vorangehen als bei einem mehrfachen gegenseitigen Kommunizieren und gegenseitiger Kontrolle zweier Versammlungen mit jeweils Tausenden von Mitgliedern. Andererseits entfällt hiermit ein zusätzliches Kontroll- und Beratungsorgan, das dem Willen der verschiedenen Regierungen entspricht.
Daher muss man zwangsläufig die konkrete Ausgestaltung des Weges zu einem demokratischen Weltparlament, wenn er denn tatsächlich begangen wird, den konkreten politischen Abläufen in den Interessenskonflikten und zu findenden Kompromisslösungen im Rahmen existierender und erweiterbarer Spielräume internationaler Politik überlassen (und natürlich versuchen die eigene Position in Vernetzungszusammenhänge einzubringen).
Das EU-Parlament, das Lateinamerikanische Parlament und das Pan-Afrikanische Parlament sowie NGO‘s wie ATTAC oder der BUND fordern übrigens ebenfalls ein demokratisch gewähltes UN-Parlament, zunächst als UN-Nebenorgan nach UN-Charta, Art 22. Dies ist wichtig anzumerken, da ja leicht der Vorwurf der politischen Weltentrücktheit vor allem von denjenigen vorgebracht wird, die sich radikale Innovationen des internationalen Politiksystems nicht mehr vorstellen können. Die Einrichtung eines demokratischen Weltparlaments im Rahmen der UN ist ein aktuelles Thema für viele demokratische Institutionen und Gruppierungen im weltweiten Zusammenhang und nicht die Vision einiger weniger in die Zukunft denkender Wissenschaftler und Netzwerker.
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„Das Europaparlament hat (…) in einer Entschließung zur Einrichtung einer Parlamentarischen Versammlung der Vereinten Nationen aufgerufen. Die Versammlung solle im UN-System eingebettet werden und ‚das demokratische Profil und den internen demokratischen Prozess‘ der UNO stärken. In der Resolution spricht sich das Europaparlament dafür aus, dass ‚diese Parlamentarische Versammlung über das uneingeschränkte Recht auf Information, Teilhabe und Kontrolle verfügen und in der Lage sein sollte, Empfehlungen für die Generalversammlung der Vereinten Nationen anzunehmen.‘ “ [14]
Visionärer Baustein 2: Reform des UN-Sicherheitsrats
Der UN-Sicherheitsrat hatte in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg die Funktion, den Siegermächten eine privilegierte Position hinsichtlich der zukünftigen Friedenssicherung und Kriegsprävention zu eröffnen. Mit der ständigen Mitgliedschaft und dem Veto-Recht von Russland, China, USA, Frankreich und England hatten diese gleichzeitig die Möglichkeit, ihre geostrategischen und ökonomischen Interessen sicherheitspolitisch durchzusetzen. In den letzten Jahrzehnten aber verschob sich die Priorität der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats zunehmend weg von der verantwortungsvollen Orientierung am Ganzen hin zu einer nationalchauvinistischen Interessensvertretung. In diesem Zusammenhang blockierten sich die ständigen UN-Sicherheitsratsmitglieder auch bei notwendigen sicherheitspolitischen Entscheidungen, so dass der UN-Sicherheitsrat handlungsunfähig war und seine weltpolitische Funktion nicht wahrnehmen konnte.
Spätestens seit der Blockade der Resolution, die den russischen Angriff im Februar 2022 auf die Ukraine verurteilte, durch den russischen Vertreter im UN-Sicherheitsrat dürfte auch einer größeren Öffentlichkeit deutlich geworden sein, wie kontraproduktiv und widersinnig das Veto-Recht im Sicherheitsrat ist. Es ist völlig absurd, wenn ein ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat, das einen anderen Staat militärisch angreift, durch sein Veto-Recht alle wirkungsvollen weltpolizeilichen Maßnahmen der UN blockieren kann. Hierdurch sind die Vereinten Nationen nicht in der Lage, die friedenspolitischen Zielsetzungen der UN-Charta umzusetzen.
Auch wird kritisiert, dass große Staaten, wie z.B. Indien oder Brasilien, keine ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat waren. Des Weiteren stellte sich die Frage, ob nicht auch transnationale Zusammenschlüsse, wie z.B. die EU oder die Afrikanische Union, nicht einen Sitz im UN-Sicherheitsrat haben sollten.
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Eine fundamentale Kritik lässt sich hierüber hinaus an der Tatsache üben, dass die Tätigkeit und die Entscheidungen des UN-Sicherheitsrats durch keine demokratische Institution, wie z.B. ein UN-Parlament, kontrolliert werden. Der UN-Sicherheitsrat ist daher eine eher undemokratisch angelegte Institution, die historisch überholt und grundlegend zu reformieren ist. Nur hierdurch werden sich die gegenwärtigen und zukünftigen sicherheitspolitischen Probleme im Interesse der Weltgemeinschaft lösen lassen.
Im Rahmen des hier vertretenen Konzepts einer radikal erneuerten und demokratisierten UNO ist nun eine veränderte Struktur und Funktion des UN-Sicherheitsrats zu entwerfen. Der UN-Sicherheitsrat hat weiterhin seine Aufgabe mit dem Fokus auf den globalen Konfliktherden und die zeitnahe Entwicklung von Konfliktlösungen zu erfüllen. Allerdings wird die Untergliederung nach ständigem und erweitertem Sicherheitsrat aufgegeben. Alle Mitgliedsländer bzw. -regionen des zukünftigen Sicherheitsrats werden von der UN-Vollversammlung, z.B. alle fünf Jahre, per Wahl bestimmt. Die Beschlüsse des Sicherheitsrats haben Empfehlungscharakter für die UN-Vollversammlung. Ein Veto-Recht für einzelne Staaten gibt es nicht mehr. Beschlüsse des dann aus 15 gleichberechtigten Mitgliedern bestehenden Sicherheitsrats müssen mit qualifizierter Mehrheit gefasst werden und sind an den politischen und rechtlichen Rahmen gebunden, der durch das demokratisch gewählte Weltparlament entschieden wurde.
Das UN-Generalsekretariat bzw. der_die später einmal zu wählende UN-Präsident_in hat das Recht, mit beratender Stimme an den Sitzungen des Sicherheitsrats teilzunehmen und ist ein zusätzliches Kontrollorgan, das dem UN-Parlament zeitnah über die Beschlüsse und Empfehlungen des Sicherheitsrats berichtet.
Durch diese Reform wird es nun möglich sein, dass jeder Staat bzw. jede Region die Chance hat, im UN-Sicherheitsrat mit gleichberechtigter Stimme mitzuentscheiden. Die Blockierung des UN-Sicherheitsrats durch das Veto-Recht entfällt. Auch wird hierdurch nun eine demokratische Kontrolle des Sicherheitsrats institutionalisiert. Es findet hierbei eine Machtverschiebung zum UN-Parlament hin statt, ohne dass die schnelle und situationsnahe Aufbereitung einer sicherheitsrelevanten Entscheidung verloren geht.
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Visionärer Baustein 3: Reform des UN-General-Sekretariats
Die bisherige Institution des UN-Generalsekretärs wird bislang vom UN-Sicherheitsrat vorgeschlagen und von der UN-Generalversammlung für fünf Jahre gewählt. Der UN-Generalsekretär hat keine Richtlinienkompetenz für die UN. Er hat das Recht, an den Sitzungen der UN-Hauptorgane (Ausnahme: Beratungen des Internationalen Strafgerichtshofs) teilzunehmen. Er leitet die Verwaltung des UN-General-Sekretariats und vertritt die UN nach außen.
Diese durchaus wichtigen Funktionen werden nun im Rahmen des hier vorliegenden Vorschlags einer weltpolitischen Neuordnung erweitert. Das UN-General-Sekretariat sowie der UN-Generalsekretär werden ersetzt durch eine/n durch das UN-Parlament für die Legislaturperiode gewählten UN-Präsidenten_in, der/die die Weltregierung repräsentiert, das Vorschlagsrecht für die ministeriellen Mitglieder der Weltregierung hat und eine demokratisch kontrollierte Richtlinienkompetenz besitzt. Das UN-Parlament kontrolliert die UN-Präsidentenschaft und kann mit qualifizierter Mehrheit ein Misstrauensvotum und einen Regierungswechsel herbeiführen.
Die einzelnen Regierungsmitglieder mit speziellen Ressorts, wie z.B. Umwelt, Sicherheit oder Ökonomie, müssen sich der UN-Vollversammlung vorstellen und werden einzeln in ihren Funktionen von der Versammlung bestätigt oder abgelehnt.
Das UN-Parlament bildet die eigentliche Legislative. Eine demokratisch kontrollierte Weltregierung hat – in enger Abstimmung mit dem UN-Sicherheitsrat – das globale Gewaltmonopol und die Verantwortung über die Exekutive. Die Weltregierung wirkt im Rahmen einer Weltinnenpolitik auf eine Zusammenarbeit aller Nationen und Regionen hin. Sie setzt vorwiegend diplomatische Mittel sowie Verfahren der Konfliktmediation ein. Sie kann Sanktionen oder sogar militärische Intervention nur aufgrund einer entsprechenden Beschlusslage des demokratisch gewählten UN-Parlaments anwenden. Die UN-Weltregierung wird unterstützt durch regionale transnationale Regierungen, deren Repräsentanten regional gewählt werden und die eine regionale bzw. dezentrale Verwaltung im Sinne von Subsidiarität wahrnehmen und auch gewährleisten.
Die transnationalen Regionen sind wiederum untergliedert, zunächst eine Zeit lang noch in Nationalstaaten, zunehmend in subnationale und auch grenzüberschreitende Regionen und deren lokale Verwaltungseinheiten in Form von Landkreisen und Städten. Auch deren Vertretungen sind selbstverständlich demokratisch zu wählen.
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Es gilt hierbei das Prinzip der Subsidiarität rechtlich wirkungsvoll zu verankern und im Laufe der Jahre zunehmend kompetenter zu gestalten. Erst, wenn den Bürger_innen deutlich wird, dass ihre Belange an der richtigen Stelle und institutionellen Ebene zügig und gerecht bearbeitet werden, wird eine mögliche Skepsis gegenüber einer Weltregierung einer Zufriedenheit mit der neu gestaffelten Verantwortlichkeit weichen.
Die Weltregierung wird durch die UN-Vollversammlung, die mit qualifizierter Mehrheit ein Misstrauensvotum formulieren kann und für welche die Weltregierung in regelmäßigen Aussprachen rechenschaftspflichtig ist, sowie durch die entsprechenden Kammern und Instanzen des Internationalen Gerichtshofs kontrolliert.
Auch stellen globale, regionale und lokale Petitionsausschüsse und Ombudspersonen bzw. -räte bürgernahe Kontrollinstanzen dar. Ein besonderer direktdemokratischer Kontrollmechanismus entsteht des Weiteren dann, wenn sich die Intentionen einer UN-Weltbürgerinitiative durchsetzen.
Visionärer Baustein 4: UN-Weltbürgerinitiative
Es gibt derzeit kein Bürgerbegehren oder einen Bürgerentscheid auf der globalen Ebene. Demokratie wird hier nicht im Sinne einer partizipierenden Weltbürgerschaft verstanden. Menschen mit einem weltbürgerlichen Bewusstsein haben global weder die Möglichkeit zu wählen noch abzustimmen.
Um eine direktere Mitsprache im Sinne demokratischer Partizipation im globalen und bisher allenfalls auf multilaterale Repräsentation angelegten UN-System zu erreichen, müsste dies nicht nur über die Wahl und Einrichtung eines Weltparlaments, sondern auch mit weiteren Formen direkter Demokratie ermöglicht werden.
Die NGOs Democracy Without Borders, Civicus und Democracy International fordern daher ausgehend von einer Kritik undemokratischer Strukturen der UN die Einflussmöglichkeit der Bürger_innen über neue Verfahren:
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„The coronavirus pandemic, climate change and many other challenges underline the fact that all people on this planet are connected to each other. As world citizens we are all in the same boat but we have no say at the United Nations (UN) as the most important arena of global politics. The Security Council decides on matters of international peace and security and the General Assembly makes recommendations, launches treaty negotiations or is engaged in international agenda-setting. The UN, however, is an exclusive club of appointed government diplomats. The UN’s democratic deficit has been complained about for decades. While the UN has made some effort to include civil society organizations and other major groups in some of its deliberations, thera are no means for ordinary citizens to take influence.“ [15]
Daher soll die aktuelle globale Initiative für eine UN-Weltbürgerinitiative (UNWCI) [16] unterstützt werden. Diese Kampagne strebt mit der Unterstützung zahlreicher internationaler NGO’s, wie z.B. Democracy Without Borders, Civicus, Democracy International, Global Justice Now und Asia Democracy Network, eine direktdemokratische weltbürgerliche Beteiligung an. Ähnlich der Regelungen zu einer in der EU bereits praktizierten European Citizens Initiative (ECI) wird mit der UNWCI eine Verbindung direktdemokratischer und repräsentativ-demokratischer Verfahren angestrebt. Wenn diese Initiative erfolgreich von den UN aufgenommen wird, dann ist natürlich die Frage nach der geeigneten Anzahl von Stimmen (Weltbevölkerungsquorum) zu stellen, die für ein derartiges weltbürgerliches Begehren erforderlich sind. Auch ist die Überlegung notwendig, inwieweit nicht nur eine bestimmte Stimmenzahl erforderlich ist, sondern auch eine Berücksichtigung aller transnationaler Weltregionen. Dies ist dann die Voraussetzung, dass eine derartige Kampagne dann auch weltweit durchgeführt und keine Weltregion übergangen wird.
„The idea of a UN World Citizens’ Initiative (UNWCI) is that if a certain number of global citizens endorses a citizen-launched initiative, UN bodies such as the General Assembly or the Security Council have to put the item on their agenda and give representatives of the initiative the floor to make their case. In terms of the General Assembly, this could be done during the annual general debate while heads of state and government are present. A UNWCI will allow global citizens to have more impact in a world with growing dilemmas that require global cooperation of both states and citizens alike. It will help create a citizen-based global political sphere.“ [17]
Für ein globales Plebiszit muss also ein Quorum erfüllt sein, damit dieses demokratische Instrument handhabbar ist und nicht die Vielzahl von Plebisziten alle beteiligten Institutionen überfordert. Das Vorbild hierfür könnte die Europäische Bürgerinitiative (EBI) sein, bei der eine Million Stimmen aus zumindest einem Viertel der EU-Staaten die Schwelle für eine Durchführung der Initiative darstellt.
Sicherlich müsste ein solches Begehren digital durchgeführt werden. Hier stellt sich dann die Frage des Schutzes vor internationalen Hackern, die eine derartige Initiative anzugreifen versuchen. Hier müssen technologische Lösungen gefunden werden, die dies verhindern können.
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Auch müsste die Institutionalisierung einer derartigen globalen Befragungsinitiative sorgfältig vorbereitet werden. Die NGO Democracy Without Borders schlägt u.a. zur Vorbereitung die Einrichtung einer digitalen Global Voting Platform (GVP) vor, über die internationale Diskussionen und Stellungnahmen zu UN-Entscheidungen laufen können. Auch könnten hier bereits über Votings Meinungsbilder zu den wesentlichen Themen, welche die Weltgemeinschaft berühren, erstellt werden. Voraussetzung zur Teilnahme ist allein die Registrierung eines weltbürgerlichen Status, den eine hieran interessierte Person bereits mit Hilfe eines Smartphones selbstständig vornehmen kann. [18]
Schwieriger wird es dann später sicherlich werden, autokratisch oder sogar diktatorisch regierte Regime für eine Genehmigung dafür zu gewinnen, dass das jeweilige weltbürgerliche Begehren auch in ihrem Staat durchgeführt wird. Dies wird insbesondere dann schwierig werden, wenn die Initiative die Einhaltung der Menschenrechte und die die Durchsetzung demokratischer Strukturen zum Inhalt hat. Dennoch sollen diese Überlegungen kein Vorwand für einen Abbruch der gegenwärtigen Bestrebungen zu einer UNWCI sein, sondern sollten in der weiteren Konkretisierung konzeptionell berücksichtigt werden.
Visionärer Baustein 5: Weltgesetzgebung und Internationaler Gerichtshof
Die bisherige Weltgesetzgebung, soweit man davon überhaupt sprechen kann, ist nicht in der Lage, die Grenzen nationalstaatlicher Souveränität zu überschreiten und ist darauf angewiesen, dass Beschlüsse der UN-Generalversammlung von den nationalstaatlichen Regierungen oder auch transnationalen Regionen akzeptiert und umgesetzt werden.
Die bisherige Judikative auf Weltebene wiederum bietet bereits wertvolle Ansatzpunkte einer globalen Rechtsprechung, ist allerdings noch nicht vollends auf UN-Ebene durchgesetzt. Der Internationaler Gerichtshof (IGH) besteht aus 15 Richter_innen aus 15 verschiedenen Staaten, die von der UN-Generalversammlung gewählt werden. Seine Zuständigkeit bezieht sich auf innerstaatliche Streitigkeiten und Rechtsgutachten zu völkerrechtlichen Fragen. Allerdings unterwirft sich beispielsweise die USA nur bedingt dem IGH.
Der Internationaler Strafgerichtshof (IStGH) ist zuständig für Verfahren wegen Völkermords, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Verbrechen der Aggression – wenn nationalstaatliche Verfolgung nicht möglich oder nicht gewollt ist. Auch hierbei ist einschränkend anzumerken, dass eine Reihe wichtiger Länder der Zuständigkeit des IStGH, u.a. USA, China, Russland, Indien, Türkei und Israel dem IStGH nicht beigetreten sind. Auch ist der IStGH keine UN-Institution, sondern kooperiert nur mit den Vereinten Nationen.
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Aufgrund dieser Analyse der legislativen und judikativen Möglichkeiten der Vereinten Nationen müssten im Rahmen der hier ausgearbeiteten Vision einige Änderungen erfolgen.
Die auf der Grundlage der UN-Charta gefassten Beschlüsse des zu wählenden Weltparlaments in seinem Zuständigkeitsbereich sind weltweit bindend. Überregionale politische Institutionen, wie z.B. die Europäische oder die Afrikanische Union, und Nationalstaaten, soweit noch im Übergang überwiegend vorhanden, fassen in ihren Parlamenten ausschließlich Beschlüsse und formulieren Gesetze dort, wo diese nicht von den UN-Beschlüssen betroffen sind und in ihrem Zuständigkeitsbereich liegen. Subnationale Regionen und weitere Untergliederungen erhalten dort eine Teilautonomie in Bezug auf einzelne Regelungsbereiche, wo dies im Rahmen der Weltgesetzgebung im Sinne von Subsidiarität sinnvoll ist.
Die Stellung des Internationalen Gerichtshof der Vereinten Nationen wird aufgewertet und die verschiedenen Kammern unter einem institutionellen Dach zusammengefasst. Er umfasst sowohl die Strafverfolgung von Institutionen und Vertretern institutioneller Organe als auch die Funktion eines Verfassungsgerichts. Kein Land, keine Region ist berechtigt, sich den Strafverfolgungen des von den UN kontrollierten Gerichtshofs zu entziehen, wenn hier beispielsweise staatliche Verstöße gegen die Menschenrechte, gegen die auf nachhaltiger Entwicklung bezogenen Gesetze, die Waffenkontrollgesetze oder Friedensregelungen angezeigt, verfolgt und gerichtlich verhandelt werden. Eine weitere in verschiedene Bereiche untergliederte Kammer des Weltgerichtshofs befasst sich mit Verfassungsbeschwerden aus einzelnen Staaten oder Weltregionen, die sich auf einzelne Regelungen der UN-Verfassung, sich aber auch auf gesetzliche Regelungen auf der trans- und subnationalen regionalen Ebene beziehen können.
Der Internationale Gerichtshof wird angerufen, wenn es sich um globale bzw. überregionale Probleme handelt, die durch regionale und lokale Gerichtsbarkeit nicht erfolgreich bearbeitet werden können. Im Sinne des Subsidiaritätsprinzips wird die gerichtliche Befassung mit Straftaten von kriminellen Einzelpersonen und Gruppierungen vor Ort dezentral durch ortsnahe Gerichte auf der Grundlage des UN-Rechts erfolgen.
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Anmerkungen Kapitel 5.1.-5.3
[1] Vgl. die zusammenfassende Dokumentation bei dem ‚Bilderberger-Jäger‘ Daniel Estulin (2011, 122 ff.). Dieser Literaturverweis auf die durchaus korrekt rekonstruierte Dokumentation der weltpolitischen Konzeption der genannten Kreise und Institutionen bedeutet nicht, dass die von Estulin eingeschätzte Konsequenz dieser Dokumentation übernommen wird, der hierin eine geheime Verschwörung des US-Großkapitals, insbesondere der Rockefeller-Gruppe, für eine Weltschattenregierung sieht, und daraus sein Plädoyer für die unbedingte Beibehaltung nationaler Strukturen ableitet. Es fehlen daher bei Estulin Überlegungen, wie auf einer globalen Ebene wirksam den sich hier ergebenden ökologischen, friedenspolitischen und sozialen Herausforderungen begegnet werden kann. Auch sind seine Einschätzungen hinsichtlich der Absolutheit der Macht einer klandestinen Weltregierung aus Multis, Politikern und Militärs m.E. zu weitgehend, übersehen die derzeitige Multipolarität globaler Machteinflüsse, unterschätzen die Aufmerksamkeit der Medien und befinden sich durch eine Vermischung von Fakten, Vermutungen und Ahnungen eher in der Nähe von Verschwörungserzählungen, vgl. hierzu auch Krauel (2014).
[2] Vgl. Schwab/ Malleret (2020)
[3] APEC=Asia-Pacific Economic Cooperation.
[4] NAFTA = North American Free Trade Agreement (Kanada, Mexiko, USA).
[5] Vgl. Hrbek/Weyand (1994, 166).
[6] Hierbei soll allerdings im weiteren Verlauf über das Verständnis des von Jürgen Habermas (1998) geprägten Begriffs der postnationalen Konstellation hinausgegangen werden, da Habermas – zumindest damals – weiterhin von der dominaten Bedeutung von Nationalstaaten bzw. eines nationalstaatlichen Verfassungspatriotismus im Kontext von transnationalen Strukturen ausging.
[7] Stock/Varwick/Windwehr (2015, 92 f.).
[8] Vgl. zur Kritik eines möglichen Missbrauchs des Konzepts ‚Global Government‘ bei Brand u.a. (2000, 129ff.).
[9] Vgl. hierzu auch Moegling (2019c und 2019e).
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[10] Vorbild könnte hier das Konzept der qualifizierten Mehrheit im Rat der EU sein: 55% der EU-Mitgliedstaaten stimmen für den Vorschlag – in der Praxis bedeutet das 15 von 27; der Vorschlag wird von EU-Mitgliedstaaten unterstützt, die zusammen mindestens 65% der Gesamtbevölkerung der EU ausmachen. Die Abstimmung mit einer ‚verstärkten qualifizierten Mehrheit‘ ist dort wie folgt geregelt: Mindestens 72% der Ratsmitglieder müssen mit ‚Ja‘ stimmen und diese mindestens 65 % der EU-Bevölkerung vertreten. Vgl. https://www.consilium.europa.eu/de/council-eu/voting-system/qualified-majority/, o.D., 22.4.21.
[11] Vgl. Leinen/Bummel (2017, 371ff.).
[12] In: https://de.unpacampaign.org/unterstuetzung/, o.D., 1.12..2019.
[13] Die UNPA-Kampagne ist nicht zu verwechseln mit einer anderen älteren (seit 1889) internationalen Anstrengung zum Aufbau einer weiteren weltweiten parlamentarischen Versammlung, der ‚Interparlamentarischen Union‘, die aus Vertreterinnen und Vertretern der verschiedenen nationalen Parlamente besteht, allerdings keine Direktwahl anstrebt. Die ‚Interparliamentary Union‘ versteht sich als internationales Beratungsgremium, das zur Stärkung nationaler Parlamente sowie zur internationalen Kooperation, z.B. inzwischen über ein Assoziierungsabkommen mit der UN-Generalvollversammlung, eingerichtet wurde. Sie setzt sich u.a. für Menschenrechte, die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlage sowie die Friedenssicherung vor allem auf der parlamentarischen Ebene ein (vgl. https://www.ipu.org/, vom 17.3.2019). Eine Kooperation von UNPA-Kampagne und Interparliamentary Union wäre erstrebenswert, wohingegen ein Konkurrenzverhalten hier kontraproduktiv wäre.
[14] In: https://www.epo.de/index.php?option=com_content&view=article&id=587:
europaparlament-fordert-demokratisierung-der-uno&catid=123&Itemid=139, vom 9.6.2005, entnommen am 17.3.2019.
[15] https://www.worldcitizensinitiative.org/, o.D., 29.4.2021
[16] UNWCI = United Nations World Citizens Initiative.
[17] In.https://www.worldcitizensinitiative.org/#:~:targetText=The%20idea%20of%20a%
20UN,floor%20to%20make%20their%20case., o.D., 25.11.2019.
[18] https://www.democracywithoutborders.org/de/gvp/, o.D., 29.4.2021
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Wechsel des Mediums:
Video
zur Diskussion mit Herfried Münkler, Hannah Birkenkötter und Klaus Moegling über die Zukunft der UNO und der multilateralen Zusammenarbeit
https://www.youtube.com/watch?v=V4nTQEKBGIw&feature=youtu.be
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Extra:
Entspannungspolitik konkret:
Auf dem Weg zu einer neuen Sicherheitsarchitektur: Wie ein Spannungsabbau zwischen Russland und der NATO gelingen kann.
Von Klaus Moegling
(zuletzt aktualisiert: 18.12.2021)
(Dieser Beitrag wurde ca. fünf Wochen vor dem Beginn der russischen Invasion geschrieben. Er hatte die Funktion - angesichts der zu erwartenden russischen Aggression zu verstärkten diplomatischen Bemühungen aufzurufen - leider vergebens, aber m.E. für die Zukunft immer noch relevant.)
Die kürzlich stattgefundenen Gespräche zwischen Joe Biden und Wladimir Putin sollten um Gespräche mit der EU und Xi Jinping erweitert werden. Diese Gespräche könnten der Beginn einer neuen Entwicklung hin zu Entspannung und Sicherheit sein. Erforderlich ist eine neue Sicherheitsarchitektur, die durch multilaterale Partnerschaft und durch den Abbau medial erzeugter Feindbilder gekennzeichnet ist. Die gegenwärtig eskalierende Situation an der russischen Westgrenze verweist auf die dringende Notwendigkeit, dass ernsthaft miteinander gesprochen und verhandelt wird.
Die Konstruktion von Feindbildern
Die Entwicklung gegenseitiger Feindbilder stellt die sozialpsychologische Voraussetzung für die Durchführung von Kriegen dar. Auf russischer Seite wird das Feindbild einer imperialistischen NATO bemüht, die primär das Interesse von US-Konzernen international durchzusetzen habe. Auf westlicher Seite wird das Feindbild eines militaristischen und aggressiven russischen Autokraten entwickelt. Russland wird als Staat dämonisiert. Ähnliches entwickelt sich zwischen den USA und China.
Die gegenseitige Feindbildkonstruktion, die häufig durch dementsprechende Berichterstattung in den Medien intensiviert wird, hat verschiedene Funktionen. Sie lenkt von innenpolitischen Schwierigkeiten ab, erhält militärische Strukturen, unterstützt die Existenz des militärisch-ökonomischen Komplexes, erhöht die Kampfbereitschaft in der Bevölkerung und schafft die Voraussetzung für militärische Interventionen mit einem geostrategischen bzw. machtpolitischen Hintergrund.
Wie könnte man also der gegenseitigen Feindbildkonstruktion die Voraussetzungen entziehen?
Zur Rolle von politischen Visionen
Kurzfristige Realpolitik in den internationalen Beziehungen ist häufig nicht genügend an längerfristigen politischen Zielsetzungen orientiert. Doch politische Visionen, also langfristige Entwürfe einer sinnvollen zukünftigen politischen Neuordnung [1], sollten in einem positiven Sinne die Normen gegenwärtigen politischen Handelns in der internationalen Politik bestimmen. Immanuel Kant hätte in seinen Überlegungen ‘Zum ewigen Frieden‘ [ 2] ohne eine positive Vision gesellschaftlicher Entwicklung nicht die ideellen Grundlagen der Vereinten Nationen entwickeln können.
Eine auf der Kritik realer Verhältnisse und auf ethischen Idealen einer gemeinsamen, demokratischen, gerechten, friedlichen und ökologisch vertretbaren Entwicklung basierende Vision gesellschaftlicher Neuordnung stellt die Voraussetzung dafür dar, dass die gegenwärtigen politischen Schritte nicht orientierungslos ausfallen, den interessierten Machteliten bzw. den herrschenden Mächten überlassen bleiben.
Hierbei kann man einer politischen Vision nicht vorwerfen, sie sei visionär und nicht sofort umsetzbar. Das Visionäre ist ja der Kern einer Vision. Sie stellt – im positiven Sinne - eine in die Zukunft gedachte vernünftige politische Entwicklungsabsicht dar. Die an einer derartigen Vision ausgerichteten ersten Schritte müssen allerdings realistisch am Ist-Zustand ausgerichtet sein. Hierbei sollte eine eher optimistische Grundhaltung das bestimmende Moment sein, ohne die keine Motivation für konkrete Schritte in eine sinnvolle friedenspolitische Richtung entstehen kann. Ein pessimistisch ausgerichteter realpolitischer Habitus stellt hingegen ein Hemmnis für eine friedliche Entwicklung dar, da er den Völkern keine gemeinsame Entwicklungschance zutraut.
Die friedenspolitische Initiative ‚Sicherheit neu denken‘ bzw. ‚Rethinking Security‘ entwickelt daher ein Positivszenario friedenspolitischer Entwicklung, das von folgenden Prämissen ausgeht:
„Nachhaltige zivile Sicherheitspolitik beruht auf einer Friedensethik, in der sich die Gedanken und Handlungen nicht nur auf die eigenen nationalen Interessen beziehen, sondern zugleich reflektieren, welche Folgen diese für die Menschen in anderen Ländern haben. Sicherheit besteht in dieser Perspektive (nur) als gemeinsame Sicherheit aller Beteiligten. Das gilt sowohl für den Einzelnen in seinem privaten Alltag als auch für die Akteure in Wirtschaft, Politik, Kultur, Erziehung und Wissenschaft. In diesem Szenario entwickelt die Gesellschaft als Ganze eine Orientierung gemeinsamer Sicherheit als Weg und Ziel, um der Kultur der Gewalt entgegentreten und eine Kultur des Friedens entwickeln zu können.“ [ 3]
Die NATO und Russland
Die NATO rückt immer näher an die Westgrenze Russlands bzw. der Russischen Föderation heran. Dies ist unbestreitbar. Ehemalige Staaten des Warschauer Pakts wurden zu NATO-Staaten. Militärische NATO-Strukturen wurden in diesen Staaten aufgebaut. Umfassende Militärmanöver einer hinsichtlich konventioneller Waffen vielfach überlegenen NATO fanden an der russischen Westgrenze statt. Es ist daher nachvollziehbar, dass Russland sich bedroht fühlt, nachdem es im vergangenen Jahrhundert zwei Mal in Weltkriege mit schrecklichem Blutzoll verwickelt wurde. Genauso fühlen sich hingegen die osteuropäischen Staaten durch russische Truppenkonzentrationen und Militärübungen bedroht, da sie die russischen Interventionen in der Krim und der Ostukraine vor Augen haben.
Abrüstungsverträge, wie z.B. der „Intermediate Range Nuclear Forces Treaty“ (INF-Vertrag), wurden aufgekündigt. Beide Seiten rüsten wieder rücksichtslos auf – auch im Bereich der Nuklearwaffen. Maßnahmen zur militärpolitischen Transparenz wurden abgeschafft. So erfolgte 2020 bzw. 2021 der Austritt der USA und Russlands aus dem 1992 beschlossenen ‚Treaty on Open Skies‘, der die gegenseitige Kontrolle von Rüstungsmaßnahmen und Truppenbewegungen erleichtern sollte.
Einerseits hat sich die NATO entgegen der 1990 zunächst geäußerten, aber nie vertraglich geregelten Absichten, in Richtung Osteuropa bis an die Grenzen der Russischen Föderation ausgebreitet. Dies wird von russischer Seite als Wortbruch und als Gefährdung ihrer Sicherheit empfunden. Andererseits gilt auch das in der UN-Charta verankerte Selbstbestimmungsrecht der Völker. Einem Staat kann daher auf der Grundlage des geltenden Völkerrechts nicht vorgeschrieben werden, welchem Bündnis er beizutreten hat.
Die Waffenlieferungen in die Ukraine und deren Bestrebungen, in die NATO einzutreten, und die dadurch von Russland empfundene Bedrohung führten nun zur aktuellen Truppenkonzentration an der russischen Westgrenze. Die NATO-Staaten und die EU drohen hingegen mit massiven Sanktionen, falls Russland militärisch in der Ukraine intervenieren wird.
Wie kann man nun dieses gegenseitige Bedrohungspotenzial reduzieren und zu gemeinsamen Verhandlungen sowie wieder zu einer gemeinsamen Sicherheitsarchitektur gelangen?
Die NATO sollte der Russischen Föderation ein Angebot unterbreiten
In der „Charta von Paris“ von 1990 [4] wurde eine neue Sicherheitsarchitektur Europas unter Einschluss Russlands entworfen:
„In Übereinstimmung mit unseren Verpflichtungen gemäß der Charta der Vereinten Nationen und der Schlussakte von Helsinki erneuern wir unser feierliches Versprechen, uns jeder gegen die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit eines Staates gerichteten Androhung oder Anwendung von Gewalt oder jeder sonstigen mit den Grundsätzen oder Zielen dieser Dokumente unvereinbaren Handlung zu enthalten. Wir erinnern daran, dass die Nichterfüllung der in der Charta der Vereinten Nationen enthaltenen Verpflichtungen einen Verstoß gegen das Völkerrecht darstellt.
Wir bekräftigen unser Bekenntnis zur friedlichen Beilegung von Streitfällen. Wir beschließen, Mechanismen zur Verhütung und Lösung von Konflikten zwischen den Teilnehmerstaaten zu entwickeln.“
So war die russische Seite in diesem Sinne noch Anfang des 21. Jahrhunderts nicht abgeneigt, über eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur und eine Annäherung an die NATO zu verhandeln. Wladimir Putins Rede am 21.9.2001 vor dem Deutschen Bundestag enthielt friedenspolitische Angebote, die in diese Richtung zielten:
„Niemand bezweifelt den großen Wert der Beziehungen Europas zu den Vereinigten Staaten. Aber ich bin der Meinung, dass Europa seinen Ruf als mächtiger und selbstständiger Mittelpunkt der Weltpolitik langfristig nur festigen wird, wenn es seine eigenen Möglichkeiten mit den russischen menschlichen, territorialen und Naturressourcen sowie mit den Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungspotenzialen Russlands vereinigen wird.“ [5]
Doch die von russischer Seite ausgestreckte Hand wurde aufgrund verschiedener westlicher Interessenslagen nicht angenommen und ignoriert. Die westliche Ablehnung Putins, der Ausbau der NATO einerseits und die unter menschenrechtlichen und demokratischen Perspektiven zu kritisierende Entwicklung in Russland andererseits sind daher in einem Zusammenhang zu sehen. Wie hätte sich wohl Russland entwickelt, wäre es zu einem gemeinsamen Sicherheitsbündnis und einer verstärkten politischen und ökonomischen Kooperation gekommen?
Diese damals angelegte Entwicklung gilt es nun aber wieder aufzugreifen, ehe es zu spät ist.
Hierbei geht es um die politische Vision einer internationalen Zusammenarbeit in Europa unter Einbezug Russlands und um die wieder herzustellende und zu erweiternde Vernetzung der NATO mit Russland bzw. der Russischen Föderation. [6]
Der Russischen Föderation ist in einem ersten Schritt von Seiten der NATO ein Angebot einer Annäherung an die NATO mit dem mittelfristigen Ziel einer gemeinsamen tragfähigen Sicherheitsarchitektur zu unterbreiten. Dies kann im Rahmen der 1990 in der ‚Charta von Paris‘ festgelegten friedenspolitischen Normen unter der zu leistenden Vermittlung der EU und der OSZE erfolgen - so in der ‚Charta von Paris':
„Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden. Wir verpflichten uns daher, bei der Festigung von Vertrauen und Sicherheit untereinander sowie bei der Förderung der Rüstungskontrolle und Abrüstung zusammenzuarbeiten.“ [7]
Hierbei kann auf bereits früher existierende Strukturen zurückgegriffen werden, wie sie unter dem Dach der ehemaligen KSZE (heute OSZE) vorgenommen wurden. Wieder herzustellen wäre auch Russlands Status bei der NATO im Rahmen des NATO-Russland-Rats, der durch die gemeinsame Unterzeichnung der „Erklärung von Rom“ (2002) festgelegt wurde. Hierfür müsste zunächst die Ausweisung russischer Vertreter bei der NATO rückgängig gemacht werden. Genauso sind das Zurückziehen aller russischen Vertreter aus der NATO sowie der Entzug der diplomatischen Akkreditierung der NATO-Vertreter in Moskau zu revidieren.
In einem nächsten Schritt sind die Neuverhandlung der aufgekündigten Abrüstungsverträge unter Vermittlung der OSZE vorzunehmen und weitere Abrüstungsschritte einzuleiten. Hierüber hinaus sind die Verabredung gemeinsamer Sicherheitsstrategien sowie technologischer Zusammenarbeit im Rahmen der Absprachen im wieder zu aktivierenden NATO-Russland-Rat sinnvoll. Insbesondere gilt es die Transparenz über die gemeinsame Kooperation zu erhöhen, z.B. den „Treaty on Open Skies“ wieder zu aktivieren, und regelmäßige Treffen und Gespräche institutionalisiert aufzunehmen.
Die aktuellen russischen Forderungen, dass die NATO ihre Truppen auf die Positionen hinter 1997 – also vor der Osterweiterung der NATO um Staaten wie z.B. Polen, Ungarn oder Bulgarien – zurückziehen solle und dass die NATO eine Mitgliedschaft für die Zukunft ausschließen solle, scheinen für die NATO nicht akzeptabel zu sein. [8] Dennoch liegt hierin zumindest ein Verhandlungsansatz begründet, über den miteinander gesprochen werden könnte.
Es wäre z.B. möglich, z.B. über die Aktivierung des Normandie-Formats, mit oberster Priorität kurzfristig die 400 km lange und im Vertrag von Minsk II 2015 festgelegte militärische Pufferzone durchzusetzen und dort für die notwendige Entspannung einer aktuell eskalierenden Situation zu sorgen. Truppen und schweres militärisches Gerät müssen auf beiden Seiten aus der Nähe des ostukrainischen Krisengebiets zurückgezogen werden. Zudem müsste mittelfristig zwischen allen beteiligten staatlichen und transnationalen Akteuren ein militärfreier Sicherheitskorridor zwischen den osteuropäischen NATO-Staaten und der angrenzenden Russischen Föderation insgesamt verabredet werden, um den gemeinsamen Sicherheitsinteressen zu entsprechen.
In einem dritten Schritt sind weitere wichtige Akteure, wie die UNO sowie die chinesische Regierung in die Gespräche über eine zu erweiternde internationale Sicherheitsarchitektur einzubeziehen, u.a. mit dem Ziel eines bedeutenden und vertraglich abgesicherten Beitrags für die Abrüstung im konventionellen und nuklearen Bereich der existierenden Waffenarsenale.
Hierbei ist diese Sicherheitsarchitektur über die UN-Generalversammlung und den UN-Sicherheitsrat zu legitimieren und zu institutionalisieren.
Angesichts der derzeit eintretenden militärischen Bedrohungsszenarien an der osteuropäischen Grenze erscheinen derartige sicherheitspolitische Schritte ausschließlich realpolitisch ausgerichteten Skeptikern wahrscheinlich abwegig. Doch gerade angesichts der aktuellen Kriegsgefahr ist ein Umlenken dringend erforderlich. Ein Krieg zwischen der NATO und der Russischen Föderation wird nur Verlierer kennen. Sowohl im Falle eines mit konventionellen Mitteln als auch nuklear ausgetragenen militärischen Konflikts werden wieder Millionen Menschenleben als Opfer zu beklagen sein, wird möglicherweise eine militärische Eskalation verursacht, die nicht mehr zu stoppen ist und welche die Grundlagen menschlicher Zivilisation zerstören wird. Hierbei kann die massive Überlegenheit der NATO im konventionellen Waffenbereich [9] dazu führen, dass Russland im Falle militärischer Unterlegenheit Nuklearwaffen einsetzt.
Ist es angesichts dieses durchaus realistischen Zukunftsszenarios nicht wert, über eine konsequente Neuordnung der internationalen Strukturen nachzudenken?
Vorteile einer neuen Sicherheitsstruktur
Die sicherheitspolitische Neuordnung der internationalen Beziehungen müsste von den ebenfalls zu reformierenden Vereinten Nationen [10] im UN-Sicherheitsrat und der UN-Generalversammlung begleitet und legitimiert werden. Der dann zu vollendende Prozess einer Annäherung und die wieder zu beginnende Kooperation der Russischen Föderation mit der NATO müsste mit einer Umstrukturierung der NATO zu einem echten Verteidigungsbündnis unter Verzicht von Angriffswaffen und u.a. mit einem Angebot an die VR China für eine umfassende Sicherheitspartnerschaft zwischen NATO, EU, Russischer Föderation und der VR China verbunden sein, damit sich diese nicht durch ein neues Sicherheitsbündnis der NATO und der russischen Föderation militärisch bedroht fühlt.
Durch eine derartige Sicherheitsarchitektur von New York, über Brüssel, Moskau bis nach Peking würde die Notwendigkeit, sich mit der manipulativen Konstruktion gegenseitiger Feindbilder gegenseitig zu bedrohen, wegfallen. Der Feind würde abhandenkommen und zu einem Partner im Rahmen einer gemeinsamen Sicherheitspartnerschaft werden. Das kurzfristige Ziel wäre eine sicherheitspolitische Partnerschaft. Doch das mittelfristige Ziel wäre eine gute Nachbarschaft befreundeter Staaten im Kontext einer zu reformierenden UN.
Ein weiterer Vorteil würde in der Umlenkung gesellschaftlicher Ressourcen in eine konstruktive Richtung liegen. Zunächst würde das neue Sicherheitsbündnis über gemeinsame Verhandlungen die Rüstungsinvestitionen einfrieren, um die Rüstungsspirale zu stoppen. In einem nächsten Schritt gilt es dann, die Investitionen in Waffensysteme bis auf das notwendige Minimum im Rahmen der durch die UN kontrollierten weltpolizeilichen Maßnahmen [11] zu reduzieren, so dass gewaltige Finanzmittel für das globale Engagement gegen die Klimakrise, gegen den Welthunger und für die notwendigen Investitionen in soziale Absicherung frei werden. Es geht hierbei um einen umzulenkenden gigantischen Betrag von ca. 20 Billionen US Dollar in den nächsten 10 Jahren.
Letztlich werden alle Beteiligten – bis auf die Rüstungsindustrien – Gewinner der Einlösung dieser politischen Vision sein. Doch auch die Rüstungsindustrien könnten zum ökonomischen Gewinner dieser sicherheitspolitischen Umorientierung werden, wenn sie ihre Rüstungskonversion und die damit verbundene Stärkung ihrer zivilen Produktionszweige ernsthaft vornehmen würden. [12]
Fazit
Hiermit ist ein umfassender Vorschlag für die Gestaltung einer zukünftigen Sicherheitsarchitektur skizziert, der nicht ignoriert werden sollte. Über die Kooperation auf allen wichtigen Ebenen werden Vertrauen und damit Sicherheit aufgebaut. Es gilt nun, den hier vorgelegten Vorschlag in den entsprechenden Institutionen und Gremien zu diskutieren, auch parteipolitisch aufzugreifen, weiter auszudifferenzieren und dann Schritt für Schritt umzusetzen.
Hierbei seien sowohl die EU, die Russische Föderation und die NATO an Putins Worte im Rahmen seiner 2001 im Deutschen Bundestag vorgetragene Rede erinnert:
„Die Welt befindet sich in einer neuen Etappe ihrer Entwicklung. Wir verstehen: Ohne eine moderne, dauerhafte und standfeste internationale Sicherheitsarchitektur schaffen wir auf diesem Kontinent nie ein Vertrauensklima und ohne dieses Vertrauensklima ist kein einheitliches Großeuropa möglich. Heute sind wir verpflichtet, zu sagen, dass wir uns von unseren Stereotypen und Ambitionen trennen sollten, um die Sicherheit der Bevölkerung Europas und die der ganzen Welt zusammen zu gewährleisten.“ [13]
Das gegenwärtige Bedrohungsszenario und die gegenseitigen Drohgebärden im Zusammenhang mit der russischen Truppenkonzentration an der Grenze zur Ostukraine und den entsprechenden militärischen Maßnahmen der NATO und der ukrainischen Regierung sind hingegen äußerst kontraproduktiv. Hier sollten die NATO und die EU an die Charta von Paris (1990) und die Russische Föderation an Putins Rede vor dem Deutschen Bundestag (2001) erinnert werden. Darin sind die Normen und Werte sowie die sicherheitspolitischen Strategien und Verhaltensweisen enthalten, die für eine Deeskalation der gegenwärtigen Bedrohungslage notwendig sind. Hören Sie auf, sich zu bedrohen, reden Sie endlich wie erwachsene, reife Menschen miteinander!
Die Welt kann sich keine weitere Vergeudung gesellschaftlicher Ressourcen leisten. Die gemeinsamen Kräfte müssen global gebündelt werden, um die gegenwärtigen Bedrohungen, wie die Klimakrise, militärische Konflikte, Pandemien oder wachsende soziale Unterschiede, zu bekämpfen. Der NATO, der Russischen Föderation, der VR China, der EU und der OSZE sowie vor allem der UNO kommen hier die entscheidenden Aufgabenstellungen in Zusammenarbeit aller Staaten und transnationalen Regionen zu, um einen dritten Weltkrieg zu vermeiden und auch den nächsten Generationen einen lebenswerten Planeten zu hinterlassen.
(Der Autor bedankt sich für alle hilfreichen Kommentierungen, insbesondere aus der Friedensbewegung, die zu einer Weiterentwicklung des Beitrags geführt haben.)
[1] Vgl. Moegling, Klaus (2021): Realignment. A peaceful and sustainably developed world is (still) possible., u.a. publiziert im open access: https://www.klaus-moegling.de/international-edition/, 14.12.2021.
[2] Vgl. Kant, Immanuel (1796): Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. Königsberg.[3] Becker, Ralf/Maaß, Stefan/Schneider-Harpprecht, Christof (Hrsg.) (2021): Sicherheit neu denken. Karlsruhe. https://www.sicherheitneudenken.de/media/download/variant/248631/d---kurzfassung_2021_web.pdf, 15.12.2021. Siehe auch entsprechende Ansätze in der englischsprachigen Ausgabe ‚Rethinking Security‘: https://www.sicherheitneudenken.de/media/download/variant/186330/rethinking_security_abridged_version2019.pdf , 15.12.2021.
[4] Text der ‚Charta von Paris‘: https://www.kas.de/de/statische-inhalte-detail/-/content/charta-von-paris-fuer-ein-neues-europa-vom-21.-11.-1990, 14.12.2021.
[5] Zitat aus der Rede Wladimir Putins vor dem Deutschen Bundestag am 25.9.2001, Quelle: https://www.bundestag.de/parlament/geschichte/gastredner/putin/putin_wort-244966, 14.12.2021.
[6] Russland bezeichnet sich selbst als Russische Föderation mit u.a. 22 teilautonomen Republiken.
[7] Charta von Paris (1990): a.a.O.
[8] Vgl. https://www.tagesschau.de/ausland/ukraine-konflikt-russland-ende-nato-osterweiterung-101.html, 17.12.2021, 18.12.2021 und https://www.t-online.de/nachrichten/ausland/krisen/id_91342572/ukraine-konflikt-nato-bietet-russland-vertrauensbildenden-dialog-an.html, 17.12.2021, 18.12.2021; die Links zu den beiden russischen Offerten finden sich unter:
https://mid.ru/ru/foreign_policy/rso/nato/1790818/?lang=en
https://mid.ru/ru/foreign_policy/rso/nato/1790803/?lang=en&clear_cache=Y, 17.12.2021, 23.12.2021.
[9] Allein das NATO-Mitglied USA hat 2020 insgesamt 778 Milliarden US-Dollar in Rüstung investiert, wogegen Russland mit 61,7 Milliarden US Dollar nicht einmal ein Zehntel dessen für Rüstungsgüter und -dienstleistungen aufgebracht hat (vgl. SIPRI (2021):
Trends in world military ependiture, 2020. In: https://www.sipri.org/sites/default/files/2021-04/fs_2104_milex_0.pdf, 4/2021, 30.4.21).
[10] Vgl. zur Reform der UN u.a. Leinen, Jo/Bummel, Andreas (2018): A World Parliament: Governance and Democracy in the 21st Century. Bonn: J.H.W. Dietz-Verlag. Moegling (2021): a.a.O., Zumach, Andreas (2021): Reform oder Blockade. Welche Zukunft hat die UNO? Zürich: Rotpunktverlag.
[11] Vgl. Vgl. das Zusammenspiel zwischen zivilen Konfliktpräventionsmaßnahmen und weltpolizeilichen Maßnahmen in: https://www.sicherheitneudenken.de/sicherheit-neu-denken-unsere-vision/downloads/, 14.12.2021.
[12] Zur Rüstungskonversion vgl. u.a. Rieger, Anne (2021): Rüstungskonversion: das Gebot der Stunde. In: Henken, Lühr (Hrsg.) (2021): Weltkriegsgefahren entgegentreten. Wandel zum Frieden einleiten. Kassel: Verlag Winfried Jenior, S. 40-58. Vgl. auch https://ruestungskonversion.de/, 14.12.2021.
[13] Zitat aus Putin (2001): a.a.O.
Der gleiche Artikel wurde in 'Telepolis' mit ca. 280 Kommentierungen veröffentlicht:
Klaus Moegling:
Welcher Weg führt zu einer neuen Sicherheitsarchitektur?
Vorschläge für einen Spannungsabbau zwischen Russland und der Nato.
https://www.heise.de/tp/features/Welcher-Weg-fuehrt-zu-einer-neuen-Sicherheitsarchitektur-6304349.html
(22.12.2021)
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5.4 Kann die EU eine zentrale Rolle bei Abrüstung und Rüstungskontrolle einnehmen?
Die EU befindet sich am sicherheitspolitischen Scheideweg. Der Krieg in der Ukraine scheint sie in eine langfristige Aufrüstungsphase zu zwingen. Aber wie zwangsläufig ist diese Aufrüstungsdynamik wirklich und welche sicherheitspolitischen Alternativen gäbe es?
Von Europa ausgehend nahm sowohl die Aufklärung als auch die Kolonialisierung ihren Anfang. Europa ist der Ort, an dem sich Nationen in Dutzenden blutiger Kriege auf das Heftigste bekämpft haben – eine historische Tatsache, deren schreckliche Erfahrungen aber auch die Voraussetzung für den Versuch waren, miteinander in weiten Teilen Europas friedlich zusammenzuarbeiten und transnationale Strukturen in Form der Europäischen Union zu bilden.
Wäre daher Europa als Kontinent und als Europäische Union nicht besonders geeignet, die Friedenssache voranzubringen? Die historische Rolle vieler europäischer Staaten im Rahmen der damaligen KSZE-Verhandlungen stimmt zunächst optimistisch, dass Europa grundsätzlich dazu in der Lage wäre, zur weltweiten Entspannung beizutragen. [ 1] Aktuelle Entwicklungen zeigen jedoch, dass zumindest die EU mehr auf Waffen als auf Diplomatie und eine gesamteuropäische Sicherheitsordnung vertraut. Ein 800 Milliarden EURO teures Aufrüstungspaket ist mit der Begründung geschnürt, gegen ein aggressives Russland verteidigungsfähig zu sein. Auch das im März 2025 veröffentlichte Weißbuch der EU legt einen eher bellizistischen Kurs der EU an, um bis 2030 als EU verteidigungsfähig zu sein ("White Paper for European Defense-Readiness 2030") Jedoch müssten Friedensfähigkeit und europäische Zusammenarbeit im Vordergrund stehen, die durchaus eine notwendige Verteidigungsfähigkeit mit Augenmaß enthalten könnte.
Es ist noch nicht entschieden, ob der Friedensnobelpreis für die EU berechtigt war.
Die EU erhielt 2012 den Friedensnobelpreis für ihre friedenssichernde Funktion und ihre multilateralen Vermittlungsaktivitäten. Die Frage ist allerdings noch nicht entschieden, ob dieser Friedensnobelpreis zu Recht vergeben wurde. Entscheidend bei der Klärung dieser Frage dürfte sein, inwieweit sich der Teil Europas, der in der EU repräsentiert ist, sich in Zukunft militarisieren und versuchen wird, ihre globalen politischen und ökonomischen Interessen primär mit militärischer Gewalt durchzusetzen und zu sichern.
Der Politikwissenschaftler Werner Ruf stellt die Verbindung zwischen Neoliberalisierung und Militarisierung der EU her. Er analysiert die Beziehung zwischen der auch von der EU betriebenen neoliberalen Öffnung der Märkte in den nordafrikanischen Staaten, wie z.B. Tunesien oder Marokko, und der durch den Wegfall von Schutzzöllen und europäischer Marktinvasion bedingten schleichenden Enteignung der Bewohner. Diese Enteignung ging einher mit der Verringerung der staatlichen Steuerungsfähigkeit in diesen Ländern, den durch die extreme Absenkung des Lebensstandards maßgeblich bedingten Migrations- und Fluchtbewegungen und dem damit verbundenen Aufbau der Festung Europa. Er fasst seine Analyse wie folgt zusammen:
„Die Öffnung der Märkte liefert die Bausteine für die Transformation Europas zur Festung, die beschworenen gemeinsamen Werte geraten zu einer immer durchsichtigeren Tünche, die die Doppelstandards des Menschenrechtsdiskurses und die zunehmende Militarisierung des einstigen Friedensprojekts immer schlechter kaschieren kann.“
(Ruf 2018, 101) [2]
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Angesichts dieser problematischen Entwicklung gelte es, der ursprünglichen Friedensidee Europas, die letztlich die ethische Fundierung im normativen Selbstanspruch der Gründungsphase der europäischen Vereinigung war, tatsächlich Geltung zu verschaffen und auch der Verleihung des Friedensnobelpreis eine Realität friedensschaffender Maßnahmen folgen zu lassen.
Dies hätte m.E. zunächst bedeutet, dass die seit spätestens 2010 festgefahrenen OSZE-Verhandlungen wieder belebt werden und sich eine verbindliche Agenda geben müssten. Dies wäre der geeignete institutionelle Rahmen, in den sich u.a. die EU friedenssichernd einzubringen hätte. Hier hätte an eine friedensstiftende Verhandlungstradition angeknüpft werden können, die dann auch zu einem wesentlichen Bestandteil einer positiven europäischen Identität im weltbürgerlichen Bewusstsein werden könnte.
Doch die russische Aggression gegen den ukrainischen Staat [3], lässt dies wohl in weite Ferne rücken. Sicherlich kann die EU nicht tatenlos zusehen, dass in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft ein Staat zerstört, ein systematischer Beschuss ziviler Objekte, eine Zerstörung der Infrastruktur erfolgt sowie Tausende Menschen getötet werden. Es ist völkerrechtlich notwendig und moralisch gerechtfertigt, dass die EU-Staaten die Ukraine u.a. auch militärisch unterstützen. Doch die Unterstützung der Ukraine im Widerstand gegen einen bewaffneten russischen Aggressor müsste gleichzeitig von einer geschlossenen Verhandlungsmacht der EU und entsprechenden Verhandlungsangeboten an die am Krieg beteiligten Akteure begleitet sein. Nur über die Verbindung von einer umfassenden Unterstützung der sich wehrenden Ukraine im Sinne der UN-Charta mit beständig angebotenen Verhandlungsoptionen durch die EU an beide Seiten ist ein Waffenstillstand und die gemeinsame Entwicklung eines Friedensplans bzw. einer europäischen Sicherheitsordnung möglich. [4]
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Sicherheitsarchitektur von Lissabon bis Wladiwostok?
Erst nach der Beendigung des Ukraine-Kriegs könnten Ansatzpunkte für kommende OSZE-Verhandlungen zunächst im Verbot von Waffenexporten in Spannungsgebiete liegen – abgesehen von der Unterstützung angegriffener Staaten. Das größere Projekt aber liegt dann sicherlich in der Abrüstung der Vertragsstaaten über die (Re)Installierung entsprechender Abrüstungsverträge – auch in Verhandlung mit Staaten außerhalb der OSZE. Natürlich gehört hierzu auch die Ratifizierung des von ICAN voran getriebenen UN-Verbotsvertrags für Nuklearwaffen im Rahmen einer internationalen Ratifizierungsbewegung.
Dies wäre auch dringend notwendig: Die USA planen den größten Rüstungsetat seit ihrem Bestehen. Russland kündigt ein neues Programm für urangetriebene Atomraketen an, die jeden Ort auf der Erde erreichen und nationale Verteidigungsmaßnahmen umgehen können. China investiert einen großen Teil seines für ökologische und soziale Maßnahmen erforderlichen Staatshaushalts in die Rüstung. Saudi-Arabien investiert seine Ölmilliarden in der Auseinandersetzung mit dem Iran und dem Stellvertreterkrieg im Jemen in Waffentechnik. Die USA und Russland haben ihre nuklearen Abrüstungsverträge aufgekündigt. Frankreich und GB arbeiten an der Modernisierung ihrer Nuklearwaffen. Deutschland plant Atomwaffen taugliche Kampfjets anzuschaffen. Im Jahr 2026 sollen Atomwaffen fähige US-Mittelstreckenraketen in Deutschland unter US-Kommando stationiert werden.
Gerade die Voraussetzungen und die Entwicklung im Krieg in der Ukraine zeigen die Problematik der nuklearen Bedrohung bei einem konventionell geführten Krieg. Unverhohlen droht die russische Regierung mit dem Einsatz von Atomwaffen, indem sie die Einsatzbereitschaft ihrer Nuklearwaffen im Zuge des Kriegs in der Ukraine demonstrativ erhöht hat. Putin droht zu Beginn des Krieges offen damit, dass jeder – so auch dann Europa – der sich einmische und Russland bedrohe, etwas erleben werde, dass er historisch noch nie erlebt habe. [5] Die nukleare Gefahr zeigt sich allerdings im Ukraine-Krieg in doppelter Perspektive: Als Bedrohung durch Atomwaffen und als Gefährdung der Kernkraftwerke, die zur Waffe im Krieg werden. [6]
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Der österreichische Friedensforscher Thomas Roithner stellt fest, dass sich Europa, angelegt durch den Vertrag von Lissabon (2007) in die Reihe der politischen Mächte einzuordnen versucht, die hochrüsten, und entwickelt hier gegen gewandt einen Vorschlag für ein ziviles Kerneuropa (Roithner 2020, 213f.). Auch der deutsche Politikwissenschaftler Werner Ruf geht davon aus, dass die EU sich auf dem Weg zu einem militärischen ‚Global Player‘ begeben möchte (Ruf 2020) [7] und fordert eine sicherheitspolitische Rückkehr im Sinne von diplomatischer Friedenssicherung und unterstützender Entwicklungspolitik ein. Er fordert noch weitergehender sogar eine Sicherheitsarchitektur von Lissabon bis Wladiwostok. Diese Vision wendet der ehemalige russische Präsident und aktuelle stellvertretende Chef des russischen Sicherheitsrat Dmitri Medwedew ebenfalls an und bezieht sich hierbei auf eine nationalchauvinistische Sichtweise aus russischer Perspektive. Er vergleicht die Ukraine mit dem Dritten Reich. Der Zusammenbruch dieses nazistischen Systems könne die Befreiung für ein „offenes Eurasien von Lissabon bis Wladiwostok“ sein. [8] Gleichzeitig spricht Putin vom Konzept der russischen Welt, der „Russki Mir“, die es international zu schützen gelte. [9] Hier wird deutlich, dass die Forderung nach einem eurasischen Friedensraum nur anzustreben ist, wenn dies tatsächlich transnational gedacht und unabhängig von nationalchauvinistischer und völkischer Verformung entwickelt wird.
Wie wird sich die EU nun verhalten?
Wird Europa ebenfalls weiter hochrüsten oder eine friedensstiftende Macht sein, die ihre politische und ökonomische Macht auf diplomatischem Wege friedensbewahrend einsetzt? Wird die EU weiterhin einen eher bellizistischen Kurs im Krieg in der Ukraine fahren oder wird sie prioritär diplomatische Initiativen und Kompromisslösungen unterstützen? Wie wird sich ein Staat, wie z.B. die ökonomisch starke Bundesrepublik Deutschland, hier einbringen – als Vertreter von Diplomatie und Multilateralität oder als Vertreter einer Militarisierung der EU? [10] Wird die EU in Auseinandersetzung mit den globalen Großmächten (USA, Russland, China) sich dafür einsetzen, dass Atomsprengköpfe und Trägerraketen verringert werden bis hin zum völligen Verbot nuklearer Waffen, Tellerminen verboten, chemische und biologische Waffen weiterhin vernichtet werden, die konventionelle Rüstungsindustrie sich in eine Friedensindustrie konvertiert? Wird die EU den Export von Waffen in Spannungsgebiete verbieten oder ihn weiter wie bisher betreiben? Wird die EU darauf bestehen, dass Staaten, Gruppierungen und Unternehmen, die zur Umweltzerstörung durch den Einsatz von Waffentechnik beitrugen, zur Finanzierung der Schadensbeseitigung herangezogen werden? Oder wird die EU die Rüstungsindustrie im Rahmen ihrer Taxonomie als nachhaltig einstufen und den Nachhaltigkeitsbegriff erneut pervertieren?
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Wird die EU ihre im Rahmen von GASP und PESCO [11] angestrebte Erhöhung der nationalen Wehretats auf einen Anteil von 2% am Bruttoinlandsprodukt zugunsten eines höheren Etats für internationale Entwicklungsaufgaben aufgeben? Wird ein Abbau eigenständiger nationaler militärischer Strukturen zugunsten europäischer Verteidigungsbemühungen zur aggressiven Militarisierung der EU oder zu einer erheblichen Friedensdividende führen, mit deren Erlös die globalen Probleme angegangen werden können? Oder wird die EU den russischen Überfall auf die Ukraine zu einer langfristig angelegten Aufrüstung nutzen zulasten der Entwicklungsförderung?
Lässt sich die Finanzierung des „Future Combat Air System“ (FCAS) mit einer Kombination aus Atomwaffen tauglichen Tarnkappenbombern, begleitenden Drohnenschwärmen sowie digital vernetzten Kampfmitteln wie Kriegsschiffen und Panzern neuerer Generation noch verhindern, welches der Rüstungsindustrie Milliardengewinne beschert und die Zukunftsressourcen Europas mit diesem gigantischen Zerstörungsprogramm an militärische Destruktivität bindet?
Von der Beantwortung dieser Fragen wird die Beurteilung abhängen, ob die Verleihung des Friedensnobelpreises für die Europäische Union vorschnell oder tatsächlich berechtigt gewesen war.
Auf jeden Fall liegt in der Europäischen Union immer noch eine große Chance begründet, nationalstaatliche Grenzen – trotz aller Rückschläge – Schritt für Schritt zugunsten einer transnationalen Regionalisierung zu überwinden, damit einerseits die nationalstaatlichen bzw. nationalchauvinistisch begründeten Kriegsideologien innerhalb Europas weiterhin zu entschärfen und andererseits zu einer transnationalen und überregionalen Handlungsperspektive hinsichtlich einer globalen Sicherheitspolitik zu finden. Eine weitere Aufrüstung und Militarisierung der EU ist – auch im Zuge des Ukraine-Kriegs – nicht als zwingend anzusehen. Kein anderer transnationaler Staatenverbund im globalen Kontext weist eine derartige Historie gemeinsamer Verständigung, einer Abkehr von zwischenstaatlicher Aggression bei gleichzeitiger Entwicklung gemeinsamer demokratischer Institutionen und Verfahren wie die EU auf. Hierbei spielt sicherlich das historische Gedächtnis der EU-Staaten eine zentrale Rolle, die in den letzten Jahrhunderten vielfach erlebt haben, wie vernichtend sich militärische Aggression auf das Zusammenleben der europäischen Staaten auswirkte.
Sicherlich wird auch eine Rolle spielen, wer sich durchsetzen wird: Die Wirtschaftskräfte, die von einer weiteren Aufrüstung profitieren, oder die auf den internationalen Handel und damit auf friedliche Verhältnisse angewiesene Ökonomie der EU.
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Europäische Entwicklungsperspektiven und Sicherheitskonzepte
Die EU wird ihre friedenspolitische Rolle zukünftig nur wirkungsvoll einnehmen können, wenn sich ihre Strukturen weiterentwickeln und damit auch Vorbild für die notwendigen Veränderungen im Rahmen der UN sein könnten.
Die sich weiter entwickelnde Institution des Europäischen Parlaments könnte zum Beispiel hinsichtlich ihres Wahlverfahrens und der Sitzverteilung ein Vorbild für ein demokratisches Weltparlament sein – so wie dies die Kampagne für ein demokratisches Parlament bei der UNO (UNPA-Kampagne) bereits vorsieht. [12] Wenn dann auch noch das Einstimmigkeitsprinzip im Rat der Europäischen Union aufgegeben würde, könnte auch hier ein Vorbild für ein globales Regierungskonzept im Rahmen der UN entwickelt werden. Dort gilt es insbesondere das Veto-Recht der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats zu überwinden, das u.a. dafür verantwortlich ist, dass ein Aggressor wie die Russische Föderation sein Veto gegen eine Verurteilung dieser Aggression und gegen friedensschaffende Maßnahmen in der Ukraine einlegen kann.
Das friedenspolitische Bündnis ‚Sicherheit neu denken‘ entwickelt im Rahmen eines Positivszenarios bis zum Jahr 2040 alternativ zur militärischen Hochrüstung der EU ein Konzept, das aus fünf Säulen der Sicherheitspolitik besteht: Gerechte Außenbeziehungen, Stärkung der nachhaltigen Entwicklung, Ausbau der internationalen Sicherheitsarchitektur, resiliente Demokratie und Rüstungskonversion. [13]
Es lassen sich mit dem Fokus auf Europa folgende zentrale Konzeptbausteine aus den fünf Säulen der Sicherheitspolitik der Friedensinitiative ‚Sicherheit neu denken‘ identifizieren:
- Der UN-Sicherheitsrat besteht aus Vertretern kontinentaler regionaler Sicherheitsräte, wie z.B. einem europäischen Sicherheitsrat.
- Die OSZE entwickelt sich zum sicherheitspolitischen Schlüsselorgan im europäischen Raum.
- Es besteht ein Vorrang ziviler Maßnahmen der Kriegsprävention und Sicherheitspolitik vor weltpolizeilichen oder gar militärischen Maßnahmen.
- Die NATO akzeptiert Aufwendungen für zivile Maßnahmen der Konfliktregulierung und der Entwicklungszusammenarbeit. Es findet ein schrittweiser Umbau der NATO zu einem Organ ziviler Sicherheitspolitik statt.
- Es wird ein Entwicklungsplan für den Nahen Osten und Afrika unter der Federführung der UN aufgestellt. Hierbei wird auch die Friedens- und Sicherheitsarchitektur in diesen Regionen gestärkt.
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- Es werden weltweite Friedenseinsätze mit weltpolizeilichen Mitteln nur dann durchgeführt, wenn zivile Konfliktvermittlung nicht mehr hilft.
- Es werden Ausbildungsprogramme für die Bevölkerungen in resilienter Sicherheitspolitik durchgeführt. Hierdurch wird ein Aufbau der Fähigkeiten zu zivilem Widerstand im Falle autokratischer Selbstermächtigung oder eines Überfalls vorgenommen.
- Es erfolgt ein Aufbau einer zivilen Konfliktkultur in Staaten und Regionen. Es werden z.B. nationale und internationale Mediationszentren aufgebaut;
- Es wird ein Auf- und Ausbau des zivilen Friedensdienstes und unbewaffneter ziviler Friedenssicherung vorgenommen.
- Die Rüstungsindustrie wird weitgehend in eine Friedenindustrie umgewandelt und es erfolgt eine Transformation nationalen Militärs in Technische Hilfswerke. [14]
Dies sind konzeptionelle Elemente einer prioritär zivilen europäischen Sicherheitspolitik, die den hier vertretenden Sichtweisen sehr nahe kommen und die es langfristig zu unterstützen gilt.
Es wäre allerdings Ausdruck politischer Naivität zu glauben, dass eine transnationale Organisation wie die EU derzeit angesichts der russischen Aggression sowie weiterer militärisch hochgerüsteter Staaten einseitig abrüsten und nur auf zivile Friedenssicherung setzen sollte. Dennoch muss die weitere Aufrüstung in der EU vermieden werden, da die finanziellen Ressourcen für andere prioritäre Ziele, wie z.B. die Bekämpfung der Klimakrise und gegen die Verarmung eines Teils der EU-Bevölkerung, einzusetzen sind. Dies bedeutet somit im Zuge einer anzustrebenden Verringerung europäischer Militärausgaben eine Erhöhung der Anstrengungen europäischer Koordination und zentraler Steuerung der europäischen Militärpolitik. Die Überwindung des weitgehend isolierten Betreibens nationaler Rüstungs- und Militärpolitik würde erhebliche Synergie- und erhebliche Einspareffekte mit sich bringen, ohne weiter aufrüsten zu müssen.
Hierbei ist die Notwendigkeit zu betonen, unabhängiger von den USA zu werden, der in der Vergangenheit ebenfalls erhebliche Verstöße gegen die Menschenrechte international nachgewiesen werden können (z.B. Napalm- und Agent Orange-Einsatz in Vietnam oder der 2. Irakkrieg unter einem gefälschten Vorwand). Auch steht das nationalchauvinistische ‚America first‘ der USA sicherlich den friedenspolitischen Intentionen von ‚Sicherheit neu denken‘ entgegen. Auch ist nicht gesichert, ob sich die zumindest derzeit noch weitgehend formaldemokratischen Strukturen in den USA zukünftig erhalten lassen. Hier war die Wiederwahl Trumps Ende 2024 eine Katastrophe für das politische System der USA, das auch ohne dies reformbedürftig ist. Doch von einer zunehmend zu einer unsicheren und schwachen Demokratie werdenden Großmacht kann sich die EU zukünftig nicht mehr abhängig machen.
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Auch eine verstärkte sicherheitspolitische Eigenständigkeit der EU gegenüber der US-dominierten NATO wäre dementsprechend zukünftig erforderlich – es sei denn die NATO nähert sich – nach einer demokratischen Erneuerung Russlands – Russland erneut an.
Dies wären also positive Entwicklungsperspektiven im Rahmen einer Vision europäischer Entwicklung - wohl wissend, dass derzeit die Entwicklung in eine andere Richtung geht. Das im Frühjahr 2025 vorgelegte Weißbuch und das für vier Jahre angelegte Aufrüstungsprogramm sprechen erst einmal eine andere Sprache. Aber auf die Zukunft gerichtete Entwicklungsvorstellungen sind auf Überlegungen zu richten, die über größere Zeiträume hinweg zu denken haben.
Fazit: Die Europäische Sicherheitspolitik könnte - trotz gegenwärtig gegenläufiger Tendenzen - zu einer auch global vernetzten Friedenspolitik und einer demokratisch kontrollierten globalen Sicherheitsarchitektur führen, wenn sie sich von einer zu engen Bindung an die USA und die NATO löst, sich von ihrem neoliberalen Regime befreit, sich aus der Umklammerung des militärisch-ökonomischen Komplexes begibt, sich auch auf die Beseitigung des sozialen Gefälles innerhalb der EU und stärker auf die Entwicklungszusammenarbeit mit den EU-Nachbarstaaten bezieht. Dort könnte sie zur Stabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse im Interesse der dortigen Bevölkerungsmehrheit im Sinne einer an sozialem Ausgleich, wirtschaftlichem Fortschritt, friedlichem Zusammenleben, an Verteilungsgerechtigkeit und an Nachhaltigkeit orientierten Politik beitragen.
EU-Sicherheitspolitik sollte daher nicht als Aufrüstungsprogramm und Kriegspolitik, sondern prioritär als Friedenspolitik verstanden werden, die primär auf synergetischer Sicherheitspolitik, multilateraler Verständigung und auf Diplomatie und Verhandlungsgeschick beruht.
Es ist nicht vertretbar, zwar (noch) innerhalb der EU Frieden zu halten, aber nach außen Waffen zu exportieren und fragwürdige Kriegseinsätze, wie z.B. die Aggression der Türkei gegen die Kurden in Syrien oder das völkerrechtswidrige Verhalten Saudi-Arabiens im Jemen, zu unterstützen, sich als Sozialunion auszugeben und letztlich bei einer Militärunion zu enden. [15]
Gern hätte ich hier weiterhin abschließend formuliert: Hierbei sollte Russland nicht als Gegner im Rahmen einer sich verschärfenden internationalen Konfrontation angesehen werden, sondern, solange die Möglichkeit noch besteht, als ein Verhandlungspartner der EU, mit dem es auf diplomatischem Wege für die Weiterentwicklung beider Regionen sicherheitspolitisch, ökonomisch, kulturell und ökologisch zu kooperieren gilt. Diese Möglichkeit ist derzeit aber aufgrund der russischen Aggression in der Ukraine nur noch eingeschränkt vorhanden. Dennoch sollte die kooperative Perspektive im Sinne einer auf Diplomatie und Verträgen sowie politischer und wirtschaftlicher Zusammenarbeit basierenden Sicherheitspolitik zumindest mittelfristig handlungsleitend für die Politik der Europäischen Union in Bezug auf die Russische Föderation sein.
Auch wenn die EU - angesichts der russischen Angriffe auf die Ukraine und der internationalen Unzuverlässigkeit der gegenwärtigen US-Regierung unter Trump und Vance - im Frühjahr 2025 einen Weg der militärischen Abschreckung mit massiven Aufrüstungsmaßnahmen gehen will, sind diese Forderungen nach verstärkter Diplomatie und internationaler Zusammenarbeit, für welche sich die EU einsetzen sollte, weiterhin gültig.
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5.5 Entwaffnung der Nationalstaaten, klandestiner sowie terroristischer Organisationen und bewaffneter Einzelpersonen
Derzeit sieht es wenig nach einer weltpolitischen Reformagenda aus, wie sie hier beschrieben wurde. Dennoch darf dies nicht das utopische Denken begrenzen und verstummen lassen.
Die hier vorliegende positive Vision weltpolitischer Entwicklung sieht das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen vor. Dies bedeutet, dass die hochgerüsteten Staaten Schritt für Schritt im Zuge aufeinander abgestimmter Verhandlungen abzurüsten sind.
Die schrittweise Entwaffnung der Nationalstaaten ist ein komplizierter Prozess, der allerdings zwingend notwendig ist, um das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen zu sichern und die finanziellen Ressourcen aus der nationalen Rüstungsproduktion herauszulösen und für soziale, ökologische und humanitäre Zwecke freizusetzen. Die nationalstaatliche Entwaffnung ist mit Priorität durch ausdauernde Überzeugungsarbeit, den Einsatz diplomatischer Mittel, den zivilgesellschaftlichen Druck sowie über positive ressourcielle Anreize zu erreichen.
Gelingt diese von den Vereinten Nationen mehrheitlich zu beschließende Entwaffnung der Nationalstaaten nicht bei allen Staaten, setzen sich diese also, nach dem Versuch aller auf Überzeugung basierender Mittel, gegen eine Entwaffnung zur Wehr, sind alle zur Verfügung stehenden und im Sinne der UN-Charta legitimen Mittel, insbesondere Wirtschaftssanktionen, einzusetzen, um die globale Entwaffnung durchzusetzen.
Sicherlich wird zur Entwaffnung krimineller, terroristischer und klandestiner Organisationen sowie von bewaffneten Einzelpersonen auch massive Polizeigewalt bzw. der Einsatz von robusten UN-Militäreinheiten gegen Widerstand eingesetzt werden müssen. Diese bewaffneten Einsätze bedürfen einer durch die UN-Charta abgesicherten rechtlichen Beschlussgrundlage und richterlicher Einzelgenehmigung und sind zumindest im Nachhinein transparent zu machen.
Trotz der beginnenden Aufkündigung nuklearer Abrüstungsverträge durch die USA und Russland sind von Seiten anderer Staaten erste Ansätze zu dem Prozess einer weltweiten Verständigung über atomare Abrüstungsfragen gegenwärtig erstmals seit den durchaus erfolgreichen KSZE-Verhandlungen zu beobachten. 122 Staaten haben 2017 im Rahmen einer UN-Initiative auf Anregung der internationalen Antikriegsorganisation „International Campaign to Abolish Nuclear Weapons“ (ICAN) den Atomwaffenverbotsvertrag unterzeichnet. Derzeit befinden sich 12.000 Atomwaffen auf unserem Planeten (SIPRI 2024b), von denen ca. 1700 Waffen der beiden Atommächte USA und Russland in ständiger Alarmbereitschaft und jederzeit aktivierbar bereit stehen. Weder die neun Atommächte, noch die meisten Nato-Staaten und auch hierbei die Bundesrepublik Deutschland haben jedoch bisher (Stand März 2025) diesen Vertrag unterzeichnet.
ICAN ist ein internationales Bündnis von etwa 450 zivilgesellschaftlichen nichtstaatlichen Organisationen aus ca. 100 Ländern und hat für seine erfolgreiche Vorbereitungsarbeit zu diesem Atomwaffenverbotsantrag 2017 den Friedensnobelpreis bekommen.
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Dieser Vertrag verbietet, Atomwaffen zu entwickeln, zu produzieren, zu lagern und zu verbreiten. [16]
Dies ist sicherlich ein Schritt in die anzustrebende Richtung, auch wenn sich hier erst die eher machtlosen Staaten vertraglich vereinbart haben. Hiervon könnte ein gewisser Druck auch auf die Atommächte ausgehen. Allerdings wird hieraus erst eine machtvolle Bewegung, wenn sich die Mehrheit der jeweiligen Bevölkerungen im Zuge internationaler Vernetzung gegen die gegenseitige atomare Bedrohung wendet und z.B. demokratische Wahlen nicht mehr zu gewinnen sind, wenn von Parteien eine Option des Einsatzes von Nuklearwaffen besteht.
Parallel hierzu muss der Druck auf die Atommächte in die UN-Vollversammlung bzw. das einzurichtende UN-Parlament getragen werden, um von dort aus Einfluss auf den Sicherheitsrat und die noch dort zum großen Teil versammelten Atommächte zu nehmen.
Der World Future Council (WFC) setzt sich beispielsweise in konkreten Projekten für Abrüstung und Rüstungskonversion hinsichtlich Massenvernichtungswaffen, Kleinwaffen sowie Kampfmittelrückständen ein. So unterstützte und beobachtete er das massenhafte Einschmelzen von Kleinwaffen in Banja Luka (Bosnien), Herzegowina und Argentinien und das Recycling dieser Waffen für beispielsweise die Herstellung von Ersatzteilen von Windkraftanlagen. Die argentinische Initiative zur Vernichtung von ca. 160.000 Kleinwaffen bekam 2013 vom Weltzukunftsrat den Silbernen Future Policy Award verliehen, einen vom WFC gestifteten Preis für vorbildliche Gesetze in den Bereichen Abrüstung, nachhaltige Entwicklung und Friedensstiftung. [17] Der WFC fasst seine Agenda wie folgt zusammen:
„Der WFC Arbeitsbereich Frieden und Abrüstung arbeitet eng mit politischen Entscheidungsträgern und anderen Interessensgruppen zusammen, um gute politische Lösungen gegen den Fortbestand von Massenvernichtungswaffen sowie gegen die Produktion und den Handel konventioneller Waffen bekannt zu machen. Auch die verheerenden Auswirkungen explosiver Kampfmittelrückstände werden in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt.“ [ 18] Dabei fördert der Austausch zwischen Ländern und Regionen Lösungsansätze mit dem Ziel, die besten Abrüstungsmaßnahmen über Ländergrenzen hinaus bekannt zu machen.
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Eine weitere erfolgreiche globale Abrüstungsinitiative ist in der Arbeit der Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW) zu sehen. Unter ihrer Federführung im organisatorischen Rahmen der UN wurden mehr als 96% der weltweit deklarierten Chemiewaffen vernichtet. Die Organisation erhielt 2013 den Friedensnobelpreis. Auch hier zeigt sich in der erfolgreichen Aktivität der OPCW, wie über Verhandlungen im Kontext der UN Bedrohungslagen erheblich verringert werden können, anstatt in die Rüstungsspiralen hegemonialer Mächte einzutreten. [19]
Rechnet man die weltweiten nationalstaatlichen Investitionen in Rüstung zusammen, dann kommt man auf Billionen-Dollar-Beträge, mit Hilfe derer sich Hungersnöte, Wasserknappheit, Kindersterblichkeit, fehlende Bildung, ungenügende Gesundheitssysteme und Folgen der Klimakrise beseitigen bzw. deutlich mindern lassen würden.
Der verbleibende Rest der Rüstungsindustrie produziert streng kontrolliert Waffentechnik und Ausrüstung im öffentlichen Auftrag für die verschiedenen Gliederungen der Weltpolizei sowie der mit einem erweiterten Auftrag auszurüstenden UN-Blauhelmtruppen und anderen UN-Militäreinheiten. Dies erfolgt ausschließlich kostendeckend, also nicht profitorientiert, und wird nur noch einen Bruchteil der bisherigen nationalstaatlichen Rüstungsetats beanspruchen.
Hier kann dann durch die massive Einsparung von Ressourcen durch die weitgehenden Rüstungsinvestitionen in der Tat von einer riesigen Friedensdividende gesprochen werden. Diese ressourcielle Erleichterung der Welt verstärkt sich natürlich durch den Wegfall der immensen Schäden an Gebäuden, Infrastruktur und Umwelt, da aufgrund des Gewaltmonopols der UN und der Entwaffnung aller anderen Mächte und Gruppierungen die Möglichkeit zu militärischen Konflikten und die damit verbundene Zerstörung menschlicher Zivilisationsleistungen sowie der natürlichen Umwelt weltweit weitgehend entfällt.
Doch nicht nur die ökonomische und die ökologische Friedensdividende sind ein Ertrag einer derartigen positiven Vision der Weltordnung: Es werden durch den Wegfall von militärischen Konflikten unermesslich viel Leid, Angst und Schrecken sowie unzählige Tote und Verletzte vermieden. Das ist dann die humane Friedensdividende.
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Eine ökologische Friedensdividende könnte dann z.B. in einem Herausholen von ca. 1.6 Millionen Tonnen militärischen Materials aus der Ost- und Nordsee bestehen. Ein Teil der eingesparten nationalen Rüstungsinvestitionen müsste unter der Leitung von UN- und EU-Institutionen dafür sorgen, dass die durchrostenden Bomben, U-Boote und Giftfässer vom Meeresboden geborgen werden, bevor ihre giftigen Stoffe in das Meereswasser durchsickern und dann natürlich auch über den Fischfang in die menschliche Nahrungskette gelangen.
Dies wäre die Vision. Die Realität sieht aber völlig anders aus, eher gegenläufig. Indem die Russische Föderation aus der europäischen Friedensordnung ausgebrochen ist und ihren Nachbarstaat überfallen hat, sind die Zeichen der Zeit eher auf Aufrüstung im Sinne einer globalen Rüstungsspirale gestellt. Die Ressourcen der Welt werden zunehmend für die Anschaffung von immer gefährlicheren Waffen ausgegeben. Fast alle nuklearen Abrüstungsverträge sind aufgekündigt oder ausgesetzt. Die Doomsday Clock (Weltuntergangsuhr der internationalen Atomwissenschaftler_innen) steht auf 90 Sekunden vor 24.00 – so kurz vor der Katastrophe wie nie zuvor. [20]
5.6 Aufbau einer demokratisch kontrollierten
Weltpolizei und eines Gewaltmonopols der UN
Natürlich sollten im Rahmen der vorliegenden Vision einer Neuordnung die zivilen Konfliktlösung im Sinne von Diplomatie, Mediation und Austragung rechtsförmiger Prozesse im Vordergrund stehen. Bei der zivilen Konfliktprävention ist hierbei das Konzept des ‚Zivilen Peacekeeping‘ in Zusammenarbeit von UN-Mediatoren mit einheimischen Friedenskräften umzusetzen. Dennoch muss im Falle des Versagens zivilgesellschaftlicher Prozesse, z.B. im Zuge der Entwaffnung von Personengruppen, wie bereits angesprochen, das Gewaltmonopol der UN mit Hilfe weltpolizeilicher Mittel durchgesetzt werden.
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Ausgenommen vom unbedingten Gewaltverzicht sind daher explizit die demokratisch gewählten Organe einer sich anbahnenden neuen Ordnung im globalen Kontext vor allem im Sinne weltpolizeilichen Einsatzes, wenn es um die Bekämpfung von Kriminalität, massiver Umweltzerstörung, kriegerischer Aggression oder von Verstößen gegen die Menschenrechte geht. Es ist also zwischen einer Ausgangssituation zu unterscheiden, in der zivilgesellschaftlicher Druck mit friedlichen, aber druckvollen Mitteln ausgeübt wird und einer fortgeschrittenen Entwicklungsphase mit den Notwendigkeiten eines Gewaltmonopols einer neuen sozialökologischen Gesellschaftsordnung internationaler Demokratie, um diese Ordnung im Sinne einer ‚wehrhaften globalen Demokratie‘ aufrechterhalten zu können. Eine globale Neuordnung ist hierbei auf die grundlegende Reform der Vereinten Nationen im Sinne einer Stärkung und Demokratisierung angewiesen. Nur innerhalb eines solchen Prozesses können Schritte zu einem Gewaltmonopol der UN bei gleichzeitiger Abrüstung der Nationalstaaten und transnationalen Blöcke gerechtfertigt werden. [21]
Gerade in dem Prozess der Entwaffnung von Nationalstaaten, Regionen, kriminellen Organisationen sowie Privatpersonen kann nicht vom Einverständnis aller Beteiligten ausgegangen werden.
Polizeiliche Exekutivrechte, wie z.B. das Tragen von Waffen, liegen im Rahmen des vorliegenden Ordnungskonzepts zukünftig nur in der Befugnis weltpolizeilich legitimierter Sicherheitsorgane.
Die einzigen Organe, denen ein Waffenbesitz erlaubt sein wird, sind die unterschiedlichen Polizeikräfte sowie die militärischen Einsatzkräfte der UN, die durch die Beschlüsse der Vereinten Nationen legitimiert werden.
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Hierbei muss deutlich zwischen den prioritär zivil ausgerichteten Polizeikräften und dem UN-Militär unterschieden werden, das erst eingesetzt wird, wenn alle zivilen Mittel erfolglos geblieben sind (vgl. Tabelle 9):
Tab. 10: Zur Unterscheidung von Polizei- und Militäreinsätzen
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Weltpolizeilicher Einsatz UN-Militäreinsatz
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An UN-Charta, Regeln für den weltpolizeilichen Kein Einsatz während akuter
Einsatz und transnationale Gesetze gebunden; militärischer Auseinandersetzungen
(keine Friedenserzwingung).
Prioritär: Vermittlung von Frieden im Sinne des an kodifiziertes Völkerrecht für
‚just policing‘ – gerechte polizeiliche Betreuung) Militäreinsätze gebunden,
mit dem Ziel einer Kompromissfindung im Sinne z.B. UN-Charta, Genfer
einer win-win-Situation; Konventionen;
Zusammenarbeit mit zivilen UN-Konflikt- Einsatz von Gewalt und Waffen
regulatoren sowie einheimischen Gruppen und gegen einen Staat oder
gemeinsames Engagement gegen kriminelle gegen eine separatistische
gesellschaftliche Kräfte, wenn die rein zivile Bewegung im Falle einer
Konfliktvermittlung nicht mehr hilft; massiven Verletzung der
Menschenrechte und des
des Völkerrechts sowie
massiver Umweltschädigung
im Auftrag der UN, wenn
zivile und weltpolizeiliche Mittel
nicht mehr erfolgreich sein
können (R2P);
Weltpolizeiliche Tätigkeit mit rechtsstaatlichen Militäreinsätze nach erfolglosem
Möglichkeiten der Polizeiarbeit in Ultimatum auch als durch die UN
Zusammenarbeit und auf Wunsch betroffener beauftragte militärische
Staaten: z.B. Haftbefehl, nur im Notfall Einsatz Eingriffe mit konventionellen
von Dienstwaffen, keine militärische Ausrüstung Waffen, wie z.B. Schützenpanzer
und Kampflugzeuge, auch gegen den Willen betroffener Staaten;
Kein Einsatz während akuter militärischer Auch Einsatz während eines
Auseinandersetzungen (keine Friedenserzwingung). akuten militärischen Konflikts,
z.B. zwischenstaatlicher Angriffs-
krieg (Friedenserzwingung)
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Die Polizeikräfte werden überregional, regional und lokal organisiert und kontrollieren in Zusammenarbeit mit den Gerichten die Einhaltung der vom Weltparlament auf der Grundlage der UN-Charta verabschiedeten Gesetze, dürfen ermitteln, entwaffnen, festnehmen und dem Haftrichter zuführen.
Es muss entsprechend der Aufgabenstellungen zwischen verschiedenen weltpolizeilichen Einrichtungen unterschieden werden: Zwischen den im UN-Auftrag international agierenden UN-Polizeieinheiten, Interpol und den subnationalen bzw. örtlichen Polizeikräften mit jeweils veränderten Zielsetzungen und Möglichkeiten. Die bisherige Praxis, für Peacekeeping-Einsätze weltpolizeiliche Kräfte auf freiwilliger Basis von den Nationalstaaten abordnen zulassen, ist zugunsten fester Polizeikontingente unter dem Dach der UN abzulösen. Diese Polizeieinheiten sind in den transnationalen Regionen zu stationieren.
Die überregional organisierten und international kontrollierten Polizeikräfte von Interpol (International Criminal Police Organization) müssten vor allem dann eingreifen können, insbesondere wenn auf internationaler Ebene organisierte Kriminalität festgestellt wird.
Auch ist die Struktur und Zuständigkeit von Interpol zu verändern. Interpol verfügt bisher über keine eigenen polizeilichen Ermittler und Fahnder, sondern koordiniert die nationalen polizeilichen Ermittlungen und Datensammlungen.
Interpol ist bisher in Form eines internationalen Vereins mit dem Status einer international tätigen NGO bei den Vereinten Nationen anerkannt und erhielt seit 1997 einen Kooperationsvertrag mit den UN, der Interpol einen Beobachterstatus bei den UN zusichert. Hinter Interpol stehen 190 Staaten. Allerdings unterliegt die internationale Polizei-Organisation derzeit nur einer internen Kommissions-Kontrolle.
Im vorliegenden weltpolizeilichen Modell müsste allerdings eine externe und unabhängige Kontrolle in Zusammenarbeit und mit Rechenschaftslegungspflicht gegenüber dem reformierten UN-Parlament vorliegen, um Abhängigkeiten, polizeilicher Willkür, Intransparenz und Korruption vorzubeugen.
Am Beispiel Interpols wird die Problematik deutlich, wenn die weltpolizeiliche Dachorganisation auch Spenden von multinationalen Konzernen sowie von einzelnen autokratischen Staaten, wie z.B. Katar oder den Vereinigten Arabischen Emiraten, annimmt.
So wird Interpol auch hinsichtlich seiner Kooperation mit Pharmaunternehmen, z.B. Sanofi, kritisiert. Interpol vertrete hierbei Interessen von Pharmaunternehmen, z.B. über Ermittlungen gegen die Verbreitung von preiswerten und bezahlbaren Generika, und erhalte im Gegenzug Millionen-Spenden [22] für den Interpol-Etat.
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Im Unterschied zur bisherigen Interpol geht es im vorliegenden Entwurf einer Neuordnung globaler Strukturen um eine demokratisch kontrollierte, weltpolizeiliche Dachorganisation mit transnationalen, regionalen und dezentralen Einrichtungen, die sowohl transparent und effektiv einer externen und internen Kontrolle unterliegt, die allerdings erweiterte Exekutivrechte im Vergleich zur bisherigen internationalen Polizeiorganisation besitzt. Interpol ist von den Vereinten Nationen ausreichend zu finanzieren.
Geheimdienste unterschiedlichster Art spielen in der hier entwickelten Vision einer Neuordnung der internationalen Beziehungen keine Rolle mehr. Sie sind durchgehend auf allen Seiten und in allen Regionen abzuschaffen. Alle weltpolizeilichen Maßnahmen sind – manchmal auch erst im Nachhinein – transparent offenzulegen, um eine demokratische Kontrolle der UN-Exekutive von Seiten der gewählten Legislativen und der Bürger zu ermöglichen.
Militärische Kräfte der UN sind hinsichtlich ihrer Möglichkeiten und ihrer Funktion weiter zu entwickeln. Hierbei müssen die UN-Blauhelme militärisch gestärkt und das durch die UN kontrollierte Recht auf robuste Aktionen bekommen, um bei Völkermord, massiver Umweltzerstörung oder kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Regionen oder Bevölkerungsgruppen einschreiten zu können. Dies bedeutet, dass die Funktion der UN-Blauhelme deutlich über Peacekeeping zugunsten eines wirkungsvollen Peacebuildungs hinausgehen muss. Um im Extremfall auch eine Friedenserzwingung leisten zu können, ist eine gut ausgerüstete und ständige Blauhelm-Eingreiftruppe notwendig, die nach § 43 der UN-Charta über ein Abkommen der UN-Staaten beschlossen werden kann. Diese militärischen Eingreiftruppen der UN sind in den verschiedenen transnationalen Regionen zu stationieren, um ein schnelleres Eingreifen im Notfall ermöglichen zu können. Der zukünftige Blauhelmeinsatz ist im Extremfall nicht mehr an das Einverständnis der beteiligten Staaten bzw. Gruppierungen gebunden, sondern die Blauhelme agieren aufgrund eines Beschlusses der UN-Vollversammlung (Drei-Viertel-Mehrheit) auf Antrag des UN-Sicherheitsrats.
Das Friedensgutachten 2007, vorgelegt von fünf Friedensinstituten, wies den Weg in die für militärische UN-Einsätze einzuschlagende Richtung:
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„Wir schlagen vor, an Militäreinsätze mindestens die folgenden Kriterien anzulegen:
1. Rechtmäßigkeit: Sie müssen mit der UN-Charta und dem Grundgesetz übereinstimmen;
2. Unterscheidung von friedenspolitischen und funktionalen Gründen: macht-, einfluss- und bündnispolitische Ziele dürfen nicht den Ausschlag geben;
3. Vorrang ziviler Alternativen: Sind alle nichtmilitärischen Alternativen ausgeschöpft oder erkennbar aussichtslos?
4. Politisches Gesamtkonzept, einschließlich einer Klärung der Erfolgsbedingungen im Zielland;
5. Evaluierung: Kein Auslandseinsatz ohne begleitende Evaluierung und nachträgliche Bilanzierung seiner Kosten und Nutzen.
6. Exit-Strategie: Wann und wie ist ein Einsatz zu beenden?“ [23]
Auch sollten jetzt noch eher unpopuläre und unkonventionelle Wege einer globalen Sicherheitsordnung durchdacht werden. Die Nato könnte sich zunächst um weitere eher westliche Staaten erweitern, wie z.B. Australien, Brasilien, Südkorea, Neuseeland oder Japan. Und dann müsste längerfristig weiter gedacht werden. Warum sollte in der Zukunft die NATO sich nicht unter genau zu definierenden Bedingungen um bisher verfeindete bzw. sehr unterschiedliche Staaten erweitern? Hier kann es sich doch nur um eine Win-win-Situation handeln, wenn z.B. sowohl der Ukraine als auch der Russischen Föderation ein Angebot der NATO unterbreitet und für den Fall eines Waffenstillstandes als Voraussetzung für Friedensverhandlungen ein an Bedingungen geknüpftes Angebot über einen zukünftigen gemeinsamen NATO-Beitritt eröffnet werden würde. Die Bedingung für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen müssten u.a. ein völkerrechtlich vertretbarer Friedensvertrag und eine überprüfbare rechtsstaatliche und demokratische Entwicklung in beiden Staaten sein. Möglicherweise findet sich in der Angebotsperspektive eines unter diesen Bedingungen realisierbaren zukünftigen Nato-Beitritts der notwendige und entscheidende Schritt, um eine weitere militärische Eskalation oder sogar einen Nuklearkrieg zu vermeiden. Eine um immer mehr Staaten - insbesondere auch östliche Staaten und Staaten des globalen Südens - erweiterte NATO könnte unter dem Dach einer demokratisierten UNO eine weltpolizeiliche Funktion übernehmen - so wie sie hier beschrieben wurde. Hierzu müsste sich auch die NATO hinsichtlich ihrer Waffentechnik und ihrer Vorgehensweise in Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Kräften weltpolizeilich umstellen. Die vorab zu erfolgende nationalstaatliche Abrüstung in einem abgestimmten globalen Abrüstungsprozess unter der Federführung der Vereinten Nationen könnte zu einer riesigen Friedensdividende und einen globalen Frühling führen. Ob dies ein gangbarer Weg ist, lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt schwer beurteilen. Aber die Verantwortlichen sollten zumindest diese Option durchdenken. Nichts darf unversucht bleiben, um den Weltfrieden herzustellen.
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Gegenargumente hiergegen gibt es natürlich jede Menge. Arbeiten von Ganser (2027) und Dagdelen (2024) verurteilen die NATO als eine Organisation im Auftrag der USA, die für eine Vielzahl völkerrechtlicher Verbrechen verantwortlich sei. Sie sehen hierin kein Verteidigungsbündnis sondern eine militärische Macht, um die US-Hegemonie zu sichern bzw. durchzusetzen. Die NATO gelte es daher aufzulösen zugunsten eines europäischen Sicherheitsbündnisses, das alle Staaten integriere, also auch die Russische Föderation. Sevin Dagdelen (2024, 118) beendet ihr Buch mit folgender Aussage:
„Und indem die NATO versucht, ihren globalen Dominanzanspruch umzusetzen, beschwört das Militärbündnis schließlich die für die gefährlichste Kräftekonstellation gegen sich selbst herauf. Das Streben nach Alternativen zur NATO ist Widerstand zu einer Weltkriegspolitik. Wir brauchen Frieden statt NATO.“
Hiergegen ist einzuwenden, dass eine Auflösung der NATO autoritären und undemokratischen Mächten, die hochgerüstet sind, einen Freibrief für ihre Eroberungsfeldzüge geben würde. Sicherlich hat sich die NATO in der Vergangenheit in mehreren Fällen völkerrechtswidrig verhalten, da der militärische Auftrag der UNO bzw. des per Veto blockierten UN-Sicherheitsrats fehlte oder dieser z.B. im Falle des 3. Golfkriegs von Seiten der USA nachweislich belogen wurde. Dennoch ist eine Forderung nach Auflösung der NATO nicht im Interesse von Gesellschaften, die bislang noch versuchen, demokratische Strukturen zu entwickeln bzw. aufrechtzuerhalten. Mit dem Artikel 5 ist für diese Staaten – trotz der unsäglichen Aussagen von Trump – dennoch ein militärischer Beistandspakt vorhanden, der militärische Aggressionen, z.B. bislang das Überschreiten weiterer Grenzen durch die Russische Föderation verhindert. Dies ist insbesondere für die baltischen Staaten sowie die osteuropäischen Staaten existenziell wichtig, die sich ohne diesen militärischen Schutz nicht verteidigen könnten. Hier soll Dagdelen deutlich widersprochen werden, welche dieses Schutzbedürfnis übergeht zugunsten einer absoluten Abwertung der NATO als eine den Frieden zerstörende Macht.
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Ein weiteres Argument für die NATO-Erweiterung – anstelle der Auflösung – wäre die verringerte Machtstellung der USA, wenn weitere einflussreiche Staaten hinzukämen. Sicherlich hätten die USA weiterhin eine wichtige Position innerhalb der NATO auszufüllen, aber durch das Einstimmigkeitsprinzip im NATO-Rat sowie weitere Regulierungen wäre die Dominanz der USA relativiert und machtpolitische Gegengewichte wären vorhanden.
Auch muss die Entwicklungsfähigkeit eines solchen Militärbündnisses gesehen werden, insbesondere dann, wenn eine global erweiterte NATO mehr und mehr im Auftrag der UNO weltpolizeilich handeln würde. Kein anderes Militärbündnis wird hierzu auf lange Zeit in der Lage sein, als eine völkerrechtlich legitimierte Macht Autokraten in ihre Schranken zu weisen.
Hierbei ist darauf hinzuweisen, dass eine weltpolizeiliche Funktion der NATO erst gelingen kann, wenn Schritt für Schritt ein international über die UNO koordinierter Abrüstungsprozess vorgenommen wird – insbesondere zunächst die Nuklearpotenziale aller Staaten abgerüstet werden.
Ob diese Überlegungen sinnvoll sind und zukünftig eine Relevanz haben können, ist gegenwärtig noch nicht absehbar. Allerdings sollte hier der Versuch unternommen werden, eine Diskussion über die Erweiterung und eine veränderte friedenspolitische Rolle des mächtigsten globalen Militärbündnisses zu beginnen.
Fazit: Die gegenwärtige Eskalationen militärischer Konflikte, wie z.B. in der Ukraine, im Nahen Osten, dem Jemen, dem Susan, der Demokratischen Republik Kongo, oder immer wieder in Syrien, erfordern geradezu eine Verbindung diplomatischer Maßnahmen, veränderter transnationaler Sicherheitsstrukturen und weltpolizeilicher Interventionen unter der Kontrolle der Vereinten Nationen. Gesellschaftliche Pazifizierung erfordert eine geistige Reife aller Beteiligten, die – trotz aller Bildungs- und Aufklärungsbemühungen – noch nicht vorausgesetzt werden kann. Um diese Lücke zu schließen sind zivilgesellschaftliche Pazifizierungsmaßnahmen durch effektivere weltpolizeiliche Interventionen als bisher zu ergänzen, insbesondere wenn gegnerische Gruppen sich über das geltende Völkerrecht hinwegsetzen und nicht legitimierte Waffengewalt einsetzen. Militärische Mittel unter der Aufsicht der UN sollten nur im äußersten Notfall eingesetzt werden, wenn die Verbindung aus zivilgesellschaftlichen und weltpolizeilichen Maßnahmen versagen bzw. die beteiligten weltpolizeilichen Friedensakteure durch militärische Gewalt bedroht sind. Hier könnte die Neudefinition einer global erweiterten und weltpolizeilich umgerüsteten NATO eine wichtige Rolle spielen (vgl. auch den nachstehenden Exkurs zum Kap. 5.6).
Das Spektrum weltpolizeilicher Einsatzmöglichkeiten ist des Weiteren um ökologische Verbrechen, welche die Belange der gesamten Menschheit berühren, zu erweitern. Ökologische Verbrechen, wie z.B. das Abbrennen und Abholzen des Regenwaldes, oder die staatlich betriebene Steigerung der CO2-Emissionen sind zukünftig nicht mehr hinnehmbar, berühren sie doch die Existenzbedingungen der nächsten Generationen und grundsätzlich der menschlichen Zivilisation auf diesem Planeten.
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Exkurs zu Kap. 5.6
Sollte die NATO der Ukraine, Belarus und Russischer Föderation ein Beitrittsangebot unterbreiten? Eine utopische Skizze.
Nichts sollte unversucht bleiben, den Krieg zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine zu beenden. Letztendlich droht hier neben der Zerstörung der Infrastruktur, der Natur und der Auslöschung von Hunderttausenden Menschenleben die Gefahr eines Dritten Weltkrieges mit dem Einsatz von Nuklearwaffen. Dies würde den Untergang auch alles bisher zivilisatorisch Erreichten bedeuten. Ein nukleares Inferno kann niemand, der noch bei Verstand ist, wollen.
Doch auch über den Krieg in der Ukraine hinaus ist darüber nachzudenken, wie eine zukünftige internationale Sicherheitsarchitektur sich weiter entwickeln könnte.
Zunächst soll eine historische Rekonstruktion der Beziehungen zwischen der NATO und Russland vorgenommen werden. Überlegungen zu einer zukünftigen Entwicklung der internationalen Sicherheitsarchitektur in einem utopischen Sinne werden hierauf folgen und anschließend soll eine erste kritische Einordnung dieser utopischen Skizze erfolgen.
Vieles ist zur Zeit möglich, was man vorher als unrealistisch bezeichnet hätte.
Zu Beginn des Jahres 2025 verhandeln der wiedergewählte US-Präsident Donald Trump und der Präsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin, direkt miteinander, wie der Ukraine-Krieg beendet werden kann. Auch stimmen die USA und Russland im UN-Sicherheitsrat, gemeinsam mit der VR China, einer von den USA eingebrachten Resolution zur Beendigung des Kriegs in der Ukraine zu. Wer hätte dies noch vor wenigen Monaten gedacht oder gar öffentlich vermutet?
Vieles ist derzeit in der internationalen Politik möglich, was bisher unmöglich erschien - auch wenn sehr deutlich zu kritisieren ist, dass zu den US-amerikanischen und russischen Verhandlungen zunächst keine Beteiligung der Ukraine und der EU vorgesehen wurde. Auch hat man eher den Eindruck, dass sich hier zwei Mächte des ökologischen Imperialismus darüber zu verständigen versuchen, wie die Rohstoffe eines militärisch besiegten Landes zu verteilen sind.
Doch bevor nun ein Zukunftsentwurf unter Einbezug der NATO, der zugegebenermaßen derzeit noch unrealistisch erscheint, entwickelt werden soll, soll das Verhältnis von Russland und der NATO aus einer historischen Perspektive noch einmal rekonstruiert werden
Der Vorschlag einer Annäherung von Nato und Russland hat historische Vorläufer
Der hier zu diskutierende Vorschlag ist in einigen Aspekten durchaus ein transnationales Thema zum Ende des 20. Jahrhunderts nach der Beendigung des ‚Kalten Krieges‘ und zum Beginn dieses Jahrhunderts gewesen. [5]
Im Jahr 1990 verständigten sich die KSZE-Staaten in der Charta von Paris auf eine neue europäische Sicherheitsordnung, welche Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie eine gemeinsame Sicherheitszusammenarbeit vorsah. Des Weiteren weckte 1991 Jelzins Vorschlag große Hoffnungen. Er erhob den Beitritt Russlands zur Nato zum langfristigen Ziel. Die Aktivierung des Art. 5 des Nato-Vertrags im Zuge der militärischen Antwort der Nato auf 9/11, also dem Anschlag in 2000 auf die New Yorker Twin-Tower, wurde von der russischen Regierung unterstützt, indem durch Russland der Nordkorridor zu Afghanistan für die Truppenlogistik der Nato freigehalten wurde. Putin zeigte sich in seiner Rede 2001 vor dem deutschen Bundestag durchaus offen für eine Ausweitung der transatlantischen Kooperation, einer europäischen Sicherheitsstruktur und für eine intensivere Zusammenarbeit mit dem Nato-Westen. Wladimir Putin startete im Jahr 2000 sogar im Gespräch mit dem damaligen Nato-Generalsekretär George Robertson eine Anfrage zum Nato-Beitritt Russlands, die allerdings keine Zusage von Seiten der Nato auslöste. Es wurde allerdings 2002 ein Nato-Russland-Rat eingerichtet, im Rahmen dessen sich gegenseitig über wichtige Entwicklungen informiert wurde. Er setzte die ‚besondere Zusammenarbeit‘ vor dem Hintergrund der Nato-Russland-Akte fort, die seit 1997 bestand und der sich folgende Ziele setzte:
„Als Felder der Zusammenarbeit hatten die Parteien gemeinsame Friedensoperationen, Rüstungskontrolle, Terrorbekämpfung und den Stopp von Rauschgifthandel identifiziert. Umgesetzt werden sollten diese Ziele unter anderem durch die Einrichtung des NATO-Russland-Rates, der regelmäßig tagen sollte. Der Austausch fand üblicherweise auf Botschafterebene statt.“ [6]
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Auch wurde von Seiten der russischen Regierung der Vorschlag einer europäischen Sicherheitsordnung vorgebracht, der eine intensive Zusammenarbeit zwischen dem Westen und Russlands vorsah. Auch die Regierung von Bill Clinton hätte möglicherweise die Aufnahme Russlands in die Nato unterstützt, wenn Russland sich hin zu einer markwirtschaftlichen Demokratie entwickeln würde. [7] Insgesamt standen die Zeichen auf Zusammenarbeit und Entspannung zwischen Russland und dem Westen. Dies änderte sich erst maßgeblich mit dem Angriff der USA unter US-Präsident George W. Bush mit einer ‚Koalition der Willigen‘ 2003 auf den Irak ohne einen entsprechend völkerrechtskonformen Beschluss des UN-Sicherheitsrats. Hinzu kam der Auftritt der USA im UN-Sicherheitsrat, wo u.a. mit gefälschten Dokumenten zu unterirdischen Raketenabschussanlagen die Notwendigkeit eines Angriffs auf den Irak begründet wurde. Diese Situation markierte die Wende im Verhältnis Russlands zur USA und zur Nato. Hinzu kam die Kränkung, von den USA zunehmend als Macht zweiter Klasse bzw. als Regionalmacht bezeichnet zu werden (Obama) und aber auch zunehmend revanchistische Interessen der Russischen Föderation, ihren Machtbereich wieder zu erweitern. Als in diesem Zusammenhang dann auch noch die Nato-Osterweiterung um die Ukraine und Georgien 2008 ins Gespräch gebracht wurde, kippte das Verhältnis zwischen Nato und Russland zunehmend. Ein Ausdruck hiervon war dann die völkerrechtswidrige russische Besetzung der Ukraine im Jahr 2014 und der hierauf folgende wechselseitige Artilleriebeschuss zwischen ukrainischem Militär und russisch unterstützten ostukrainischen Sezessionisten. Für derartige geostrategische Interessen wurde dann auch Europa als Ganzes im Sinne eines ‚dekadenten Europas‘ abgewertet und durch Putin 2021 von der ‚Dreieinigkeit‘ Russlands, der Ukraine und Belarus gesprochen. Hier zeichnete sich bereits der im Februar 2022 bevorstehende Angriff der Russischen Föderation auf die Ukraine ab, der insbesondere mit Sicherheitsinteressen gegenüber einer sich erweiternden Nato und gebrochenen Versprechen von Seiten des Westens begründet wurden.
Hierbei wurde immer wieder von russischer Seite bzw. Putin betont, dass der 1990 unterzeichnete 2-plus-4-Vertrag von der Nato-Seite gebrochen worden wäre. Hierin wäre festgelegt, dass die Nato sich nicht in Richtung auf die osteuropäischen Staaten erweitern würde. Hierbei bezieht sich Putin allerdings nur auf erste Absprachen im Vorfeld der 2-plus-4-Verhandlungen, wo Gorbatschow tatsächlich von James Baker („not one inch eastward“) und Dietrich Genscher erste Zusagen zum Einfrieren der Nato-Expansion unterbreitet wurden. Allerdings im weiteren Verlauf der Verhandlungen wurden diese Ankündigungen auf Initiative der US-Regierung zurück gezogen. Das Angebot einer Nicht-Erweiterung der Nato wurde durch ein finanzielles Angebot insbesondere Deutschlands ersetzt, die Sowjetunion mit Milliarden DM zu subventionieren. Dies wurde auch von Gorbatschow akzeptiert. Das Geld floss und das Verbot der Nato-Ost-Erweiterung wurde vertraglich nicht – im Gegensatz zur Aussage Putins – in den 2-plus-4-Vertrag aufgenommen. Dies wäre auch völkerrechtlich hochproblematisch gewesen, da jeder Staat das Recht hat, sich sein Bündnissystem, dem er beitreten möchte, selbstständig auszusuchen. Hierbei übte die Nato keinerlei Druck auf die osteuropäischen Staaten aus, der Nato beizutreten. Das Nato-Bündnis war für die einstigen Staaten unter sowjetischer Herrschaft wichtig, da sie sich hiervon den Schutz vor einer erneuten russischen Besetzung und Herrschaft versprachen.
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Also: Der hier zu skizzierende Gedanke zu einer erneuten Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen der Nato, also dem Westen, und der Russischen Föderation hat einen historischen Hintergrund und wird nun neu in einer völlig zerfahrenen und brandgefährlichen weltpolitischen Situation unterbreitet.
Der Entwurf einer utopischen Skizze in der Beziehung zu NATO, UNO und den verfeindeten Staaten
Entwerfen wir daher einen unüblichen und unkonventionell gehaltenen Blick in die Zukunft, der den Fokus der Konfliktbewältigung anders als üblich setzt - allerdings zugegebener Maßen eine eher unwahrscheinliche Umsetzungschance besitzt:
Wenn man der Auffassung ist, dass die gegenwärtigen und künftigen globalen Probleme nur durch transnationale Verständigung unter Beteiligung einer mächtigen übergeordneten Struktur zu lösen sind, ist der Schritt nicht weit, Gräben zu überbrücken und den verfeindeten Staaten ein Angebot von der größten transnationalen Militärmacht, der NATO, zu unterbreiten. Es geht darum, Sicherheit neu zu denken [1] und militärische Dogmen und sicherheitspolitische Vorurteile beiseite zu räumen.
Dieses Angebot würde einen unmittelbaren Waffenstillstand als Voraussetzung für entmilitarisierte und international kontrollierte Zonen zwischen der Ukraine und der Russischen Föderation enthalten und damit verbunden die an genau zu formulierenden Bedingungen geknüpfte Aufnahme von NATO-Beitrittsverhandlungen für die Ukraine, für Belarus und der Russischen Föderation.
Für die zukünftige Aufnahme von NATO-Beitrittsverhandlungen würden genaue Bedingungen formuliert, die erfüllt sein müssten, bevor die Verhandlungen aufgenommen werden. Zu diesen Bedingungen gehört der Abschluss eines Völkerrechts konformen Friedensvertrags zwischen der Ukraine, Belarus und der Russischen Föderation auf der einen Seite sowie zumindest das Aussetzen der westlichen Sanktionen auf der anderer Seite. Auch die Frage der Reparationen und der Verfolgung von Kriegsverbrechen ist zu regeln. Des Weiteren müssen erkennbare und feststellbare Schritte zu einer Demokratisierung, z.B. Gewährung von Meinungsfreiheit und freie Wahlen, und rechtsstaatlicher Verhältnisse, z.B. unabhängige Gerichte und Korruptionsbekämpfung, wirkungsvoll angelegt worden sein.
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Gleichzeitig gälte es, die Sicherheitsarchitektur mit der VR China über ein Kooperationsabkommen zwischen der NATO und der VR China zu verbessern. Dies würde mit einer zukünftigen Beitrittsperspektive unter bestimmten Bedingungen ebenfalls für die VR China verbunden sein. Letztendlich geht es darum, eine globale Sicherheitsarchitektur über eine weltweite Ausweitung der NATO und möglichst dem Einbezug aller Staaten, insbesondere auch der Staaten des globalen Südens, anzustreben.
Was gäbe es bei einem solchen Angebot zu verlieren? Würde sich nicht hieraus eine Win-win-Perspektive für alle beteiligten Staaten ergeben? Wäre die Folge nicht ein globaler Frühling mit einer riesigen Friedensdividende? Würden nicht endlich die Kräfte frei werden, um globalen Krisen, wie z.B. der bereits eintretenden Klimakrise, wirkungsvoll begegnen zu können?
Letztlich steht dahinter eine internationale Neuordnung und ein Weltenentwurf, der eine demokratisch kontrollierte übergeordnete Macht auf UN-Ebene vorsieht. Eine derartige, neu zu konzipierende UNO würde, gestärkt durch weltpolizeiliche Zusammenarbeit mit einer in ihrer Aufgabe und Struktur transformierten globalen NATO, eine gemeinsame Bekämpfung der Klimakrise, Pandemien, Kriege, Hungersnöte und Wirtschaftskrisen planen und umsetzen. Auch die weltweite Umverteilung von Vermögen und gesellschaftlichem Reichtum wäre ein Ziel dieser transnationalen Agenda, da Frieden nur über innergesellschaftliche und transnationale Gerechtigkeit erreichbar ist. Dies kann aber erst gelingen, wenn eine mit Macht ausgestattete übergeordnete Struktur und darin enthaltene ökonomische Institutionen dies ordnungspolitisch umzusetzen versuchen.
Zukünftige Generationen werden es nicht verstehen können, wenn es hier keine Einigung geben könnte. Der brutal geführte Krieg in der Ukraine könnte im gemeinten NATO-Angebot dann in sein historisches Gegenteil gewendet werden und zum Ausgangspunkt einer positiven Zukunftsentwicklung werden. Es ist davon auszugehen, dass keiner der beteiligten staatlichen Kriegsakteure ein Interesse an einer militärischen Eskalation hin zu nuklearen Destruktion hat. Alle beteiligten Staaten und auch die Weltgemeinschaft werden als Verlierer übrig bleiben – wenn denn nach einem Nuklearkrieg überhaupt noch etwas von ihnen vorhanden ist.
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Die hier skizzierte Utopie ließe sich dann wie folgt weiterentwickeln: Neben einer Globalisierung der NATO würden dann Schritt für Schritt koordiniert alle Nationalstaaten und transnationalen Verbünde soweit abrüsten, dass die weltpolizeiliche Funktion der NATO unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen möglich wird. In einem ersten Schritt ist der Atomwaffenverbotsvertrag [2]
der Vereinten Nationen für alle Nationen umzusetzen. Dies wird wesentlich leichter fallen, wenn es gelingt, dass sukzessive zukünftig alle Staaten der NATO als gemeinsames und globales Sicherheitsbündnis beitreten. Wenn dann in international kontrollierten Schritten eine nationalstaatliche Abrüstung erfolgt ist, kann auch die NATO zukünftig soweit abrüsten und eine Deeskalation ihres militärischen Drohpotenzials vornehmen, so dass ein weltpolizeiliches Agieren mit Hilfe polizeilicher Ausrüstung genügen würde.
Damit ein solches militärisches Sicherheitsbündnis keine Übermacht bekommen kann bzw. dort nicht einzelne Staaten (oder ein einziger Staat) Dominanz erlangen kann, ist die Integration der NATO unter die Vereinten Nationen zwingend erforderlich. Hierbei sind die Vereinten Nationen nicht nur zu stärken sondern – immer etwas dem Empowerment vorauseilend - auch zu demokratisieren. Geeignete Vorschläge und Diskussionen hierzu gibt es genug, sowohl innerhalb der Vereinten Nationen [3] als auch durch NGOs von außen [4] herangetragen. Insbesondere ist hierbei der UN-Sicherheitsrat zu demokratisieren, wobei die ständigen Mitglieder zunächst auf ihr Veto-Recht verzichten müssten.
Erste Diskussionsansätze der hier vorgestellten utopischen Skizze
Soweit die Skizzierung einer planetaren Utopie, die gegenläufig zum Hurra-Gebrüll der beteiligten Kriegsakteure und dem globalen Aufrüstungswahn steht.
Sicherlich werden sofort aus allen politischen Richtungen die Gegner eines solchen Zukunftsentwurfs hervorkommen und den fehlenden Realismus und eine Naivität dieses Entwurfs anprangern.
Doch wer ist naiv? Derjenige, der für ein Weiter-So oder sogar für eine militärische Eskalation stimmt oder derjenige, der nach Auswegen sucht, die das Ganze und dessen Zusammenhänge sowie die zukünftige Entwicklung planetarischer Zivilisation im Blick hat?
Ist es verwerflich, vor einem Nuklearkrieg Angst zu haben und nach auf Kooperation basierenden Auswegen zu suchen? Gehört nicht eher Mut dazu, das Undenkbare zu denken und sich radikal neuen Kooperationsmodellen zu stellen?
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‚Das ist utopisch!‘ wird der Vorwurf der Rezipienten dieser Überlegungen sein. Ja, das ist er. Eine Utopie versucht sich konstruktiv in eine Zukunft hineinzudenken und Lösungen für drängende Probleme zu schaffen. Die Fähigkeit zum utopischen Denken ist vielen Verantwortlichen derzeit abhanden gekommen und einem flachen und ideenlosen Realismus gewichen.
Politikwissenschaft hat m.E. auch die Aufgabe, sich das gesellschaftlich Unpopuläre und Nicht-Gedachte konzeptionell vorzustellen und Vorschläge in einem utopischen Sinne zu unterbreiten, wie eine verhängnisvolle Entwicklung noch verhindert und gleichzeitig etwas Neues aufgebaut werden kann.
Wenn hieraus Anregungen und konkrete Schritte erfolgen können, wie aus verfeindeten Menschen in einem abgestuften und mit Voraussetzungen versehenen Verfahren Kooperationspartner werden können, war es die Mühe der Utopie allemal wert.
Risiken und Widerstände einer Nato-Erweiterung nach Osten
Wenn dann im gesellschaftlichen Diskurs über die Grundannahmen des hier vorliegenden utopischen Entwurfs diskutiert wird, gilt es zu klären, welche Risiken und welche Widerstände es gegen die Durchsetzung dieses Entwurfs geben wird, und wer die gesellschaftlichen Bündnispartner im transnationalen Kontext sein können, die ein Interesse an dessen Durchsetzung haben.
Risiken würden in einer NATO-Aufnahme der drei angesprochenen Staaten vor allem dann bestehen, wenn diese Staaten noch immer korrupt und repressiv nach innen sind, wenn ihr aggressiver militärisch-industrieller-politischer Kern noch immer an der Macht wäre. Wer holt sich das Raubtier schon ins eigene Haus?
Auch könnte man argumentieren, dass nicht die Ausweitung der Nato erforderlich sei, sondern ihre Eindämmung und letztendlich ihre Beseitigung für den Weltfrieden förderlich sei. Auch die Nato habe doch in der Vergangenheit gezeigt, wie sie sich über das Völkerrecht hinweg gesetzt habe, und sei nur der militärische Arm des US-Imperialismus. Auch sei sie daher nicht geeignet, eine weltweit gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zu unterstützen, sondern würde dies gerade verhindern wollen.
Ein weiteres Argument gegen die Koppelung von Nato-Erweiterung und Forderung nach Rechtsstaatlichkeit und Demokratie als Zugangsvoraussetzung könnte einerseits darin begründet liegen, dass so manche Nato-Staaten selbst Probleme hiermit haben. Die derzeitige Entwicklung der USA und der von der Trump-Regierung vorgenommene Demokratieabbau könnten als Beleg hierfür genommen werden.
Andererseits könnte aus einer ganz anderen Perspektive heraus kritisiert werden, dass hier westliche Normen kulturell anders entwickelten Staaten hegemonial zu überformen suchen.
Dennoch spricht für die Weiterentwicklung der Nato, dass ohne sie – und gegen den Willen der USA – kaum eine globale Veränderung möglich wird. Auch die Möglichkeit für sich bedroht fühlende Staaten sich unter einen militärischen Schutzschirm zu begeben, könnte das Angebot attraktiv werden lassen und zur Beendigung des derzeit eskalierenden Kriegs in der Ukraine beitragen. Auch kann die UNO ohne die Unterstützung durch ein global agierendes weltpolizeilich agierendes Sicherheitssystem kaum eine Wirkung bei friedenstiftenden Maßnahmen erreichen. Und: Die aktuelle Situation ist mit ihrer beständigen militärischen Eskalation derart hoffnungslos, dass neue diplomatische Wege und Entwicklungsperspektiven eröffnet werden müssen, für die es sich für die Krieg führenden Staaten lohnt, einen Waffenstillstand und einen Frieden zu beschließen.
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Hierbei ist natürlich zu bedenken, wie eine noch mächtiger werdende Nato wiederum vor unkontrollierter Machtausübung gesichert und rechtsstaatlich in eine sich demokratisierende UNO eingebunden werden kann.
Also setzt ein derartiger Erweiterungsprozess sogleich die grundlegende Reform zweier transnationaler Organisationen voraus. Dies kommt erschwerend hinzu.
Viele Fragen, Problemstellungen und Argumentationsmöglichkeiten.
Wie gesagt, ein derartiges Szenario einer globalen NATO-Erweiterung ist unwahrscheinlich. Dies ergibt sich insbesondere aufgrund der aktuellen Ereignisse der zunehmenden Feindschaft und mangelnden Gesprächsbereitschaft zwischen den europäischen NATO-Staaten und dem russischen Aggressorstaat. Auch die als historisch zu bezeichnenden Auseinandersetzungen zwischen Selenskyj und Trump sowie Vance im Februar 2025 sprechen gegen einen derartigen Erweiterungsprozess.
Wie gesagt: Eher unwahrscheinlich - aber vom friedenspolitischen Gedankengang her erstrebenswert?
Anmerkungen:
[1] https://www.sicherheitneudenken.de/
[2] https://www.icanw.de/wp-content/uploads/2020/07/2019_vertragsheft.pdf
[3] https://www.un.org/en/summit-of-the-future/pact-for-the-future-zero-draft
[4] https://www.democracywithoutborders.org/we-the-peoples/
[5] Die Rekonstruktion der historischen Entwicklung des Verhältnisses Russlands zur Nato ist – neben meiner eigenen Einschätzung – u.a. an folgenden Quellen orientiert Arte-Dokumentation vom 2.4.2024: Arte (2024): Alte Freunde, neue Fronten.; Zagorski, Andrei (2010): Der russische Vorschlag für einen Vertrag über europäische Sicherheit: von der Medwedew-Initiative zum Korfu-Prozess. In: IFSH (Hrsg.), OSZE-Jahrbuch 2009, Baden-Baden 2010, S. 49-67. https://ifsh.de/file-CORE/documents/jahrbuch/09/Zagorski-dt.pdf, o.D., 3.4.2024; Bundesministerium der Verteidigung (2024): Dialog für mehr Transparenz. In: https://www.bmvg.de/de/themen/dossiers/die-nato-staerke-und-dialog/nato-russland-rat, o.D., 3.4.2024; Schmid, Ulrich (2021): Nato und Russland. Vom Beitrittswunsch zur Bedrohung. In: https://www.faz.net/aktuell/politik/politische-buecher/nato-und-russland-vom-beitrittswunsch-zur-bedrohung-17345639.html, 25.5.2021, 3.4.2024; Blätter für die deutsche und internationale Politik (2022): Krieg und Frieden: Der Ukraine-Konflikt. Themenheft März 2022.
[6] Bundesministerium der Verteidigung (2024): Dialog für mehr Transparenz. In: https://www.bmvg.de/de/themen/dossiers/die-nato-staerke-und-dialog/nato-russland-rat, o.D., 3.4.2024.
[7] Vgl. Schmid, Ulrich (2021): Nato und Russland. Vom Beitrittswunsch zur Bedrohung. In: https://www.faz.net/aktuell/politik/politische-buecher/nato-und-russland-vom-beitrittswunsch-zur-bedrohung-17345639.html, 25.5.2021, 3.4.2024.
(Ein erster Entwurf für diesen Diskussionsvorschlag wurde von mir in der Online-Zeitschrift ‚Telepolis‘ veröffentlicht: https://www.telepolis.de/features/Mit-diesem-Schritt-koennte-die-Nato-den-Streit-mit-Russland-umgehend-beenden-9670453.html, 29.3.2024; eine erweiterte Fassung wurde publiziert in: https://www.freitag.de/autoren/profdrklausmoegling1952/entwurf-einer-nato-erweiterung-zukuenftige-nato-erweiterung-nach-osten, 3.4.2024, letzte Überarbeitung am 26.2.2025.)
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5.7 Der UN-Zukunftspakt
Im Januar 2024 wurden Empfehlungen eines mit Hunderten von NGOs beratenen und weiter zu entwickelnden UN-Zukunftspakt (Pact for the Future) vorgelegt. Der Zukunftspakt basiert auf den UN-Reformprozessen zu ‚Our Common Agenda‘ des UN-Generalsekretariats, der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung und den SDG-Nachfolgekonferenzen. Der Text mit den Ergebnissen und Maßnahmen des UN-Zukunftspakts, wurde im September 2024 auf einen Zukunftsgipfel beschlossen und soll dann im Jahr 2026 der UN-Generalversammlung im Hinblick auf seine Umsetzung überprüft werden.
Die deutsche UN-Botschafterin Antje Leendertse und Namibias Botschafter Neville Gertze haben den Vorbereitungsprozess für den Zukunftspakt maßgeblich vorangetrieben. Im ‚Pact for the Future‘ wird die derzeitige globale Krisensituation als Ausgangspunkt für die erforderlichen Maßnahmen zusammenfassend skizziert:
„We are at a moment of acute global peril. Across our world, people are suffering from the effects of poverty, hunger, inequality, armed conflicts, violence, displacement, terrorism, climate change, disease, and the adverse impacts of technology. Humanity faces a range of potentially catastrophic and existential risks. We are also at a moment of opportunity, where advances in knowledge and technology, properly managed, could deliver a better future for all.“ [24]
Hierbei wird die multilaterale Kooperation hinsichtlich u.a. des UN-Sicherheitsrats sowie der weltweitern Finanzarchitektur kritisch betrachtet.
Die Empfehlungen für den Zukunftspakt, der im Spätsommer 2024 von den UN verabschiedet werden sollen (und auch in modifizierter Form verabschiedet wurde), plädiert für einen Neubeginn im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit auf der Grundlage der Charta der Vereinten Nationen. Ausgehend von den drei Säulen des UN-Regelungswerkes – Entwicklungs-, Friedens- bzw. Sicherheits- sowie Menschenrechtspolitik – werden eine Reihe von eher allgemein gehaltenen Veränderungsvorschlägen über 148 Themenpunkten auf 29 Seiten mit den Schwerpunkten auf der Armutsbekämpfung, der Friedenssicherung und dem Kampf gegen die Klimakrise und die Umweltzerstörung vorgenommen.
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Die Forderungen des Vorschlags zum UN-Zukunftspakts
Die Forderungen der Empfehlungen zum UN-Zukunftspaktes sind in fünf Themenbereiche gegliedert:
* Sustainable development and financing for development;
* International peace and security;
* Science, technology and innovation and digital cooperation;
* Youth and future generations;
* Transforming global governance;
Es wird u.a. im Punkt 23 die Ernsthaftigkeit der Situation angemessen formuliert:
„We remain resolved, between now and 2030, to end poverty in all its forms and dimensions and hunger, everywhere, as a priority. We recognize our responsibility to ensure the lasting protection of the planet and its natural resources and that we may be the last generation to have a chance of saving the planet.“ [25]
Es werden nun die Klimaziele der Pariser Klimakonferenz, inklusive des bereits in 2023 wohl überschrittenen 1,5-Grad-Zieles sowie das Ziel der Null-CO2-Emissionen für 2050, übernommen und insbesondere der Aspekt der Klimagerechtigkeit mit dem Blick auf die Entwicklungsländer fokussiert. Hierbei wird allerdings im Punkt 45 sehr allgemein, also ohne konkrete Verursacher zu benennen, daran erinnert, einseitige und aus nationalem Interesse gesteuerte Maßnahmen ökonomischer Protektion zu unterlassen, welche die sozialökologische Entwicklung der ärmeren Länder behindern könnten.
Im Mittelpunkt der Friedens- und Sicherheitspolitik der Empfehlungen des Zukunftspakts stehen zwar richtige, doch weitgehend sehr allgemein gehaltene Formulierungen, wie z.B. im Punkt 50:
„We recognize the interdependence of international peace and security, sustainable development and human rights. We reaffirm the need to build peaceful, just and inclusive societies that provide equal access to justice and are based on human rights, the rule of law and good governance at all levels and on transparent, effective and accountable institutions. In this regard, we recognize the importance of fostering a culture of peace, upholding the rule of law and promoting human security.“ [26]
Konkret wird die Halbierung aller weltweit auftretenden Gewaltfälle bis 2030 gefordert. Auch die Beteiligung von Frauen an allen Entscheidungen zur Durchsetzung von Frieden und Sicherheit sowie der Schutz von Zivilisten und insbesondere von Jugendlichen und Kindern in umkämpften Gebieten werden gefordert. Die Durchsetzungsmaßnahmen hierfür bleiben aber vage.
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Richtig wird endlich der Zusammenhang zwischen der Klimaentwicklung und gewalttätigen Auseinandersetzungen im Punkt 69 angesprochen:
„We recognize that climate impacts can multiply risks that fuel conflict. We encourage the relevant organs of the United Nations, as appropriate and within their respective mandates, to intensify their efforts in considering and addressing climate change, including its possible security implications. We urge the Security Council to address the peace and security implications of climate change in the mandates of peace operations and during discussions on other country or regional situations on its agenda, where relevant.“ [27]
Allerdings wird die umwelt- und klimazerstörende Wirkung des Militärs sowohl in Friedens- als auch Kriegszeiten nicht thematisiert. Da hierzu inzwischen genügend aussagekräftige Statistiken vorliegen, hätte dies an dieser Stelle sehr konkret benannt werden können. So bleiben in den Empfehlungen zum UN-Zukunftspakt die ökologischen Auswirkungen der Militarisierung der Welt ein blinder Fleck.
Es wird sich deutlich für die Weiterentwicklung und bessere Finanzierung von Peace-Keeping, Peace-Building sowie Enforcement Action, um die internationale Sicherheit auf der Grundlage des Kap VII der UN-Charta durchzusetzen, ausgesprochen, ohne allerdings hier konkrete und relevante finanzpolitische Instrumente zu benennen.
Es wird eine zukünftige UN-Generalversammlung vorgeschlagen, die sich mit internationalen Abrüstungsfragen befassen solle.
Im Punkt 81 wird sich für die zivile Nutzung der Atomenergie ausgesprochen:
„We reaffirm the inalienable right of all countries to develop research, production and use of nuclear energy for peaceful purposes without discrimination.“ [28]
Hierbei wird fahrlässiger Weise versäumt, die Gefahren, die von nuklearen Störfällen ausgehen, sowie die fehlende Entsorgungsmöglichkeit radioaktiven Mülls, zu thematisieren. Auch bleibt unerwähnt, dass die Erzeugung von Energie in Atomkraftwerken, die mit Abstand teuerste Methode der Energieerzeugung ist, die nur über massive staatliche Subventionen ermöglicht werden kann.
Bis zur endgültigen Abschaffung der Atomwaffen werden im Punkt 80 die Atomwaffenstaaten aufgefordert, Maßnahmen zu ergreifen, um einen Atomkrieg aus Versehen sowie den Einsatz von Atomwaffen in militärischen Konflikten zu verhindern. Des Weiteren werden zusätzliche Maßnahmen zur nuklearen Abrüstung gefordert. Die Vorschläge bleiben allgemein und verzichten sogar auf eine bewusste Nennung des UN-Atomwaffenverbotsvertrags.
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Hinsichtlich innovativer technologischer Entwicklungsmaßnahmen wird unter einem Sicherheitsaspekt angesprochen, Maßnahmen zu entwickeln, die eine friedliche Nutzung des Weltraums gewährleisten und die Austragung von militärischen Konflikten im Weltraum verhindern. Militärische Bedrohungen von im Weltraum stationierten Systemen sowie ein Wettrüsten im Weltraum müssten über entsprechende Regelungen verhindert werden. Derartige Regeln und Maßnahmen werden allerdings nicht konkretisiert.
Hinsichtlich des zu begrenzenden Einsatzes von KI in Waffensystemen und der Verhinderung von autonomen Waffensystemen finden sich in den Punkten 88 und 89 des vorgeschlagenen Zukunftspaktes hingegen etwas konkretere Formulierungen:
„88. Building on progress made in multilateral negotiations, we commit to concluding without delay a legally binding instrument to prohibit lethal autonomous weapons systems that function without human control or oversight, and which cannot be used in compliance with international humanitarian law, and to regulate all other types of autonomous weapons systems.
89. We commit to strengthening oversight mechanisms for the use of data-driven technology, including artificial intelligence, to support the maintenance of international peace and security. We also commit to developing norms, rules and principles on the design, development and use of military applications of artificial intelligence through a multilateral process, while also ensuring engagement with stakeholders from industry, academia, civil society and other sectors.“ [29]
Sehr zurückhaltend wird sich im Punkt 90 geäußert, lediglich Maßnahmen zu erkunden, die sich auf die Anwendung von Biotechnologien insbesondere auch für den Kriegsfall beziehen.
Der Bereich „Science, technology and innovation and digital cooperation“ betont die Nutzung der Wissenschaft und neuerer technologischer Entwicklung zum Wohle der Menschheit, indem hierdurch u.a. ein besseres Einkommen, mehr Nachhaltigkeit in der Produktion und mehr inklusive Formen der Partizipation im Sinne der Agenda 2030 gefördert würden. Im Zugang zu Wissenschaft und neuen Technologien müssten die großen Unterschiede zwischen reichen Staaten und Entwicklungsländern reduziert werden. Barrieren müssten weltweit abgebaut werden, die verhindern, dass Frauen und Mädchen einen Zugang insbesondere zur Naturwissenschaft und neuen Technologien haben.
Insbesondere müssten die Forschung und innovative Technologien zur Durchsetzung der Sustainable Development Goals (SDG) weltweit aktiviert und verbreitet werden. Und im Punkt 101 wird mit Bezug auf die Policy-Briefs des UN-Generalsekretariats noch einmal der Fokus auf die Situation der Entwicklungsländer und der Förderung digitaler Technologien gelegt:
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„We call upon the United Nations system to support the efforts of developing countries to develop and strengthen their national science, technology and innovation ecosystems. To facilitate these efforts, we welcome the Secretary-General’s vision to work towards a UN 2.0 to increase the effectiveness of the Organization through enhancing capabilities in data analytics, digital transformation, strategic foresight, and results orientation.“
Der Themenbereich „Youth and Future Generations“ betont, dass heutige Maßnahmen die Zukunft der Jugend und der nächsten Generationen determinieren. In diesem Zusammenhang werden politische Aktionen von jungen Menschen begrüßt, die sich für Klimaschutz, soziale Gerechtigkeit und Gleichstellung der Geschlechter einsetzen (Punkt 103). Der Aspekt eines Einsatzes für den Erhalt oder die Durchsetzung der Demokratie wird hier allerdings nicht – mit Rücksicht auf autoritäre Staaten? – genannt. Allerdings wird die Partizipation junger Menschen auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene eingefordert und die Einrichtung eines UN-Fonds bzw. UN-Investitions-Plattform gefordert, um die Jugendarbeit im Rahmen der Vereinten Nationen zu unterstützen (Punkt 111).
Jugendliche seien in allen Ländern zu schützen. Hindernisse der politischen Partizipation junger Menschen unter 30 Jahren seien abzubauen.
Der Themenbereich „Transforming global governance“ konnte keine konkreten Verbesserungsvorschläge vorlegen, die sich auf den UN-Sicherheitsrat und die UN-Generalversammlung beziehen. Es reichte hier – neben einigen allgemeinen Formulierungen zur verbesserten Kommunikation und Koordination der verschiedenen UN-Gremien – nur zu einer Anmerkung der Ko-Organisatoren, dass hier noch im Laufe des Jahres 2024 nachgearbeitet würde.
Besonders enttäuschend sind hier die allgemeinen und unverbindlichen Aussagen, dass die UN-Generalversammlung revitalisiert werden müsse. Die UN-Vollversammlung sei ein wichtiges beratendes und politikgestaltendendes Gremium, das in Zusammenarbeit mit dem UN-Sicherheitsrat und dem UN-Generalsekretär unter „voller Beachtung der bestehenden Mandate“ (Punkt 119) weiterhin zusammenarbeiten werde. Mehr ist hier – trotz der erheblichen Notwendigkeit einer Neustrukturierung des UN-Sicherheitsrats sowie der Zusammenarbeit von Sicherheitsrat und UN-Generalversammlung nicht zu entnehmen.
Im weiteren Verlauf der Ausführungen werden die Stärkung des UN-Economic and Social Council und dessen verbesserte Zusammenarbeit mit weiteren UN-Gremien u.a. zum Umgang mit globalen ökonomischen Schocks sowie zur Besserstellung ökonomisch unterentwickelter Regionen, insbesondere im Umgang mit der Schuldenproblematik, auf einer allgemeinen Ebene angesprochen.
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Eine Einordnung des bisherigen Entwicklungsstandes
Neben einigen begrüßenswerten allgemeinen Überlegungen zu den Menschenrechten, der ökologischen Nachhaltigkeit, der Partizipation, zur Verschuldungsproblematik und dem internationalen Reichtumsgefälle sowie der Sicherheits- und Friedenspolitik gibt es nur wenige konkrete innovative Forderungen in den Empfehlungen zum UN-Zukunftspakt, der im Laufe des Jahres 2024 weiter beraten und im September 2024 beschlossen werden soll.
Positiv zu sehen sind u.a. konkretere Vorschläge zur Gleichberechtigung von Frauen und Mädchen, zur Partizipation junger Menschen an Entscheidungsprozessen, zum Verbot autonomer Waffensysteme, die ohne menschliche Kontrolle funktionieren, sowie der starke Fokus auf die aufholende Entwicklung ärmerer Weltregionen. Auch die Ablehnung von Atomwaffen und die hiermit verbundenen Abrüstungsvorschläge sind positiv zu erwähnen.
Insgesamt positiv ist auch die Öffentlichkeitsarbeit der beiden UN-Botschafter im Rahmen der kollektiven Erstellung der Empfehlungen zum Zukunftspakt zu sehen: Es wurden umfangreiche Stellungnahmen im Rahmen partizipatorischer Kommunikation einbezogen:
· Von 80 Delegationen aus UN-Mitgliedsstaaten
· Von 500 Stellungnahmen von Dachgruppen (Major Groups) und zivilgesellschaftlichen Gruppen und ‚Stakeholders‘
Alle diese Stellungnahmen sind in einem transparenten Prozess veröffentlicht. [30] Im Rahmen von drei digitalen Veranstaltungen unter Mitwirkung von Delegationen der verschiedenen Gruppierungen und Institutionen werden die verschiedenen Vorschläge gelesen und diskutiert. Hieran lässt sich nichts aussetzen. Die hierzu veröffentlichten Dokumente der verschiedenen Ideengeber bilden eine Fülle von kreativen Vorschlägen der Weltgesellschaft zur Gestaltung der zukünftigen Welt und der Zukunft der Vereinten Nationen ab und sind ausgesprochen lesenswert.
Eher schwach ausgeprägt und dringend ergänzungsbedürftig sind Forderungen im Entwurf zum Zukunftspakt, die sich auf die Zentren der Macht in der globalen Sicherheits- und Finanzarchitektur beziehen. Hier scheinen die bisherigen Empfehlungen doch zu vorsichtig mit dem Blick auf mächtige Akteure im Rahmen der UN gewesen zu sein. Es bleibt abzuwarten, ob die noch im Sommer von Seiten der Koordinatoren vorzulegenden Vorschläge, z.B. zur Reform des UN-Sicherheitsrats, hier konkreter werden können.
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Die ökologischen Auswirkungen der Militarisierung der Welt sowohl in Friedens- als auch in Kriegszeiten bleiben unerwähnt. Hier wird lediglich der Einfluss der Klimaveränderungen auf gewalttätige Konflikte angesprochen. Des Weiteren liegt eine unkritische Ausrichtung an der zivilen Nutzung der Atomenergie vor, welche die vorhandenen Risiken und Probleme übersieht.
Im Juni soll ein Vorschlag zur Reform der UN-Institutionen vorgelegt werden. Im Mai 2024 wird ein Zukunftsgipfel ziviler NGOs in Nairobi durchgeführt, um den Zukunftspakt weiter zu beraten und vorzubereiten. So schreibt Rolf Bader (2024), ein IPPNW-Aktivist:
"Nairobi wurde als Tagungsort ausgewählt, um die Interessen und Belange Afrikas stärker gewichten zu können. Die ungleiche Verteilung von Lebenschancen zwischen Staaten des Südens und des Nordens ist eine wesentliche Ursache von Spannungen und gewaltsamen Konflikten. Auf der Konferenz der Zivilgesellschaft in Afrika wird sicher auch über Entschuldung, den Abbau des Protektionismus und über gerechtere Handelsstrukturen beraten werden.“ [31]
Mit dem Blick auf die im Untertitel gestellte Ausgangsfrage lässt sich feststellen, dass die UN über die Empfehlungen für einen zu beschließenden UN-Zukunftspakt tatsächlich etwas in Bewegung kommen könnte, allerdings ist es fraglich, ob die Luft dafür ausreicht, angesichts der vorhandenen und erwartbaren Bedrohungen schnell und kontinuierlich genug zu laufen. Oder anders ausgedrückt: Wie viel Tempo ist von den Akteuren des Reformprozesses zu erwarten und welche Hindernisse werden an Veränderung uninteressierte Machtzentren aufbauen, um den Reformlauf zu stoppen?
Wird der UN-Zukunftspakt nur ein ‚ziviles Feigenblättchen‘ darstellen und nur einen Alibi-Charakter für ansonsten nicht-partizipatorische Prozesse in inneren UN-Zirkeln der Macht haben? Die Beantwortung dieser Frage wird davon abhängen, mit wie viel Macht der UN-Zukunftspakt ausgestattet werden wird. Also: Welche Verbindlichkeit wird der Zukunftspakt haben? Welche Kontrollen und Sanktionen für die Einhaltung der konkreten im Zukunftspakt vorgesehenen Schritte für eine an den Sustainable Development Goals orientierten zukünftigen Weltentwicklung sind vorgesehen? Wer hat die die Macht, über den weiteren Implementierungsweg des UN-Zukunftspakts zu entscheiden? Und natürlich: Wie ist die Resonanz in den einzelnen Staaten sowie in der zivilen Weltgesellschaft und u.a. den NGOs, die an diesem Implementierungsprozess beteiligt sind? [32]
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New York und der beschlossene UN-Zukunftspakt im September 2024
Zum in New York im September 2024 von den weltweiten Regierungschefs verabschiedeten UN-Zukunftspakt ist positiv anzumerken, dass wichtige Aussagen zur Weiterentwicklung und Kontrolle der Künstlichen Intelligenz (KI) und auch zur Entwicklung autonomer Waffensysteme getroffen wurden. Auch die friedenspolitischen und auf soziale Gerechtigkeit abzielenden Perspektiven sind zu befürworten, bleiben allerdings noch immer ohne die notwendige Konkretisierung in den Umsetzungsmaßnahmen. Es werden des Weiteren u.a. richtige Forderungen zur Veränderung der internationalen Finanzarchitektur gestellt.
Wie vermutet gab es allerdings bei dem Vorschlagstext und bei der letztlichen Abstimmung des Textes keine einschneidenden Interventionen in zentrale Entscheidungsstrukturen und -mechanismen der UN. Der UN-Sicherheitsrat blieb im Wesentlichen unangetastet. Zwar wurde eine Erweiterung des UN-Sicherheitsrats u.a. um Vertreter des afrikanischen Kontinents angesprochen, jedoch blieben die Aussagen zur Veränderung des Veto-Rechts der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats überaus vage:
"The question of the veto is a key element of Security Council reform. We will intensify efforts to reach an agreement on the future of the veto, including discussions on limiting its scope and use;"
(United Nations (2024): Pact for the Future. Action 39 (g), 27)
Auch wurde keine Einrichtung eines demokratischen gewählten UN-Parlaments, parallel zur UN-Generalversammlung. gefordert. Entsprechende Vorschläge, z.B. von 'Democracy Without Borders' wurden in dem Vorschlag nicht umgesetzt. Es werden lediglich allgemein gehaltene Vorschläge zur Arbeit der UN-Generalversammlung vorgebracht. Die einzige Konkretisierung besteht in der Forderung nach Berücksichtigung weiblicher Kandidaten bei der Wahl des_r UN-Generalsekretärs_in durch die UN-Generalversammlung (United Nations (2024): Pact for the Future, Action 42 (c)).
Auch die Atomkraft verblieb als Zukunftstechnologie im gewünschten energiepolitischen Spektrum.
Auch die ökologischen Auswirkungen des Militärs im Alltagsbetrieb und auch im Kriegsfall blieben unerwähnt. Insgesamt fällt auf, dass zwar hinsichtlich Nachhaltigkeit und Friedenssicherung sowie nukleare Abrüstung viele Aspekte auf einer allgemeinen Ebene thematisiert wurden, ohne dass aber die konkreten Umsetzungsmaßnahmen und auch Strafen für ein Nicht-Einhalten benannt werden.
Es fehlen verbindliche Forderungen zu einer allgemein anerkannten UN-Gerichtsbarkeit für alle Mitglieder der Vereinten Nationen.
Dies bedeutet, dass der Prozess zum UN-Zukunftspakt zwar transparent war und Teile der internationalen Zivilgesellschaft einbeziehen konnte, erste notwendige Aussagen und Forderungen einbrachte, aber die Ergebnisse insgesamt unter ihren Möglichkeiten blieben und zu viel Rücksicht auf die global dominierenden Staaten genommen haben - letztlich zunächst eine vertane Chance für eine Stärkung und gleichzeitige Demokratisierung der UN.
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Dennoch hat der Prozess um den UN-Zukunftspakt einen positiven Effekt, indem sich hierüber internationale Kommunikationsstrukturen aufgebaut haben, die zu einem Zusammenschluss zahlreicher NGOs führten, die nun einen neuen Anlauf zur Reform der UN-Strukturen unternehmen wollen. Der ehemalige Geschäftsführer des IPPNW Rolf Bader fasst die Forderungen der internationalen NGOs zur Überarbeitung der UN-Charta, basierend auf dem Artikel 109, wie folgt zusammen:
"• Den Sicherheitsrat repräsentativer gestalten und den Einsatz des Vetos einschränken.
• Einbeziehung der Umwelt als Säule der UNO und Schaffung eines Earth Governance Council – neben dem Sicherheitsrat, dem Wirtschafts- und Sozialrat und einem hochrangigen Menschenrechtsrat – zur Bekämpfung des Klimawandels.
• Die Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofs verbindlich und universell machen.
• Die Gleichstellung der Geschlechter in den Amtszeiten der Generalsekretärin durchsetzen. Mehr Inklusion und Bürgerbeteiligung, zum Beispiel durch die Schaffung einer UN-Parlamentsversammlung.
• Während die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats kein Veto gegen die Abhaltung der Konferenz einlegen können, tritt eine Änderung der Charta (empfohlen durch eine Zweidrittelmehrheit der Konferenz) nur in Kraft, wenn sie von zwei Dritteln der UN-Mitglieder ratifiziert wird, einschließlich aller ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats. Das ist eine große Hürde, die es zu überwinden gilt.
Der Kampagne gehören renommierte internationale NGOs an – u. a. Democracy without Borders, Oxfam, Pax Christi, Coalition UN we need, Trust Africa, World Federal Movement, Global Governance Forum."
(Bader 2025)
Es bleibt abzuwarten, inwieweit das angestrebte Bündnis, das bis zum Frühjahr 2025 ca. 100 NGOs umfassen soll, noch einmal eine Richtungsänderung im Reformprozess der Vereinten Nationen bewirken kann. Erschwerend kommt hier der Ausgang der US-Wahlen und der nationalistische Kurs der zweiten Trump-Regierung hinzu, die durch ihren Rückzug aus verschiedenen UN-Bereichen versucht die Vereinten Nationen zu schwächen.
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Anmerkungen Kapitel 5.4 - 5.7
[1] Das vorliegende Kapitel stellt eine überarbeitete Fassung meines Beitrags in der Online-Zeitschrift Telepolis dar: https://www.heise.de/tp/features/Zukunft-der-EU-Militaerische-Grossmacht-oder-globale-Friedenskraft-7253544.html, 5.9.2022, 7.9.2022.
[2] Ruf, Werner (2018): Die vielen Gesichter der EU: Vom Friedenprojekt zur Festung Europa. In: Eis, Andreas/Moulin-Doos, Claire (Hrsg.) (2018): Kritische politische Europabildung – Die Vielfachkrise Europas als kollektive Lerngelegenheit. Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich, 91-105.
[3] Sicherlich hat der russische Überfall auf die Ukraine eine Vorgeschichte. Doch die Entscheidung der osteuropäischen Staaten, eine NATO-Aufnahme zu beantragen, ist eine sicherheitspolitische Entscheidung autonomer Staaten und kann nicht als Rechtfertigung für Russlands Angriff dienen. Kein Staat darf nur als ‚Vorhof‘ der eigenen geostrategischen Interessen betrachtet werden. Dies gilt sowohl für Russland als auch natürlich für die Vereinigten Staaten.
[4] Vgl. zu den notwendigen friedenspolitischen Maßnahmen u.a. meinen Beitrag in Telepolis: Russlands Krieg gegen die Ukraine: Vier Schritte nur zum Frieden? In: Telepolis, https://www.heise.de/tp/features/Russlands-Krieg-gegen-die-Ukraine-Vier-Schritte-nur-zum-Frieden-7132665.html?seite=2, 6.6.2022, 6.6.2022.
[5] Vgl. u.a. https://www.tagesspiegel.de/politik/putins-rede-kurz-vor-dem-angriff-wer-sich-einmischt-muss-mit-vergeltung-rechnen/28099766.html, 24.2.2022, 1.9.2022.
[6] Vgl. hierzu den Essay von Bernhard Trautvetter in: https://www.heise.de/tp/features/Wie-weit-ist-es-von-der-Zeitenwende-zum-Zeitenende-7250400.html, 1.9.2022, 1.9.2022, sowie den Beitrag von John Mearsheimer in: https://www.heise.de/tp/features/Brinkmanship-in-der-Ukraine-7246879.html?seite=all, 30.8.2022, 1.9.2022.
[7] Ruf, Werner (2020): Vom Underdog zum Global Player. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne. Köln: PapyRossa Verlag.
[8] Vgl. den Bezug zu der Medwedew-Aussage in https://www.welt.de/politik/ausland/article238010209/Medwedew-will-offenes-Eurasien-von-Lissabon-bis-Wladiwostok.html, 5.4.2022, 1.9.2022.
[9] Vgl. https://www.focus.de/politik/ausland/ukraine-krise/neue-doktrin-erlassen-was-russkij-mir-fuer-putins-aussenpolitik-bedeutet_id_141788633.html, 6.9.2022, 6.9.2022.
[10] Werner Ruf meldet hier bereits deutliche Bedenken über die friedensstiftende Rolle Deutschlands an, da Aufrüstung und Ausbau wirtschaftlicher und politischer Dominanz im EU-Rahmen und Waffenexporte in internationale Spannungsgebiete zu beobachten seien (Ruf 2020).
[11] GASP = Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (der EU), PESCO = Permanent Structured Cooperation (bezieht sich primär auf gemeinsame militärische Projekte der EU).
[12] Vgl. Leinen, Jo/Bummel, Andreas (2017): Das demokratische Weltparlament. J.H.W. Dietz-Verlag: Bonn.; neuere Zahlen für die Unterstützung der UNPA-Kampagne bei: https://www.unpacampaign.org/supporters/, 8.3.2025.
[13] Vgl. Becker, Ralf/ Maaß, Stefan/Schneider-Harpprecht, Christoph (Hrsg) (2019): Sicherheit neu denken. Von der militärischen zur zivilen Sicherheitspolitik – Ein Szenario bis zum Jahr 2040. In: https://www.sicherheitneudenken.de/media/download/variant/183983 , o.D., 30.4.2021, 33 ff.[
14] Ebenda
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[15] Ausführlicher hierzu: Roithner, Thomas (2020): Verglühtes Europa? Alternativen zur Militär- und Rüstungsunion. Vorschläge aktiver Friedenspolitik. Wien: myMorawa.
[16] Vgl. http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/friedensnobelpreistraeger-ican-kritisiert-bundesregierung-15234122.html, 6.10.2017, 8.1.18 und http://www.faz.net/aktuell/wissen/nobelpreise/friedensnobelpreis-geht-an-anti-atomwaffen-kampagne-ican-15233815.html, 6.10.2017, 8.1.18.
[17] In: https://www.worldfuturecouncil.org/de/weltzukunftsrat-foerdert-reduzierung-von-kleinwaffen/, o.D., 24.2.18.
[18] In: https://www.worldfuturecouncil.org/de/frieden-und-abruestung/, o.D., 24.2.18.
[19] Vgl. https://www.opcw.org/, 30.7.2018.
[20] Vgl. https://thebulletin.org/doomsday-clock/, 24.1.2023, 17.3.203.
[21] Vgl. auch Moegling (2023, 71ff.)
[22] Vgl. z.B. die Zeit-Veröffentlichung von Schmidt/Martiniere (2013) sowie den auf Arte gesendeten Film „Interpol – Wer kontrolliert die Weltpolizei?“ (2015)
[23] In: http://www.ag-friedensforschung.de/science/gutachten07.html, 14.6.2007, 30.8.2018.
[24] Pact for the Future, in: https://www.un.org/sites/un2.un.org/files/sotf-co-facilitators-zero-draft_pact-for-the-future.pdf, S.1, 26.1.2024, 13.3.2024.
[25] Pact for The Future: a.a.O., S.5.
[26] Pact for the Future: a.a.O., S.8.
[27] Pact for the Future: a.a.O., S.10.
[28] Pact for the Future: a.a.O., S. 12.
[29] Pact for the Future: a.a.O., S.12.
[30] Vgl. https://www.un.org/en/summit-of-the-future/pact-for-the-future-zero-draft, o.D., 15.3.2024.
[31] Bader, Rolf (2024): Reform der Vereinten Nationen. Freundlicher Angriff auf die Veto-Mächte, in: https://www.telepolis.de/features/Reform-der-Vereinten-Nationen-Freundlicher-Frontalangriff-auf-die-Veto-Maechte-9651133.html, 11.3.2024, 11.3.2024.
[32] Das Kapitel 5.7 basiert u.a. auf Ausführungen bei Moegling, Klaus (2024), in: https://www.freitag.de/autoren/profdrklausmoegling1952/reform-der-un-der-un-zukunftspakt-kommen-die-vereinten-nationen-in-bewegung, 13.3.2024, 15.3.2024.
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6 Erste Schritte auf einem langen Weg gesellschaftlicher Pazifizierung
Strategien, Engagement und Ziele müssen von den gleichen Werten getragen sein
Unter gesellschaftlicher Pazifizierung soll hier sowohl der Frieden in der sozialen Welt als auch der Frieden mit der Biosphäre gemeint sein. Hierbei ist im Sinne von Johan Galtung (1998) unter Frieden nicht nur die Abwesenheit von Krieg (negativer Frieden), sondern ein umfassender Frieden, ein positiver Frieden, gemeint. Positiver Frieden bezieht sich auf die Fähigkeit von Menschen, Gruppen, Institutionen und Gesellschaften, Konflikte ohne den Einsatz von physischer, kultureller oder struktureller Gewalt empathisch und kreativ lösen zu können. Gesellschaftliche Pazifizierung im Sinne eines positiven Friedens bezieht sich auf Gerechtigkeit und die Einhaltung von Menschenrechten in einer Gesellschaft sowie zwischen Gesellschaften. Hier soll des Weiteren unter positivem Frieden auch ein schonender und am Prinzip der Nachhaltigkeit orientierter Umgang mit der Natur gemeint sein. Die Zerstörung von Umwelten oder die Beschädigung der gesamten Biosphäre entziehen dem Leben auf diesem Planeten seine existenzielle Grundlage und führen, wie bereits ausgeführt, ebenfalls zunächst zu Verdrängungskonflikten und gewalttätigen Auseinandersetzungen.
Gesellschaftliche Pazifizierung lebt vom zivilgesellschaftlichen Engagement in einer Qualität, die ohne Gewalt gegen Menschen, Natur und Sachen auskommt. Das Anstoßen einschneidender gesellschaftlicher Reformen und die zivilgesellschaftliche Begleitung kann nur unter Ausnutzung aller kreativen und druckvollen Formen gesellschaftlichen Widerstands, Protests, Organisation, über ein verändertes Wählerverhalten und über veränderte Formen des Arbeitens und Zusammenlebens gelingen. Der Druck auf Parteien, Regierungen, Institutionen und Entscheidungsgremien muss über einen Zusammenschluss von maßgeblichen Teilen der Bevölkerung in Verbindung mit Wissenschaftlern, Bildungsarbeitern, Politikern, Ökonomen und Verwaltungsspezialisten gelingen, die friedliche Formen von Engagement, Widerstand und konstruktiven Konfliktverhalten nutzen, um den Einstieg in eine gesellschaftliche Transformation auf allen Ebenen vorzunehmen. Hierzu gehören Massenkundgebungen, Experten-Hearings, medienwirksame Tribunale, Blockaden, Sitzstreiks, Menschenketten, öffentliche Theaterarbeit, Protestkonzerte, Crowdfunding, Publikationstätigkeit und Medienarbeit, Gremien- und Parlamentsarbeit auf allen Ebenen, Parteiarbeit und Engagement in NGOs, aufklärende und emanzipierende Bildungsarbeit, Meditation und Selbstarbeit, Warenboykotts, Rituale und Therapien der Versöhnung, Schul- und Universitätsstreiks bis hin – im äußersten Fall – zu Generalstreiks im Schulterschluss mit dem überwiegenden Teil der Gewerkschaften, der veränderungsbereit ist. Generalstreiks sind das mächtigste Mittel im Einsatz für eine globale Neuordnung. Ebenfalls das Engagement in sozialökologisch ausgerichteten Parteien und der Druck über die Wählerstimme sollten hinsichtlich ihres Spielraums genutzt werden. Auch der Beginn eines alternativen Lebens und Arbeitens sowie die individuelle Umstellung des eigenen Konsumstils entfalten sofort und fortwährend eine Wirkung.
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In diesem Zusammenhang sind auch Ansätze und Widerstandsformen im Rahmen einer feministischen Sicherheits- und Außenpolitik zu thematisieren. Insbesondere die Frauen sind es, die in der Vergangenheit an vielen Formen des Protests und der Organisation gegen die vorwiegend männlich dominierten Gewaltstrukturen teilgenommen haben (vgl. Lunz 2022, 53 ff.). Da Frauen oftmals auch Opfer männlicher Gewalt sowohl in Friedens- als auch in Kriegszeiten waren und sind, ist es ihr prioritäres Anliegen sich für eine gesellschaftliche Neuordnung einzusetzen, die patriarchalische Gewaltstrukturen und den männlichen Militarismus überwinden hilft. Die Aktivitäten der NGO ‚Women’s League for Peace and Freedom‘ (WILPF) können als beispielhaft hierfür angesehen werden.
Alle diese vielfältigen Formen des Engagements müssen von den Werten einer neuen Ordnung geprägt sein, damit sie auch das angestrebte gesellschaftliche Ziel erreichen können und nicht in einen Widerspruch dazu geraten – es sind die Werte, die sich um folgende Begriffe zentrieren: Friedfertigkeit, Demokratie und Mündigkeit, Um(Mit)weltbewusstsein, Freiheit in Verantwortung, Gerechtigkeit und Solidarität. Mit Gewalttätigkeit und undemokratischen Mitteln ist keine Neuordnung im angestrebten Sinne zu erreichen. Hier würden die gewalttätigen Kräfte auch in veränderten gesellschaftlichen Konstellationen wieder zum Träger von Gewalt werden und für eine Gewalt ausübende gesellschaftliche Ordnung sorgen.
Ausgenommen vom unbedingten Gewaltverzicht sind explizit die demokratisch gewählten Organe einer neuen Ordnung im globalen Kontext im Sinne weltpolizeilichen Einsatzes, wenn es um die Bekämpfung von Kriminalität, massiver Umweltzerstörung, kriegerischer Aggression oder von Verstößen gegen die Menschenrechte geht. Es ist also zwischen einer Entwicklungsphase zu unterscheiden, in der zivilgesellschaftlicher Druck mit friedlichen, aber druckvollen Mitteln ausgeübt wird und den Notwendigkeiten eines Gewaltmonopols einer mit diesen Mitteln errichteten neuen sozialökologischen Gesellschaftsordnung internationaler Demokratie, um diese Ordnung im Sinne einer ‚wehrhaften globalen Demokratie‘ aufrechterhalten zu können.
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Strategien mit unterschiedlichen zeitlichen Perspektiven und Prioritäten
Im Bewusstsein der hier entwickelten langfristigen Vision für eine Neuordnung der Welt gilt es nun, strategisch erste Schritte zu skizzieren, die am jetzigen Zustand der globalen Gesellschaft und der Biosphäre anknüpfen. Was sind Ziele und Maßnahmen, die bereits zeitnah umgesetzt werden könnten? Hierbei soll eine Prioritätenliste für die meisten Sektoren gesellschaftlicher Transformation entwickelt werden. Kriterien für die vorderen Ränge auf dieser Liste sind die Relevanz hinsichtlich der Dringlichkeit, der Wirksamkeit, ihrer Legitimität sowie des Schwierigkeitsgrads hinsichtlich der gesellschaftlichen Durchsetzbarkeit. Am Anfang der verschiedenen Themengebiete kommen also zunächst Maßnahmen (prioritäre Maßnahmen: sofort oder innerhalb von 1-5 Jahren [1]), die meines Erachtens und gestützt auf gesellschaftliche und ökologische Daten äußerst dringend, sehr wirksam, ausgesprochen legitim und relativ leicht umsetzbar sind. Dann folgen notwendige Entwicklungsschritte hin zu einer Neuordnung, die mittelfristig vorzunehmen sind (mittelfristige Maßnahmen: innerhalb von 5-10 Jahren). Dies bedeutet dann nicht, dass die zuletzt genannten Maßnahmen (längerfristige Maßnahmen: innerhalb von 10-15 Jahren) im Rahmen dieser Prioritätenliste zu vernachlässigen sind, sondern bezieht sich insbesondere auf die zeitliche Perspektive und Komplexität der notwendigen Entwicklung. Alle hier aufgeführten Maßnahmen müssten ergriffen werden, wenn entscheidende Schritte hin zu einer gesellschaftlichen und ökologischen Neuordnung im globalen Maßstab – und damit verbunden – auf allen anderen Systemebenen vorgenommen werden sollen.
Es liegt für viele Menschen nahe, sich zunächst auf der örtlichen und wohnortnahen Ebene zu engagieren, in Klimabündnissen, projektbezogenen Initiativen, im Rahmen von Kommunalpolitik und lebensweltlichen Veränderungen. Über das lokale Engagement hinaus sollte daher auch versucht werden sich regional und überregional zu vernetzen, voneinander zu lernen, sich zu organisieren und miteinander international zu kommunizieren. Ein respektvoller Umgang in den sozialen Netzwerken und in eigenen kritischen Medien ist hierbei eine günstige Voraussetzung der Verbindung des Lokalen mit dem Globalen. Jeder, der sich lokal engagiert, sollte auch Mitglied in einer überregionalen bzw. internationalen Initiative bzw. Organisation sein. Dadurch ist im Sinne holistischen Denkens eine systemische Rückkoppelungswirkung und Wirkungserhöhung von lokalen, regionalen, überregionalen und globalen strategischen Maßnahmen möglich.
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Die hier über einen Zeitraum von 1-15 Jahren vorzustellenden Maßnahmen stellen dann auch den Beginn einer systemischen Neuordnung in noch längerfristiger Perspektive dar. Der derzeit im globalen Kontext entfesselte Kapitalismus ist mit diesen Maßnahmen und weiteren Entwicklungsschritten soweit einzuhegen und zu zähmen, dass durch diese systemische Transformation Schritt für Schritt eine neue Ordnung weltweit entsteht, die nicht mehr durch Profitstreben, Ausbeutung und Gier, sondern zunehmend durch gemeinwohlorientiertes Wirtschaften, Gerechtigkeitsstreben, Demokratisierung, tragfähige multilaterale Diplomatie und ökologische Verantwortungsübernahme gesteuert wird.
Diese sozialökologische, ökonomische und demokratische Neuordnung kann dann wohl nicht mehr ‚Kapitalismus‘ genannt werden.
6.1 Ökonomische Entwicklungsschritte
Um ökonomische Entwicklungsschritte in Verantwortung für die Erde als Ganzes voranzutreiben, ist eine Neuausrichtung der UN-Sonderorganisationen im Auftrag der demokratisch zu wählenden UN-Institutionen notwendig. Weltbank, IWF und WTO müssen zu einer Transformation Ihrer Förder-, Sanktions- und Investitionspolitik bewegt werden.
Um globale Wirtschafts- und Finanzkrisen zu vermeiden und erste Systemänderungen einzuleiten, sind zunächst folgende Schritte international von Seiten der UN und ihrer Sonderorganisationen, von transnationalen Staatenverbünden und nationalen Regierungen unterstützt durch internationalen, nationalen und regionalen zivilgesellschaftlichen Druck zu initiieren:
Prioritäre Maßnahmen (sofort oder innerhalb von 1-5 Jahren):
· Staaten und transnationale Institutionen müssen sich zu einer verantwortlichen öffentlichen Investitionspolitik verpflichten. Insbesondere in Zeiten konjunkturellen Abschwungs sind im keynesianischen Sinne die Investitionen der öffentlichen Hand zu erhöhen. Hierbei sollte dies insbesondere über die Erhöhung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Bevölkerung über die Erhöhung von Mindestlöhnen, Rentenzuschüssen und Zuschüssen zu sozialen Versicherungsleistungen geschehen. Auch ein effektiverer Mietendeckel, der bezahlbaren Wohnraum eröffnet, wird hier notwendig sein.
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· Zur Finanzierung der notwendigen Reformmaßnahmen sind u.a. die Einkommens- und Vermögensteuer für Reiche sowie die Erbschaftssteuer bei großen Vermögen deutlich und in einem progressiven Sinne zu erhöhen.
· Hypothekenverbriefung und hochspekulative Geschäfte mit Derivaten sind zu verbieten. Auf beispielsweise den Niedergang von Währungen oder auf eintretende Umweltkatastrophen zu wetten ist zukünftig nicht mehr erlaubt und strafbar. Auf Finanzspekulationen sind international abgestimmte und wirksame Finanztransaktionssteuern sowohl für Aktien, Devisen, Anleihen als auch für den Teil der noch erlaubten Derivate zu erheben. Dies kann zeitnah mit den hierzu bereiten Staaten bzw. Regionen beginnen und ist längerfristig auszuweiten.
· Privatwirtschaftlich organisierte Kryptowährungen sind international zu verbieten. Die öffentliche Hand muss die Kontrolle über die Währungen behalten.
· Zinsen dürfen nur innerhalb eines genehmigten Spielraums gewährt bzw. genommen werden, um die Sicherheit des Kreditnehmers zu gewährleisten bzw. vergleichbare Bedingungen für Kreditgeber zu ermöglichen.
· Multinationale Unternehmen müssen dort Steuern zahlen, wo sie auch Gewinne erwirtschaften. Umschichtungen von Gewinnen zu Steueroasen bzw. von Verlusten zu Hochsteuerländern werden im Rahmen internationaler Kooperation unterbunden. Konzernentflechtungen und z.T. auch staatliche Übernahmen bei schädigendem Verhalten sind zu prüfen und zu entscheiden.
· Es ist ein strenges Lieferkettengesetz weltweit zu verabschieden, das Konzerne bei inhumanen und umweltfeindlichen Produktionsbedingungen ihrer Zulieferfirmen in strafrechtliche Haftung nimmt.
· Die Verletzung der Menschenrechte und die Verursachung von Umweltschäden durch ökonomische Aktivitäten sind international unter Strafe zu stellen. Die Externalisierung dieser Verbrechen zugunsten der Anteilseigner von Konzernen und zulasten der Betroffenen und der Allgemeinheit wird hierdurch verhindert.
· Es sind international gültige Mindeststeuern für multinationale Unternehmungen einzuführen (20-25%), um Steuerdumping und Erpressung von Staaten durch Konzerne zu verhindern.
· Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist als Bezugspunkt volkswirtschaftlicher Berechnung der ökonomischen Leistungsfähigkeit von Gesellschaften im Sinne des Wirtschaftswachstumsdenkens zugunsten eines Index abzulösen, der die Versorgung der Menschen mit Grundnahrungsmitteln, die Einhaltung der Menschenrechte in Arbeitszusammenhängen; Bildungsstrukturen, Gesundheitsversorgung sowie den Ertrag einer ökologisch schonenden Wirtschaftsweise fokussiert.
· Es müssen verstärkt Ökonomen und Politikern des Globalen Südens in multilaterale Institutionen aufgenommen werden, wie z.B. der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds, um günstigere Finanzierungs- und Kreditbedingungen für Länder des Globalen Südens zu bewirken. Es müssen verbindliche ökonomische Ziele gesetzt und Maßnahmen begonnen werden, die mit dem Blick auf die Jahrhunderte andauernde Kolonialisierung und Ausbeutung der Regionen des Globalen Südens über multilaterale Verständigungsprozesse einen ökonomischen und finanzpolitischen Ausgleich schaffen.
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Mittelfristige Maßnahmen (innerhalb von 5-10 Jahren):
· Weltweit sind in den Betrieben gewerkschaftliche Interessensvertretungen und Betriebsräte einzurichten. Belegschaften sind an den Unternehmensgewinnen mit kreativen Modellen maßgeblich zu beteiligen.
· Es sind von allen Banken relevante Sicherungsfonds für Spareinlagen zu finanzieren und einzurichten, um internationalen Finanzkrisen vorzubeugen. Vorhandene Einlagensicherungsgrenzen sollten nicht über das Niveau von 20% des Einlagenkapitals abgebaut werden. Einlagen- und Investmentbanking müssen voneinander organisatorisch getrennt werden.
· Das Recht auf Bargeld muss erhalten bleiben, damit das individuelle Kaufverhalten außerhalb staatlicher oder sonstiger digitaler Kontrolle bleibt.
· Betriebe solidarischer Ökonomie (Non-Profitorientierung, Nachhaltigkeit, demokratische Entscheidungsstrukturen, Gemeinwohlorientierung) sind mit speziellen öffentlichen Programmen besonders zu fördern, die wiederum aus den Einnahmen aus der Finanztransaktionssteuer zu finanzieren sind.
· Es sind international und in allen Staaten und Regionen ein Sammel- und ein Verbandsklagerecht gegen Konzerne einzuräumen. Dieser Anforderung zuwider laufende Regelungen internationaler Verträge sind zu beseitigen bzw. zu widerrufen.
· Das Phänomen des ‚ungleichen Tauschs‘ ist Schritt für Schritt zu revidieren. Welthandelspreise müssen den realen Wert spiegeln, der durch die Arbeitskraft der Menschen und die eingesetzten natürlichen Ressourcen entstanden ist. Es sind erste Schritte zu einem weltweiten Mindestlohn anzubahnen.
· Waffenhersteller, wie z.B. die Produzenten von Tellerminen, müssen für die Entsorgungskosten haften.
Längerfristige Maßnahmen (innerhalb von 10-15 Jahren):
· Ärmeren Staaten bzw. transnationalen Regionen soll es im Kontext UN-gesteuerter internationaler Absprachen erlaubt sein, für einen zu definierenden Zeitraum moderate Schutzzölle zugunsten ihrer volkswirtschaftlichen Entwicklung erheben zu dürfen, ohne dass hier Gegenmaßnahmen getroffen werden. Dies gilt insbesondere für Länder des Globalen Südens, die ein Recht auf ein Heraustreten aus postkolonialen Strukturen haben und deren eigenständige Entwicklung zu schützen ist.
· Während es reicheren Staaten bzw. Regionen in der Regel nicht erlaubt sein darf, ökonomische Produkte bzw. Dienstleistungen mit öffentlichen Mitteln zu subventionieren (Ausnahme: Solidarwirtschaft), kann dies wiederum im Kontext internationaler Absprachen, ärmeren Volkswirtschaften über einen zu definierenden Zeitraum genehmigt werden.
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· Es sind Schritte zur Anbahnung einer einzigen Weltwährung vorzunehmen, um Spekulationen mit nationalen und regionalen Devisen zu verhindern.
· Wirksame Finanztransaktionssteuern sind auf alle Finanzprodukte und alle Staaten bzw. Regionen auszuweiten.
· Die Konzernstrukturen sind weiterhin zu entflechten, marktbeherrschende multinationale Unternehmen zu enteignen, zu verkleinern, im Falle gesellschaftlich unverantwortlichen Verhaltens zu verstaatlichen und zu demokratisieren sowie kleinere sowie mittelständige Betriebe der Solidarwirtschaft besonders zu fördern.
· Es sind nationale bzw. regionale Steuerkorridore international einzurichten, welche die staatlichen Grenzen insbesondere der Unternehmensbesteuerung definieren. Hierdurch wird nationales Steuerdumping verhindert sowie eine anhand der volkswirtschaftlichen Bedürftigkeit eines Staates bzw. einer Region abgestimmte Besteuerung ermöglicht. Hierdurch wird die Existenz von asozialen Steueroasen verhindert.
· Es ist ein Refinanzierungsmodell zu entwickeln, wie die Rüstungsindustrie längerfristig an den bereits entstandenen gesellschaftlichen und ökologischen Kosten von Kriegen beteiligt wird. Die Rüstungsindustrie und die Waffenlieferanten sind an den Wiederaufbaukosten in Kriegen zerstörter Städte angemessen zu beteiligen.
6.2 Demokratische Entwicklungsschritte
Prioritäre Maßnahmen (sofort oder innerhalb von 1-5 Jahren):
· Eine international zusammengesetzte Kommission auf der Ebene der UN entwickelt ein Daten basiertes Gutachten, in dem kriteriengeleitet analysiert wird, welche Staaten als demokratisch eingestuft werden können. Hiermit sind Vorschläge und Maßnahmen verbunden, wie eine Redemokratisierung autoritativer Staaten sowie eine Demokratisierung von Diktaturen durch positive Anreize aber auch Sanktionen auf der staatlich-institutionellen sowie auf der gesellschaftlichen Ebene gelingen können.
· Alle UN-Strukturen müssten daraufhin überprüft werden, wie die Staaten des Globalen Südens stärker und gleichberechtigt einbezogen werden können. Solange es den UN-Sicherheitsrat mit ständigen Mitgliedern noch gibt, ist selbstverständlich auch ein Einbezug von Staaten des Globalen Südens, wie z.B. Brasilien oder Indien, in diesen mit extremer Macht ausgestatteten Kreis vorzusehen. Mittel- und langfristig ist aber die zentrale Macht innerhalb der UN an demokratisch gewählte Gremien zu übergeben. Dies entspricht der Entwicklung einer multipolaren Weltordnung, die sich mehr und mehr von einer Dominanz westlicher Staaten, insbesondere der USA, löst.
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· Es müssen weitere Schritte zur Demokratisierung der Vereinten Nationen vorgenommen werden. Hierzu müssten sich u.a. die UNPA-Kampagne mit der Interparliamentary Union verständigen und im Sinne von synergetischen Anstrengungen versuchen, zunächst ein demokratisches Weltparlament als UN-Nebenorgan einrichten zu lassen, dessen Kompetenzen dann Schritt für Schritt erweitert werden können.
· Hierzu müsste ein entsprechender Antrag zur Einrichtung eines demokratischen Weltparlaments von beiden internationalen Vernetzungen gemeinsam in die UN-Vollversammlung eingebracht werden. Anschließend bietet sich die Möglichkeit, im Sinne des Art. 22 der UNO-Charta zunächst eine parallel tagende United Nations Parliamentary Assembly (UNPA) einzurichten, die aus demokratischen Wahlen in den Staaten hervorgeht, die den entsprechenden Vertrag unterstützen.
· Um eine sinnvolle Balance von Formen direkter und indirekter Demokratie auf allen Ebenen zu erzielen, sollte kurzfristig über einen Beschluss der UN-Vollversammlung die Möglichkeit zu einer UN-Weltbürgerinitiative (UNWCI) eingerichtet werden. Globale weltbürgerliche Begehren und Befragungen, die digital zu organisieren sind, könnten in Beschlüsse des UN-Parlaments einfließen, wenn deren Sitzungsperiode stattfindet.
· Alle demokratischen Innovationen müssen darauf hin untersucht werden, inwiefern hier eine Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen gegeben sind. Entsprechende institutionelle Mechanismen zur partizipativen Gleichberechtigung sind einzurichten.
· Andreas Zumach (2021) unterbreitet einen Vorschlag zur zukünftigen Finanzierung der Vereinten Nationen: Um aber eine Reform und eine Steigerung der Wirksamkeit der derzeit geschwächten Vereinten Nationen z.B. bei der Bekämpfung von Hungersnöten oder der Klimakrise oder zum Schutz bedrohter Menschengruppen zu bewirken, müsse die strukturell bedingte chronische Finanznot der UNO überwunden werden. Während die UN-Mitgliedsstaaten 2019 knapp zwei Billionen US-Dollar für Rüstung und militärisches Personal ausgäben, hätten sie nur noch 53 Milliarden Dollar (= 0,065% des globalen BIP) vorwiegend in Form freiwilliger Beiträge übrig. Zumach (2021, 35) berechnet dies Missverhältnis mit 248 Dollar pro Erdenbewohner für Militärausgaben und nur weniger als 7 Dollar für die Finanzierung der UNO. Zumach (2021, 40) unterbreitet einen durchgerechneten Finanzierungsvorschlag für die Vereinten Nationen: "Eine Möglichkeit wäre es, die UNO-Beiträge nach einem festen Prozentsatz des weltweiten Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu bestimmen. 0,06 des globalen BIP im Jahr 2019 von 87,55 Billionen US-Dollar, aufgebracht durch verbindliche Pflichtzahlungen der Mitgliedsländer von 0,06 ihres jeweiligen nationalen BIP, hätten verlässliche Finanzmittel für das UNO-System von 52,5 Milliarden erbracht statt der unverbindlichen budgetierten, zu 80 Prozent in Form freiwilliger Beiträge zugesagten 53 Milliarden." Allerdings ist aufgrund der im vorliegenden Entwurf einer globalen Neuordnung vorgesehenen Aufgabenerweiterung schrittweise eine deutlichere Erhöhung der Pflichtzahlungen an die Vereinten Nationen parallel zur wachsenden Friedensdividende und dem Wegfall der Steueroasen vorzusehen - zunächst innerhalb der ersten fünf Jahre auf 0,5% des Bruttoinlandsprodukts.
- Demokratie darf nicht an der Unternehmenstür enden. Insbesondere in vielen Ländern des globalen Südens sind überhaupt erst einmal die ausreichenden gesetzlichen Grundlagen betrieblicher Mitbestimmung anzulegen. In Ländern des globalen Nordens, wo die betriebliche Mitbestimmung auf dem Rückzug ist bzw. von Konzernspitzen mit ihren Anwaltskanzleien bekämpft wird, müssten wirksamere Strafen für die Behinderung betrieblicher Mitbestimmung eingeführt werden. Hierzu gehört ein Schutz der sich engagierenden Arbeitnehmer_innen gegen die Einschüchterung von Initiatoren_innen von Betriebsratswahlen sowie gegen die aktive Behinderung der Wahlen durch die Unternehmensleitung.
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Mittelfristige Maßnahmen (innerhalb von 5 -10 Jahren):
· Nationalstaaten und Regionen sind ressourciell mit Expertise und finanzieller Förderung von Seiten der UN zu unterstützen, die sich entschließen, eine Redemokratisierung vorzunehmen bzw. erstmals eine demokratische Ordnung anzunehmen. Resistente Diktaturen sind zu sanktionieren, z.B. Vorteile im internationalen Handelssystem zu entziehen.
· Alle Nationalstaaten unterstellen sich der internationalen Gerichtsbarkeit der verschiedenen Kammern des Internationalen Gerichtshofs in Fällen, die internationale Belange betreffen und einer überstaatlichen Gerichtsbarkeit bedürfen. Die internationale Gerichtsbarkeit steht dann über der nationalen und örtlichen Justiz.
· Die weltpolizeiliche Zusammenarbeit ist zu stärken. Hierfür wird eine zentrale weltpolizeiliche Koordinierungsstelle eingerichtet, die bei den Vereinten Nationen positioniert ist.
· Es ist in diesem institutionellen Kontext auch eine zentrale umweltpolizeiliche Abteilung bei den UN zu gründen, die mit Exekutivrechten ausgestattet, bei einer entsprechenden Beschlusslage des UN-Parlaments bzw. des internationalen Gerichtshofs vermittelt über den/die UN-Generalsekretär/in bzw. dann über den/die UN-Präsidenten_in initiativ werden kann.
· Das Weltparlament wird in freien Wahlen mit zwei Stimmrechten (Direktkandidat und Partei) gewählt. Die Wahlen werden digital in allen UN-Mitgliedssaaten durchgeführt. Entsprechend geschützte Abstimmungsmöglichkeiten sind weltweit einzurichten und zu gewährleisten.
· Die Arbeit des Weltparlaments wird aufgenommen. Ihre Vertreter_innen werden in weltweiten demokratischen Wahlen ermittelt. Die Kompetenzen des Weltparlaments werden im Laufe dieser Periode schrittweise in Kooperation mit der UN-Generalversammlung und parallel zur Abnahme der Entscheidungsbefugnisse des UN-Sicherheitsrats erweitert. Die UN-Charta ist nach demokratischem Beschluss entsprechend anzupassen bzw. zu erweitern.
· Das Weltparlament wählt souverän den/die UN-Generalsekretär_in, der_die de facto das globale Präsidentenamt übernimmt. Das UN-Generalsekretariat hat dann auch das Vorschlagsrecht für den Zuschnitt der Ressorts und für die Ernennung der Minister_innen, die allerdings sich im Weltparlament vorstellen und von diesem erst in Abstimmung mit einfacher Mehrheit bestätigt werden müssen.
· Der rechtliche Status des Weltbürgertums ist über einen Weltbürgerpass einzuführen, der digital bei der zuständigen UN-Behörde beantragt werden kann. Dieser international gültige Pass ersetzt Schritt für Schritt die nationalen Passdokumente.
· Die Pflichtabgaben an die Vereinten Nationen von Seiten der Nationen bzw. regionaler Staatenverbünde sind Schritt für Schritt auf 1% des Bruttoinlandsprodukts im Zuge der wachsenden Friedensdividende und den wachsenden Steuereinnahmen durch den Wegfall der Steueroasen zu erhöhen, damit die erweiterte Aufgabenübernahme hinsichtlich globaler Verwaltung, Justiz, Politikgestaltung und Friedenssicherung finanziert werden kann.
Längerfristige Maßnahmen (innerhalb von 10-15 Jahren):
· Die Vereinten Nationen sollten auch langfristig ihre Verantwortung gegenüber einer Stärkung der Demokratie und demokratischer Parlamente in den internationalen Auseinandersetzungen um die Vernichtung bzw. das Zurückdrängen der Demokratie, um den Ausgleich sozialer Ungerechtigkeit, die Friedenssicherung, dem Ausbruch von Pandemien sowie der Umweltzerstörung in verschiedenen Weltregionen intensiver wahrnehmen. Des Weiteren ist langfristig die Übertragung von nationalstaatlichen Hoheitsrechten an die UN einzurichten, wo globale Belange berührt sind bzw. Probleme nur global geregelt werden können. Die Vereinten Nationen sind hierfür mit den entsprechenden Institutionen und den notwendigen Ressourcen auszustatten.
· Die Pflichtabgaben an die Vereinten Nationen sind auf 2% des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen. Sie erreichen nun mit der gestiegenen Verantwortung hinsichtlich der Organisation von Wahlen, der finanziellen Zuwendungen für Verantwortung tragende Institutionen und Personen und besonders der internationalen Friedenssicherung, u.a. der Finanzierung zivilgesellschaftlicher Friedensinitiativen, der Weltpolizei sowie des ständigen UN-Militärs, die vorläufige Obergrenze von 2% des Bruttoinlandsprodukts.
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· Ist ein souveränes demokratisches Weltparlament mit den entsprechenden Hoheitsrechten erreicht, das aus der UNPA-Initiative Schritt für Schritt hervorgeht, so sind weitere Entscheidungskompetenzen des UN-Sicherheitsrats an das UN-Parlament zu übertragen. Der UN-Sicherheitsrat wird von dem demokratischen Weltparlament gewählt. Alle seine Mitglieder haben das gleiche Stimmrecht. Das Veto-Recht privilegierter Staaten wird abgeschafft.
· Die vom/ von der UN-Generalsekretär_in geleitete Weltregierung, ist strikt und verfassungsrechtlich einklagbar dem Subsidiaritätsprinzip verpflichtet. Die entsprechende Kammer und das oberste Weltverfassungsgericht kontrollieren insbesondere die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips. Es kann Verbandsklage vor dem Internationalen Gerichtshof eingereicht werden, wenn die (zu erweiternde UN-Charta) verletzt wird.
6.3 Ökologische Entwicklungsschritte
Prioritäre Maßnahmen (sofort oder innerhalb von 1-5 Jahren):
· Die bereits eintretende Klimaerwärmung der Biosphäre bedroht die Lebensgrundlagen der Menschheit. Hier muss es möglichst kurzfristig auf der Ebene der Vereinigten Nationen eine Nulltoleranz-Politik gegenüber Nationen und Konzernen geben, die das internationale umweltpolitische Vertragswerk, z.B. die Pariser Klimaverträge, im Kampf gegen die Klimaerwärmung und die Überschreitung des 1,5-Grad-Ziels boykottieren. Es müssen alle Sanktionsmittel ausgenutzt werden, die eine entsprechend zu verändernde Charta der Vereinten Nationen bietet, um eine Erwärmung der Erdatmosphäre um zwei Grad bis zum Ende des 21. Jahrhunderts noch deutlich zu unterschreiten. In diesem Zusammenhang müssen die UN auch ein Mandat erhalten, bei massiven Eingriffen eines Nationalstaates in Klima relevante Naturbestände mit abgestuften Sanktionen intervenieren zu können. So kann es beispielsweise Brasilien nicht mehr gestattet werden, seinen Regenwald, die Lunge der Erde, für Soja-Anbau, Rinderzucht, Goldgräberei und Bodenspekulation massiv abzuholzen bzw. abzubrennen. Hierfür ist eine mit Exekutivmacht ausgestattete zentrale Umweltschutzorganisation der Vereinten Nationen zu gründen, die in Zusammenarbeit mit regionalen und lokalen Umweltschutzbehörden die Einhaltung der Umweltstandards überwacht und entsprechende Sanktionen kontrolliert. Das Umweltprogramm UNEP, der Weltklimarat IPCC und die UN-Umwelt-Versammlung (UNEA) reichen hierfür als Institutionalisierung auf der globalen Ebene nicht aus.
· Es sind die Konzeptionen eines wirkungsvolleren Handels mit Emissionszertifikaten umzusetzen sowie das Verhängen von Strafzöllen auf klimafeindlich und umweltschädlich produzierte Waren zu erheben, so dass sich für Konzerne und Volkswirtschaften eine derartige Produktion nicht mehr lohnt.
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· Parallel zum Ausbau einer solaren Energieversorgungsinfrastruktur werden Maßnahmen getroffen, die Verstromung von Braun- und Steinkohle zu beenden (siehe auch mittel- sowie längerfristige Maßnahmen). Übergangsweise kann die Versorgung mit Wärme und Strom auch über die Verbrennung von Klärschlamm in den ehemals auf fossiler Basis arbeitenden Kraftwerken gewährleistet werden. Die Versorgung mit Fernwärme aus Kraftwerken sollte ausgebaut werden. Modernisierte Gaskraftwerke können in der Anfangsphase der sozialökologischen Transformation die Versorgungssicherheit gewährleisten. Anlagen mit Großbatterien sind auszubauen, um Dunkelflauten auszugleichen und eine gleichmäßige Energieversorgung zu gewährleisten.
· Atomkraftwerke stellen aufgrund ihrer Gefährlichkeit (siehe Tschernobyl, Harrisburg, Fukushima) sowie der nicht vorhandenen Entsorgungs- bzw. Transmutationsmöglichkeit des radioaktiven Materials keine energiewirtschaftliche Alternative dar. Atomstrom ist zudem mit Abstand die teuerste Stromquelle, wenn man die staatlichen Subventionen, die notwendigerweise zu entwickelnden Entsorgungsleistungen über Tausende von Jahren und den durchaus wahrscheinlichen Fall weiterer nuklearer Katastrophe berücksichtigt. Atomkraftwerke behindern die konsequente Transformation in eine solare Energieversorgungsinfrastruktur und sind weltweit zügig abzuschalten. Versuche des 'Greenwashing' von Atomkraft sind öffentlich zu tabuisieren, stellen einen Bezugspunkt zivilgesellschaftlichen Widerstands dar und sollten parlamentarisch abgelehnt werden (zum Versuch des 'Greenwashing' durch die EU-Kommission vgl. Moegling 2022).
· Es ist ein internationaler sofortiger Boykott aller Erträge sogenannter ‚unkonventioneller Methoden‘ der Energiegewinnung (Fracking, Erdöl aus Teersand sowie Kohletagebau durch Bergsprengung) durchzuführen. Aber auch der ‚normale‘ Abbau von Kohle und die konventionelle Gewinnung von Öl und Gas ist Schritt für Schritt in den nächsten Jahren mit der Zunahme regenerativer Energieerzeugung und intelligenter Stromnetze und Speicherungsmöglichkeiten zu stoppen.
· Das Flugbenzin ist zu besteuern. Die Umwelt mit NOx verschmutzende Diesel-Fahrzeuge und Benziner mit überdurchschnittlichem CO2-Verbrauch sind höher zu besteuern. Das steuerbegünstigte Dienstwagenprinzip ist abzuschaffen bzw. sollte nur bei ökologisch verträglichen Fahrzeugen angewandt werden. 40.000 vorwiegend mit extrem umweltschädigendem Schweröl betriebene Handelsschiffe und 300 Kreuzfahrtschiffe sind mit massiven CO2-Steuern zu belegen, so dass eine kurzfristige Stilllegung oder eine mittelfristige Umstellung in den Antriebstechniken erforderlich wird. Dies ist durch die entsprechenden UN-Institutionen international zu koordinieren, so dass es hier keine Ausnahmen geben kann. Neben der Absenkung der Treibhausgasemissionen durch den teurer werdenden und dadurch sich z.T. nicht mehr lohnenden internationalen Transport werden hierdurch einerseits die umweltfreundliche Umstellung der Antriebstechniken und andererseits die regionale Produktion sowie die Konsumtion regionaler Produkte gefördert.
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· Die Entsorgung von Plastikmüll im Meer ist unmittelbar zu stoppen. Die Produzenten z.B. von Plastikverpackungen und Plastiktüten sind an der Beseitigung der Plastikvermüllung im Meer finanziell maßgeblich zu beteiligen. Die Externalisierung der Umweltkosten durch die Plastikmüllproduzenten kann hierdurch beendet werden.
· Recyclingketten müssen durchgehend organisiert werden, um die Wiederverwertung von anfallenden Abfallstoffen zu ermöglichen. Kontrollen müssen die effektive Mülltrennung gewährleisten. In diesem Zusammenhang muss auch der Müllexport in andere, vor allem südliche Länder gestoppt werden. Der Müll muss dort entsorgt bzw. recycelt werden, wo er verwendet wird.
· Staaten und Regionen, die noch keine Geschwindigkeitsbegrenzungen auf ihren Autobahnen eingeführt haben, können dies nach den entsprechenden parlamentarischen Entscheidungen kurzfristig gesetzlich regulieren, ohne dass größere Kosten entstehen. Geschwindigkeitsbegrenzungen, z.B. bei 110 km/h oder 65 Meilen, sorgen für weniger Benzinverbrauch, geringeren Reifenabrieb und damit für eine abnehmende Feinstaubbelastung sowie eine größere Sicherheit auf den Autostraßen.
· Die Umstellung auf energiesparende und regenerative Heizsysteme sowie die Wärmedämmung von Häusern ist von den einzelnen Nationalstaaten mit Hilfe von zu erhöhenden Subventionen und zu steigernden steuerlichen Anreizen zu fördern. Dies ist über eine wirksame CO2-Steuer für Unternehmen zu finanzieren.
· Die Vergiftung des Bodens, des Grundwassers sowie der Luft aufgrund von Emissionen, Überdüngung über Gülleentsorgung, Einsatz von Pestiziden und unkontrollierte Abfallentsorgung ist weltweit und ohne Ausnahme entweder unter Strafe zu stellen oder umweltsteuerlich so hoch zu belasten, dass es sich für die Nutzer dieser Mittel nicht mehr als wirtschaftlich darstellt. Zunächst sind Aufzeichnungspflichten und genaue Rechenschaftslegung über die ausgebrachte Düngermenge an zu verschärfende Regulierungen zu binden, um den kurzfristigen Schutz des Bodens und des Wassers zu gewährleisten.
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· Das Konsumentenverhalten muss sich kurzfristig global radikal verändern. Nicht billige Fleischprodukte sollten im Fokus von Kaufentscheidungen stehen, sondern mehr pflanzliche Produkte, die regional und ökologisch angebaut worden sind. Entsprechende von den Nationalstaaten zu erhebende Fleischsteuern belasten den Fleischverbrauch und werden zielgerichtet für den ökologischen Anbau von Getreide, Reis, Obst, Gemüse etc. im Sinne steuerlicher Anreizsysteme verwendet. Entweder stellen sich landwirtschaftliche Betriebe mit Hilfe steuerlicher Anreizsysteme im Sinne biologischen Anbaus um oder sie werden über die staatlich verordnete Internalisierung der Kosten keine Rentabilität mehr erzielen können.
· Auf lokaler Ebene sind von den kommunalen Entscheidungsgremien die notwendigen Klimabeschlüsse zu fällen, die auf eine mittel- bis längerfristige Klimaneutralität ausgerichtet sind (möglichst in 5 bis 10 Jahren erreicht). Es sind ergänzend hierzu kommunale Klimaräte und zugeordnete Themengruppen, die sich aus Klimaexperten und -wissenschaftlern sowie engagierten Bürgern zusammensetzen, einzurichten, die die Durchsetzung der Klimabeschlüsse der örtlichen kommunalen Entscheidungsgremien anregen und auch über ihre Expertise und Rückmeldung an die Öffentlichkeit kontrollieren. Als erste Maßnahme ist der öffentliche Nahverkehr unentgeltlich zu gestalten und erste Weichenstellungen zu einer autofreien Innenstadt vorzunehmen (Verringerung und Verteuerung der Parkflächen, Sperrung weiter Teile der Innenstadt für den PKW-Regelverkehr, kurzfristige Einrichtung von durchgehenden Fahrradwegen zu Lasten des PKW-Verkehrs, Ausbau von Parkplätzen an den Stadträndern in Verbindung mit dem öffentlichen Nahverkehr).
· Die gefährdeten Meere sind zu schützen: Ausweisung von Meeresschutzgebieten auf der Grundlage eines weltweiten Ozeanvertrags unter Federführung der Vereinten Nationen. Für die restlichen Meeresgebiete sind ebenfalls ökologische Maßnahmen (hinsichtlich der Fangverbote gefährdeter Arten, dem Ende der Müllverklappung, der verschärften Transportrichtlinien und Sicherheitsbestimmungen etc.) zu ergreifen und über Sanktionen und Kontrolle zu sichern.
· Zum Ausgleich der historischen Klimaschulden der reichen Weltregionen ist von diesen zum einen mit der Finanzierung der Reparatur von Klimaschäden zu beginnen, wie z.B. die Errichtung von Deichen, der Bau von Bewässerungsanlagen oder das Pflanzen von Wäldern. Parallel hierzu sind die ärmeren Regionen der Welt mit der Implementierung einer auf regenerativer Energieerzeugung basierenden Infrastruktur zu unterstützen. Auch diese Maßnahmen sind aufgrund des überproportionalen Anteils an den CO2-Emissionen durch den reicheren Teil der Welt von diesen Regionen maßgeblich im Sinne globaler Gerechtigkeit zu finanzieren. Dies ist durch die zuständigen Institutionen der UN zu koordinieren und zu kontrollieren.
Dies sind sicherlich Maßnahmen zur Beseitigung der ökologischen Gerechtigkeitslücke, die auch noch in den nächsten zehn Jahren durchzuführen sind, aber bereits in den ersten fünf Jahren unmittelbar wirksam einsetzen müssen.
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· Maßnahmen zum sozialökologischen Umbau der Gesellschaft - auch im internationalen Kontext - sind durch ausgleichende finanzielle Unterstützung für die Weltregionen und Einkommensgruppen zu leisten, die sich ökologische Innovationen, wie z.B. Wärmepumpen, Photovoltaik-Anlagen oder E-Autos, nicht leisten können. Zudem ist die Veränderung der öffentlichen Infrastruktur hin zu einer klimagerechten Struktur, wie z.B. der Öffentliche Nah- und Fernverkehr, sozialverträglich zu gestalten (siehe auch soziale Maßnahmen).
Mittelfristige Maßnahmen (innerhalb von 5-10 Jahren):
· Es wird zurecht von Greta Thunberg (2019, 103) – orientiert an den Zahlen des IPCC – gefordert, dass für einen mittelfristigen Zeitraum das CO2-Budget zu berechnen ist, das noch für globale Emissionen zur Verfügung steht, wenn das Ziel einer Begrenzung der Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius noch gelingen soll. Um eine Chance von 67% für das 1,5-Grad-Klimaziel zu haben, könnten nur noch 350 Gigatonnen CO2 weltweit emittiert werden, wenn man den Level der Emissionen von 2019 zugrunde legt. In 8,5 Jahren, ab 2019 berechnet, sei dieses CO2-Budget ausgeschöpft [2]. Dies sind in der Tat die Zahlen, an denen sich orientiert werden muss. Hierbei ist die CO2-Reduktion im globalen Vergleich klimagerecht zu gestalten, so dass reichere Regionen stärker CO2 einsparen müssen als ärmere Regionen. Eine ähnliche Rechnung ist ebenfalls für die Emission anderer Klimagase, wie z.B. Methan, zu entwickeln.
· Die Durchsetzung einer solaren Energieversorgungsstruktur in Verbindung mit einer energiepolitischen Effizienzsteigerung verhindert zum einen das hegemoniale Bedürfnis zur Sicherung bzw. Ausbeutung von Öl- und Gasvorkommen als Ursache militärischer Konflikte. Zum anderen werden insbesondere die ärmeren Länder des globalen Südens unabhängig von Öl- und Gasimporten und können sich aufgrund der reichhaltig vorhandenen Solarenergie autonom versorgen. Entsprechende Solarprojekte, sei es auf der Basis von Fotovoltaik, Wärmethermen oder Windkraft sind im globalen Süden – sowohl zentral als auch dezentral – von den Nationalstaaten, den regionalen und transnationalen Institutionen und den Vereinten Nationen aus den Erträgen der CO2-Steuern zu fördern.
· Der als kurzfristige Maßnahme begonnene Ausbau des öffentlichen und unentgeltlichen Nahverkehrs und das Fahrradwegenetz in den Städten sowie im stadtnahen ländlichen Raum sind mit Hilfe eines gesteigerten Einsatzes von finanziellen Ressourcen unter Beratung der örtlichen Bürgerschaft weiter auszubauen, so dass die Innenstädte innerhalb von fünf bis zehn Jahren weitgehend autofrei und als lebenswerter öffentlicher Raum seinen Bürgern_innen wieder zurück gegeben werden können.
· Es wird ein effektiverer von der UNO organisierter Handel mit Umweltzertifikaten entwickelt. Dies wird ein Anreizsystem, das an Nachhaltigkeit orientiertes Handeln deutlicher als bisher belohnt bzw. im Falle nicht-nachhaltigen Handelns zur empfindlichen finanziellen Beeinträchtigung für entsprechende Unternehmen und Nationen führt. Andererseits wird eine ökologische Wirtschaftsweise über einen wirksameren Zertifikatehandel in seiner Funktion als positives Anreizsystem belohnt.
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· Internationale Handelsabkommen, die u.a. den Konzernen ein Klagerecht einräumen, wenn ihre ökonomischen Aktivitäten durch Umweltstandards oder menschenrechtliche Regelungen beeinträchtigt werden, sind weltweit mit der Unterstützung der UN rückgängig zu machen. Hier müssen rechtliche Möglichkeiten einer vertraglichen Aufkündigung aufgrund des derzeit global eingetretenen ökologischen Notfalls der Klimakrise, den Folgen möglicher pandemischer Notsituationen und den ungeheuren Kosten des notwendigen Wiederaufbaus militärisch zerstörter Gebiete eingeräumt werden.
· Die Privatisierung von Trinkwasserquellen und der Verkauf portionierten Trinkwassers im privatwirtschaftlichen Rahmen insbesondere im globalen Süden sind rückgängig zu machen. Internationale Wasserkonzerne sind über Einnahmen aus den verschiedenen Umweltsteuern mit dem Blick auf ihre realen Kosten, nicht in Bezug auf die gegenwärtig und zukünftig zu erzielenden Renditen, angemessen für die Förder- und Leitungssysteme zu entschädigen.
· Es wird ein international gültiges Verbot der Massentierhaltung erlassen, einer Massentierhaltung, im Rahmen derer Tierquälerei derzeit die Regel ist. Es sollten empfindliche Strafen für diejenigen Landwirte vorgesehen sein, die Tiere ohne Bewegungsmöglichkeit in Käfigen fixieren und mit Hormonen zu schnellerem Fleischwachstum hochzüchten. Der gewollte Rückgang des globalen Fleischkonsums ermöglicht eine artgerechte Haltung von Nutztieren. Hierbei muss eine Umstellung der Subventionspolitik der Staaten bzw. Regionen, wie z.B. der EU, erfolgen. Mittelfristig dürfen nur noch nach strengen biologisch-ökologischen Prinzipien produzierende und verarbeitende landwirtschaftliche Betriebe gefördert werden. Dadurch wird die Umstellung auf eine ökologische Landwirtschaft attraktiv.
· ‚Urban Gardening‘ ist kurz- und mittelfristig zu fördern, anstatt dies administrativ zu behindern. Insbesondere in großen Städten sind geeignete brachliegende Flächen, im Sinne der Gemeinwohlökonomie, gemeinschaftlich und nach ökologischen Prinzipien zu bewirtschaften. Auch städtische Flachdächer sind, insbesondere im Sinne von Hydrokulturen, mit Gartenanlagen zu nutzen.
· Die eigene an ökologischen Prinzipien orientierte Subsistenzwirtschaft ist nicht nur über das ‚Urban Gardening‘ wieder im größeren Umfang aufzunehmen. Hierfür müssen gesetzliche Rahmenbedingungen geschaffen werden, um die entschiedene Bekämpfung und Revision des ‚Land Grabbings‘ besonders in den südlichen Ländern der Hemisphäre zu ermöglichen. Die Kleinbauern müssen wieder die Chance erhalten, auf ihren Grund und Boden zurückzukehren. Landflächen und landwirtschaftliche Subventionen für biologischen Anbau müssen diesen Prozess unterstützen und flankieren. Die Slums der globalen Großstädte müssen in diesem Sinne Schritt für Schritt wieder beseitigt werden.
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· Besonders ökologisch engagierte Saaten sollten sich zu 'Klimaclubs' zusammenschließen, die sich an die ökologischen Ziele der UN-Umweltstandards halten, die in besonderer Weise eine höhere Besteuerung des Exports umweltzerstörender Produkte bzw. mit umweltzerstörenden Techniken produzierter Waren aus noch fossil orientierten Staaten vornehmen.
Längerfristige Maßnahmen (innerhalb von 10-15 Jahren):
· Längerfristige Maßnahmen müssen bis zum Jahr 2035 einen deutlichen Schritt zur globalen Klimaneutralität in einer intersektionalen und international gesteuerten Vorgehensweise erreichen, um die Klimaerwärmung noch eindämmen zu können. Es ist die Frage, ob die vom IPCC für 2040 bis 2050 geforderte vollständige globale CO2-Neutralität nicht schon früher erreicht werden müsste, um eine unkontrollierbare Klimaentwicklung über das 1,5 Grad-Ziel hinaus noch zu verhindern. In neueren Untersuchungen stellt selbst der IPPC eine gefährlichere Klimasituation fest, die für den Erhalt des 1,5 Grad Celsius-Ziels nur noch ein globales Restbudget von 300 Giga Tonnen CO2 zulässt (IPPC 2021, 38).
· Die schrittweise Abschaffung von Verbrennungsmotoren auf Öl-Basis ist ein weiteres wichtiges Ziel, das mit der Einführung von innovativen Antriebstechniken verbunden sein muss (‚Exnovation‘). Hierbei ist insbesondere die Entwicklung von auf Wasserstofftechnologie bzw. Brennstoffzellen basierender Antriebstechnik zu betreiben, da die E-Mobilität mit großen Lithium-Ionen-Akkus mit einem extremen Umweltverschleiß in einem wenig nachhaltigen Sinne verbunden ist. Natürlich sollte der beim Einsatz von Wasserstofftechnologie notwendige Strom zur Erzeugung von Wasserstoff aus erneuerbaren Energiequellen stammen. Auch muss die Brennstoffzellen gestützte E-Mobilität in eine Gesamtkonzeption hinsichtlich der Verringerung des Individualverkehrs mit Kraftfahrzeugen und des bereits mittelfristig zu erfolgenden Ausbaus des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs sowie des auszubauenden Radwegenetzes eingebunden sein.
· Die Energiewende, das Erzielen der Klimaneutralität über den beschleunigten Abbau der Emissionen von menschenverursachten Klimagasen, muss u.a. über die Beendigung der Verbrennung fossiler Energien zugunsten moderner auf regenerativer Energieerzeugung basierender Technologien und Kraftwerken erreicht werden. Dies muss in Verbindung mit einem intelligenten Management der nationalen, regionalen und globalen Energienetze erreicht werden. Das Verhältnis von Energieproduktion, Ausgleichskraftwerken und Energiespeicherung ist auf der Grundlage ingenieurwissenschaftlicher Konzeptionen zu optimieren. Die Verbrennung von Kohle und Öl zur Energiegewinnung sollte spätestens 2035 weltweit beendet sein.
· Es müssen geeignete und international koordinierte Maßnahmen zu einer massiven Wiederaufforstung von Wäldern im globalen Maßstab getroffen werden, um hier die Biodiversität sowie CO2-Senken und Sauerstoffproduktion zu fördern. Dies muss zwar unmittelbar beginnen und längerfristig fortgesetzt werden, kann sich aufgrund der Wachstumsdauer der Pflanzen aber erst längerfristig auswirken.
· Die Bemühungen um die Ausweisung von einem Drittel der Meere als Meeresschutzgebiete müssen abgeschlossen werden, um die Renaturierung verschmutzter Meeresgebiete und um den Schutz gefährdeter Meereslebewesen zu ermöglichen.
· Internationale Abrüstungsmaßnahmen mit einem hiermit koordinierten Ausbau des UN-Gewaltmonopols führen zu einer Abnahme militärischer Aktivitäten sowohl im Rahmen von Manövern und militärischem Alltag als auch im Zuge von militärischen Konflikten. Dies führt dann langfristig zu einer deutlichen Abnahme von durch das Militär massiv verursachten Umweltschäden, insbesondere der militärisch verursachten Klimaschädigung.
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6.4 Friedenspolitische Entwicklungsschritte
Prioritäre Maßnahmen (sofort oder innerhalb von 1-5 Jahren):
· Die zurzeit nicht stattfindenden OSZE-Abrüstungsverhandlungen sind wieder wirksam aufzunehmen mit dem Ziel einer doppelten Abrüstungsstrategie – gleichzeitig Schritt für Schritt atomare Waffen und konventionelle Waffen abzurüsten. Im Sinne der früheren durchaus erfolgreichen KSZE-Verhandlungen sind zeitlich befristete Zielvereinbarungen über Abrüstungsmaßnahmen zu unterzeichnen und gleichzeitig umfassende internationale Kontrollen durch Institutionen der UN sowie deutliche Sanktionen für den Fall der Nichteinhaltung festzulegen. Die in den letzten Jahren aufgekündigten Abrüstungsverträge sind zu aktualisieren und auf weitere Akteure, z.B. die VR China, zu erweitern. Es müssen endlich auch die Nuklearstaaten dafür gewonnen werden, den Atomwaffenverbotsvertrag der UN zu unterzeichnen und zu ratifizieren.
Der umfassende Atomteststoppvertrag (Comprehensive Nuclear-Test-Ban Treaty, CTBT), der bisher noch nicht umgesetzt wurde, sollte bereits kurzfristig in Kraft treten.
· In diesem Kontext ist endlich ein Friedensvertrag zwischen der EU und Russland sowie der USA und Russland zu schließen und Russland bedrohende Mittelstreckenraketen abzubauen. Parallel hierzu zieht sich Russland aus der Ostukraine und der Krim zurück und baut seine eigenen auf die EU gerichteten Mittelstreckenraketenstellungen ab. Eine internationale Schutztruppe unter maßgeblicher Beteiligung u.a. der BRICS-Staaten sichert die entmilitarisierte Zone eine hierfür notwendige Zeit ab. In den bisher von Russland besetzten Gebieten in der Ost- und Südostukraine findet eine international kontrollierte Abstimmung zur nationalen Zugehörigkeit statt. Eine neue Periode der Entspannung ist über die Koordination und Begleitung der UN einzuleiten. Ähnliche vertragliche Regelungen sind unter der Kontrolle der UN zwischenstaatlich auch in anderen Regionen abzuschließen und Raketenstellungen, Panzer, Truppen und Schiffe zurückzuziehen.
· Die internationale Entwicklungszusammenarbeit ist in einem ersten Schritt auf die geforderten 0,7% des Bruttoinlandsprodukts für die bisher ungenügend einzahlenden Nationen anzuheben, damit die Umsetzung der Sustainable Goals (SDG) – auch im Bereich der Friedenspolitik – zumindest in ersten Ansätzen beginnen kann. Entwicklungszusammenarbeit muss weltweit projektbezogen und kontinuierlich im Sinne von ‚Hilfe für Selbsthilfe‘ vorgenommen sowie streng und transparent evaluiert werden, damit das Geld nicht auf den Konten korrupter Politiker versickert bzw. nicht in das Ausland transferiert wird.
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· Es ist nicht länger hinnehmbar, dass Krankenhäuser, Hilfstransporte und Schulen Zielobjekt militärischer Attacken sind. Hier muss die Weltgemeinschaft ein deutliches Zeichen setzen und derartige Übergriffe resolut und mit robusten Mitteln derart drastisch verfolgen, dass diese Möglichkeit für jeden Kriegsgegner, Warlord oder fanatischen Staat zur nicht wählbaren Option wird. Die Unterzeichnung z.B. der „Safe Schools Declaration“ [3] ist hier ein erster Schritt; aber eine solche Unterzeichnung muss rechtlich bindend für einen Staat sein. Schulen, Universitäten, Kindergärten, Krankenhäuser und ähnliche Institutionen sind in Krisenregionen wirkungsvoll zu bewachen und zu schützen. Auch sind die Einrichtung von Beobachtungsmaßnahmen und das Verhängen strengster Sanktionen von Seiten des durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die Bildungsorganisation der UN (UNESCO) hier zu unterstützenden Internationalen Gerichtshofs zu gewährleisten.
· Jegliche Produktion von Land- und Wasserminen ist zu untersagen. Diejenigen, die derartige Minen gelegt und auch diejenigen, die diese Waffen produziert haben, werden verpflichtet, auf eigene Kosten diese Minen zeitnah zu beseitigen.
· Die Forschung für den Einsatz künstlicher Intelligenz hinsichtlich der militärischen Nutzung von Robotern ist zu beenden. Wissenschaftler_innen und Unternehmen, die hiermit befasst sind, müssen aus ethischen Gründen die Forschungsarbeiten hieran einstellen. [4]
· Die Forschung an biologischen Waffen – auch getarnt als Abwehrwaffen – ist sofort zu beenden. Dies ist strengstens zu kontrollieren und zu überwachen, damit keine Pandemie aus einem Forschungslabor entspringen kann.
· Die Vereinten Nationen übernehmen die transnationale Kontrolle der zukünftigen Entwicklung von KI insbesondere auch in Verbindung mit nuklearen Waffensystemen, um einen KI-gesteuerten Atomkrieg bzw. einen Nuklearkrieg aus Versehen zu verhindern. Vorhandenen Initiativen der UN zur Risikobegrenzung der KI-Entwicklung ist ein umfassenderes Mandat und eine größere Verbindlichkeit der kooperativ entwickelten Konsequenzen zu ermöglichen als dies bisher der Fall ist. Abstimmungen in der entsprechenden UN-Enquete-Kommission sind mit qualifizierter Mehrheit, z.B. einer Dreiviertel-Mehrheit, zu fällen (kein Vetorecht) und durch das UN-Parlament zu bestätigen.
- Die EU revidiert ihre Beschlüsse zu umfangreichen Aufrüstungsprogrammen und verstärkt ihre diplomatische Zusammenarbeit in Europa. Hierzu gehört die Entwicklung einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur. Das Vernichten gesellschaftlicher Ressourcen über die Investition riesiger Summen in Aufrüstungsprogramme wird transformiert im Sinne einer Abstimmung und Koordination der europäischen Verteidigungsmaßnahmen im Rahmen einer europäischen Sicherheitsarchitektur. Hierbei steht die vertrauensvolle Zusammenarbeit der europäischen Staaten im Vordergrund.
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Mittelfristige Maßnahmen (innerhalb von 5-10 Jahren):
· Die früheren Abrüstungsverträge, wie INF, ABM, New Start und der Open Skies-Vertrag sind nach dem Abschluss der Verhandlungen vollends wieder in Kraft zu setzen. Insbesondere ist auch die Volksrepublik China in die Abrüstungsvereinbarungen einzubeziehen. Die Ratifizierung des Atomverbotsvertrags der Vereinten Nationen - auch durch die Nuklearmächte - sollte in diesem Zeitraum abgeschlossen werden.
· Das Missverhältnis – 0,7% des BIP für internationale Entwicklungszusammenarbeit zu 2,0% Nato-Forderung nach militärischer Aufrüstung – ist zu beseitigen. Es muss zukünftig mehr Investitionen in zivile Entwicklungskooperation als in militärische Aufrüstungsprogramme geben. Das bisher bestehende inhumane Missverhältnis ist mittel- und langfristig Schritt für Schritt zu verändern. Eine wirksame Koordination und Kontrolle auf UN-Ebene zwischen den verschiedenen Maßnahmen von Weltbank, IWF, WTO, UN-Wirtschafts- und Sozialrat, Fonds und Programmen müsste eine speziell für Entwicklungsförderung zuständige UN-Spitzenbehörde übernehmen, die eng mit der UN-Vollversammlung und dem UN-Generalsekretariat bzw. dann später mit dem/der UN-Präsidenten_in und der Weltregierung zusammenarbeitet.
· Die Vereinten Nationen werden über eine Veränderung der Charta der Vereinten Nationen berechtigt, über eine Initiative des UN-Generalsekretariats bzw. der Weltregierung, des UN-Parlaments oder des UN-Sicherheitsrats mit einer qualifizierten Mehrheit von drei Vierteln der Stimmen im UN-Parlament bei massiven Menschenrechtsverletzungen einer Regierung in die Souveränität eines Landes einzugreifen und die entsprechende Bevölkerungsgruppe zu schützen. Täter – auch hierfür verantwortliche Regierungsvertreter_innen – sind festzunehmen und dem Internationalen Gerichtshof zu überstellen.
· Jeder UN-Staat hat sich der internationalen Gerichtsbarkeit auch hinsichtlich Menschenrechtsverletzungen und Verstößen gegen die Genfer Konventionen im Kriegsfall zu unterstellen. Es ist keine Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen mit einer Nichtanerkennung der internationalen Gerichtsbarkeit vereinbar.
· Auf Pazifizierung und Bewahrung der Menschenrechte ausgerichtete NGO’s, wie z.B. ‘Peace Brigades International’ (PBI) [5], „association pour la taxation des transactions financières et pour l'action citoyenne“ (ATTAC) [ 6] oder ‘International Campaign to Abolish Nuclear Weapons’ (ICAN)[7], sind mit Engagement und finanziellen Ressourcen zu unterstützen und achtungsvoll in Prozesse des ‚Global Governance‘ einzubeziehen. Auch die internationale Gewerkschaftsbewegung sowie die Gremien der International Labor Organization (ILO) der UN sind im Rahmen dieses Politikkonzepts stärker als bisher an Entscheidungen zu beteiligen.
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Längerfristige Maßnahmen (innerhalb von 10-15 Jahren):
· Die Nationalstaaten und Weltregionen sind Schritt für Schritt zu entwaffnen zugunsten einer weltpolizeilichen und von der UN geleiteten und kontrollierten Struktur. Das Gewaltmonopol geht von den Nationalstaaten über zu den demokratisch gewählten Institutionen der UN als strukturelle Voraussetzung für die Bewahrung des Weltfriedens.
· Die weltpolizeiliche Arbeit unter Leitung der UN und ihrer transnationalen, nationalen und örtlichen Behörden entwickelt eine Sicherheitskultur, die lokale zivilgesellschaftliche Kräfte und Initiativen vermittelnd einbezieht. Erst nach dem Ausschöpfen zivilgesellschaftlich durchzuführender Mediations- und Vermittlungsverfahren sind Formen weltpolizeilichen Gewalteinsatzes notwendig.
· Die privatwirtschaftlich organisierten nationalstaatlichen oder regionalen Vielfachstrukturen hinsichtlich der Waffenproduktion und Rüstung werden aufgelöst zugunsten von Produktionsstätten für die Ausrüstung der weltpolizeilichen Funktionen. Dies bedeutet eine Rückführung der Waffenindustrie auf ungefähr 10% ihres jetzigen Niveaus, um für die Ausrüstung der weltpolizeilichen Kräfte zu sorgen.
· Die Rüstungskonversion der überflüssig gewordenen Waffenindustrie ist abzuschließen. Öffentlich geförderte Fort- und Weiterbildungsprogramme ermöglichen eine Umstellung auf Friedensindustrien und einen Ausbau im Dienstleistungssektor, z.B. für Kranken- und Pflegeberufe.
· Es erfolgt in diesem Zusammenhang auch eine vollständige nukleare Abrüstung und Vernichtung der Atomwaffenarsenale.
· Die globale Abrüstung und damit das Schrumpfen der nationalen Wehretats hat eine entschiedene Friedensdividende zur Folge: Freiwerdende finanzielle Ressourcen in der Höhe von Billionen Dollar, die insbesondere zur Bewältigung der Klimakrise, zu friedensstiftenden Maßnahmen, für den Katastrophenschutz sowie für den sozialen Ausgleich im globalen Maßstab verwendet werden können.
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6.5 Sozialpolitische Maßnahmen
Prioritäre Maßnahmen (sofort oder innerhalb von 1-5 Jahren):
· Es müssen, auch um Verteilungs- und Verdrängungskämpfe zu vermeiden, auf verschiedenen Ebenen Anstrengungen unternommen werden, die lebensnotwendigen Ressourcen für alle auf diesem Planeten lebenden Menschen zu sichern, wie z.B. sauberes Wasser, gesunde und bezahlbare Nahrungsmittel, regenerativ erzeugte Energie, kriegsfreie Lebensräume, bezahlbare Transportmöglichkeiten, Bildung und medizinische Grundversorgung sowie erschwinglichen Wohnraum. Hierzu sind erste Schritte zu einer Vergesellschaftung der nationalen und internationalen Schlüsselindustrien zu unternehmen bzw. Privatisierungen z.B. in den Bereichen der Bahn, der Wasserversorgung, der Bildung, des Gesundheitssystems, der Wohnungsbaugesellschaften und der Post rückgängig zu machen, um einen prioritär profitorientierten Umgang mit den lebensnotwendigen Ressourcen und Lebenschancen zu verhindern. Dies beginnt mit Preiskontrollen und Entflechtungsmaßnahmen in Bezug auf Konzernstrukturen im Rahmen des zu verschärfenden internationalen Kartellrechts. Initiatoren dieser Maßnahmen müssten die internationale Gewerkschaftsbewegung, die Internationale Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen (ILO) in Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Nichtregierungsinitiativen, widerständigen lokalen und überregionalen Bürgerbewegungen sowie den Parteien und Parlamenten sein, die sich einem demokratischen Engagement und dem Gemeinwohl verpflichtet sehen. Über eine Restrukturierung bzw. die Weiterentwicklung der nationalen und transnationalen Demokratien sind entsprechende demokratische Mehrheiten für einen derartigen gesellschaftlichen Umwälzungsprozess zu gewinnen.
· Die Gesundheit der Menschen darf nicht dem kapitalistischen Rendite-Paradigma unterliegen. Es müssen die notwendigen Medikamente für die öffentliche Gesundheitsversorge bereit gestellt werden und nicht in Abhängigkeit von ökonomischen Interessen der Krankenkassen eingeschränkt werden. Krankenhäuser sollten vorwiegend in öffentlicher Hand bleiben, damit die medizinische Versorgung der Bevölkerungen im Krankheitsfall erhalten bleibt. Arztpraxen müssen auskömmlich finanziert werden. Es sind auch ärztliche Zentren mit Allgemeinmedizinern und unterschiedlichen Fachärzten in den verschiedenen lokalen Regionen zu fördern. Die hohen Hürden zum Medizinstudium sind abzubauen.
· Es sind erste wirksame Schritte zu unternehmen, für alle Menschen einen auskömmlichen Mindestlohn, eine Grundrente und Versicherungsleistungen zu gewähren, die ein Leben in Würde ermöglichen. Dies ist aus der ‚Friedensdividende‘, der Schließung der Steueroasen, der globalen Mindeststeuer für multinationale Konzerne und den dadurch wachsendenden Steuermitteln, der zu erhebenden Roboter-Steuer sowie der Reduktion von Konzerngewinnen über die Internalisierung der von ihnen verursachten externen Kosten zu finanzieren.
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· Es ist zu gewährleisten, dass für Männer und Frauen weltweit die gleichen Kriterien für die Entlohnung ihrer Arbeitsleistung gelten und für gleiche Arbeit das gleiche Geld gezahlt wird.
· Die durch religiöse Überzeugungen, z.B. im orthodoxen Katholizismus, dem ultraorthodoxen Judentum oder eines rückständigen Islams, insbesondere in Kombination mit fehlender Bildung begünstigte Vermehrung der Weltbevölkerung über die ressourciellen Möglichkeiten des Planeten hinaus ist mit ersten Schritten, insbesondere über Aufklärung, kostenlosen und subventionierten Verhütungsmitteln und finanziellen Anreizmaßnahmen zu begegnen. Insbesondere die bereits eintretende Verbindung von Aufklärung, Emanzipation, Bildung und Wohlstand zeigt, dass die Geburtenzahl sich auf ein sinnvolles Maß einpendeln kann.
- Maßnahmen zum sozialökologischen Umbau der Gesellschaft - auch im internationalen Kontext - sind durch ausgleichende finanzielle Unterstützung für die Weltregionen und Einkommensgruppen zu leisten, die sich ökologische Innovationen, wie z.B. Wärmepumpen, Photovoltaik-Anlagen oder E-Autos, nicht leisten können. Zudem ist die Veränderung der öffentlichen Infrastruktur hin zu einer klimagerechten Struktur, wie z.B. der Öffentliche Nah- und Fernverkehr, sozialverträglich zu gestalten.
- Mit OXFAM (2025c) ist eine zusätzliche Vermögenssteuer für Milliardäre und Multimillionäre zu fordern, die für Gemeinwohlzwecke - von der Infrastruktur, über sozialer Grundsicherung bis zu Klimaanpassungsmaßnahmen -verwendet werden müssten.
Mittelfristige Maßnahmen (innerhalb von 5-10 Jahren):
· Die Forderung zur Sicherung der für eine lebenswerte Existenz notwendigen Ressourcen gilt vor allem für die Regionen des globalen Südens. Gerade mit der demokratischen Protestbewegung in Regionen des globalen Südens ist Kontakt aufzunehmen und über internationale Vernetzung politischer Druck in die Richtung der skizzierten Entwicklung für alle globalen Regionen gemeinsam zu organisieren. Hierbei müssen von den Vereinten Nationen über die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds Schritte hin zu einem globalen Strukturausgleich vorgenommen werden, der zu einer Absenkung des Reichtums der Spitzenverdiener der nördlichen Regionen sowie der gleichen Bevölkerungsgruppe im globalen Süden über erhöhte Spitzensteuersätze, zusätzliche Maschinensteuern für Industrieroboter, über einen effizienteren Zertifikatehandel, die Vernichtung von Steueroasen und die erhöhte Erbschaftssteuer zugunsten der armen Bevölkerungsschichten insbesondere in den Gebieten des globalen Südens vorgenommen werden.
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· Hierbei sind weitere Schritte zur Einführung eines regionalen Mindestlohns, zur Grundrente und zur Sozialversicherung für alle Menschen mit dem Ziel durchzuführen, diesen Prozess in den nächsten Jahren abzuschließen.
· Die Vertreibung der Landbevölkerung im globalen Süden aufgrund des ‚Land Grabbing‘ ist rückgängig zu machen. Unter der Aufsicht der zuständigen Institutionen der UN sind mit Hilfe von UN-Anwälten den Kleinbauern die Ländereien zurückzugeben, die ihnen vor Jahren oder sogar Jahrzehnten zu Unrecht abgenommen wurden. Ihnen sind des Weiteren Aufbauhilfen und Existenzgründerzuschüsse zu gewährleisten.
Längerfristige Maßnahmen (innerhalb von 10-15 Jahren):
· Über u.a. Aufklärungsmaßnahmen, kostenfreie Verhütungsmittel und eine entsprechende Kindergeldpolitik muss natürlich möglichst zeitnah versucht werden, die Geburtenrate weltweit abzusenken. Das Plädoyer des Club of Rome „Die Erde ist voll.“ muss ernst genommen werden. Die Erdbevölkerung hat sich innerhalb von zwei Generationen fast verdreifacht. Eine ähnliche oder noch gesteigerte Dynamik der die Erde verbrauchenden Bevölkerungsentwicklung ist insbesondere auch mit längerfristigen Maßnahmen im Interesse der kommenden Generationen zu verhindern. Verstärkte Migrationsbewegungen und massenhafte Flucht, verschärfte Verteilungskämpfe sowie die Überforderung der Erde hinsichtlich des Ressourcenverbrauchs und der überlasteten Senken wären die Folge einer in der Zukunft weiterhin ungehemmten Bevölkerungsvermehrung. Die finanzielle Unterstützung von Familien, die zukünftig mehr als zwei Kindern bekommen ist im Sinne einer Degression deutlich zu verringern.
· Es ist eine längerfristige Konzeption der Berechnung der Kolonialisierungsgewinne und der durch die Kolonialländer verursachten Schäden zu entwickeln, die mit entsprechenden Rückzahlungspflichten an die ausgebeuteten Länder und Weltregionen verbunden werden. Dies ist vor einem von den UN einzurichtenden Sondertribunal ‚Kolonialisierungsschäden‘ zu verhandeln und gerichtsfest zu beschließen.
Die weiteren am gesellschaftlichen Ist-Zustand in einer globalen Perspektive ansetzenden Maßnahmen sollen nun nicht weiter nach ihrer zeitlichen Perspektive differenziert werden, da sie in der Regel so früh wie möglich, also zeitnah, einsetzen müssten.
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6.6 Schritte zur Beherrschung der digitalen Entwicklung in demokratischen Gesellschaften
· Lebenswichtige bzw. lebensgefährdende Einrichtungen und Technologien sind vom WWW zu nehmen und zu isolieren, um Hackerangriffe zu vermeiden bzw. Cyber-Kriege zu verhindern.
· Digitale Transparenz in der Demokratie ist zu begrenzen, damit die notwendige Privatsphäre geschützt bleibt. Die Einrichtung von Staatstrojanern und eingebauten Sicherheitslücken in digitale Technologien ist zurückzunehmen und zu sanktionieren.
· Die Entwicklung und der Einsatz von Spionagesoftware sind international zu verbieten.
· Die Entwicklung künstlicher Intelligenz sowie der Aufenthalt in virtuellen Realitäten sind ethisch und in ihrer technologischen Entwicklung zu kontrollieren.
· Der Einsatz von Chat GPT und ähnlichen Apps im Rahmen von Bildungsmaßnahmen sollte reguliert werden. Im Mittelpunkt sollte die kritische Analyse der Antworten des Programms stehen.
· Es muss eine weltweite und von den Vereinten Nationen unterstützte Debatte über die ethischen Konsequenzen der ‚digitalen Revolution‘ geführt werden, um die Transformation des Humanen und die Vernichtung demokratischer Handlungsspielräume zu verhindern.
· Durch die Digitalisierung wegfallende Arbeitsplätze und die dadurch steigende Gewinne sind über eine Digitalsteuer und die damit verbundene Finanzierung von Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen für die ‚substituierten‘ Arbeitnehmer_innen zu kompensieren.
6.7 Schritte zum kulturellen Transfer, zur Bildungsgerechtigkeit, zum Einbezug wissenschaftlicher
Erkenntnisse und zum Erhalt der demokratischen Medienöffentlichkeit
· Koordiniert über die UNESCO und mit einem robusten finanziellen Budget ausgestattet müssen alle Anstrengungen unternommen werden, dass Bildung als ein menschliches Grundrecht insbesondere für alle Kinder und Jugendlichen ermöglicht wird. Hierbei sollte viel Wert auf den interkulturellen und intrakulturellen Transfer gelegt werden, so dass die Jugend der Welt sowohl von den Leistungen der eigenen Kultur als auch den Errungenschaften anderer Kulturen lernen kann. Bildung muss an dem Postulat der Aufklärung orientiert sein, junge Menschen zum selbstständigen Denken, zum mündigen Bürger, zur Demokratiefähigkeit zu fördern. Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) sollte ein an Nachhaltigkeit orientiertes Verhalten initiieren können.
· Im Sinne eines globalen Strukturausgleichs sind arme Staaten bzw. Regionen mit internationalen Subventionen für gezielte und kontrollierte Bildungsinvestitionen zu unterstützen. Staaten, welche ihre nachkommenden Generationen nur ein eingeschränktes Bildungsangebot ermöglichen bzw. sie von Bildung fernhalten, sind international mit Wirtschaftssanktionen zu belegen.
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· Es muss eine kritische Weltöffentlichkeit erhalten bleiben bzw. nationale oder regionale Behinderungen von Wissenschaft und Publizistik verhindert werden. Demokratie ohne Pressefreiheit, ohne den Einbezug von wissenschaftlichen Erkenntnissen und eine kritische Medienöffentlichkeit ist undenkbar. Wenn in der Türkei Kritiker an der wirtschaftlichen Entwicklung vom eigenen Staatspräsidenten als ‚Wirtschaftsterroristen‘ bezeichnet werden, wenn in den USA vom ehemaligen und wieder gewählten US-Präsidenten Medien, die seinen politischen Kurs kritisierten, als ‚Fake-News-Medien‘ und als Feinde des Volkes bezeichnet wurden, wenn in Russland, in der Slowakei, auf den Philippinen, im Irak oder in Malta unabhängige und kritische Journalisten umgebracht werden und in China Regierungskritiker inhaftiert und von der notwendigen Gesundheitsversorgung ferngehalten werden, wird die Aktualität dieser Forderung deutlich. Verstöße gegen das Recht unabhängiger, wissenschaftsbasierter und kritischer Medien und gegen deren Journalisten sind unnachgiebig von den Institutionen der internationalen Exekutive und Judikative im Auftrag der UN zu untersuchen und zu verurteilen.
Bildungsmaßnahmen gegen die Konstruktion von Feindbildern
Die manipulative Erzeugung von zwischenstaatlichen Feindbildern ist aus ethischen und auf dem Völkerrecht basierenden Gründen abzulehnen. Natürlich muss eine Kritik des staatlichen Gegenübers erlaubt sein, wenn sie Fakten gestützt ist, d.h. mit transparenten und nachprüfbaren Tatsachen belegt wird. Allerdings führt die hier dargelegte Generierung von Feindbildern zu keiner diplomatischen Lösung von militärischen Konflikten, sondern zu deren Zuspitzung. Die mediale Erzeugung von manipulativen Feindbildern ist ein kriegsvorbereitender und kriegstreibender Akt, den es sowohl in den Medien als auch in institutionellen Bildungsprozessen zu vermeiden bzw. aufzudecken gilt.
Insbesondere in der historischen und politischen Bildung ist die kritiklose Übernahme von Feindbildern zu verhindern. Bildung kann natürlich nicht allein die Welt verändern. Hier sind vor allem die Zivilgesellschaft, die Medien, die von ihnen gewählten Politiker sowie die regionalen, nationalen und transnationalen Politikinstitutionen verantwortlich, keine Feindbilder aufkommen zu lassen und diese präventiv in ihrer ideologischen Funktion zu entlarven. Dennoch sollte auch der Bildungssektor seinen ihm möglichen Beitrag zur Friedenssicherung beisteuern, indem die Konstruktion von ‚Feindbildern‘ als ideologische und kriegsvorbereitende Maßnahme erkannt wird. Folgende Möglichkeiten bieten sich u.a. im schulischen und außerschulischen Rahmen politischer Bildung an:
- Sich selbst als Lehrende und als Lernende fragen, welche eigenen Feindbilder vorhanden sind, und diese auf darin enthaltene Vorurteile und pauschale Abwertungen untersuchen;
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- Kritische politisch-historische Bildungsarbeit an Beispielen von Feindbildkonstruktionen als kriegsvorbereitende Maßnahmen;
- Das Thema ‚Feindbilder‘ zum Gegenstand von Ideologiekritik und sozialpsychologischen Studien machen; hierbei sollte gefragt und mit historischen Beispielen versehen werden, wie eine Versöhnungskultur auszusehen hat;
- Politische Bildung kontrovers anlegen: Mainstream-Medien und alternative Quellen vergleichend analysieren, um Feindbilder zu analysieren;
- Bildliche Darstellungen des ‚homo hostilis‘ untersuchen und die ästhetischen Mittel auf ihre manipulative Wirkung hin untersuchen;
- Mit Zeitzeugen über die historische Konstruktion von Feindbildern und deren Auswirkung diskutieren;
- Kontakte in Austauschprojekten und humanitäre Unterstützung aufbauen und pflegen;
- Eigene Medienaktivitäten, wie z.B. Podcasts, Blogs, Schülerzeitungsartikel oder Radiobeiträge, zum Thema ‚Feindbilder‘ fördern.
Hierbei ist darauf zu achten, dass die Lernenden in den sich mit dem Phänomen des Feindbildes beschäftigenden Projekten wiederum nicht manipuliert oder überwältigt werden. Dies kann über Methoden selbstständigen Lernens und Forschens an kontrovers angelegtem und mehrperspektivischem Quellenmaterial sowie der Begegnung mit unterschiedlich denkenden Menschen gelingen. [8]
Nachbemerkung zu diesem Kapitel: Der Einzelne als Teil eines Ganzen ist gefragt
Diese verschiedenen, sicherlich noch zu ergänzenden Maßnahmen, sind erste durchaus umsetzbare Schritte in die Richtung einer positiven Vision einer Neuordnung der Welt, wie sie hier konzeptionell entwickelt wurde. Auf allen notwendigen Ebenen wurden hier Ansatzpunkte einer positiven Vision dargestellt, für die es sich lohnt ethisch orientiert zu leben und sich gesellschaftlich zu engagieren.
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So mancher wird sich fragen, ob denn das eigene Engagement überhaupt wirkungsvoll ist („Man kann ja doch nichts ändern.“). Demjenigen sei gesagt: Wenn weltweit viele Menschen kleine und manchmal auch etwas größere Schritte in die richtige Richtung gehen, in den unterschiedlichsten organisatorischen und lebensweltlichen Zusammenhängen und auch im eigenen Lebensstilverhalten versuchen sich an einer positiven Vision globaler Entwicklung zu orientieren, ist der summierte Einfluss gewaltig und wird – mit dem notwendigen langen Atem – auch zu systemischen und strukturellen Änderungen führen. Eine friedliche und nachhaltig entwickelte Welt ist (noch) möglich, wenn sich die Menschen für den Erhalt und die Gestaltung ihres Planeten kollektiv und noch wirkungsvoller zu engagieren beginnen.
Allerdings wäre es naiv zu glauben, dass keine ökonomischen und politischen Gegenkräfte existieren würden. Die Fossilindustrie, die Rüstungsindustrie, Teile der Finanzwirtschaft, übermächtige multinationale Konzerne, interessierte Milliardäre, extremistische politische Gruppierungen, Diktatoren und ihr Gefolge sowie diesen Kräften und Interessen verpflichtete Politiker_innen und Staatsorgane in autoritären Gesellschaften versuchen Strukturen zu festigen und zu verteidigen, die eine Neuordnung im Sinne von mehr Frieden, Demokratie und Nachhaltigkeit verhindern. Diese restaurativen Kräfte sind ebenfalls organisiert sowie im eigenen Interesse ökonomischen Profitierens und politischen Machterhalts aktiv.
Und doch: Die Zeit drängt angesichts der eintretenden und zu erwartenden Probleme. Der Rückzug ins Private erscheint nicht mehr als Option. Keiner wird von den bereits eintretenden und drohenden Entwicklungen verschont werden. Jede/r sollte sich fragen, welchen möglichst wirksamen Beitrag er/sie für eine Neuordnung leisten kann. Hierfür ist eine Transformation des privaten und egoistischen Selbstbildes hin zu einem humanen Selbstverständnis erforderlich, dessen positiver Lebenssinn sich aus der Balance der Erfüllung eigener Bedürfnisse und der Orientierung am gesellschaftlichen und ökologischen Ganzen ergibt.
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Anmerkungen
[1] Der 5-Jahreszeitraum ist ein ungefährer Zeitraum, daher erklärt sich auch die Einteilung der Intervalle in sich mathematisch überschneidende Zeiträume 5-10, 10-15 u. 15-20 Jahren.
[2] Vgl. Thunberg (2919), 103.
[3] Vgl. hierzu https://www.worldvision.de/pressemitteilungen/2018/05/22/safe-schools-declaration, 22.5.2018, 23.5.2018.
[4] So will wohl Google ab 2020 aufgrund der Proteste von Mitarbeitern_innen seine Kooperation mit dem US-Verteidigungsministerium im Bereich künstlicher Intelligenz beenden, https://gizmodo.com/google-is-helping-the-pentagon-build-ai-for-drones-1823464533, 3.6.2018, 4.6.2018.
[5] https://www.peacebrigades.org/, o.D., 11.6.2018.
[6] https://www.attac.org/de/attac-europa, o.D., 11.6.2018.
[7] http://www.icanw.org/, o.D., 11.6.2018.
[8] Die notwendigen Schritte im Rahmen von Prozessen historischer und politischer Bildung wurden in Anlehnung an Moegling (2019d) entwickelt.
7 Einordnung
des vorliegenden Ansatzes in die Theorien internationaler Beziehungen
Die theoretische Fundierung des politikwissenschaftlichen Themenbereichs "Internationale Beziehungen" ist in der Regel in einem historischen Zusammenhang mit Ereignissen von weltpolitischer Bedeutung zu sehen – sei es das Ende der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts, die Konfrontation zweier sich feindlich gegenüber stehender Blöcke, das Ende dieser Konfrontation oder das verstärkte Auftreten des internationalen Terrorismus:
„Es liegt in der Logik sozialwissenschaftlicher Forschung, dass ein durch realpolitische Veränderungen angestoßener Wandel des Forschungsgegenstands immer auch mit einer Anpassung des theoretisch-konzeptionellen Instrumentariums einer Disziplin einher geht, und dass die Entwicklung der Theorie der Internationalen Beziehungen immer nur in ihrer engen Wechselwirkung mit ihrem historisch-politischen Kontext verstanden werden kann.“ [1]
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Der hier vorliegende Theorieansatz, der Theorien internationaler Beziehungen, dort, wo sie sich nicht widersprechen, miteinander in einen Zusammenhang führt, sowie sozialpsychologische und individualpsychologische Ansätze hiermit in Verbindung bringt, ist sehr stark durch die gegenwärtigen Zeitsignaturen geprägt. Das hier vertretene Denken ist durch das vermehrte Auftreten rechtspopulistischer Politiker im System der internationalen Beziehungen, durch die unsäglichen Kämpfe in Syrien – hierbei auch durch den Einmarsch der Türkei in das syrische Kurdengebiet ‚Rojava‘ – und durch den Krieg im Jemen, den Israel-Palästina-Konflikt, durch das Auftreten des IS-Terrorismus sowie die Aktivierung von Feindbildern gegenüber Russland und China und der damit verbundenen Bedrohungslage entstanden. Die russische Invasion in die Ukraine hat noch einmal den Einfluss des Hegemonialstrebens in Verbindung mit geopolitischen Einflusssphären deutlich gemacht. Am Beispiel dieser Konflikte wurden die Unvollkommenheit und die Verletzlichkeit des bisherigen Systems internationaler Beziehungen besonders deutlich.
Der hier vertretene Ansatz einer multiperspektivischen Theorie internationaler Beziehungen verwendet einige Aspekte realistischen bzw. neorealistischen Denkens [2], wenn es ausgehend von einer kritischen Analyse real vorfindbarer Verhältnisse darum geht, Bedrohungen im internationalen Kontext zunächst erst einmal ernst zu nehmen, dann aber erste Schritte zu einer Zivilisierung der internationalen Politik zu entwickeln. Dieser realistischen Sichtweise der Politik von Nationalstaaten sowie analysierbaren internationalen Politikstrukturen entspricht die im Rahmen des vorliegenden Buches vertretene Forderung nach der absoluten Entwaffnung der Nationalstaaten sowie terroristischer und anderer krimineller Organisationen bei einem vorhergehenden und sich zum Teil parallel vollziehenden Aufbau einer demokratisch kontrollierten Weltpolizei im Auftrag der Vereinten Nationen. Hierdurch wird den Nationalstaaten die militärische Grundlage entzogen, ihre nationalstaatlichen Machtinteressen gegen das Interesse anderer Weltregionen hegemonial durchzusetzen. Auch eine militärische Verteidigung nationalstaatlicher Grenzen wird langfristig nicht mehr notwendig sein, da keine militärische Bedrohung von einem anderen Nationalstaat mehr ausgehen kann und das Gewaltmonopol bei den Vereinten Nationen bzw. ihren regional und lokal nachgeordneten Verwaltungseinheiten liegt. Eine Aufrüstungsspirale mit dem Argument einer ‚balance of power‘ ist nicht mehr notwendig, wenn der mögliche nationalstaatliche Gegner selbst nicht mehr aufrüsten kann und ebenfalls entwaffnet ist.
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Die eher als eine Mischung aus strukturellen Ordnungsversuchen und Anarchie zu begreifende weltpolitische Situation wird also durch eine globale Ordnungs-, Kontroll- und Sanktionsinstanz, die unter der demokratischen Kontrolle der Vollversammlung der Vereinten Nationen und des strukturell veränderten Sicherheitsrats steht, innerhalb eines an der UN-Charta orientierten weltgesetzlichen Rahmens geordnet und befriedet.
In diesem Zusammenhang müssen auch weitere reale Gefahren bzw. Gefährder, wie mafiöse und terroristische Organisationen, im Auftrag der UN bekämpft und entwaffnet werden.
Masala (2022), ein Vertreter der neorealistischen Schule der Theorie internationaler Beziehungen setzt sich kritisch mit den auf der idealistischen Theorie fußenden Politikkonzepten auseinander:
„Die Konzepte, die vorgelegt, entwickelt und in der politischen Praxis ausprobiert wurden, sind Legion. Sie reichen von Ideen wie einem neuen globalen Machtkonzert über mehr imperiale Führung, stärkere globale Organisationen und regionale Integration nach dem Vorbild der Europäischen Union bis zu utopischen Ideen wie der Gründung einer Weltföderation. Sie alle haben bisher nicht zu einer stabilen Ordnung für das 21. Jahrhundert geführt.
Im Gegenteil, die Versuche der ‚westlichen‘ Welt, nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes eine neue globale Ordnung zu schaffen, haben in einem nicht unerheblichen Maße dazu beigetragen, dass wir heute in einer Welt der Unordnung leben.“ [3]
In diesen Aussagen wird die verkürzte Weltwahrnehmung der realistischen bzw. neorealistischen Theorie deutlich. Sicherlich hat Masala recht, wenn er kritisiert, dass insbesondere die USA unter Verschleierung der eigenen ökonomischen und politischen Interessen vorgaben, die Demokratie, mehr Gerechtigkeit und die Freiheit in Länder wie Afghanistan, Syrien oder den Irak zu bringen. Dennoch ist dies ja kein Beleg für das Scheitern der idealistischen Theorie und für die Schädlichkeit utopischer Entwürfe der internationalen Politik. Dies ist eher ein Beleg dafür, dass Elemente der idealistischen Theorie als Ideologie missbraucht werden.
Immanuel Kant hat diesen Zusammenhang zwischen Staatsform und Friedfertigkeit eines Staates bereits in seiner Schrift ‚Zum ewigen Frieden‘ vorausgedacht. Der republikanisch geordnete Staat wird als die Voraussetzung für die Friedfertigkeit der Menschen sowie für den Frieden angesehen werden.
Ausgehend von Kants, der idealistischen Theorie zuzuordnenden, Aussagen wurde aber unabhängig von den Einengungen realistischen Denkens die Notwendigkeit universaler Werte und hierauf aufbauender Institutionen begründet. Nationalchauvinismus und der Versuch nationalstaatlicher Interessensoptimierung können nicht die Grundlage einer sinnvollen Vision internationaler Beziehungen sein.
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Werte, die an einer Pazifizierung, an Konversion, an Deliberation, Nachhaltigkeit und demokratischer Partizipation orientiert sind und mit Gerechtigkeit, Friedfertigkeit, Altruismus, Empathie, ökologischer Verantwortungsübernahme und Toleranz zu beschreiben sind, sind grundlegend für einen visionären Entwurf, der über die historischen und gegenwärtigen Beschränkungen im internationalen System hinausgeht. Hier sind Ähnlichkeiten mit dem in der idealistischen Tradition stehenden Ansatz von Dieter Senghaas (1994) zu sehen („Zivilisatorisches Hexagon“). Senghaas entwickelte sechs für eine friedliche Gesellschaft maßgebliche Faktoren als Ausdruck eines erfolgreichen Zivilisierungsprozesses: Entprivatisierung von Gewalt (öffentliches Gewaltmonopol), rechtsstaatliche Kontrolle des Gewaltmonopols, demokratische Struktur und demokratische Entscheidungsprozesse, soziale Gerechtigkeit, kompromissförmige Konfliktlösung im Rahmen einer multinationalen Gesellschaft und Konflikt- und Affektkontrolle in einer Situation wechselseitiger Abhängigkeit. Sind diese Faktoren gegeben, sei eine eher friedensstiftende Funktion dieses Staates im weltpolitischen Kontext wahrscheinlicher. Allerdings darf hierbei nicht verschwiegen werden, dass sich Senghaas' Ansatz vorwiegend auf westliche (europäische) Staaten bezieht und davon ausgeht, dass das gegenwärtige westliche Entwicklungsmodell eine geeignete universelle Vorlage für die Beschreibung derartiger friedensstiftender Faktoren und deren Zusammenwirken ist. Hierbei geraten Entwicklungen in anderen Kulturen sowie zukünftige Entwicklungen alternativer und kommunitärer Lebenskulturen weniger in den Blick. Widersprüche und Gewaltimmanenzen der westlichen Moderne würden ausgeblendet. [4]
Andererseits thematisiert Dieter Senghaas weitsichtig die Rolle innerstaatlicher Toleranz hinsichtlich pluraler Lebensentwürfe in Bezug auf die transnationale Toleranz als Friedensvoraussetzung. So befindet er sich in der Tradition mit Immanuel Kant (1795) und betont, dass innerstaatlicher und zwischenstaatlicher Frieden zusammengehören:
„Pluralisierung als wahrgenommene Bedrohung und eine sowohl institutionell abgesicherte als auch emotional verankerte Toleranz als Lösung: Das ist, weltweit betrachtet, eine der großen Herausforderungen für die Menschheit im 21. Jahrhundert, nicht weniger wichtig als die sich akzentuierenden weltweiten Umweltprobleme. Ein Rückblick auf das 20. Jahrhundert verdeutlicht die Brisanz der Problematik. In ihm wurden ‚Alternativen‘ zur Toleranz auf barbarisch-grauenvolle Weise vielfach durchexerziert: Ausgrenzung, Ghettoisierung, Apartheid, Vertreibung, ‚ethnische Säuberung‘, Völkermord und vor allem Bürgerkriege in vielen Varianten, Kriege und Weltkriege.“ [5]
Dieser Einschätzung der Rolle von Toleranz für pluralistische Weltentwürfe, Politikkonzepte und Lebensstile soll sich hier angeschlossen werden. Hierbei hat natürlich die Toleranz ihre Grenze, wenn andere z.B. in Religionen oder politischen Konzepten enthaltene Werte gegen die in der UN-Charta formulierten Menschenrechte verstoßen und selbst intolerante Gruppen und Personen Toleranz für sich einfordern.
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Hierüber hinaus basiert der vorliegende Ansatz insbesondere auf der Kritischen Theorie und deren Bezügen zum System internationaler Beziehungen. Sehr inspirierend waren hierbei die älteren Überlegungen von Horkheimer und Adorno, aber auch die neueren konzeptionellen Reflexionen bei Habermas und Linklater.
Dass Staaten, in denen demokratische Konfliktlösungen zwischen konkurrierenden Gruppen gelingen und diese strukturell im Staatsaufbau verankert sind, eher friedfertig sind, als Staaten, die autokratisch oder diktatorisch regiert werden, scheint ein überzeugendes Argument zu sein. Allerdings wird dies zum Teil konterkarikiert durch den Druck von Bündnissystemen, militärische Allianzen zu bilden – insbesondere wenn diese Allianzen hegemonialen Interessen dienen.
Auch die Überlegungen von Johan Galtung (1998, 2004) zum ‚positiven Frieden‘, der erst eintreten kann, wenn kulturelle und strukturelle Gewalt in einem Staatsgebiet überwunden und auch Feindbilder abgebaut wurden, passen zu diesem Ansatz internationaler Beziehungen.
Überzeugend sind auch einige der Grundannahmen der Weltsystemtheorie, so wie sie beispielsweise bei Immanuel Wallerstein (1974, 1979 u. 1989) formuliert sind. Eine grundsätzliche Herangehensweise an das globale System internationaler Beziehungen fragt danach, welchen Beitrag ein Staat oder eine supranationale Organisation zur Durchsetzung und Stabilisierung dominanter (kapitalistischer) ökonomischer Strukturen im weltweiten politischen und ökonomischen System leisten kann. Dies hat eine analytische Funktion, die bereits bei Marx/Engels, aber auch insbesondere in den imperialismustheoretischen Überlegungen bei Lenin angelegt ist. Wallerstein verbindet nun die marxistisch-leninistische Analyse mit dependenztheoretischen Analyseargumenten, so dass nicht nur die Abhängigkeit des gegenwärtigen Politiksystems von ökonomischen Verwertungsinteressen deutlich wird, sondern auch die Funktion unterschiedlicher Entwicklungsstadien des Weltkapitalismus in verschiedenen globalen Regionen (Zentren, Semiperipherien und Peripherien) im Rahmen der Weltökonomie analysierbar wird. Hierbei werden sowohl externe Faktoren, z.B. militärische Eingriffe oder die ‚Terms of Trade‘, als auch zumindest zum Teil endogene Faktoren, z.B. vorhandene Umweltbedingungen, betrachtet.
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Die Frage ist allerdings, ob es nicht tatsächlich doch Interventionsmöglichkeiten gibt, die Auswege aus der Interdependenz internationaler politischer Prozesse und kapitalistischer Verwertungsinteressen eröffnen. Letztendlich führt insbesondere die drohende Klimakatastrophe zu Handlungsoptionen, die hierüber hinausgehen und durchaus druckvoll, d.h. von vielen gesellschaftlichen Kräften getragen, ihren Einfluss auf allen Ebenen weltweit entfalten können. Wie anders ließe sich die globale Erosion der Lebensbedingungen auf diesem Planet im Interesse aller Menschen aufhalten? Nebenbei angemerkt: Auch reiche und mächtige Menschen wollen smogfreie Luft atmen, sauberes Wasser trinken und von Stürmen und Überschwemmungen verschont werden. Und irgendwann kann auch ihr zusammengeraffter Reichtum sie nicht mehr vor den von ihnen mitverursachten Naturkatastrophen schützen …
Auch muss eingewendet werden, dass es kein einheitliches ökonomisches und politisches Interesse des Kapitals gibt, sondern dass es oftmals erhebliche Gegensätze zwischen den einzelnen Kapitalfraktionen gibt. Energiekonzerne, die an der Verbreitung und Nutzung von Atom- oder Kohlekraftwerken interessiert sind, vertreten ein anderes Interesse als Unternehmen, die auf regenerative Energieerzeugung spezialisiert sind. Kriegsindustrien vertreten andere ökonomische und politische Interessen als Ökonomien, die an Gewaltprävention und Zeiten des Friedens orientiert sind, um ungehindert Handel treiben zu können.
Dies bedeutet, dass die Verdienste der Weltsystemtheorie, globale Systeme unter z.B. ökonomischen oder politischen Aspekten in den Blick zunehmen, gemindert werden, wenn ein zu simplifizierender Determinismus behauptet wird. [6]
Der im vorliegenden Buch vertretene Ansatz internationaler Beziehungen ist durchaus kompatibel mit einer Reihe von Überlegungen konstruktivistischer Theorien internationaler Beziehungen. Einleuchtend sind bei den konstruktivistischen Theorieansätzen, z.B. bei Wendt (1987, 1999) oder Katzenstein (2010), dass Kosten-Nutzen-Kalküle von Staaten nicht ausreichen, um das Verhalten im Rahmen internationaler Konflikte zu analysieren. Auch Politik im Rahmen internationaler Beziehungen sei sozial konstruiert. Hierbei seien gesellschaftlich und insbesondere kulturell hergestellte Identifikationen, z.B. mit Nationen, Religionen, Systemen, wie z.B. der Demokratie oder einer Führungspersönlichkeit, die Voraussetzungen zu einer Einschätzung des eigenen Verhaltens als richtig oder falsch bzw. als gut oder schlecht. Derartige Identifikationen überlagern dann auch oft Kosten-Nutzen-Kalküle und relativieren ein entsprechendes Effizienzdenken im internationalen Kontext.
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So wurde insbesondere die These von Huntington (1996) zum Zusammenstoß der Kulturen (‚Clash of Civilization‘) bekannt, der u.a. eine kulturelle Überidentifikation als Ursache von (auch gewalttätigen) Konflikten ansah. Hiergegen wendete Katzenstein (2010) ein, dass diese Zwangsläufigkeit nicht bestehen müsse, sondern auch ein interkulturelles Aufeinandertreffen unter bestimmten Voraussetzungen möglich wäre. Hier nähert sich der konstruktivistische Ansatz den im hier vorliegenden Band vertretenen Überlegungen an, indem Katzenstein eine universale Ordnung einfordert, im Rahmen derer die kulturellen Gemeinsamkeiten betont werden und zu einer internationalen Politikpraxis führen könnten. [7]
Auch der Neo-Gramscianische Ansatz internationaler Beziehungen geht zumindest dort in die vorliegende Arbeit ein, wenn die Frage nach der alternativen Gestaltung globaler Strukturen gestellt wird, die das Hegemonialstreben verschiedener Regionalmächte überwinden könnten. Wenn auf den Zusammenhang zwischen internationalisierten Produktionsweisen im Rahmen einer globalisierten Ökonomie und transnationalen Formen der Verstaatlichung hingewiesen wird, dann nähert sich der vorliegende Ansatz durchaus neo-gramscianischen Überlegungen. Auch die Sichtweisen von Gramsci hinsichtlich kultureller Hegemonie haben durchaus auch heute noch eine analytische Aussagekraft, wenn man sich die hegemonial-kulturelle Durchdringung der sozialen Medien aber auch der TV-Programme untersucht. Die Enkulturation zu einer imperialen Lebensweise (Brand/Wissen 2017) läuft hierbei maßgeblich auf einer unbewussten Ebene ab und pflanzt sich in das Denken und Fühlen der Betroffenen ein.
Nach dem Auslaufen des auf der fordistischen Produktionsweise basierenden Modells des ‚Pax Americana‘ ist zumindest mittelfristig nicht mehr mit der Dominanz eines einzelnen übermächtigen Staates zu rechnen. Internationale Hegemonie wird vor allem durch das transnationale Kapital zu realisieren versucht. Hierbei ist allerdings fraglich, ob diese Einflüsse ausreichen, eine neoliberale Hegemonie im internationalen Kontext zu errichten. Sich international organisierende Bewegungen und Organisationen, wie z.B. die internationale Gewerkschaftsbewegung, ICAN, Greenpeace oder ATTAC sowie die weltweit zu beobachtenden Massenproteste, verweisen auf Widerstandsformen, die von den transnationalen Institutionen durchaus zur Kenntnis genommen werden. [8]
Die feministische Theorie internationaler Beziehung setzt anders als die meisten Theorien nicht an der Staatlichkeit und deren internationaler Verflechtungen und Abhängigkeiten an. Der theoretische Zugang der Feminist International Relations (FIR) kritisiert, dass die Fixierung auf Staatlichkeit und die Analyse der Beziehungen von Staaten nicht die Lebensumstände von Frauen berücksichtigen würden bzw. die Orte und Umstände, unter denen Frauen leben, übergehen (Enloe 1989/ 2014). Erst der Bezug auf Milieus, in denen Frauen leben und arbeiten, kann auch hinsichtlich ihrer Sicherheitssituation Erkenntnisse schaffen, die mit der Fixierung auf Staatlichkeit übersehen würden. Genauso kann erst dann analysiert werden, wie internationale Politik Frauen benutzt und sie in vielen Regionen zu marginalisierten Menschen werden lässt.
Den meisten gängigen und in den Politikwissenschaften weltweit gehandelten Theorien internationaler Beziehungen ist eins gemeinsam: Sie sind nicht holistisch, sondern setzen an kollektiven und strukturellen Einflüssen auf Ökonomie, Politik und Ökologie an. So wichtig dies auch ist, so der Ansatz des vorliegenden Buches, sind dennoch Äußeres und Inneres zusammenzudenken. Ohne die individuelle Selbstarbeit und persönliche Reifung des Menschen im lebensweltlichen sozialen Kontext in allen verschiedenen Kulturen und geopolitischen Räumen werden sich Strukturen auch immer wieder gegen den Menschen wenden – egal unter welchem Vorsatz sie gebildet bzw. beeinflusst wurden. Eine grundlegende Neuordnung der internationalen Beziehungen im hier entwickelten Sinne wird perspektivisch nur erfolgen, wenn Menschen weltweit individuell und im sozialen Zusammenhalt Persönlichkeitsentwicklungen vollziehen, die die psychische Grundlage für radikale Veränderungen sind.
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Erst wenn sich in allen Regionen der Welt selbstbewusste und empathische Menschen innerhalb und außerhalb von Parteien organisieren und zivilgesellschaftlichen Widerstand gegen den Irrsinn von Kriegen, internationalen Umweltverbrechen, gegen die Entdemokratisierung, Finanzspekulationen und extremer sozialer Ungerechtigkeit leisten, wird der soziale Druck entstehen, der für eine Neuordnung notwendig ist. Erst wenn es im Zuge dieser weltweiten Proteste gelingt, Strukturen für die Partizipation der Menschen zu öffnen, und es demokratisch sozialisierte Persönlichkeiten zunehmend schaffen, in regionalen und transnationalen Institutionen wichtige Entscheidungspositionen einzunehmen, werden sich qualitativ hochwertige Veränderungen der internationalen Beziehungen im hier gemeinten Sinne einleiten lassen.
Sehr viele demokratische Persönlichkeiten mit den Kompetenzen des ehemaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan, der neuseeländischen Regierungschefin Jacinda Ardern, der dänischen EU-Kommissarin Margrethe Vestager, und des ehemaligen südafrikanischen Staatspräsidenten Nelson Mandela, unterstützt von einer breiten Basis zivilgesellschaftlichen Widerstands, werden hierfür nötig sein. Die zu beobachtenden weltweiten Schülerproteste und Schulstreiks, gegen die Klimapolitik der Herrschenden gerichtet, machten hier Hoffnung. Auch die im Frühjahr 2025 zu beobachtenden - ebenfalls vor allem von jungen Menschen ausgehenden - Massendemonstrationen und Kundgebungen in Europa und jetzt auch in den USA beginnend könnten der Anfang eines demokratischen Frühlings sein, der sich gegen die Entdemokratisierung der Welt durch autoritäre Regime richtet.
Nicht benötigt wird hingegen das nationalchauvinistische Denken von politischen Persönlichkeiten, das sich im folgenden Zitat des ehemaligen und wieder gewählten US-Präsidenten Donald Trump auf der UN-Vollversammlung im September 2018 abbildet:
„Wir lehnen die Idee des Globalismus ab
und umarmen die Idee des Patriotismus.“ [9]
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– Worte eines Mannes, der aus dem Nationalchauvinismus der vergangenen Weltkriege und deren katastrophalen Folgen nichts gelernt hat …
Der russische Angriff auf die Ukraine im Jahr 2022 zeigt, wie Nationalismus und ethnisches Denken in Verbindung mit extremer innerstaatlicher Unterdrückung zu einer Bedrohung des Weltfriedens führen. Wenn Trump das Vorgehen Putins als ‚intelligent‘ bezeichnet, wirft dies ein Licht auf die destruktive und menschenverachtende Haltung Trumps zur friedlichen Gestaltung internationaler Beziehungen.
Anmerkungen zu Kapitel 7
[1] Schieder/Spindler (2010, 11).
[2] Vgl. zur Grundlegung realistischen Denkens Morgenthau (1958, 1963) und zum neorealistischen Denken insbesondere Waltz (1959, 1979).
[3] Masala (2022, 10
[4] Vgl. zur weiterführenden Kritik des zivilisatorischen Hexagons Imbusch (2002).
[5] Senghaas (2006).
[6] Vgl. hierzu auch Nölke (2010).
[7] Vgl. hierzu auch die vergleichenden Arbeiten zu den Theorien internationaler Beziehungen bei Menzel (2001), Schieder/Spindler (2010), Tuschhoff (2015) sowie Schimmelpfennig (2017).
[8] Vgl. zur zusammenfassenden Darstellung der Neo-Gramscianischen Perspektiven auf die internationalen Beziehungen Bieler/Morton (2010).
[9] Zitat entnommen aus dem von Frank Herrmann verfassten Bericht über die Rede von Donald Trump in der Hessisch-Niedersächsischen Allgemeine (HNA) vom 26.9.2018, S. 20.
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Kapitel 8
Zusammenfassung und Epilog: Eine neue Ordnung für die Welt
Der ganzheitliche Ansatz
Nur selten gelingt es politikwissenschaftlichen Ansätzen, über eine teilhafte Spezialisierung ihrer Aussagen oder über eine Fokussierung auf einen einzigen theoretischen Ansatz hinauszugehen. Aus diesem Grunde kann die Komplexität gesellschaftlicher Vorgänge dann nur einseitig und z.T. unterkomplex erfasst werden. Beispielsweise befinden sich neoliberale Theorien ökonomischer Entwicklung in einer Verbindung zu ökonomischen Interessen, formulieren also bewusst einseitig und teilspezialisierend, um alternative Perspektiven auszuschließen und ihre Klientel mit auf individueller Gewinnmaximierung ausgerichteten Handlungsstrategien zu versehen.
Dem Buch liegt daher ein holistischer bzw. ganzheitlicher Ansatz zugrunde, dessen prioritäres Erkenntnisinteresse es ist, gesellschaftliche Perspektiven mehrdimensional aus verschiedenen Blickrichtungen zu analysieren und zu beurteilen, um Anforderungen für eine zukünftige gesellschaftliche Entwicklung zu formulieren, die an universalen Werten und Interessen der Menschheit nach Frieden, Gerechtigkeit und dem Erhalt bzw. der Wiederherstellung einer ausbalancierten Ökologie orientiert ist. Dieser Ansatz ist vor allem durch acht systemtheoretische Annahmen begründet:
1. Alles steht in einer Verbindung zueinander: Die Teile untereinander und die Teile wiederum zum Ganzen. Weit entfernte Ereignisse können daher in der Nähe eine große Wirkung zeigen.
2. Politische Aktivität kann in dieser Ordnung eine Wirkung entfalten, die zu einer Veränderung der Teilbeziehungen untereinander und damit zu einem Einfluss auf das gesellschaftliche Ganze führt.
3. Systemstrukturen geben dem Ganzen Festigkeit gegenüber der Eigendynamik der Teile. Allerdings wirken in bestehenden Strukturen Personen und Gruppen, die wiederum strukturbildende Regeln verändern können.
4. Es gibt verschiedene Systemebenen. Die Organisationsmuster auf den verschiedenen Systemebenen sind weniger hierarchisch, sondern in der Regel weisen Systeme multivariate Organisationsmuster auf. Informationen und Einflüsse verlaufen in alle Richtungen, abwärts, aufwärts und auf der horizontalen Ebene.
5. Im Unterschied zu einer einfachen Maschine funktionieren Ganzheiten im Sinne lebendiger Systeme nicht in einem linear-kausalen Sinne, sondern Veränderungen ergeben sich durch zyklische Informationsmuster mit vielfältigen Rückkoppelungsschleifen.
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6. Lebende Systeme sind durch die Prinzipien der Selbstorganisation und der Selbsterneuerung (Autopoiesis) gekennzeichnet. Dies bedeutet, dass ein funktionsfähiges System in der Lage ist, relativ selbstständig seine Ordnung zu definieren, zu verändern und lernend neu zu organisieren.
7. Eine Neuordnung des Ganzen entsteht, wenn die verschiedenen teilhaften Aktivitäten vieler Einzelner und einzelner Gruppen intensiv genug und systemisch passend zur beginnenden strukturellen Veränderung zusammenarbeiten.
8. Wenn Teilbereiche systemisch stimmig zusammenwirken, entwickeln sie eine systemverändernde Dynamik. Dann kann es – auch in einem disruptiven Sinne – zu qualitativen Veränderungen mit hoher Geschwindigkeit, also zu gesellschaftlichen Kipppunkten hin zu einer globalen Neuordnung, kommen.
Oftmals voneinander getrennte Bereiche, wie Körper, Geist, Psyche und Gesellschaft, wie Umwelt, Wirtschaft und Gesundheit oder Identität, Religion und Krieg werden als miteinander zusammenhängende Bereiche verstanden. Das Ganze ist auch hier mehr als die Summe seiner Teile. Teilbereiche wirken systemisch zusammen und können eine dynamische und weltumspannende Wirkung zeigen. So zeigt uns die Verbreitung des Coronavirus, wie der gesellschaftliche Umgang mit einem Virus zu Ansteckungsängsten in den Menschen, zu einem veränderten zwischenmenschlichen Verhalten, zu wirtschaftlichen Krisen, wie dem Umsatzeinbruch von Unternehmen und Massenentlassungen, sowie politischen Krisen führen kann. Genauso kann die Corona-Krise zeigen, dass ein neoliberales Wirtschaftsregime, im Zuge dessen die Privatisierung und Kommerzialisierung des Gesundheitswesens vorgenommen wird, nicht geeignet ist, eine Pandemie erfolgreich zu bekämpfen. Der schreckliche Preis sind Unmengen von Schwererkrankten und Toten.
Nicht zu verstehen, wie alles zusammenhängt, kann daher höchst gefährlich sein. Auch die Wirkungen alltäglichen Verhaltens, also auf der Mikroebene, zu unterschätzen, kann äußerst gefährlich sein. Zu unterschätzen, was das alltägliche mediale Betrachten von Morden und zwischenmenschlicher Quälerei und das virtuelle Mitwirken in diesem Geschehen im jungen Menschen anrichten kann, bedeutet die psychische Anfälligkeit von Menschen zu übersehen. Massenschießereien in Schulen und todbringende Anschläge, aber auch die Bereitschaft, im Krieg zu töten, sind Ausdruck dieser Ignoranz.
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Hingegen können auf demokratischer Grundlage eintretende und an Nachhaltigkeit orientierte Bildungsprozesse nicht hoch genug für ihre Bedeutung für das Ganze eingeschätzt werden. Auch das friedliche Meditieren, die zwischenmenschliche Liebe und das gegenseitige Helfen können Prozesse mit globaler Ausstrahlungskraft bedeuten, wenn Empathie und Hilfsbereitschaft zur Grundlage einer kollektiven Solidarität werden.
Der Zusammenhang wird ebenfalls deutlich, wenn wir uns die Verbrennung von Braun- oder Steinkohle zur Beheizung aber auch zur industriellen Energieproduktion in ihrer Verbindung zur Freisetzung weiterer Klimagase betrachten. Die u.a. durch die CO2-Emissionen entstehende Klimaaufheizung führt zu vielfältigen Auswirkungen von der Veränderung der Meeresströmungen, über die Entstehung von Wüsten, dem vermehrten Auftreten heftiger Stürme, dem Abschmelzen der Gletscher, dem Anstieg des Meeresspiegels bis hin zum Auftauen des Permafrostbodens und der entsprechenden Freisetzung wiederum Klima relevanten Methans. Die klimatischen und ökologischen Verschiebungen und Verwerfungen führen zu Massenfluchten und Völkerwanderungen, die wiederum nicht bereitwillig von den Einheimischen hingenommen werden und zu gewalttätigen Auseinandersetzungen sowie zur Verschiebung der politischen Kräfteverhältnisse führen.
Kriege entstehen, wenn politische Möglichkeiten der beteiligten Akteure, einen Konflikt zu lösen, versagt haben. Erst die historische Kontextualisierung militärisch ausgetragener Konflikte kann zeigen, welche Interessen, Maßnahmen und Verweigerungen der Zusammenarbeit zum Ausbruch eines Krieges geführt haben. Hierbei stehen in der Regel ökonomische Interessen, wie z.B. das Gewinnstreben der Rüstungsindustrie, das Ausbeutungsinteresse an fossilen Brennstoffen oder seltenen Erden, in einer Verbindung zu machtpolitischen bzw. geopolitischen Optionen. Diese unterschiedlichen Interessen sowie die historische Genese eines Krieges müssen in einen Zusammenhang gedacht werden, wenn Überlegungen zur Beendigung eines militärischen Konflikts realistisch und erfolgreich sein sollen.
Diesen Zusammenhängen und den Möglichkeiten, einen ethisch vertretbaren politischen Einfluss im Ganzen zu haben, ist das vorliegende Buch gewidmet.
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Einer Vision kann man nicht vorwerfen, visionär zu sein.
Das Buch beginnt mit einer kritischen Analyse des gesellschaftlichen Ist-Zustands in einem globalen Kontext. Hierbei werden die zentralen gesellschaftlichen Bereiche analysiert und auf ihre Verbindungen hin durchdacht: Ökonomie, Politik, Militär, Ökologie und Kultur.
Es wird hierbei ein Fokus auf globale Strukturen der Gier gelegt, die im Kolonialismus ihren historischen Ausdruck fanden, aber auch in postkolonialen Zeiten ihre Verlängerung und systemische Modifizierung erfuhren.
Ein Schwerpunkt liegt anschließend jeweils auch auf der Rekonstruktion und Einordnung der internationalen Widerstandsbewegungen, die sich gegen die herrschende Ökonomie, soziale Ungerechtigkeit, die Zerstörung des Klimas und gegen die Militarisierung der Welt wehren.
In einem zweiten Schritt werden Negativszenarien für diese Bereiche entwickelt. Hier wird danach gefragt, wie die Zukunft der Weltgesellschaft aussehen wird, wenn es nicht gelingt, die Gefahr einer weltweiten militärischen Katastrophe einzudämmen, die Klimakatastrophe zu verhindern, den Tendenzen der Entdemokratisierung entgegen zu wirken, die soziale Ungleichheit zu beseitigen und die digitale Transformation des Humanen im Rahmen einer menschenfeindlichen Kultur zu verhindern.
Die Skizzierung derartiger Negativszenarien, die im Sinne der Heuristik aus einer Kombination von Fakten, theoretischen Einschätzungen, Vermutungen und Hypothesen konstruiert werden, ist neben der kritischen Ist-Analyse die Basis für die Forderung nach einer radikalen Neuordnung der Weltgesellschaft, damit eine derartige Entwicklung verhindert werden kann.
In einem dritten Schritt wird dann die positive Vision einer (noch) möglichen globalen Entwicklung beschrieben, die eintreten kann, wenn die richtigen Maßnahmen ergriffen und die hierfür notwendigen Entscheidungen über zivilgesellschaftlichen Widerstand, Demokratisierung und internationale Vernetzung durchgesetzt werden können. Diese Vision ist an den ökologischen Notwendigkeiten, den Kriterien der Demokratie, des friedlichen Zusammenlebens, der Wahrung der Menschenrechte, einer menschengerechten Ökonomie, sozialer Gerechtigkeit, einer aufgeklärten Kultur, also am Prinzip einer damit gemeinten mehrdimensional zu begreifenden Nachhaltigkeit orientiert. Allerdings besteht hinsichtlich der verschiedenen Dimensionen der Nachhaltigkeit aufgrund der gegenwärtigen und zukünftigen klimatischen Bedrohungslage das Primat der ökologischen Dimension, an der sich jede Maßnahme und Strategie zu messen hat.
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Es werden dann hierauf folgend auf der Grundlage der kritischen Analyse, der Negativszenarien und der auf verschiedenen Ebenen entwickelten positiven Vision planetarer Entwicklung erste konkrete Schritte entwickelt, die am gegenwärtigen Zustand globaler Politik, neoliberal geprägter Ökonomie, globaler Ökologie sowie diversifizierter kultureller Lebensweisen ansetzen können.
Wie bereits einleitend gesagt: Es kann eine derartige Vision nicht mit dem festlegenden und einengenden Blick auf die Unzulänglichkeiten und Beschränkungen der Gegenwart entwickelt werden. Der beständige Vorwurf eines ungenügenden Realismus‘ verfehlt die Intention des visionären Vorhabens. Daher kann man einer Vision nicht vorwerfen, visionär zu sein. Nur die ersten Schritte in Richtung auf die langfristige Annäherung an eine Vision müssen an dem Vorfindbaren anknüpfen. Hier ist es dann auch legitim zu fragen, inwieweit die ersten Schritte realistisch gewählt sind.
Die positive Vision einer Neuordnung hingegen ist Ausdruck des idealiter Gewünschten und Gewollten und findet seine Einlösung möglicherweise erst in mehreren Generationen – wenn der Menschheit tatsächlich noch bis dahin Zeit gegeben werden wird.
Zur zeitlichen Dimension einer Neuordnung
Die im vorliegenden Buch vertretene positive Zukunftsvorstellung einer Neuordnung ist vor dem Hintergrund der Ist-Analyse und negativer Szenarien, aber auch wünschenswerter Entwicklungen entstanden, um die Möglichkeiten eines Überlebens der menschlichen Gattungsart zu ermöglichen. Hierfür ist das Erkennen der eigenen Verantwortlichkeit der derzeit lebenden Generationen dringend notwendig, damit der Zeitpunkt der Umkehr und Neuordnung nicht verpasst wird – so noch einmal Hans Jonas (1979/2015, 8f.):
„Im Zeichen der Technologie aber hat es die Ethik mit Handlungen zu tun (…), die eine beispielslose kausale Reichweite in die Zukunft haben, begleitet von einem Vorwissen, das ebenfalls, wie immer unvollständig, über alles ehemalige weit hinausgeht. Dazu die schiere Größenordnung der Fernwirkungen und oft auch ihre Unumkehrbarkeit. All dies rückt Verantwortung ins Zentrum der Ethik, und zwar mit Zeit- und Raumhorizonten, die denen der Taten entsprechen.“
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Wer in diesem Zusammenhang argumentiert, dass der Mensch von Grund aus bösartig, der Mensch dem Menschen ein Wolf sei und daher eine positive Vision menschlicher Entwicklung naiv und unrealistisch sei, dem sei noch einmal entgegengehalten, dass es genügend weltweite Beispiele von positiver menschlicher Humanität, von zivilgesellschaftlichem Mut, Engagement gegen Unterdrückung, Hilfsbereitschaft und Empathie in der neueren Geschichte der Menschheit gegeben hat – von Bertha v. Suttner, über Emmeline Pankhurst, Martin Luther King, Mahatma Gandhi, Nelson Mandela bis zu Malala Yousafzei und Greta Thunberg.
Auch die vielen Unterstützungsleistungen und Hilfen, die sich Menschen gegenseitig in Familien, Freundeskreisen, politischen Aktionen oder Arbeitsverhältnissen geben, sprechen eine positive Sprache hinsichtlich der Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen. Auch ist entgegenzuhalten, dass wir erst eine ontologisch und phylogenetisch sehr geringe Entwicklungsphase der Menschheit hinter uns haben. Möglicherweise sind erst die ersten Zentimeter eines Tausende Kilometer langen Weges begangen worden. Visionen menschlicher Entwicklung müssen daher nicht nur über ein paar Jahrzehnte hinweg sondern auch mit einer Reichweite von vielen Generationen in die Zukunft gerichtet sein – so Wilhelm Reich in seiner Rede an den ‚kleinen Mann‘:
„Du denkst immer zu kurz, kleiner Mann, nur vom Frühstück bis zum Mittagessen. Du musst es lernen, in Jahrhunderten zurück und in Jahrtausenden vorwärts zu denken. Du mußt es lernen, in den Begriffen des lebendigen Lebens, deiner Entwicklung vom ersten Protoplasmaflöckchen bis zum aufrecht gehenden, aber noch krumm denkenden Menschentier zu denken. Du hast kein Gedächtnis für Dinge, die vor zehn oder 20 Jahren vorgefallen sind, und daher wiederholst du die Dummheiten, die du schon vor tausend Jahren sagtest. Mehr, du haftest an deinen Dummheiten, der ‚Rasse‘, der ‚Klasse‘, der ‚Nation‘, des religiösen Zwanges und des Liebesverbots, wie eine Laus im Pelz. Du wagst es nicht wahrzunehmen, wie tief im Elendspfuhl du steckst. Gelegentlich erhebst du deinen Kopf aus dem Pfuhl und rufst Eja-eja-ejaja! Das Quaken eines Frosches im Sumpf ist näher am Lebendigen.“ [1]
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Lebenssinn und Persönlichkeitsentwicklung
Menschen müssen sich im Klaren werden, warum sie auf dieser Erde leben wollen, welche Werte und welchen Lebenssinn sie verfolgen möchten. Sie müssen für sich klären, welche soziale Ordnung sie anstreben und sich in diesem Sinne für eine Neuordnung einsetzen, wenn die bisherige Ordnung der Welt nicht ihren Vorstellungen eines ‚guten Lebens in Verantwortung‘ entspricht.
Entsprechend müssen sie sich auf der Persönlichkeitsebene und in ihren sozialen Beziehungen entwickeln, reifen, wachsen und für sich und miteinander Durchbrüche schaffen. Menschen – egal aus welcher Kultur und aus welcher Region – können für sich Wege finden, wie sie sich im Kontext von ähnlich Gesinnten über veränderte Politikformen, neue Lebenszusammenhänge, Formen solidarischen Wirtschaftens, über Bildungsprozesse, therapeutische Interventionen oder Meditationspraktiken weiterentwickeln möchten.
Die Voraussetzung hierfür auf der Persönlichkeitsebene ist u.a. die Entwicklung von Achtsamkeit, d.h. der Fähigkeit, sich aufmerksam bezüglich des eigenen Denkens, Fühlens und Handelns wahrzunehmen und zu reflektieren. Dies erfordert oftmals ein Innehalten, ein Verweilen und eine Entschleunigung des eigenen Lebens. Menschen, die in diesem Sinne auf sich aufmerksam werden – so wurde argumentiert – lassen sich nicht so leicht manipulieren, verlieren sich nicht in virtuellen Welten oder anderen Süchten, sind angstfreier, identifizieren sich nicht mit ihrer Entfremdung, entwickeln Eigenart und Zivilcourage. Die Verbindung von Achtsamkeit, Persönlichkeitsreife und Demokratiefähigkeit über Bildungsprozesse unterschiedlicher Art wird als eine gute Grundlage dafür angesehen, einen positiven Einfluss auf ökonomische, ökologische, soziale und politische Strukturen zu nehmen.
Hierbei ist anzumerken, dass diese Entscheidungsmöglichkeit zu einem guten Leben in Verantwortung nur in Gesellschaften gegeben ist, die systemisch einigermaßen funktionieren und nicht in Kriege und Unterdrückung durch extreme illegitime Herrschaft verwickelt wurden. Für Regionen, wie dem Gaza-Streifen oder dem Sudan, gelten derzeit andere Voraussetzungen. Hier geht es schlichtweg um das Überleben bzw. um die Suche nach Fluchtwegen.
Determinanten einer Neuordnung
Insbesondere die drohende ökologische Verwüstung, die zunehmende soziale Ungerechtigkeit, das militärische Vernichtungsszenario, die zunehmende Entdemokratisierung, die Enthumanisierung im Zuge digitaler Transformation sowie das verstärkte Auftreten von Pandemien stellen Gefährdungen der Überlebensbedingungen der Menschheit dar, für die entschiedene Gegenmaßnahmen im globalen Maßstab unter der Perspektive der Nachhaltigkeit ohne eine weitere zeitliche Verzögerung wirksam einsetzen müssen. Nachhaltige Entwicklung bezieht sich hierbei mehrdimensional auf ökologische, ökonomische, politische und kulturelle Aspekte globaler Entwicklung unter dem Primat des Ökologischen und meint nicht nur die Erhaltung der Lebensgrundlagen für die zukünftigen Generationen, sondern auch die Heilung des Zerstörten. Eine derartige Entwicklung kann aufgrund ihrer Globalität nicht nur nationalstaatlich eingeleitet werden, sondern muss dringend transnational unter Einbezug einer reformierten UN koordiniert werden.
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Im Zuge der Konstruktion einer positiven Vision gesellschaftlicher Veränderung werden des Weiteren die sozioökonomischen Voraussetzungen friedlichen und ökologischen Zusammenlebens im Sinne einer Postwachstumsgesellschaft und alternativer Ökonomien mit deutlicher Gemeinwohlorientierung beschrieben. Die Ökonomie muss prioritär dem Menschen dienen und nicht primär den Rentabilitätsinteressen ihrer Shareholder. Verschiedene Widerstandsbewegungen gegen die neoliberalisierte Ökonomie und für eine gemeinwohlorientierte Ökonomie werden skizziert und analysiert. Schritte aus dem Griff einer gierigen Ökonomie, auch Enteignungs- bzw. Wiederaneignungsprozesse, werden beschrieben und mit Beispielen einer menschenfreundlichen und ökologisch orientierten Ökonomie versehen.
Die vorliegende positive Vision gesellschaftlicher Entwicklungsmöglichkeiten hat auch auf der Ebene internationaler Politik Vorschläge unterbreitet, die hier noch einmal kurz zusammengefasst werden sollen. Die Vorschläge lassen sich auf verschiedenen Ebenen skizzieren und sind äußerst aktuell aufgrund der weltpolitischen Entwicklung, wie der russische Überfall auf die Ukraine, die Kriege im Jemen und in Syrien dramatisch zeigen:
1. Die konsequente Demokratisierung der Vereinten Nationen durch ein demokratisch gewähltes Weltparlament, der Umstrukturierung des UN-Sicherheitsrats und einer gewählten und streng kontrollierten Weltregierung;
2. Hiermit verbunden die schrittweise sich entwickelnde Entnationalisierung politischer Herrschaft zugunsten einer sinnvoll abgestuften Regionalisierung im Sinne des Subsidiaritätsprinzips;
3. Eine Aufwertung und Neustrukturierung der internationalen Gerichtsbarkeit, der sich kein UN-Staat mehr entziehen kann;
4. Eine internationale Abrüstung und Entwaffnung von Staaten, Armeen und illegitimen Organisationen zugunsten eines demokratisch kontrollierten Gewaltmonopols der Vereinten Nationen;
5. Die Verwendung der Abrüstungsgewinne, also der Friedensdividende, für die drängenden und global relevanten Aufgaben nachhaltiger Entwicklung – vor allem zunächst für den Klimaschutz, die Friedenssicherung, die Gesundheitssysteme und für die Beseitigung des Welthungers.
Natürlich sind wir weit von einer Entmilitarisierung, einer Entnationalisierung und einer Durchsetzung des Universalismus und einer Einrichtung kosmopolitischer Ordnungsstrukturen entfernt. Der russische Angriff auf die Ukraine in 2022 und die Unfähigkeit der Vereinten Nationen, hier präventiv zu handeln und auch in der militärischen Eskalation wirkungsvoll zu reagieren, zeigt dies auf eine gefährliche Weise.
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Dennoch ist in Maßnahmen zur Erreichung dieses Zustands einer internationalen Neuordnung ein wichtiger Schlüssel zur globalen Befriedung und für die Freisetzung von Ressourcen insbesondere für den ärmeren Teil der Welt gegeben. Wenn durch die drastische Verringerung von Rüstungsausgaben im Zuge der Entwaffnung der Nationalstaaten die für die Entwicklung der ärmeren Weltregionen notwendigen Ressourcen in Billionenhöhe eingesetzt werden können, werden auch ökonomische Gründe für die Massenmigration und die damit verbundenen Konflikte und Probleme zumindest erheblich gemindert.
Auch mit dem nach bedeutenden Investitionen verlangenden, zeitnahen Gegensteuern gegen den ökologischen Klimakollaps werden zumindest mittelfristig aufgrund der durch die Klimaträgheit bedingten Zeitverzögerung die ökologischen Gründe zukünftiger Massenfluchten vermindert werden.
Der Politikwissenschaftler Farsan Ghassim ermittelte in einer empirischen Studie, dass die Idee einer globalen Demokratie und einer demokratischen globalen Weltregierung durchaus Anklang in der Bevölkerung einer Reihe einflussreicher Staaten findet - so Ghassim (2021):
"In allen befragten Ländern unterstützen klare Mehrheiten die Idee einer globalen Demokratie. Im internationalen Durchschnitt sind es 65 Prozent. Die Spanne reicht von 57 Prozent in England und 61 Prozent in den USA über 68 Prozent in Brasilien bis hin zu 74 Prozent in Japan. Deutschland liegt mit 64 Prozent in der Mitte dieser fünf Länder."
Es sollte uns nicht suggeriert werden, dass niemand die globale Demokratie wolle. Die Umfrageergebnisse von Ghassim machen deutlich: Es ist nicht aussichtslos, sich für die Veränderung globaler Herrschaftsstrukturen einzusetzen. Dies trifft auf eine große Resonanz bei vielen Menschen. Es sind mehr Menschen an globaler Demokratie interessiert, als national ausgerichtete Politiker_innen uns einreden wollen. Das "Make America great again" ist absolut unzeitgemäß und kontrakarikiert die tatsächliche globale Entwicklung hin zu einer multipolaren Weltordnung. Hierbei stellen die USA zukünftig nur noch eine von mehreren Machtzentren dar, das auf die Zusammenarbeit mit den anderen Weltregionen angewiesen ist.
Die Biosphäre antwortet auf den menschlichen Zugriff
Der Raubbau an der Natur bleibt nicht unbeantwortet. Der Planet Erde beginnt sich gegen den Menschen zu wehren. Noch aber kann eine Katastrophe im globalen Maßstab verhindert werden.
Der Weltklimabericht des IPCC der Vereinten Nationen macht deutlich, dass zwischen dem – ebenfalls problematischen – 1.5-Grad-Ziel und dem 2.0-Grad-Ziel bis zum Ende des 21. Jahrhunderts ein erheblicher Unterschied für die globale Klimasituation insbesondere für bereits benachteiligte Regionen und Bevölkerungsgruppen festzustellen ist:
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„Zu den Bevölkerungsgruppen, die einem überproportional hohen Risiko nachteiliger Konsequenzen einer globalen Erwärmung um 1,5°C und mehr ausgesetzt sind, zählen benachteiligte und verwundbare Bevölkerungsgruppen, manche indigene Völker sowie lokale, von landwirtschaftlichen oder küstengeprägten Lebensgrundlagen abhängige Gemeinschaften (hohes Vertrauen). Zu den überproportional gefährdeten Regionen gehören arktische Ökosysteme, Trockengebiete, kleine Inselentwicklungsländer und die am wenigsten entwickelten Länder (hohes Vertrauen). Armut und Benachteiligung werden in manchen Bevölkerungsgruppen mit zunehmender Erwärmung voraussichtlich zunehmen; eine Begrenzung der Erwärmung auf 1,5°C könnte im Vergleich zu 2°C die Anzahl der Menschen, die sowohl klimabedingten Risiken ausgesetzt als auch armutsgefährdet sind, bis zum Jahr 2050 um mehrere hundert Millionen senken (mittleres Vertrauen).“ [2]
Das Erreichen des 1.5°C-Ziels ist wohl – nun aus der Sicht von 2024 - nicht mehr möglich. Nun gilt es das 2-Grad-Ziel zu fokussieren, das ebenfalls schon wieder gefährdet ist. Die hierfür erforderlichen Maßnahmen müssten allerdings unverzüglich eingeleitet werden und müssten zeitlich deutlich über der durch den IPCC gegenüber 2010 bis 2030 globalen CO2-Absenkung um 45% und der bis 2050 geforderten vollständigen CO2-Neutralität hinausgehen. [3] Bis 2050 wird man sich für die Maßnahmen zur Klimaneutralität angesichts der sich derzeit beschleunigenden Klimaerwärmung, der Existenz von nicht kontrollierbaren Kipppunkten, dem Wirken von klimatischen Rückkoppelungseffekten, aber auch den Millionen Hungertoten sowie den Bedrohungen des Weltfriedens aufgrund der Klimaentwicklung nicht mehr Zeit lassen können.
Der IPPC (2023, 12) stellt in seinem im März 2023 verabschiedeten Synthese-Bericht, für den über 9000 Studien analysiert wurden, fest, dass die Grenze von 1,5 Grad sehr bald erreicht sein wird, aber dass dennoch Hoffnung auf ein Zurückdrängen der Klimaerwärmung bestehe, wenn drastische Maßnahmen kurzfristig ergriffen würden:
"Continued greenhouse gas emissions will lead to increasing global warming, with the best estimate of reaching 1.5°C in the near term in considered scenarios and modelled pathways. Every increment of global warming will intensify multiple and concurrent hazards (high confidence). Deep, rapid, and sustained reductions in greenhouse gas emissions would lead to a discernible slowdown in global warming within around two decades, and also to discernible changes in atmospheric composition within a few years (high confidence).
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‚Climate Justice‘ im weitergehenden Sinne aber bedeutet auch, dass die reicheren Regionen der Welt, die ökologischen Schutz- und Präventionsmaßnahmen für den ärmeren Teil der Welt und hierbei dort ebenfalls die notwendige Umstellung auf eine das Klima schonende regenerative Energieerzeugung weitgehend zu finanzieren haben. Hiermit können Jahrhunderte der kolonialen und postkolonialen Ausbeutung ganzer Weltregionen Schritt für Schritt zumindest partiell finanziell ausgeglichen werden.
Im Rahmen des vorliegenden Buches werden daher die notwendigen Maßnahmenpakete zeitlich abgestuft innerhalb von 15 Jahren skizziert. Bis dahin müssten alle wichtigen Entscheidungen gefallen und die notwendigen Maßnahmen eingeleitet sein, um den globalen Entwicklungsprozess noch rechtzeitig umsteuern zu können.
Prioritär hierbei sind – neben einem früheren Erreichen der Emissionsreduktionsziele – vor allem:
- Umstellung auf regenerative Energieversorgung im Strom- und im Wärmebereich;
- Umlenkung öffentlicher finanzieller Ressourcen weg von der Waffenindustrie hin zur Finanzierung von Klimapräventions- und –schutzmaßnahmen;
- Förderung von Effizienz- und Energieeinsparmaßnahmen anstelle technischer Lösungen im Sinne des ‚Carbon Engineering‘;
- Entwicklung fiskalischer Anreize zur ökologischen Umsteuerung und eines wirksameren CO2-Emissions-Zertifikatemarkt.
- Besondere finanzielle Unterstützung der Weltregionen, die von den Klimafolgen besonders betroffen sind.
Das Wissen für die sozialökologische Transformation ist vorhanden; der politische Wille der Verantwortlichen muss sich hingegen weiterentwickeln, so dass diese Maßnahmen tatsächlich möglichst zeitnah umgesetzt werden.
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Zum Verhältnis von nationalstaatlicher Abrüstung und dem Aufbau eines UN-Gewaltmonopols
Des Weiteren gilt es, angesichts der wachsenden Bedrohung ohne weitere Zeitverzögerung die ersten sinnvoll abgestimmten Schritte hinsichtlich der globalen Abrüstung zu gehen:
Die Technologie von Nuklearwaffen wird aktuell von allen Atommächten mit großem Aufwand modernisiert und weiter entwickelt. Es wird zunehmend versucht, künstliche Intelligenz und Cyberkriminalität in der Kriegsführung einzusetzen. Privatarmeen gekaufter Söldner, nuklear bestückte Hyperschallraketen, der Einsatz von autonom entscheidenden Killerrobotern sowie die Militarisierung des Weltraums drohen. Der Rüstungswahnsinn kennt keine ethisch bestimmten Grenzen mehr.
Aber auch die Gefahr einer unbeabsichtigten Einmischung sich verselbstständigender Programme besteht. Insbesondere die unkontrollierte Weiterentwicklung Künstlicher Intelligenz zu einer ‚Superintelligenz‘, die dem Menschen in Bezug auf ihre technologische Intelligenz überlegen ist, droht. Hierbei besteht die Gefahr, dass eine derartige ‚Superintelligenz‘ die Kontrolle über das Internet übernimmt und hierbei sich in die kritische zivile Infrastruktur destruktiv einmischt. Dies kann zu erheblichen sozialen Verwerfungen bis hin zu bürgerkriegsähnlichen Situationen führen, wenn die medizinische Versorgung in Krankenhäusern zusammenbricht, Ampelanlagen an Kreuzungen nicht mehr funktionieren, die Stromversorgung ausfällt oder Renten nicht mehr ausgezahlt werden können. Auch ein ‚Atomkrieg aus Versehen‘ ist über das Eindringen der Künstlichen Intelligenz bzw. über das Versagen von KI in Waffensystemen durchaus denkbar und leider nicht unrealistisch. Renommierte internationale KI-Forscher warnen hiervor.
In der gegenwärtigen Situation befinden wir uns noch eindeutig in einer Welt wachsender multipolarer Bedrohung. Sowohl einzelne Nationalstaaten, Machtblöcke und Allianzen mit der Unterstützung der internationalen Rüstungsindustrie als auch Terrormilizen und klandestine Organisationen bedrohen den Weltfrieden in einer Weise, wie es seit der scheinbaren Beendigung des ‚Kalten Krieges‘ nicht mehr der Fall gewesen ist. Auch die Demokratien befinden sich zurzeit in der Defensive bzw. im Rückzug. Autokratien, bis an die Zähne bewaffnet, versuchen im Zuge hybrider, teils versteckter, teils offener Kriegsführung, hegemoniale Interessen in ihren Weltregionen durchzusetzen. Der russische Krieg in der Ukraine ist nur der negative Höhepunkt dieser Entwicklung hin zu innerer und äußerer Repression. Der russische Überfall in der Ukraine ließ nun auch für Europa die Bedrohung erfahrbar werden. Der 2024 noch andauernde Krieg im Nahen Osten, der im brutalen Überfall der Hamas auf Israel und der unverhältnismäßigen Vergeltung im Gaza-Streifen mit 10.000den Toten, insbesondere palästinensische Zivilbevölkerung, zeigt, wie nicht gelöste Konflikte und eine fehlende effektive transnationale Struktur immer wieder zu dramatischen historischen Ereignissen führen.
Ein großer Teil der weltweit erwirtschafteten Ressourcen geht in die Produktion von Rüstungsgütern und -dienstleistungen. SIPRI (2025) meldet, dass sich im Jahr 2024 die Rüstungsinvestitionen auf ca. 2,7 Billionen US-Dollar gesteigert hätten. Aber die ungebremste Rüstungsspirale führte im letzten Jahrhundert zweimal zu einem globalen Krieg.
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Dies alles bedeutet, dass die nationalstaatliche Entwaffnung der Welt zwingend notwendig ist, es aber Ausdruck einer gefährlichen Naivität wäre, wenn insbesondere die Staaten und Allianzen mit demokratischem Selbstanspruch und zumindest in ernstzunehmenden Ansätzen entwickelten demokratischen Strukturen als erste beginnen würden, sich radikal zu entwaffnen und einseitig abzurüsten. Die Folge wäre eine Wehrlosigkeit, die durch autoritäre und politisch unreife Regime sowie terroristische und politisch extremistische Organisationen ausgenutzt werden würde. Die Naziherrschaft und die aggressive Militärtechnologie der Nazis hätten sich nicht mit gutem Zureden, Liedersingen und Klangketten stoppen lassen. Dies soll Formen der sozialen Verteidigung nicht grundsätzlich abwerten, aber im friedlichen Widerstand gegen aggressive totalitäre Regimes werden Menschen, die sich verweigern und widersetzen, eingesperrt, gefoltert oder gleich umgebracht.
Formen sozialer Verteidigung, wie die Verweigerung der Kooperation, Demonstrationen sowie Massenstreiks, können jedoch eine wichtige Rolle spielen, wenn z.B. ein Regime im Niedergang begriffen ist und das eigene Militär nicht mehr hinter diesem steht.
Anlass zur Hoffnung hinsichtlich der Vernichtung von Nuklearwaffen gibt die weltweite Bewegung der ‚Mayors for Peace‘ mit über 8000 beteiligten Städten aus 165 Staaten, die sich für die sofortige Abschaltung der einsatzbereiten Atomwaffen und den Abbau und die Zerstörung aller Atomwaffen einsetzen.
Natürlich ist auch das im Rahmen der Vereinten Nationen und von der internationalen NGO ICAN initiierte und am 22.1.21 in Kraft getretene Atomwaffenverbot Anlass zu Hoffnung. Dieses Verbot gilt zwar rechtlich nur für die ratifizierenden Nationen, setzt aber neue internationale ethische Maßstäbe, auf die sich die internationale Friedensbewegung beziehen kann. Nun ist erstmals im Völkerrecht neben dem Atomwaffensperrvertrag auch ein Verbotsvertrag verankert, mit dem sich die Nuklearstaaten konfrontiert sehen.
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Eine Entwaffnung im nuklearen und im konventionellen Bereich kann in den ersten Schritten nur über internationale Abrüstungsverhandlungen, gestützt von einer transnationalen Allianz der demokratischen Staaten und Regionen, im Kontext der Vereinten Nationen erfolgen.
Diese internationale Entwaffnung kann nur stattfinden, wenn sie von einer globalen zivilgesellschaftlichen Bewegung getragen wird, die den notwendigen Anstoß und die druckvolle Begleitung dieses Prozesses leistet. Der Erfolg der Friedensbewegung in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts hat dies nachweisen können. Die Bewegung z.B. der ‚Mayors for Peace‘, die zivilgesellschaftlichen Aktivitäten von ICAN oder die Aktivitäten der ‚Women’s International League for Peace‘ (WILPF) weisen hier in die richtige Richtung.
Gleichzeitig bzw. eher in den einzelnen Schritten jeweils zeitlich vorlaufend zu diesen genau abzustimmenden Abrüstungsmaßnahmen sind die UN-Blauhelm-Truppen mit einem erweiterten Mandat und die UN-Weltpolizei als Gegengewicht und Korrektiv aufzubauen. Ohne die zeitliche Abgestimmtheit von internationaler Abrüstung der Nationalstaaten und dem Aufbau einer funktionsfähigen, überregional, regional und lokal gegliederten und gut ausgerüsteten Exekutive würde ein unverantwortliches Machtvakuum entstehen.
Ein alternativer Weg könnte über die globale Erweiterung der Nato beschritten werden.
Eine derartige Ausbreitung eines Bündnissystems ist zwar unwahrscheinlich, sollte aber durchdacht werden. Auch wenn dies auf den ersten Blick absurd erscheint: Zumindest ist dies einmal zu reflektieren, ob nicht eine erweiterte und in sich veränderte NATO die weltpolizeiliche Funktion im Rahmen der Vereinten Nationen übernehmen könnte.
Zunächst könnten eher westlich orientierte Staaten, wie z.B. Südkorea, Australien, Brasilien oder Japan, an die Nato angenähert und dann Schritt für Schritt in das Sicherheitsbündnis integriert werden. Doch auch Staaten, die derzeit noch in Gegnerschaft zueinander stehen, könnte längerfristig eine Nato-Perspektive eröffnet werden.
Voraussetzung hierfür wäre die an genau definierte Bedingungen geknüpfte Annäherung beispielsweise sowohl der Ukraine als auch der Russischen Föderation an die NATO und in den nächsten Schritten die Integration der VR China und weiterer Staaten insbesondere aus dem globalen Süden. In diesem Sinne würde die erweiterte und technisch umgerüstete NATO die für die UNO notwendige weltpolizeiliche Sicherheitsstruktur bieten – unter der Voraussetzung, die UNO würde demokratisch reformiert. Die mit Transformationsbedingungen verbundene Integration der Ukraine und der Russischen Föderation in die NATO wäre das Angebot, um den Krieg in der Ukraine zu beenden. Auch die Aufhebung der westlichen Sanktionen für den Fall eines Friedensvertrags, im Rahmen dessen eine dem Völkerrecht entsprechende Regelung der annektierten ukrainischen Gebiete vorgenommen würde, könnte Russland angeboten werden. Insgesamt eine Win-win-Situation. Sicherlich müssten die Risiken und auch die Widerstände bedacht werden, wenn man eine derart unkonventionelle Lösung vieler Probleme erörtert (vgl. ausführlicher hierzu Kap. 5.6 und den dazu gehörenden Exkurs).
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Eine riesige Friedensdividende wäre der Welt jedenfalls gewiss.
Wie gesagt: Eher unwahrscheinlich.
Aber auch in einem anderen Szenario: An der globalen Abrüstung wird die Welt nicht vorbei kommen, wenn sie die notwendigen Ressourcen für die Bewältigung der weltweiten Probleme und Krisen aufbringen will.
Entsprechend demokratisch gefasste Abrüstungsbeschlüsse müssten dazu führen, dass die nationalstaatliche Entwaffnung in einem transparenten Verfahren und in parallel vorgenommenen und kontrollierten Abrüstungsmaßnahmen aller Staaten erfolgt. Staaten, die sich weigern, sind mit wirtschaftlichen und politischen Sanktionen zu belegen, die so dosiert sind, dass sie vor allem die dort herrschenden und sich verweigernden Eliten treffen. Illegale Organisationen sind auf nationaler und überregionaler Ebene weltpolizeilich zu verfolgen, zu sanktionieren und aufzulösen.
Die UN-Vereinbarungen zur Vernichtung der Atomwaffen, denen Anfang 2025 bereits 73 Staaten beigetreten sind, stellen einen ersten Schritt dar. Weitere 21 Staaten befinden sich im Ratifizierungsprozess (ICAN 2025). Diese Zahlen gilt es auszuweitenund parallel hierzu mit dem Abbau der nationalen Waffenarsenale hinsichtlich nuklearer, biologischer, chemischer und konventioneller Waffengattungen über einen verbindlichen UN-Beschluss zu beginnen. Der Krieg Russlands in der Ukraine zeigt noch einmal sehr deutlich, dass ein weltpolizeilicher Einsatz bzw. der Einsatz von UN geführten Truppen erst dann Sinn macht, wenn einer der militärischen Aggression beschuldigter Staat nicht mit dem Einsatz von Atomwaffen drohen kann.
Parallel hierzu und z.T. vorab sind demokratische Strukturen jenseits der Nationalstaaten auf regionaler und auf UN-Ebene Schritt für Schritt auf- und auszubauen. Hierbei haben mutiges zivilgesellschaftliches Engagement und die demokratische Organisation der notwendigen gesellschaftlichen Veränderung auf der globalen Ebene eine wichtige und unverzichtbare Funktion. Zur Durchsetzung einer demokratischen und sozialökologischen Neuordnung sind alle bisher erfolgreichen Widerstandsformen einzusetzen, von Massenprotesten, über Warenboykotts bis hin zu Massenstreiks. Natürlich spielt ein entsprechendes Wählerverhalten und das Engagement in sozialökologisch orientierten und friedenspolitisch engagierten Institutionen, Parteien und Gewerkschaften ebenfalls eine wichtige Rolle.
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Es beginnen Entwicklungen, die Hoffnung geben.
Auch wenn sich die Klimapolitik noch nicht wirkungsvoll genug entwickelt, auch wenn der Welthunger immer noch nicht beseitigt ist, auch wenn das internationale Sicherheitssystem mit der russischen Invasion in der Ukraine eine große Niederlage erlitten hat, sollten dennoch vorhandene positive weltpolitische Entwicklungen nicht übersehen werden. An vielen Orten der Welt gibt es aktuell Protest- und Widerstandsbewegungen, die sich für eine friedlichere und nachhaltiger entwickelte Welt im Sinne einer Neuordnung engagieren.
Zur Frage nach der gesellschaftlichen Umgestaltung entwickelte Friedrich Engels bereits 1895 Überlegungen, die aus meiner Sicht bis heute noch gültig sind - so Engels:
"Die Zeit der Überrumpelungen, der von kleinen bewußten Minoritäten an der Spitze bewußtloser Massen durchgeführten Revolutionen ist vorbei. Wo es sich um eine vollständige Umgestaltung der gesellschaftlichen Ordnung handelt, da müssen die Massen selbst mit dabei sein, selbst schon begriffen haben, worum es sich handelt, für was sie mit Leib und Leben eintreten. Das hat uns die Geschichte der letzten fünfzig Jahre gelehrt. Damit die Massen aber verstehen, was zu tun ist, dazu bedarf es langer, ausdauernder Arbeit, und diese Arbeit ist es gerade, die wir jetzt betreiben, und das mit Erfolg, der die Gegner zur Verzweiflung bringt." (Engels 1895)
Eine gesellschaftliche Umgestaltung und Neuordnung wird also nicht über einen einzigen globalen disruptiven Ausbruch erfolgen sondern besteht aus sehr vielen Bewegungen und politischen Maßnahmen, die mit einer langfristigen Perspektive ausdauernd ergriffen werden.
Es lassen sich derzeit nicht nur weltweit Massenproteste von Erwachsenen beobachten, sondern insbesondere die Jugend ist es, die sich gegen Gewalt und Klimazerstörung zur Wehr setzt. Die US-amerikanischen Schüler_innen forderten beispielsweise im März 2018 beim „March for Our Lives“ sehr deutlich und lautstark eine gesellschaftliche Transformation im Bereich der Waffenindustrie und der sie kontrollierenden Gesetze, gegen die Interessen der Waffenlobby und der damit verbundenen Politik. Anlässlich der Serie von Massenmorden in US-amerikanischen Schulen solidarisierten sich ca. 800.000 Schüler_innen und Erwachsene zu einer eindrucksvollen Demonstration, die von Überlebenden des Massakers an der Marjory Stoneman Douglas High School in Parkland (Florida) mit dem Ziel organisiert wurde, eine längerfristige politische Bewegung gegen die Aktivitäten der US-Waffenlobby, insbesondere der NRA, der entsprechenden Waffenindustrie und der von ihnen bezahlten Politiker aufzubauen. [4]
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Ebenfalls stellt der weltweit vorfindbare Widerstand indigener Völker und ihrer Unterstützergruppen gegen die Zerstörung ihrer lebensweltlichen und natürlichen Grundlagen durch die Fossilindustrie eine weitere nicht zu unterschätzende Gegenbewegung gegen den Raubbau an der Natur und der Klimazerstörung dar. Das Volk der Ogoni in Nigeria, die Sioux in Nord-Dakota, indigene Bewohner des Regenwaldes in Brasilien oder die Cree Nation im Norden Albertas führen einen Kampf mit Öffentlichkeitsarbeit, Blockaden, rechtlichen Auseinandersetzungen und Protestcamps gegen die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen. Sie politisieren sich im Laufe dieser Auseinandersetzungen und erkennen den Zusammenhang zwischen Kapitalismus, staatlicher Repression und der Vernichtung natürlicher Lebensräume. Junge Menschen arbeiten hier im Widerstand gegen die Fossilindustrie mit den älteren Generationen zusammen.
Auch dass z.B. im März 2019 weltweit Schülerproteste in Verbindung mit Schulstreiks gegen die Zerstörung des Klimas und für effektiven und zeitnahen Klimaschutz in ca. 2000 Städten in 120 Ländern stattfanden [5], ist ein Zeichen dafür, dass sich in der Schülergeneration engagierter zivilgesellschaftlicher Widerstand formiert. Allein in Berlin waren 25.000 Schülerinnen und Schüler am Streik beteiligt. [6] Ein halbes Jahr später waren es z.B. in Berlin bereits 240.000 Personen und weltweit mehrere Millionen Jugendliche, die den Klimastreik unterstützten. Insbesondere die Tatsache, dass hier auch mit dem Druck der institutionellen Verweigerung im Rahmen eines Schulstreiks gearbeitet wird, lässt aufhorchen. Die von von der 16-jährigen schwedischen Klimaaktivistin Greta Thunberg initiierte Bewegung ‚Fridays for Future‘ (F4F) zeigt, dass Jugendliche zunehmend bereit sind, auch zu radikaleren zivilgesellschaftlichen Mitteln zu greifen. Sie haben verstanden, dass es um das Ganze geht („Wir sind hier, wir sind laut, da ihr uns die Zukunft klaut.“, „Es gibt keinen Planeten B“). Es wird hochinteressant sein, welche Wirkung diese Massenproteste der F4F-Bewegung haben werden. Dies hängt davon ab, inwieweit sie sich stabilisieren, vernetzen und auf andere Aktionsfelder ausweiten sowie auch die älteren Generationen einbeziehen können. Auch stellt sich die Frage, ob der Zusammenhang zwischen international wirkenden Strukturmerkmalen kapitalistischer Ökonomie, des politischen Systems und der Zerstörung der Biosphäre hergestellt wird. Auch das eigene Konsumverhalten, z.B. im Rahmen des Boykotts klimaschädlich hergestellter bzw. betriebener Produkte, wird hier eine wichtige Rolle spielen.
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Möglicherweise ist dies der Anfang einer weiteren kulturellen Revolution – nach den Brüchen mit der etablierten Kultur durch die 68er-Generation – die nun aber aufgrund der massiven Bedrohungslage wesentlich breitere Teile der Weltbevölkerung mit einer globalen Reichweite erfassen könnte.
Ungefähr 27.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler [7] aus der Schweiz, Österreich und Deutschland (‚Scientists for Future‘) haben zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine Erklärung unterzeichnet, welche die Klimaproteste der Jugendlichen unterstützt. In anderen Ländern entwickeln sich vergleichbare Aktivitäten. So ist eine internationale Unterstützung von derzeit ca. 15.000 Wissenschaftler_innen der ‚Alliance of World Scientists‘ aus 182 Ländern im Entstehen. Diese Wissenschaftler sagen: „Die Schüler haben recht. Die wissenschaftlichen Ergebnisse stützen eindeutig ihr klimapolitisches Engagement.“ Parallel hierzu gebildete Vernetzungen von Eltern (‚Parents for Future‘) und Lehrern (‚Teachers For Future‘) unterstützen ebenfalls die Schülerproteste und fordern die Schulbehörden auf, auf schulische Ordnungsmaßnahmen im Falle der Streikbeteiligung zu verzichten. Auch an den Hochschulen bilden sich die ‚Students For Future‘ und organisieren Streikaktionen an den Universitäten und ‚Public Climate Schools‘.
Insbesondere das Engagement der jungen Menschen lässt hier hoffen, dass es zu wirksamen und längerfristigen Gegenbewegungen kommen wird und sich eine Generation aus der verdummenden medialen Umarmung durch den militärisch-ökonomischen Komplex, aus der Priorität einseitiger Karriereinteressen und aus der entpolitisierenden und klimaschädlichen Konsumorientierung im Sinne eines radikalen kulturellen Umbruchs lösen wird.
In diesem Zusammenhang könnte die westliche Gesellschaft etwas von dem zurückgeben, das sie über Jahrhunderte hinweg im Zuge der Kolonialisierungsprozesse den unterworfenen Völkern geraubt hatte – so der ehemalige bundesdeutsche Entwicklungsminister Jürgen Todenhöfer:
„Die Geschichte des Westens ist eine Geschichte brutaler Gewalt und großer Heuchelei. Nirgendwo auf der Welt kämpft der Westen für die Werte seiner Zivilisation. Sondern ausschließlich für seine kurzsichtigen Interessen. Um Macht, Märkte und Moneten. Oft mit terroristischen Methoden. Die Leiden anderer Völker und Kulturen interessieren ihn nicht. (…) Der Westen braucht eine gewaltfreie humanistische Revolution. Statt die Werte seiner Zivilisation zur Vergewaltigung anderer Völker und Kulturen zu missbrauchen, sollte er seine jahrhundertealten Versprechen gegenüber der Menschheit einlösen.“ [8]
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Dies bedeutet ebenfalls, dass die reichen Weltregionen, wie z.B. die EU oder Nordamerika, mit der Verminderung von klimarelevanten Emissionen vorangehen müssen. Ärmeren Weltregionen muss hierbei noch etwas Zeit gegeben werden, Entwicklungen aufzuholen, die ihnen durch die Kolonialisierung und eine ungerechte Weltwirtschaftsordnung verwehrt wurden. Allerdings ist auch hier Wert auf eine möglichst früh zu erreichende Nachhaltigkeit in der Industrie, im Verkehr, in der Landwirtschaft etc. zu legen.
Eine weitere anregende Initiative stellt die im März 2021 zum internationalen Frauentag von den finnischen 'Women for Peace' vorgestellte Initiative für die Einrichtung eines finnischen Ministeriums für Frieden und nachhaltige Entwicklung dar. Dies von verschiedenen finnischen NGOs unterstütze Initiative kritisiert die Verschwendung und Fehlinvestition gesellschaftlicher Ressourcen für Aufrüstung und Krieg. Die initiierenden Frauen fordern die Einrichtung eines finnischen Ministeriums, das dafür sorgt, dass das bisher für das Militär ausgegebene Geld für den Frieden, für den Abbau von Armut und die Beseitigung des Hungers und eine an den Nachhaltigkeitszielen der UN (SDGs) orientierte ökologische Entwicklung ausgegeben wird. Sie fordern auch andere Staaten auf, derartige Ministerien einzurichten und damit für eine friedlichere, gerechtere und umweltbewahrende Welt einzutreten. Die weitere Entwicklung dieser Initiative gilt es aufmerksam zu verfolgen. [9]
Auch die rassismuskritische Bewegung, aktuell z.B. ‚Black Lives Matter‘, stellt eine für die gesellschaftliche Neuordnung zu beachtende politische Bewegung dar. [10]
‚Black Lives Matter‘ ist eine aus der afroamerikanischen Gesellschaft der USA stammende Protestbewegung, die sich gegen den systemischen Rassismus in der US-amerikanischen Gesellschaft wendet. Sie wurde bereits 2013 angesichts schwerwiegender Fälle von Rassismus aber auch von latenter Alltagskriminalisierung begründet, wurde aber vor allem durch den auf Video aufgenommenen und dokumentierten Mord an George Floyd zu einer Massenprotestbewegung gegen rassistisch bedingte polizeiliche Übergriffe, die sich auch international verbreitete.
„Black Lives Matter‘ hat keine zentralisierte Struktur, sondern ist ein ‚Graswurzelbewegung‘, die dezentral vernetzt ist. BLM führt Demonstrationen, Märsche und Kundgebungen durch. BLM-Slogans wie z.B. „Hands up! Don’t shoot!“, „No justice, no peace!“ oder „Is my son next?“ gingen im Zuge dieser Proteste weltweit durch die Medien.
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Ausgehend durch den von einem Polizisten ausgelösten Erstickungstod von George Floyd in Minneapolis organisierten sich Massendemonstrationen in den USA, wo Millionen Menschen auf die Straße gingen. Auch gab es Proteste in Europa. So demonstrierten in Wien im Frühsommer 2020 ca. 50.000 Teilnehmer_innen und in Berlin im Juni 2020 – trotz Corona – 15.000 vorwiegend junge Menschen gegen den gesellschaftlichen Rassismus.
Der ehemalige und wieder gewählte US-Präsident Trump schätzte hingegen die Demonstranten als ‚terroristische Antifa‘ ein und drohte angesichts von Ausschreitungen weniger, welche die Demonstrationen gewalttätig ausnutzten, der gesamten Bewegung mit dem Einsatz der Nationalgarde: „Irgendeine Schwierigkeit und wir werden die Kontrolle übernehmen, aber wenn die Plünderungen beginnen, beginnt das Schießen.“ [11]
So versammelten sich auch im Zuge derartiger Aussagen schwerbewaffnete rechtsorientierte weiße Zivilisten an Denkmälern ehemaliger US-amerikanischer Kolonialherren und rassistischer Politiker und Generälen, um ein Herabstürzen dieser Denkmäler durch Aktivisten mit dem Einsatz ihrer Schusswaffen, z.T. auch Schnellfeuergewehren, zu verhindern.
Die Bewegung hat zumindest bislang in den weiten Teilen USA bereits erreicht, dass es zu einer neuen Diskussion der Rassismusfrage gekommen ist und auch Suspendierungen gewalttätiger Polizisten sowie mit der Einleitung von Strafprozessen begonnen wurde. Auch ist erreicht worden, dass sich wieder aktuell mit Kolonialismus, Sklaverei und Neokolonialismus auseinandergesetzt wird. Selbstkritisch sollte die Bewegung mit Tendenzen von Splittergruppen umgehen, selbst rassistisch zu werden, indem diese weiße Amerikaner pauschal diskriminieren. Auch muss die ausgesprochen berechtigte Protestbewegung zu verhindern versuchen, dass im Schatten der Proteste Plünderungen und Zerstörungen durchgeführt werden. Dies erleichtert dann ihren Gegnern die ‚Black Lives Matter‘-Bewegung als terroristisch einzustufen. Hierbei fällt abermals die leichtfertige Verschiebung der Standards für das Verständnis von ‚Terrorismus‘ auf. In der Türkei werden Demonstranten gegen das Erdogan-Regime ebenfalls von diesem als Terroristen bezeichnet. In Hongkong wird der Protest gegen China nun in Zukunft ebenfalls aufgrund des durchgesetzten Sicherheitsgesetzes auch auf die Stufe mit Terrorismus gesetzt. Nun bezeichnete der ehemalige und wiedergewählte US-Präsident Trump die amerikanische Antifa als Terroristen. Genauso bezeichnete Putin die ukrainischen Regierungsmitglieder als Faschisten und Terroristen. Autokraten und autoritäre Regime verschieben den Terrorismusbegriff und schaffen dadurch die Voraussetzungen, dass die demokratische Opposition verfolgt und mit Repression bedroht werden kann.
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Rechtsextreme und rechtspopulistische politische Parteien verzeichnen weltweit Wahlerfolge und treten wieder offensiver auf. Gleichzeitig formiert sich dagegen – hoffentlich noch rechtzeitig – der Widerstand in der Bevölkerung der betroffenen Staaten. So haben zu Beginn des Jahres 2024 mehrere Millionen deutscher Bürger_innen gegen die extreme Rechte protestiert. Anlass war das konspirative Treffen nationalchauvinistischer Politiker – u.a. der Alternative für Deutschland (AfD) – in einer Potsdamer Villa. Dort wurde über die Deportation von Millionen Bürgern mit Migrationshintergrund und ihrer Unterstützer verhandelt. Dies führte zu einem Aufschrei in der deutschen Öffentlichkeit und einer über Monate hinweg andauernden Demonstrationsbewegung in allen deutschen Regionen. Auch dies macht Hoffnung. [12]
Im Frühjahr 2025 nun sind in Europa zahlreiche Massenproteste und Großdemonstrationen gegen den Rechtsextremismus und gegen die eigenen autoritären Regierungen vorhanden. Menschen beginnen sich in vorwiegend basisdemokratischen Bewegungen gegen staatliche Willkür, Korruption und Wahlfälschungen zur Wehr zu setzen. Ist dies der Anfang einer anhaltenden europäischen Protestwelle, bei der sich zunehmend gegen die Rechtsentwicklung gewehrt, gegen autoritäre Staaten und für gerechte und lebenswerte Verhältnisse gekämpft wird?
In Staaten, wie in Rumänien, Griechenland, Ungarn, Spanien oder Italien, ist der Repressionsgrad noch relativ gering. Autoritäre Regime, wie in der Türkei, Georgien oder Serbien, versuchen diese Proteste, ähnlich wie dies in Russland geschieht, im Sinne von Staatsverrat und Terrorismus zu diskreditieren und gegen sie mit Gewalt vorzugehen.
Der inzwischen verstorbene ehemalige französische Widerstandskämpfer und Diplomat Stéphane Hessel forderte dementsprechend insbesondere die Jugend der Welt auf, sich gegen solche Bedeutungsverschiebungen und Ungerechtigkeiten zu empören und sich für eine gerechtere Gestaltung der Welt zu engagieren:
„Es mag ja sein, dass die Gründe für Empörung heute nicht mehr so deutlich zu erkennen sind. Wer befiehlt und wer entscheidet? Wir haben es nicht mehr mit einer kleinen Elite zu tun, deren Machenschaften leicht zu durchschauen sind. Die Welt ist groß, und wir spüren deutlich, wie sehr die Dinge miteinander verschränkt sind. Aber in dieser Welt gibt es Dinge, die unerträglich sind. Wer sie sehen will, muss genau hinsehen. Ich sage den jungen Leuten: Wenn ihr nur ein wenig sucht, werdet ihr solche Dinge finden. Am schlimmsten ist es, wenn man sagt: ‚Damit habe ich nichts zu tun. Das ist mir egal.‘ Wer sich so verhält, verliert eine der wesentlichen und unverzichtbaren Eigenschaften, die den Menschen ausmachen: die Fähigkeit zur Empörung und das Engagement, das daraus erwächst.“ [13]
Zu diesem Engagement sollte zunächst der Erhalt der noch vorhandenen demokratischen Spielräume gehören, die von vorherigen Generationen unter großen Opfern historisch erkämpft wurden. Damit müsste der Einsatz für weltweite demokratische Strukturen unter dem Dach der Vereinten Nationen verbunden sein sowie die sozialökologische Umsteuerung von Gesellschaften im Zuge einer systemischen Transformation des Weltkapitalismus durchgesetzt werden. Der nachstehende Überblick, der auch sicherlich um viele weitere Initiativen zu ergänzen ist, gibt zumindest in Ansätzen einen Einblick in die Vielfalt der NGO’s, Initiativen und Bewegungen, welche u.a. die Initiatoren und Träger einer solchen globalen Neuordnung sein können:
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Wer sind die gesellschaftlichen Kräfte einer sozialökologischen Neuordnung?
Alle sozialökologisch, demokratisch und friedenspolitisch engagierten Bürger_innen, Parlamentarier_innen, Parteien, Gewerkschaften, Parlamente und Institutionen in lokalen, nationalen, regionalen und globalen Kontexten sowie weltweit widerständige NGO‘s und Initiativen wie zum Beispiel:
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Transparency International, ATTAC, Netzwerk für gerechten Welthandel, Forum Fairer Handel, food watch, Fridays For Future, Scientists For Future, Amnesty International, Alliance internationale pour la defense des droits et des libertes (AIDL), Extinction Rebellion (XR), Smash Cruiseshit, Seebrücke, Greenpeace, Global Witness, Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW), Ärzte ohne Grenzen, Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs – Ärzte in sozialer Verantwortung (IPNNW), World Future Council (WFC), Women for Peace, Women’s International League for Peace‘ (WILPF), Bundesausschuss Friedensratschlag, Netzwerk Friedenskooperative, Informationsstelle Militarisierung (IMI), Initiative ‘Sicherheit neu denken’, International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN), Peace Brigades International, Democracy without Borders, UNPA-Kampagne, Democracy International, Civicus, Asia Democracy Network (ADN), Asia Forum of Human Rights and Development (Forum-Asia), Asia Democracy Research (ADRN), Asian Network for Free Elections (ANFREL), Democracy for Hongkong (D4HK), Open Russia, Pussy Riot, Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI), Rete Italiana per il Disarmo, Movimento Nonviolento, Sea-Watch, Electronic Frontier Foundation (EFF), digitalcourage, International Commitee for Robot Arms Controll (ICRAC), Campaign to stop Killer Robots, WWF, Safe School Declaration, Save the Children, Global Partnership for the Prevention of Armed Conflicts (GPPAC), Wuppertaler Institut für Klima, Umwelt, Energie, Fraunhofer Gesellschaft, Netzwerk der UNESCO-Schulen, International Rescue Commitee (IRC), The African Centre for Democracy and Human Rights Study (ACDHRS), African Commission for Human and Peoples‘ Rights (ACHPR), Comisión Interamericana de Derechos Humanos (CIDH), Arab Organization for Human Rights (AOHR), Palestinian Center for Human Rights, The Israeli Information Center for Human Rights in the Occupied Territories (B‘Tselem), Human Rights Watch, Black Lives Matter (BLM), Beaver Lake Cree Nation, Athabasca Chipewyan First Nation (ACFN), Netzwerk politischer Kommunen (Kommuja), Tamera, Kommune Niederkaufungen, Service Civil International (SCI), Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg, Ende Gelände, OXFAM, Ehrfurcht vor allem Leben (EVAL), Global Justice Now, World Vision, LobbyControll, The Humanitarian League Advocacy , Pacific Climate Watch , Science for Peace, Nobel Peace Prize Watch, No More Bombs, Ziviler Friedensdienst, Nuclear Age Peace, Socio-ecological union international, Sortir du nucleaire Paris, Swedish Peace Council, The Resistance Center for Peace and Justice, Ukrainian Pacifist Movement, Veterans for Peace, Campaign for International Cooperation and Disarmament (CICD), Peace SOS, World Beyond War, Women’s International League for Peace and Freedom, World BEYOND War, South Africa, Seattle Anti-War Coalition; Office of Peace, Justice, and Ecological Integrity; Friends of the Earth Australia, Independent and Peaceful Australia Network, Scottish Campaign for Nuclear, Basel Peace Office, Cameroon for a World BEYOND War, Campaign Against Arms Trade, Cessez d’alimenter la Guerre, Disarmament and Security Centre, Global Campaign for Peace Education Japan, Global Network Against Weapons & Nuclear Power in Space, Grassroots Global Justice Alliance, Hawaii Peace and Justice, International Physicians for the Prevention of Nuclear War, Movimiento por un mundo sin guerras y sin violencia, Campact, Mighty Earth, Global Ecovillage Network (GEN), Mayors for Peace …
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Eine übergeordnete Struktur für den im kosmischen Maßstab kleinen Planeten Erde wird aufgrund der zukünftigen Anforderungen und Problemstellungen ohnehin irgendwann kommen müssen. Es wird allerdings darum gehen, dass es sich hierbei um kein totalitäres Weltregime einer sich bereichernden und Macht anhäufenden klandestinen Weltelite, sondern es sich um eine demokratisch strukturierte Weltgesellschaft auf der Basis der strukturell reformierten Vereinten Nationen in Zusammenarbeit und Subsidiarität mit den verschiedenen globalen Regionen handeln wird. Mit dem internationalen Demokratisierungsprozess müssen des Weiteren eine Demokratisierung der Produktion und der Wertschöpfung einhergehen. Ökonomisches und politisches System müssen von den gleichen demokratischen Gestaltungsprinzipien getragen werden. Insbesondere in dieser Verbindung unterscheidet sich der vorliegende Entwurf von den meisten Vorstellungen einer globalen Neuordnung.
Es gibt keine Alternative
Viele werden derzeit der Auffassung sein, dass die hier entwickelte Vision unrealistisch sei, sich dies niemals zukünftig umsetzen lasse, eine umfassende Gemeinwohlorientierung dem menschlichen Charakter widerspreche. Dieser negativen Anthropologie möchte ich noch einmal entgegensetzen:
Erstens: Wer kann denn jetzt am relativen Beginn der Menschheitsgeschichte schon sagen, welches Entwicklungspotenzial der Mensch als Gattungswesen und die Menschengemeinschaft in der Zukunft haben werden?
Und zweitens möchte ich fragen: Wo ist die Alternative? Ohne einen demokratisch kontrollierten globalen Zusammenschluss und eine einhergehende sozialökologische und demokratische Transformation von Politik und Ökonomie wird die Menschheit die Zukunft der kommenden Generationen nicht sichern können. Der Planet Erde wird im wahrsten Sinne über ökologische und militärische Katastrophen verbrennen. Die ersten Feuer brennen bereits.
Wer ist eigentlich naiv? Derjenige, der die Entwicklungen sieht, hier radikal gegensteuert oder derjenige, der für ein ‚Weiter so‘ plädiert?
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Hierbei ist Radikalität etwas völlig anderes als Extremismus. Radikalität im gesellschaftlichen Transformationsprozess meint an der Wurzel („radix“) von Problemen anzusetzen: Es geht um die weltweite und in allen Weltregionen vorzunehmende schrittweise Transformation des Kapitalismus zugunsten eines Verhältnisses von Ökonomie und Politik, das durch Verantwortlichkeit und Gemeinwohlorientierung gekennzeichnet ist. Ökonomie und Politik müssen sich in den Dienst der Versorgung der Menschen stellen und hierbei die Prinzipien von Gerechtigkeit, Demokratie, Friedfertigkeit, Wissenschaftlichkeit und ökologischer Verantwortlichkeit zu ihrem leitenden Paradigma werden lassen. Ein solches sich weltweit durchzusetzendes System kann nicht mehr Kapitalismus genannt werden, sondern sieht eine staatliche Rahmung des Wirtschaftsprozesses im nationalen, regionalen und globalen Kontext vor, der marktwirtschaftliche Prozesse von ihrer Raubtiermentalität befreit, Fragen der Eigentums- und Vermögensverteilung anders regelt, das Spannungsverhältnis von Ökonomie und Ökologie beseitigt, die Technologieentwicklung ethisch kontrolliert und die kreative ökonomische Kraft der Menschen im Sinne der Gemeinwohlorientierung frei setzt. Die entsprechenden transformatorischen Schritte in Richtung auf eine radikale Neuordnung in diesem Sinne wurden im Rahmen des vorliegenden Buches ausführlich beschrieben. [14]
Daher noch einmal abschließend die Forderungen in aktueller Auslegung von Marx/Engels [15]:
Internationalisten und Weltbürger aus der ganzen Welt vereinigt euch! Ihr habt nichts zu verlieren als die Ketten eurer Nationalstaatlichkeit, als die Vernichtung eurer Freiheitsrechte, die Ausbeutung durch multinationale Konzerne und finanzkapitalistische Spekulanten, die Rache der Biosphäre, digitale Fußfesseln, Rüstungsspiralen und Kriege, psychische Programmierungen, fehlgeleitete Investitionen und Wertschöpfung sowie die atomare Verwüstung des Planeten.
Zu gewinnen ist eine friedliche, sozial gerechte, demokratische, ökonomisch sinnvolle und ökologisch verantwortliche Welt!
Allerdings darf das Engagement für eine globale Neuordnung keineswegs gewalttätig, also in einem extremistischen Sinne, erfolgen. Hier soll sich daher von den vermeintlichen Konsequenzen marxistischen Denkens distanziert werden. Gewalttätige Revolutionen in der Geschichte haben nur zu anderen Formen offener oder struktureller Gewalt geführt. Gewalttätige Proteste in der heutigen Zeit führen des Weiteren zur Stigmatisierung und Kriminalisierung dieses Protests. Der Widerstand sollte friedlich und druckvoll sein, indem die geistig-schöpferischen Kräfte, die Kreativität und Intelligenz, die Solidarität und die Zivilcourage der Menschen im Engagement bereits das in Ansätzen zeigen, um was es zukünftig gehen soll: Um eine gesellschaftliche Neuordnung, die Menschen jeder Hautfarbe, jeder Herkunft, jeden Alters, jeden Geschlechts und jeder Region in ihren Grundbedürfnissen nach materieller Versorgung, nach solidarischer Arbeit, hinsichtlich eines Lebens im Einklang mit der Natur, nach demokratischer Selbstbestimmung und nach Freiheit in Verantwortung berücksichtigt, unterstützt und fördert.
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Es gibt keinen Grund zu resignieren, der Kampf um das lebenswerte Leben auf der Erde ist noch lange nicht entschieden! Den Vertretern der Fossilindustrie, der Rüstungsindustrie, den Kriegsherren, den Finanzspekulanten, den Milliardären, den Autokraten und Diktatoren stehen weltweit und an zahlreichen Orten viele Menschen im Protest gegen die Zerstörung gegenwärtiger und zukünftiger Lebensbedingungen vereint gegenüber. In der Zusammenarbeit und Vernetzung von gesellschaftlichen Bewegungen, Initiativen, Gewerkschaften, Parlamenten und den an einer Neuordnung orientierten politischen Parteien und Institutionen gilt es nun, klug, friedlich und doch im Veränderungswillen radikal sowie in den Aktionen druckvoll einen wirksamen Beitrag zu einer globalen Neuordnung zu leisten.
Und: Die Veränderung darf aufgrund der enormen Bedrohungslage nicht mehr lange auf sich warten lassen. Die Veränderung muss jetzt auf allen miteinander systemisch zusammenhängenden Ebenen beginnen und fortgesetzt werden. Noch ist eine Umsteuerung möglich. Zivilgesellschaftliche Bewegungen, Organisationen und Initiativen an allen globalen Orten können Synergieeffekte haben und zu einer wirkungsvollen Macht werden, die eine neue Qualität gesellschaftlichen Lebens und eine lebenswerte Zukunft für künftige Generationen hervorbringt.
Anmerkungen zum Kapitel 8
[1] Reich (1948/2013, 97f.).
[2] IPCC (2018, 13).
[3] Vgl. IPCC (2018, 16).
[4] Vgl. https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-03/march-for-our-lives-washington-demonstration-waffengesetze-parkland, 25.3.2018, 17.3.2019.
[5] In: https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-516131.html, 15.3.2019, 15.3.2019.
[6] Vgl. https://www.tagesspiegel.de/politik/fridays-for-future-im-newsblog-veranstalter-25-000-teilnehmer-bei-demo-fuer-den-klimaschutz-in-berlin/24106530.html, 15.3.19, 15.3.19.
[7] Stand: 9.10.2019, https://www.scientists4future.org/, 15.3.19, 9.10.19.
[8] Todenhöfer 2019, 292f.
[9] Klötzer/ Launokari (2021) (Women for Peace – Finland).
[10] Vgl. hierzu Yann Durand: "Black Lives Matter" - Nur ein Strohfeuer im Kampf gegen den Rassismus? https://www.dw.com/de/kommentar-black-lives-matter-nur-ein-strohfeuer-im-kampf-gegen-den-rassismus/a-53959251, 27.6.2020, 20.3.21; Jiréh Emanuel/ Mariam Aboukerim/ Naomi Lwanyaga: Black-Lives-Matter-Demos:„Wir sind Deutschland“, https://taz.de/Black-Lives-Matter-Demos/!5689380/, 13.6.2020, 20.3.21; UN verurteilen tödliche Polizeigewalt gegen Schwarze. https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-05/usa-polizeigewalt-schwarze-vereinte-nationen-kritik, 28.5.20, 20.3.21.
[11] https://www.sueddeutsche.de/politik/george-floyd-proteste-minneapolis-1.4921880, 29.5.20, 20.3.21.
[12] Vgl. u.a. Moegling, Klaus (2024): Stärken die Anti-AfD-Proteste die Demokratie?
In: Telepolis, https://www.telepolis.de/features/Staerken-die-Anti-AfD-Proteste-die-Demokratie-9626421.html, 13.2.2024, 16.2.2024.
[13] Hessel (2011).
[14] Vgl. Kapitel 5.7
[15] Vgl. Marx/Engels (1848/1983, 60).
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Umfassendes Interview von Clemens Ronnefeldt mit Klaus Moegling über das Buch 'Neuordnung'
Quellenverzeichnis
(Ab sofort bezeichnet das erste Datum hinter einem Internet-Link - sofern vorhanden - das Veröffentlichungsdatum des dokumentierten Beitrags; das zweite Datum bezieht sich auf den letzten Zugriff auf diesen Link. Fehlt ein Veröffentlichungsdatum, so wird dieses mit o.D. (ohne Datumsangabe) bezeichnet.)
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