aktuelle Auflage 'Neuordnung. Eine friedliche und nachhaltig entwickelte Welt ist (noch) möglich.'
von Klaus Moegling
Krieg, soziale Ungleichheit, Klimaerwärmung, Pandemien. Die Welt steht täglich vor neuen Herausforderungen, die nur durch eine weitreichende Neuordnung bewältigt werden können, die an den Ursachen der verschiedenen globalen Probleme ansetzt.
Die Welt ist in Unordnung geraten: In vielen Weltregionen ist der Frieden zerstört, finden Kriege in unterschiedlicher Form statt. Die aktuellen Kriege in der Ukraine, im Jemen und in Syrien sind erschreckende Beispiele hierfür. Menschen werden gefoltert, erschossen, in die Luft gesprengt oder verhungern. Viele Staaten werden zunehmend autoritär und repressiv nach innen und gefährlich nach außen.
Die Ungerechtigkeit im globalen Maßstab wird immer größer: Wenige Reiche verdienen immer mehr, ein großer Teil der Weltbevölkerung hat keinen Zugang zu Grundnahrungsmitteln und sauberem Trinkwasser. Die Ökonomie dient nicht dem Menschen. Die Digitalisierung fördert ein Leben in Scheinwelten und die Veränderung des Humanen. Der Umgang mit Pandemien ist unzureichend. Die Umwelt wird zunehmend zerstört. Die Klimaerwärmung wird zu einer dramatischen Verschiebung des ökologischen Gleichgewichts führen. 'Rette sich, wer kann!' oder Nachdenken über einen Neubeginn?
Die Antwort hierauf ist ein Plädoyer für eine Neuordnung.
Eine friedliche und am Prinzip der Nachhaltigkeit orientierte Welt ist (noch) möglich. Und: Die Neuordnung muss bereits jetzt mit den ersten notwendigen Schritten beginnen. Aber: Die Zeit wird knapp.
© 2020 Verlag Barbara Budrich GmbH, Opladen, Berlin & Toronto
https://shop.budrich-academic.de/produkt/neuordnung-2/
ISBN 978-3-8474-2383-6 (Paperback)
eISBN 978-3-8474-1524-8 (eBook)
3., aktualisierte und erweiterte Auflage, 358 S., 34.90€ (D), 35.90€ (A)
Das Buch "Neuordnung" wird ausführlich und kontrovers in wechselseitiger Kommunikation mit dem Autor diskutiert unter: https://www.freitag.de/autoren/profdrklausmoegling1952/sozialoekologische-transformation
Das Buch ist inzwischen in seiner 3. Auflage im Verlag Barbara Budrich vergriffen. Es wird auf dieser Webseite nun frei lesbar Schritt für Schritt als 4. Auflage aktualisiert und veröffentlicht. Die Rechte hierzu wurden vom Verlag erworben.
Video-Einführung in die 3. Auflage der 'neuordnung'
Inhaltsverzeichnis
| | Vorwort zur vierten Auflage
| | Vorwort zur dritten Auflage: Der Widerstand wächst, eine neue Ordnung scheint hindurch.
| | Vorwort zur zweiten Auflage: Was uns Mut machen kann
| | Vorwort zur ersten Auflage: Ordnung - Unordnung - Neuordnung
| 1 | Analyse gegenwärtiger globaler Krisen – Ordnungen lösen sich auf
| 1.1 | Ökonomische Krisen
| 1.1.1 | Globale Strukturen der Gier
| 1.1.2 | Widerstand gegen den neoliberalen Marktradikalismus
| 1.1.2.1 | Die WTO-Proteste in Seattle
| 1.1.2.2 | Occupy Wall Street
| 1.1.2.3 | G20-Proteste in Hamburg
| 1.2 | Politische Krisen: Krise der UN, Rückzug der Demokratien und Wiederkehr autoritärer
Herrschaftsformen
| 1.3 | Versuche der Weltbeherrschung und hegemonial verursachter internationaler Krisen
| 1.4 | Militärische Krisen und Rüstungspolitik
| 1.4.1 | Das Wachstum des militärischen Gewaltpotenzials
| 1.4.1.1 | Der militärisch-ökonomische Komplex
| 1.4.1.2 | Die Wiederkehr der Rüstungsspirale
| 1.4.1.3 | Umwelt, Militär und Krieg
| 1.4.1.4 | Asymmetrische Kriegsformen und die Neuen Kriege
| 1.4.1.5 | Die mediale Konstruktion von Feindbildern
| 1.4.2 | Friedensproteste und Friedensbewegung
| 1.4.2.1 | Ostermarschbewegung, Proteste gegen den Vietnam-Krieg und den Nato-Doppelbeschluss
| 1.4.2.2 | „Kein Blut für Öl!“ – Proteste gegen die
Golf-Kriege
| 1.4.2.3 | Aktuelle Proteste gegen die Militarisierung der Welt: International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN), Global Partnership for the
Prevention of Armed Conflicts (GPPAC), Peace
Brigades (PB), Friedensappelle zum Krieg in der Ukraine
| 1.5 | Ökologische Krisen
| 1.5.1 | Die geschundene Biosphäre wendet sich
gegen den Menschen
| 1.5.2 | Widerstand und Proteste gegen die ökologische Zerstörung
| 1.5.2.1 | Der Widerstand der indigenen Völker
| 1.5.2.2 | Fridays for Future (F4F)
| 1.5.2.3 | Extinction Rebellion (XR)
| 1.5.2.4 | Die Letzte Generation
| 1.5.2.4 | Professionalisierte Umwelt-NGO’s: Greenpeace und Mighty Earth
| 1.6 | Kulturelle Krisen
| 1.6.1 | Kultur und Kunst im Kapitalismus
| 1.6.2 | Zur kulturellen Problematik von Kirchen und Religionen
| 1.6.3 | Kulturelle Umbrüche
| 1.7 | Psychische Krisen: Durchsetzung instrumenteller Vernunft und Massenneurose
| 1.8 | Die Krise der Männlichkeit
| 2 | Drohende globale Szenarien – Unordnung als Ordnungsprinzip
| 2.1 | Das militärische Vernichtungsszenario
| 2.2 | Das ökologische Verwüstungsszenario
| 2.3 | ‚Failed States‘ und die Hilflosigkeit der
internationalen Gemeinschaft
| 2.4 | Religiöser Fanatismus und Terrorismus
| 2.5 | Zusammenbruch der Weltwirtschaft, Überbevölkerung und Hungerkatastrophen
| 2.6 | Cyber-Kriege
| 2.7 | Digitale Imperien und die mediale Transformation des Humanen
| 2.8 | Massenhafte Sinnkrisen, psychische Verwerfungen und Fluchten
| 2.9 | Externe planetare Bedrohungen der Zukunft
| 3 | Die Grundlage einer Neuordnung der internationalen Beziehungen liegt auch in der psychosozialen Bildung des Einzelnen
| 3.1 | Innere Welten, Sozialität und internationale Beziehungen: Wer in seinem Verhältnis zu sich selbst nicht klar ist, verfügt auch über keine
Klarheit in seinen Beziehungen
| 3.2 | Bildung und die Arbeit am sozialen Selbst: Über empathische Gemeinschaftserfahrungen zum
gebildeten Selbst
| 3.3 | Humanistische Psychologie und Therapieverfahren
| 3.4 | Meditation als Selbst- und Welterfahrung
| 3.5 | Demokratiebildung auf dem Weg zu einem neuen Politiker_innen-Typus als Gegenentwurf zu Trump, Putin, Erdogan und Co.
| 4 | Sozioökonomische, institutionelle und sozialökologische Grundlagen nachhaltiger Entwicklung und wirksamer Friedenspolitik
| 4.1 | Den Tiger zähmen: Die globale Ökonomie im
Sinne von Nachhaltigkeit und Friedenssicherung
transformieren
| 4.2 | Demokratische Erneuerung von Gesellschaften,
Institutionen und Lebensweisen
| 4.3 | Soziale Gerechtigkeit in einer internationalen Perspektive als Grundlage sozialen Friedens
| 4.4 | Die ökologischen Voraussetzungen des Friedens
| 4.5 | Der digitalen Weltbeherrschung Grenzen setzen
| 5 | Neuordnung des Systems internationaler Beziehungen
| 5.1 | Entnationalisierung und Stärkung demokratischer Strukturen auf regionaler Ebene
| 5.2 | Weiterentwicklung von Global Governance
| 5.3 | Stärkung und gleichzeitige Demokratisierung der Vereinten Nationen
| 5.4 | Die zentrale Rolle Europas bei Abrüstung und Rüstungskontrolle
| 5.5 | Entwaffnung der Nationalstaaten, klandestiner sowie terroristischer Organisationen und bewaffneter Einzelpersonen
| 5.6 | Aufbau einer demokratisch kontrollierten
Weltpolizei und eines Gewaltmonopols der UN
| 6 | Erste Schritte auf einem langen Weg
gesellschaftlicher Pazifizierung
| 7 | Einordnung des vorliegenden Ansatzes in die Theorien internationaler Beziehungen
| 8 | Zusammenfassung und Epilog: Eine neue Ordnung für die Welt
Literaturverzeichnis
Vorwort zur vierten Auflage:
Die vierte Auflage fällt in die Zeit eines dramatischen gesellschaftlichen Umbruchs
Waren bisher Erwartungen in der westlichen Welt an eine länger fortdauernde Friedensperiode vorhanden, hat sich dies mit dem russischen Überfall auf die Ukraine deutlich verändert.
Der Überfall der russischen Föderation auf die Ukraine ist eine Katastrophe und durch nichts zu rechtfertigen. Selbst, wenn im Vorfeld des Kriegs die diplomatischen Möglichkeiten nicht genügend wahrgenommen wurden, Russlands Sicherheitsbedenken ignoriert wurden sowie auch in der Ukraine z.T. problematische politische und militärische Kräfte sich durchzusetzen versuchten, stellt dies keine Legitimation für die russische Invasion, die Bombardierung von Wohnvierteln und Infrastruktur sowie für die Zerstörung der natürlichen Mitwelt dar. Erschießungen, Vergewaltigungen und Kinderentführungen durch russische Soldaten lassen sich erst recht nicht durch vorgebrachte russische Argumente für die „militärische Spezialoperation“ legitimieren. Der Angriff und die damit verbundene Invasion russischer Truppen stellen eine eklatante Verletzung des Völkerrechts und der Menschenrechte dar und bedeuten eine aggressive Zerstörung der europäischen Sicherheitsordnung und einen Bruch mit der UN-Charta.
Es werden im Rahmen dieses Vorworts die Perspektiven entwickelt, einen Ausweg aus dieser Situation zu finden, ohne sich Illusionen hinzugeben.
Waren Verhandlungsangebote ein Fehler?
Häufig hört man nun den Vorwurf, dass die Verhandlungsangebote an Russland naiv gewesen wären. Man hätte rechtzeitig die umfangreichere militärische Aufrüstung des Westens – und auch der Ukraine – betreiben müssen. Letztlich seien auch die westliche Friedensbewegung und ein verbreiteter friedenspolitischer Habitus daran schuld, dass der politisch-militärisch-industrielle Komplex mit Putin an der Spitze diesen Angriff gewagt habe. Hätten an der Stelle von Diplomatie konsequentere Maßnahmen militärischer Abschreckung einen größeren Erfolg haben können?
Hiergegen ist zu fragen: Was wäre denn die Alternative gewesen wäre? Hätte man sich von der Vorahnung einer russischen Aggression in eine noch extremere Rüstungsspirale zwingen lassen sollen, welche die notwendigen Zukunftsinvestitionen zur Bekämpfung der Klimakrise, des Welthungers und zur Prävention vor Pandemien verhindern würden?
Hätte man nicht dennoch auf Verhandlungen im Rahmen der vorhandenen Institutionen setzen sollen? Wenn man die zwischen den Völkern geschaffenen Institutionen und Gesprächsformate im Rahmen der internationalen Sicherheitsarchitektur selbst nicht ernst- und wahrnimmt, dann gibt es letztlich keine Hoffnung auf eine globale friedliche Entwicklung. Dann regiert nur die Macht der Waffen.
Natürlich musste man versuchen über die OSZE, das Normandie-Format, den NATO-Russland-Rat oder bilaterale Gespräche, die russische Regierung zum Einlenken und zu vertretbaren Kompromissen zu bewegen. Dies wurde nicht ohne Rückendeckung durch die Androhung von massiven Sanktionen vorgenommen. Man musste es riskieren, auf die Rationalität Putins und der mit ihm verbundenen Politiker und Industriezweige zu setzen. Eine massivere Aufrüstung verbunden mit einer noch umfangreicheren Truppenverlegung der NATO an ihre Ostflanke sowie einer Aufnahme der Ukraine in die NATO hätte unmittelbar zu einer militärischen Auseinandersetzung geführt.
Wie reagieren die Vereinten Nationen?
Die UN hält sich bisher auffällig zurück. Zwar gab es u.a. Sondersitzungen des UN-Sicherheitsrats und eine Verurteilung der russischen Aggression durch den UN-Generalsekretär, dennoch zeigt sich auch in dieser gefährlichen weltpolitischen Situation die strukturellen Probleme der Vereinten Nationen. Ein Staat überfällt – mit offensichtlich vorgeschobenen Gründen – einen Nachbarstaat und verletzt hiermit völkerrechtswidrig u.a. alle wesentlichen Normen der UN-Charta. Dies wäre ein klassischer Fall für „Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen“, die im Kapitel VII der UN-Charta festgelegt worden sind. Im Falle eines die Souveränität eines Staates verletzenden Angriffskrieges kann der UN-Sicherheitsrat nach der Erfolglosigkeit aller diplomatischen Maßnahmen und von Sanktionen, weltpolizeiliche und auch militärische Einsätze beschließen.[1] Doch man glaubt doch nicht im Ernst, dass die Russische Föderation nicht von ihrem Veto-Recht Gebrauch machen würde, wenn ein entsprechender Antrag im Sicherheitsrat beraten würde. So hat Russland auch am 25.2.2022 eine Resolution des UN-Sicherheitsrats, die eine Verurteilung des russischen Angriffs und die Forderung nach dem Rückzug der russischen Truppen mit seinem Veto blockiert. [2] Genau für diese Situation aber ist eine Reform des UN-Sicherheitsrats dringend erforderlich. Ein Staat, der einen anderen Staat militärisch angreift, muss das Recht verlieren, im UN-Sicherheitsrat zu votieren - insbesondere wenn es sich hier um ein ständiges Mitglied mit Veto-Recht handelt.
Natürlich kann auch die UN-Generalversammlung einen Beschluss auf den Weg bringen, der ein Eingreifen im Auftrag der UN im Sinne der UN-Charta verlangen würde. Aber auch die Beschlüsse der UN-Generalversammlung haben für einen solchen Fall nur Empfehlungscharakter. Dies gilt auch für eine Notstandsresolution im Sinne des „Uniting for Peace“. [3]
Hier zeigt sich erneut auf gravierende und zahllose Menschenleben fordernde Weise die dringende Notwendigkeit, die Vereinten Nationen strukturell zu reformieren. Die bereits mehrfach international geforderte Abschaffung bzw. Modifizierung des Veto-Rechts der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats sowie dessen veränderte Zusammensetzung und die Aufwertung parlamentarischer Versammlungen im Rahmen der Vereinten Nationen darf nicht mehr mit fadenscheinigen Begründungen aufgehalten werden. [4] Die Wiederherstellung und die Einhaltung des Weltfriedens bedarf anderer internationaler Politikstrukturen und darf nicht einzelnen Nationalstaaten oder Militärblöcken überlassen bleiben. Der aktuelle Überfall Russlands auf die Ukraine zeigt dies eindringlich.
Weltpolizeiliche Maßnahmen in Form von robusten UN-Blauhelmeinsätzen
Was müsste ab diesen Zeitpunkt – und natürlich zu spät aber dennoch dringend erforderlich – international eingeleitet werden?
Unausweichlich müssen auch die NATO-Staaten sich militärisch vergewissern und entsprechende Sicherungsmaßnahmen treffen, ob sie einer weiteren Eskalation des Krieges über die Grenzen der Ukraine hinaus erfolgreich begegnen können. Wenn der Artikel 5 [5] des NATO-Vertrags aktiviert wird, müssen die entsprechenden Verteidigungsmaßnahmen im Angriffsfall auf einen NATO-Staat auch militärisch und später im Auftrag der UN weltpolizeilich erfolgreich durchführbar sein. Allerdings ist die Sicherung der Verteidigungsfähigkeit nur im Rahmen einer Doppelstrategie friedenspolitisch vertretbar, deren prioritäres Ziel die Schaffung von politischen Friedensstrukturen im Rahmen einer internationalen Sicherheitsarchitektur ist. Hierbei ist zu kritisieren, dass sowohl die NATO als auch die EU - angesichts des Kriegs in der Ukraine - primär die militärische Strategie verfolgen und den diplomatischen Weg vernachlässigen. Doch genau umgekehrt müsste das Verhältnis von Militär und Diplomatie sein.
Ob westliche Staaten, weitere immer mehr Waffen in die Ukraine liefern sollten, ist schwierig zu entscheiden. Dagegen spricht die dann zu erwartende militärische Eskalationsdramatik, die zu einer weiteren Vernichtung von Menschenleben, Umwelt und Infrastruktur führen wird. Wenn Angriffswaffen in die Ukraine geliefert werden, besteht die Gefahr von militärischen Gegenangriffen von Seiten der Ukraine auf russisches Gebiet, was die Eskalationsdynamik noch beschleunigen würde. Auch besteht die Gefahr des Einsatzes einer taktischen Atombombe von Seiten der Russischen Föderation im Falle eigenen militärischen Scheiterns mit einem unkalkulierbaren Risiko für die weitere Eskalation. Dies zu verdrängen wäre verantwortungslos. Zumindest für eine Unterstützung der Ukraine mit Waffen, die primär der Verteidigung dienen, wie z.B. Abwehrsysteme gegen Kampfflugzeuge und Drohnen sowie Panzerfäuste, spricht, dass es um die militärische Unterstützung eines sich verteidigenden Staates ginge, der sich gegen den Überfall einer despotischen fremden Macht zur Wehr setzt.
Auf jeden Fall müssen Wirtschaftssanktionen, welche die Wirtschaft der russischen Föderation tiefgreifend treffen, nun mit langem Atem und im Bewusstsein, dass es hier nicht nur Einschränkungen und ökonomische Verluste auf der russischen Seite geben wird, gut durchdacht werden. Die frühere Sanktionspolitik, z.B. im Irak, hat gezeigt, dass diese oftmals falsch und schädlich für die Zivilbevölkerung angelegt wurde. Wenn beispielsweise medizinische Hilfsgüter nicht mehr in ein boykottiertes Land gelangen können, sind letztendlich Kranke, alte Menschen und Kinder die Leidtragenden und Opfer dieser Sanktionspolitik. Daher sind insbesondere Maßnahmen zur Einfrierung von Konten und wären Enteignungen der russischen Villen und Immobilien, z.B. in der Südküste Frankreichs sowie in den teuren Straßenzügen Londons, die den in Russland herrschenden und das ‚System Putin‘ unterstützenden Finanzoligarchien gehören, wichtig. Die Sperrung erreichbarer Geldreserven des russischen Staates sowie das Abschneiden Russlands von einem Technologietransfer, der für dessen Rüstungsindustrie relevant ist, treffen diesen und seine ‚Eliten‘ empfindlich. Auch war es richtig, den vorübergehenden Ausschluss Russlands aus dem internationalen Zahlungssystem SWIFT zumindest für die größten Banken – eventuell sogar für das gesamte russische Bankensystem – vorzunehmen. Hierdurch kann es bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten in Russland und dem dadurch anwachsenden Druck auf die russische Regierung – auch z.T. aus Unterstützerkreisen von Putin – dazu kommen, dass die russische Regierung einlenken und an den Verhandlungstisch zurückkehren muss. Dies muss das erklärte Ziel aller Maßnahmen sein. Die OSZE, die UN, das Normandie-Format oder der NATO-Russland-Rat sind institutionelle Kontexte, die für die notwendigen Verhandlungen einen geeigneten Rahmen abgeben.
Aber nicht nur die russische Föderation muss an den Verhandlungstisch zurückkehren sondern auch die ukrainische Regierung muss von ihrer militärischen Option zugunsten von Verhandlungen zurückkehren.
Des Weiteren sind parallel hierzu und auch danach u.a. die Politik- und Geschichtswissenschaften, die verantwortlichen Politiker_innen und die mediale Öffentlichkeit aufgefordert, sich unvoreingenommen und mehrperspektivisch mit der Vorgeschichte dieses Krieges zu befassen und zu analysieren, inwieweit auch diplomatische Fehler, aber ebenfalls Interessen westlicher Staaten, Konzerne und Institutionen für das Ausbrechen Russlands aus der internationalen Sicherheitsarchitektur mitverantwortlich waren.
Wer sind die ökonomischen und geopolitischen Gewinner dieses Krieges? Welche Akteure welcher verschiedenen Machtkonstellationen auf der russischen, der ukrainischen, aber auch auf der westlichen Seite hatten ein Interesse daran, den Krieg zu beginnen bzw. zu provozieren? Diese Fragestellungen und Untersuchungsaufträge dürfen keine Relativierung der russischen Kriegsverbrechen und Völkerrechtsverletzungen intendieren, sondern die Aufmerksamkeit und die Handlungsfähigkeit für künftige internationale Krisensituationen verbessern helfen.
Der ‚Appell für den Frieden‘
Der ‚Appell für den Frieden‘ schlägt eine diplomatische Verhandlungsinitiative über das UN-Generalsekretariat vor. [6] Der UN-Generalsekretär ist aufgefordert, endlich die Initiative zu ergreifen und eine hochlegitimierte und hochrangige Verhandlungskommission zu bilden.
Hochrangig meint, dass hier Persönlichkeiten zumindest auf der Außenministerebene in der Kommission enthalten sein sollten. Besonders wichtig wäre es, dass auch Vertreter_innen Chinas, Indiens und Brasiliens, die insbesondere für die Russische Föderation wirtschaftlich und politisch relevant sind, in dieser Kommission unter Leitung des UN-Generalsekretärs mitarbeiten. Hochlegitimiert meint, dass eine große Mehrheit der UN-Vollversammlung diese Kommission mit Verhandlungsmacht ausstattet. Die Kommission sollte unter Leitung des UN-Generalsekretärs die ukrainische Regierung und die russische Regierung an den Verhandlungstisch bringen, um einen Waffenstillstand als Voraussetzung von Friedensverhandlungen und -lösungen zu erreichen. Nationale und transnationale Regierungen sind dringend aufgefordert, sich für eine derartige Verhandlungsinitiative einzusetzen. Spätestens jetzt ist die Zeit der Diplomatie gekommen. Es besteht die Gefahr, so wie es Jürgen Habermas ebenfalls anspricht, einen 'point of no return' zu erreichen, dessen Eskalationsdynamik von keiner Seite mehr gestoppt werden kann.
Des Weiteren sind parallel hierzu u.a. die Politik- und Geschichtswissenschaften, die verantwortlichen Politiker_innen und die mediale Öffentlichkeit aufgefordert, sich unvoreingenommen und mehrperspektivisch mit der Vorgeschichte dieses Krieges zu befassen und zu analysieren, inwieweit auch diplomatische Fehler, aber ebenfalls Interessen westlicher Staaten, Konzerne und Institutionen für das Ausbrechen Russlands aus der internationalen Sicherheitsarchitektur mitverantwortlich waren. Wer sind die ökonomischen und geopolitischen Gewinner dieses Krieges? Welche Akteure welcher verschiedenen Machtkonstellationen auf der russischen, der ukrainischen, aber auch auf der westlichen Seite hatten ein Interesse daran, den Krieg zu beginnen bzw. zu provozieren? Diese Fragestellungen und Untersuchungsaufträge dürfen keine Relativierung der russischen Kriegsverbrechen und Völkerrechtsverletzungen intendieren, sondern die Aufmerksamkeit und die Handlungsfähigkeit für künftige internationale Krisensituationen verbessern helfen.
Das Verhandlungsziel müsste dann im Abzug aller russischen Truppen aus der Ukraine verbunden mit Reparationszahlungen an die Ukraine bestehen. Auch muss der Internationale Gerichtshof der Vereinten Nationen den Fall untersuchen und die Verantwortlichen bzw. die russische Regierung zur Rechenschaft ziehen. Die im März 2023 erfolgte Verurteilung des russischen Präsidenten Putin als Kriegsverbrecher durch den Internationalen Strafgerichtshof in Den Hag ist hierfür ein erster wichtiger Schritt.
Die beiden russisch orientierten Teile der östlichen Provinzen im Donbass, Donezk und Luhansk, müssten einen relativen Autonomie-Status innerhalb der Ukraine, wie dies z.B. für Südtirol in Italien der Fall ist, zugesprochen bekommen. Dieser Prozess müsste durch von durch die UN gesteuerten weltpolizeilichen Maßnahmen abgesichert werden.
Die Krim könnte hierbei eine Ausnahme bilden, da sie vorwiegend von russischer Bevölkerung bewohnt wird und auch der historische Schenkungs-Akt von Cruschtschow 1954 an die Ukraine völkerrechtlich genauso fragwürdig wie die Übernahme der Krim 2014 durch die Russische Föderation war. Hier könnte vereinbart werden, dass die Krim solange in russischer Verwaltung bleibt, bis nach einem Zeitraum von z.B. 15 Jahren in durch die OSZE oder die UN kontrollierten Abstimmungen neu über die staatliche Zugehörigkeit der Krim entschieden wird. Aber dies ist natürlich eine Entscheidung, die im Rahmen der zukünftigen Verhandlungen zwischen der ukrainischen und der russischen Regierung unter der Leitung der OSZE oder der UN erfolgen müsste.
Hierbei soll sich niemand der Illusion hingeben, dass dies alles mit der Zustimmung eines ‚System-Putin‘ zu leisten ist. Falls Putin noch im Amt sein sollte, müssen die Verhandlungen wohl mit ihm begonnen werden. Hier muss allerdings mittelfristig auf einen Regierungswechsel in der Russischen Föderation gesetzt werden. Erst eine neue russische Regierung, die sich völkerrechtlich anders verhält, zu demokratischen Prinzipien und der Beachtung der UN-Charta zurückkehrt, wird einem robusten weltpolizeilichen Einsatz an der ukrainisch-russischen Grenze zustimmen. Dies wird für die sich derzeit in Russland gegen den Ukraine-Krieg engagierenden Menschen ein gefährlicher Weg sein, da die russische Regierung auf Repression setzt und bereits Tausende Menschen verhaftet hat.[7]
Eine solche Zustimmung der unmittelbar beteiligten Staaten ist die Voraussetzung für eine Verbindung aus zivilgesellschaftlichen Vermittlungsversuchen und weltpolizeilichen Einsätzen unter dem Schirm der Vereinten Nationen, um die Souveränität der Ukraine über die dann anstehenden Verhandlungen wiederzuerlangen und zu sichern.
Eine friedliche und nachhaltig entwickelte Welt ist (immer noch) möglich.
Die Welt und die internationale Gemeinschaft sind aktuell durch den Angriff Russlands auf die Ukraine sowie der damit verbundenen Drohung bei einem militärischen Eingreifen des Westens, auch Atomwaffen einzusetzen, in ihrer Entwicklung weit zurück geworfen worden. Auch die in der Ukraine vorhandenen Atomreaktoren können als Waffe nuklearer Verseuchung im Krieg in der Ukraine eingesetzt werden. Hierfür müssten lediglich die Stromversorgung und die Versorgung mit Kühlwasser lang genug unterbrochen werden. Dies ist ein deutlicher Rückschritt hin zu einer friedlicheren und nachhaltigeren globalen Entwicklung – zumal auch die VR China sich zurückhält, das Vorgehen Russlands zu verurteilen. Es ist nicht nur der Weltfrieden sondern auch der Kampf gegen die Klimakrise gefährdet, der nur vereint und unter Einsatz der notwendigen Ressourcen in Friedenszeiten zu leisten ist.
Dennoch muss die Entwicklungsperspektive an einem längerfristigen Zeitrahmen orientiert bleiben und die internationale Politik, Institutionen und NGOs, sowie die internationale Zivilgesellschaft dürfen nicht vorschnell resignieren, sondern müssen – gerade angesichts des Leids der ukrainischen Bevölkerung – neben den angesprochenen Maßnahmen auch die notwendigen Schritte im Ausbau der internationalen Sicherheitsarchitektur noch dringender vollziehen. Entsprechende Perspektiven einer neuen Sicherheitsordnung in Europa hat die NGO ‚Sicherheit neu denken‘ sehr aktuell veröffentlicht.[8]
Insbesondere sind Anstrengungen zu neuen Abrüstungsvereinbarungen zu unternehmen. Hierbei wäre zunächst die Ratifizierung des durch ICAN initiierten und durch die UN in Kraft gesetzten Atomwaffenverbotsvertrags auch von Seiten der Staaten mit Nuklearwaffen prioritär. Dies wäre die richtige Alternative zu den jetzt überall einsetzenden Aufrüstungsvorhaben.
Es zeigt sich, dass die Hauptproblematik darin besteht, dass mächtige Mitglieder des UN-Sicherheitsrats sich nicht an die Regeln des Völkerrechts halten, ohne dass die Vereinten Nationen in der Lage sind, hiergegen aufgrund der Militärmacht dieser Mitglieder und der unzulänglichen Struktur der UN vorzugehen. Dies hat sich bei Völkerrechtsverletzungen der USA (z.B. Irak-Krieg), von China (Tibet) oder nun der Russischen Föderation in der Ukraine gezeigt. Es gilt die Vereinten Nationen zu demokratisieren und gleichzeitig zu stärken, so dass sie in Zukunft im Falle militärischer Aggression eines Staates friedenspolitisch handlungsfähiger als bisher werden können.
Ein zweiter Umbruch trat bereits etwa ein Jahr vor der russischen Aggression ein: Endlich war die US-Präsidentschaft von Donald Trump beendet.
Es ist immer noch zu hoffen, dass mit der Präsidentschaft von Joe Biden und Kamala Harris die Zeit vorbei ist, in der ein irrational, narzistisch und eigensüchtig handelnder Präsident des militärisch mächtigsten Staates bereits ein unkalkulierbares Sicherheitsrisiko darstellt.
Sicherlich sind der Teil der gesellschaftlichen ‚Eliten‘ immer noch vorhanden, die Trump an die Macht brachten und ihn (viel zu lange) unterstützten. Auch gibt es noch immer sehr viele unverbesserliche Ignoranten, die durch seine Lügen verblendet wurden oder sich hier opportunistisch anpassten. Dennoch besteht die Hoffnung, dass zumindest eine Rückkehr der USA auf die diplomatische Ebene erfolgen wird. Dies betrifft insbesondere die multilaterale Zusammenarbeit auf der Ebene der Vereinten Nationen. Erste Maßnahmen der US-Regierung zeigen, dass hier eine Fortsetzung der Zusammenarbeit im Bereich des Klimaschutzes, der gesundheitspolitischen Zusammenarbeit und der Friedenssicherung angestrebt wird. Dies betrifft die erneute Vertragsunterzeichnung der Pariser Klimakonvention und die Wiederaufnahme der Zusammenarbeit mit der World Health Organization (WHO) der UN. Die zunächst erfolgte Verlängerung des New-Start-Vertrags in Zusammenarbeit mit Russland wurde allerdings im Zuge des Kriegs in der Ukraine von Russland wieder ausgesetzt und beendet. Es ist zu hoffen, dass dies wieder rückgängig gemacht wird und dass auch China dem New Start-Vertrag zukünftig als weiterer notwendiger Schritt einer internationalen Abrüstung beitreten wird.
Doch andere Signale machen deutlich, dass auch die gegenwärtige US-Administration am Ziel eines 2%-Anteils der militärischen Ausgaben eines NATO-Staats am Bruttoinlandsprodukt festhalten wird. Der Krieg in der Ukraine dient hierfür als Legitimation. Hier scheint es keine Einsicht zu geben, dass dieses Geld woanders dringend nötiger verwendet werden müsste. Noch immer verhungern täglich Kinder. Noch immer fehlen Gelder für friedenssichernde Einsätze der UN. Die Pandemie und deren Folgen erfordern Billionen US-Dollar, um die entstandenen Schäden auch nur ansatzweise zu beseitigen. Die heran rollende Klimakatastrophe aber und deren Abwehr – soweit dies überhaupt noch vollständig gelingen kann – werden die größten Kosten und unsägliches Leid verursachen.
Wie ignorant ist es daher, weiter aufzurüsten und eine Politik des Schreckens durchsetzen zu wollen? Auch der Ukraine-Krieg kann daher kein Argument für eine weitere Aufrüstung sein.
Wenn Biden/ Harris tatsächlich in die Geschichtsbücher als eine bedeutende US-Präsidentschaft eingehen wollen, dann sollten sie innerhalb der aktuellen Legislaturperiode dazu beitragen, dass die Vereinten Nationen eine internationale Friedenskonferenz unter Beteiligung aller UN-Staaten und – in beratender Funktion – geeigneter internationaler NGO’s, wie z.B. ICAN, Greenpeace, Democracy Without Borders, World Beyond Wars oder IPPNW, einberufen. Diese Friedenskonferenz sollte einen Stellenwert wie die Pariser Klimakonferenz einnehmen und weitreichende Abrüstungsregelungen und Beschränkungen von Waffenexporten im konventionellen und nuklearen Bereich zum Ergebnis haben. Hierbei müssten effektive Kontrollmechanismen und Sanktionen bei Regelverstößen in das Vertragswerk eingebaut werden. Des Weiteren könnten Biden/ Harris ebenfalls darauf hinwirken, dass verbindliche Kontrollen und Sanktionen im Übrigen auch für die Pariser Klimakonvention nachgeholt werden. Dies wären entscheidende Maßnahmen auf dem Weg zu einer globalen Neuordnung, die vernunftgeleitet und verantwortungsvoll sind.
Der Krieg in der Ukraine – und dies wird im Westen oft verdrängt – ist nur ein Krieg unter anderen dutzenden weiteren, aktuellen symmetrischen und asymmetrischen gewalttätigen Konflikten. Insbesondere in Europa gerät dieser Krieg in den Fokus, da er in geografischer Nähe stattfindet und auch ein Krieg unter Weißen mit ähnlichen kulturellen Traditionen ist. Bereits viel länger dauert z.B. der Krieg im Jemen, der bereits wesentlich mehr Opfer, insbesondere auch unter Kindern, gefordert hat. Doch er findet in großer Distanz zu Europa und zwischen fremdkulturellen Ethnien statt. Dies wird als nicht so bedrohlich erlebt, obwohl es völker- und menschenrechtlich ebenso problematisch ist und auch dort Kriegsverbrechen an der Tagesordnung sind.
Der Ausweg hin zu einer sinnvollen Neuordnung im globalen Kontext kann – dies ist eine zentrale, hier vertretene These – nur in der Stärkung und Demokratisierung der Vereinten Nationen liegen, die weltweit von Demokratie-Initiativen, demokratischen Parlamenten und Parteien, Nicht-Regierungsorganisationen und zivilgesellschaftlichen Protestbewegungen einzufordern ist. Hierzu gibt das vorliegende Buch zahlreiche Anregungen für die Realisierung dieses Vorhabens auf verschiedenen Zeitebenen.
Die in dem ersten Teil des Buches analysierten gesellschaftlichen Verhältnisse – insbesondere die unangenehmste Variante eines neoliberalisierten Kapitalismus und die in verschiedenen Weltregionen unterschiedlich ausgeprägten Defizite des politischen Systems – machen deutlich, dass es eine grundlegende und systemische Neuordnung geben muss. Die gesellschaftliche Transformation muss Schritt für Schritt in einer geordneten und international koordinierten Weise erfolgen, um gewalttätige Exzesse und soziale Disruptionen zu vermeiden, die letztendlich zur gesellschaftlichen Destruktion im Sinne zerstörter staatlicher Systeme oder einer wachsenden Anzahl von Diktaturen führen werden.
Ein sinnvoller Weg zu einer Neuordnung im lokalen, nationalen, regionalen und internationalen Kontext – und insbesondere in der Verbindung dieser Ebenen – kann nur über eine Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche erfolgen. Dies muss friedlich und demokratisch erfolgen, ansonsten wird keine systemische Verbesserung eintreten.
Das Problem ist, dass wir davon noch weit entfernt sind und zum Teil gegenläufige Tendenzen festzustellen sind: Nationalistische Einstellungen, autokratische Tendenzen, Verweigerung internationaler Zusammenarbeit, ungebremstes Profitdenken, ein zunehmendes Reichtumsgefälle und wachsende soziale Unterschiede, Waffenexporte in Spannungsgebiete, zahlreiche Kriege unterschiedlichster Art und ökologische Ignoranz. Verschärfend kommt hinzu, dass insbesondere die Klimaentwicklung nur noch ein Zeitfenster von 10-15 Jahren für die Menschheit offen lässt, in denen die richtigen Entscheidungen gefällt und ergriffen werden können.
Dies bedeutet, dass sich derzeit und in naher Zukunft eigentlich niemand mehr zurückhalten kann. Es ist ein gesellschaftliches Engagement auf allen Ebenen gefragt, wenn eine positive Entwicklung in die Richtung auf eine systemische Neuordnung eintreten soll.
Mit den besten Grüßen Klaus Moegling im Juni 2023 ( Rückmeldungen an: klaus(at)moegling.de )
Anmerkungen
[1] Vgl. insbesondere den Artikel 43 der UN-Charta.
[2] "Russia blocks Security Council action on Ukraine", in: https://news.un.org/en/story/2022/02/1112802, 25..2.2022.
[3] Obwohl die UN-Vollversammlung die russische Invasion in der Ukraine mit einer großen Mehrheit von 141 Stimmen (bei 45 Enthaltungen und 5 Gegenstimmen) verurteilt hat, hat die Verabschiedung der Resolution ‚nur‘ eine symbolische Bedeutung und spiegelt die globalen Einschätzung in Bezug auf den Krieg in der Ukraine wider. Vgl. https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-03/un-vollversammlung-verurteilt-russischen-einmarsch-mit-grosser-mehrheit, 3/2/2022.
[4] Vgl. zur Forderung nach einem demokratisch gewählten UN-Parlament mit umfassenderen Vollmachten sowie der Reform des UN-Sicherheitsrats Leinen, Jo/ Bummel, Andreas (2017): Das demokratische Weltparlament. Bonn: Dietz-Verlag. Zumach, Andreas (2021): Reform oder Blockade. Welche Zukunft hat die UNO? Zürich: Rotpunktverlag und das Kapitel 5.3 im vorliegenden Buch.
[5] Artikel 5 des NATO-Vertrags besagt: „Die Parteien vereinbaren, daß ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird; sie vereinbaren daher, daß im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten.“ https://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_17120.htm?selectedLocale=de
[6] Der komplette Text des Friedensappells in deutscher und englischer Sprache sowie die verschiedenen Erstunterzeichner_innenlisten finden sich auf https://www.klaus-moegling.de/peace-appeal/
[7] Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sprach am 26.2.2022 auf seiner Pressekonferenz von Demonstrationen in 58 russischen Städten. Die 'Frankfurter Rundschau' listet ebenfalls die Proteste in Russland gegen den Ukraine Krieg aus der Zivilbevölkerung, von russischen Hilfsorganisationen, Journalisten, Künstlern und Wissenschaftlern auf und verweist auf das Demonstrationsverbot des russischen Staats, auf die brutale Vorgehensweise des russischen Polizeiapparats sowie auf die Anzahl der vorgenommenen Verhaftungen: Vgl. https://www.fr.de/politik/news-ukraine-konflikt-russland-widerstand-proteste-krieg-wladimir-putin-erschrocken-prominente-opposition-zr-91374943.html, 27.2.2022.
[8] Vgl. Rething Security (2022):Turning the Perspective Overcoming Helplessness. Rethinking Security Report 2022. In: https://www.sicherheitneudenken.de/media/download/variant/269297/rethinking-security-report-2022-turning-the-perspective.pdf, 18.2.2022, 1.3.2022.
Vorwort zur dritten Auflage:
Das vorliegende Buchprojekt vor dem Hintergrund der politischen Bewegungen
Die dritte Auflage des vorliegenden Buches versucht – ausgehend von einer aktualisierten Kritik der Verhältnisse – die theoretischen und praktischen Grundlagen einer gesellschaftlichen Neuordnung und erste Schritte auf dem Weg dorthin im Zuge einer positiven Vision zu entwerfen sowie gewaltfreie Umsetzungsstrategien zu entwickeln.
Hierbei stellt die literarische Arbeit an den bisherigen drei Auflagen ein mehrjähriges Projekt kollektiver Erfahrungsauswertung und Wissenskonstruktion dar. In jede Auflage gingen verstandenes Wissen und reflektierte Erfahrungen vieler Menschen ein, mit denen ich seit Jahren das Gespräch suche: Experten für verschiedene Gebiete, Kolleg_innen, Studenten_innen sowie die vielen Diskussionsbeiträge im Rahmen von Lesungen, Vorträgen und Internetforen, die ich wiederum seit der zweiten Auflage hierfür verarbeiten konnte. Ich habe versucht dieses Wissen und diese Erfahrungen achtungsvoll zu vernetzen und in die hier vorliegende Problemstellung auf meine Weise einzubringen.
Auch war es mir wichtig, nicht nur aus einer theoretischen Perspektive heraus oder allein über Erfahrungen der anderen zu schreiben. Daher ist dieses Buch in seinen verschiedenen Auflagen auch aus den eigenen politischen Erfahrungen in der Umwelt- und Friedensbewegung, im Bildungsbereich sowie parteipolitischer und gewerkschaftlicher Mitarbeit entstanden. Das vorliegende Buch ist damit ein Teil und Ausdruck der verschiedenen Bewegungen, die zivilgesellschaftlichen Widerstand leisten und hiermit verbunden, aus diesen Bewegungen heraus und diese reflektierend, entstanden.
Die historische Entwicklung kultureller Umbrüche zeigt, dass eine solche gesellschaftliche Veränderung nur für einen längeren Zeitraum erfolgreich sein kann, wenn ihr eine gut durchdachte gesellschaftspolitische Vision zugrundeliegt. Hier soll dafür plädiert werden, dass diese Vision ein gesellschaftspolitisches Modell beinhaltet, das demokratisch, internationalistisch, gemeinwohlorientiert und sozialökologisch ausgerichtet ist und die kulturellen Leistungen der Aufklärung zum Ausgangspunkt einer bisher in Ansätzen stecken gebliebenen Neuordnung werden lässt. Hierbei müssen auch die systemrelevanten Fragen nach der gerechten Eigentums- und Vermögensverteilung und einer anderen Lebens- und Arbeitsqualität gestellt werden.
Vielleicht hat die Aufklärung, meines Erachtens bisher die größte Kulturleistung der Menschheitsgeschichte, bislang nur eine Minderheit der Menschheit erreicht. Noch wird eine erweiterte Aufklärung massiv durch verschiedene dogmatische Religionen, durch fehlendes Bewusstsein sowie einen neoliberal ausgeprägten Raubtierkapitalismus in ihrer Entfaltung blockiert. Auch konnte beispielsweise Immanuel Kant die Ökologie-Problematik und die Anfälligkeit der Instrumentalisierung seiner Gedanken für den damals aufkommenden Kapitalismus noch nicht übersehen. Eine zweite Welle der Aufklärung, die von den blinden Stellen der ersten Aufklärung gelernt hat, und konsequente Maßnahmen zu einer globalen Neuordnung auf der Grundlage einer radikalen sozialökologischen und demokratischen Orientierung sind notwendig, wenn die Menschheit auf einem lebenswerten Niveau überleben möchte.
Die rasante weltweite Verbreitung des Coronavirus zeigt, dass die Welt ein globales Dorf ist. Die Entwicklungen in einer Region können durch die Globalisierung sehr schnell an jedem Ort wirksam werden und alle Menschen betreffen. Dies gilt für einen Virus, für die Klimakrise und für Krieg und Frieden. Daher gilt mehr denn je das Prinzip der Verantwortung eines jeden Menschen für diese Welt, genauso wie die Notwendigkeit existiert, globalen Problemen auch in globaler Verantwortung zu begegnen.
Ich bedanke mich wieder bei allen Leserforen, Gesprächsgruppen, Seminaren, Mitarbeiter_innen und Freunde_innen sowie den Kollegen_innen bei ‚Scientists for Future‘ (S4F) (1) und im ‚Bundesausschuss Friedensratschlag‘ (2), die mir in den Diskussionen wertvolle Hinweise und Impulse zur Realisierung der dritten Auflage gegeben haben. Ohne diesen lebendigen Austausch wäre der vorliegende Entwurf nicht zustande gekommen.
Mit den besten und (immer noch) hoffnungsvollen Grüßen
Ihr Klaus Moegling
im April 2020
P.S.: Gern erhalte ich weiterhin Ihre Rückmeldungen und Kommentierungen unter (klaus(at)moegling.de)
[1] Vgl. zum Selbstverständnis und zu den Aktionen von ‚Scientists for Future‘: https://de.scientists4future.org/, o.D., 14.12.2022. (Das erste Datum nach dem Link zeigt den Zeitpunkt der Veröffentlichung; das zweite Datum ist das Entnahmedatum, ohne dass dies jeweils durch ‚vom‘ und ‚entnommen‘ gekennzeichnet wird. Bei o.D. ist kein Publikationsdatum angegeben.)
[2] Vgl. zum Selbstverständnis und zu den Aktivitäten des Bundesausschusses Friedensratschlag: http://www.friedensratschlag.de/Wer_wir_sind:Bundesausschuss_Friedensratschlag, o.D. 14.12.2022.
Entwicklung einer Friedenspolitischen Handlungsperspektive angesichts des Kriegs in der Ukraine:
https://www.klaus-moegling.de/peace-appeal/
überarbeitete* Kapitel aus der 4. aktualisierten und erweiterten Auflage de Buches 'Neuordnung. Eine friedliche und nachhaltig entwickelte Welt ist (noch) möglich. ergänzende Artikel und Videos:
* Stand der Überarbeitung im März 2023: bis Kapitel 1.5.2 "Widerstand und Proteste gegen die ökologische Zerstörung"
1 Analyse gegenwärtiger globaler Krisen
– Ordnungen lösen sich auf
Bevor eine positive Vision gesellschaftlicher Entwicklung entworfen werden kann, ist es erforderlich, die Notwendigkeit für eine solche Entwicklung überzeugend zu begründen. Dies soll hier im Rahmen des Kapitels 1 in einem ersten Schritt über die kritische Analyse gegenwärtiger gesellschaftlicher Verhältnisse gelingen. In einem nächsten Kapitel soll hierüber hinaus die Dringlichkeit einer systemischen Veränderung im globalen Kontext durch die Entwicklung von möglichen Negativszenarien deutlich werden (Kapitel 2): Was wird passieren, wenn die gegenwärtige Entwicklung nicht entscheidend gestoppt werden kann? Hier geht es also um negative Entwicklungen, die man nicht mit Sicherheit voraussagen kann, deren Eintreten aber unter bestimmten Voraussetzungen möglich ist.
Wenn es in den Bereich der menschlichen Vorstellungskraft gerät, wie verheerend und zerstörerisch ein derartiges Szenario auf die Möglichkeit menschlichen Lebens sein kann, wird hieraus erst die Kraft erwachsen können, die notwendig ist, um dies zu verhindern. Erst dann ist es möglich, mit der notwendigen Entschiedenheit, eine positive Vision planetarer Entwicklung zu entwerfen, die grundlegend und radikal ist, also an der Wurzel ansetzt. Ein Ansetzen an der Wurzel gesellschaftlicher Problemlagen muss sich auch der Systemfrage stellen. Davon können Eigentums- und Vermögens-verhältnisse nicht unberührt bleiben.
Auch meint Radikalität nicht das Einschmeißen von Fensterscheiben, das Inbrandsetzen von Autos oder gar Gewalt gegen einzelne Personen oder Menschengruppen. Der Einsatz von Gewalt ist nicht radikal, sondern extremistisch und widerspricht der hier vorliegenden Vision einer gesellschaftlichen Neuordnung.
So radikal, also an den systemischen Grundlagen ansetzend, eine Vision einer gesellschaftlichen Neuordnung aufgrund der existierenden und drohenden Gefährdungslage auch ist und sein muss, werden dennoch in einem darauf folgenden Schritt erste, an der gegenwärtigen gesellschaftlichen Wirklichkeit ansetzende und zeitlich differenzierte Reformschritte skizziert, die auf den Weg zur Einlösung dieser auf die Zukunft gerichteten Vorstellung gesellschaftlicher Entwicklung führen können (Kapitel 6).
So gesehen bleibt die Analyse nicht im Negativen stecken sondern gibt den Blick für eine mögliche positive Entwicklung frei, wenn die hierzu erforderlichen Maßnahmen mit der notwendigen Entschiedenheit und systemischen Stimmigkeit getroffen werden.
1.1 Ökonomische Krisen
1.1.1 Globale Strukturen der Gier
Ökonomische Krisen in einem kapitalistisch geprägten globalen System, in dessen hochentwickelter neoliberaler Spätphase wir uns offensichtlich befinden, müssen zunächst auf der sozioökonomischen Ebene analysiert werden. In einem nächsten Schritt sind aber auch die psychischen und sozialen Dispositionen zu beschreiben, die mit den privatwirtschaftlichen Produktionsweisen, der privaten Abschöpfung des erwirtschafteten Mehrwerts sowie den entsprechenden Strukturen verbunden sind.
Marx/Engels haben bereits weitsichtig in der Mitte des 19. Jahrhunderts analysiert, wie sich der Prozess der Globalisierung im Kapitalismus vollzieht:
„Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen. Die Bourgeoisie hat durch die Exploition des Weltmarkts Produktion und Konsumtion kosmopolitisch gestaltet.“ [1]
Marx/Engels sehen die Tatsache, dass Investoren ständig auf der Suche nach neuen Investitionsmöglichkeiten und Produzenten auf der Suche nach neuen Absatzmärkten sind, als ökonomische Zwangshandlungen an, die Ausdruck von Kapitalverwertungskrisen sind, wenn sich die technischen Möglichkeiten der Produktion – und entsprechend weitergedacht – die kommunikativen Möglichkeiten der Investitionstätigkeit beständig weiterentwickeln.
Der Kolonialismus des globalen Nordens in den Regionen des globalen Südens diente – neben geostrategischen Überlegungen der Machtausdehnung – vor allem der ökonomischen Ausbeutung der menschlichen und natürlichen Ressourcen der militärisch eroberten Weltregionen. Eroberungskriege, Menschenhandel, Sklavenarbeit, Ethnozid, Umweltzerstörung, Plünderung, Zerschlagung funktionierender Infrastrukturen und Raubbau an den natürlichen Ressourcen sowie die Errichtung einer imperialen Weltwirtschaftsordnung sind Kennzeichen der kolonialen Phase weltweiter Entwicklung. Der Reichtum des globalen Nordens fußt auf der brutalen Ausbeutung des globalen Südens. Reichtum und Armut stehen hier in einem destruktiven funktionalen Zusammenhang. Postkoloniale Studien befassen sich u.a. mit der Verlängerung und auch der Modifizierung dieser Strukturen nach der eigentlichen Zeit des Kolonialismus im Zuge der Dekolonialisierung nach dem zweiten Weltkrieg. Hier wird thematisiert, dass die aus der Kolonialisierung resultierenden globalen Ungerechtigkeiten und auch das Denken und Fühlen in den Gesellschaften des globalen Nordens bis in die heutige Zeit weiter existieren.
Ina Kerner, Professorin für die Dynamiken der Globalisierung und für postkoloniale Studien, beschreibt die hieraus resultierenden Aufgaben:
Sie bestehen zunächst einmal darin,
„die landläufige, tendenziell positive oder zumindest verharmlosende Sicht auf den europäischen Kolonialismus zu verändern und ein kritisches Bewusstsein für seine Spätfolgen zu schaffen. Ferner geht es darum, nicht-koloniale Denkmuster, Verhaltensweisen, Repräsentationen und Institutionen zu entwickeln und zu stärken. (…) Zum einen durch genaue empirische Analysen und theoretische Reflexionen, die Aufschluss darüber geben, wie weit die kolonialen Ursachen und Pfadabhängigkeiten tatsächlich reichen – etwa bezogen auf Probleme wie Armut, starke soziale Ungleichheit, Autoritarismus oder mangelnde Rechtsstaatlichkeit in ehemaligen Kolonien. (…) Dass eine Kritik des eigenen Kontextes immer etwas Selbstreferenzielles hat, ist klar. Postkoloniale Theorien problematisieren vor diesem Hintergrund die unreflektierten Aspekte und die Machteffekte des Eurozentrismus. Denn dieser hat seit jeher dazu gedient, globale Macht- und Herrschaftsansprüche zu legitimieren.“ (Kerner 2020)
Waren es zur Kolonialzeit vor allem Konzerne wie die British East India Company, die Dutch East India Company oder die US-amerikanische United Fruit Company, die koloniale bzw. neokoloniale Herrschaftsverhältnisse in Asien und in Südamerika brutal ausnutzten, so muss in postkolonialen Zeiten die Rolle der multinationalen Konzerne moderner Prägung genauer betrachtet werden.
Der Träger des Nobelpreises für Ökonomie, Josef E. Stiglitz, ist nicht weit entfernt von Marx/Engels‘ Analyse, wenn er die Übernahme der Marktmacht in den wichtigen ökonomischen Sektoren durch wenige Konzerne kritisiert. Diese Konzentration sei verbunden mit dem Ausschalten eines freien Wechselspiels von Angebot und Nachfrage zugunsten ungebremster Marktermächtigung und Bereicherung einiger weniger Privatpersonen zulasten der Bevölkerungsmehrheit:
„Diese Megakonzerne nutzen ihre Marktmacht, um sich auf Kosten aller anderen zu bereichern. Durch die Festsetzung höherer Preise haben sie den Lebensstandard der Verbraucher effektiv gesenkt. Neue Technologien ermöglichen diesen Unternehmen Massendiskriminierung – die sie auch praktizieren –, da die Preise nicht auf dem Markt festgesetzt werden (als Einheitspreis, der Angebot und Nachfrage abbildet), sondern durch die algorithmische Bestimmung dessen, welchen Höchstpreis ein Kunde zu zahlen bereit ist. (…)
Wo die finanzielle Deregulierung am weitesten fortgeschritten war, kam es auch am häufigsten zu Missbrauch auf dem Finanzsektor wie etwa Marktmanipulation, räuberischer Kreditvergabe und übermäßiger Kreditkartengebühren.“ [2]
Die gegenwärtige Variante des neoliberalisierten Kapitalismus sei die übelste Version kapitalistischer Gesellschaftsformation, da hier der Staat auf die notwendigen Kontrollen und Regulierungen des Kapitals weitgehend verzichte. Der Staat sieht sich vor allem in der Rolle, volkswirtschaftliches Wachstum und private Aneignung zu ermöglichen, ohne hier zu erkennen, dass Wirtschaftswachstum eine sehr problematische Größe sein kann.
Im Unterschied zu Marx/Engels sieht Stiglitz (2019) aber die Chance nicht in einer systemischen Überwindung des Kapitalismus, sondern in einem „progressiven Kapitalismus“, der eine echte Marktfunktion wiederherstelle und der das Kapital wieder gesellschaftlich einbette und sozialökologisch von staatlicher Seite reguliere.
Das Vordringen in innere Räume
Der Kapitalismus weitete sich im Rahmen seines historischen Siegeszuges weltweit aus. Er drang nicht nur von Europa ausgehend in alle geografischen Gebiete der Erde vor, sondern er dringt auch in die inneren Räume des menschlichen Zusammenlebens ein – so Elmar Altvater (2006, 22):
„Die Mikro- und Nanostrukturen des Lebens werden in Wert gesetzt und dabei so manipuliert, dass die Verwandlung in Ware und ihre Verwertung in Geldform herauskommen. Private Rückzugsräume sind vor Sachzwängen von Geld und Kapital nicht sicher. Formen des sozialen Zusammenlebens werden mehr und mehr vertragsförmig gestaltet und dadurch der Logik von monetärer Marktäquivalenz unterworfen. Kapitalistische Inwertsetzung ist ein allumfassendes und dennoch im Binnenraum des Planeten begrenztes und begrenzendes Prinzip, dessen Regeln zu befolgen sind, als ob es sich um Gebote Gottes handele.“
Hiernach sind die Menschen auch psychisch durchdrungen von Verwertungsinteressen, Konsumangeboten, medialer Beeinflussung und den darin enthaltenen Logiken des Kapitalismus. Insbesondere die Zwangsläufigkeit einer Verbindung von Wohlstand, Privateigentum und Wirtschaftswachstum scheint ein unhinterfragbares Paradigma. Aus dieser systemischen Hegemonie des Denkens und Fühlens scheint es kein Entkommen zu geben.
Diese kritische Analyse besitzt sicherlich eine sozioökonomische Plausibilität und ist in der Analyse weltweiter Kapitalkonzentration, einer ungerechten Vermögensverteilung, der globalen Investitionstätigkeit, des Raubbaus an den Bodenschätzen und der ökologischen Verwüstung, der destruktiven Rüstungsinvestitionen sowie der immer wiederkehrenden, durch Spekulation angeheizten Wirtschafts- und Finanzkrisen zu berücksichtigen. [3]
Dennoch soll der Mensch – trotz vorhandener Strukturen – nicht nur als ein Objekt ökonomischer Entwicklungen betrachtet werden. Jede und jeder Einzelne entscheidet selbst, auf welcher Seite des globalen Geschehens sie bzw. er stehen möchte: Wertschöpfung muss auch in den Zeiten eines technisch-digitalen Entwicklungsstadiums des Kapitalismus nicht zwangsläufig destruktiv sein. Ökonomische Investitionen können durchaus an einem an Nachhaltigkeit orientierten Wertschöpfungsprozess orientiert sein. Niemand zwingt Rüstungskonzerne, auf Investitionen in Rüstungskonversion im Sinne einer Produktion von Friedensgütern zu verzichten. Niemand zwingt die Energieversorger, eine Umsteuerung auf eine solare Energieversorgungszukunft nicht rechtzeitig vorzunehmen. Niemand zwingt Politiker und Politikerinnen, sich nationalchauvinistisch zu verhalten oder Bestechungsgelder aus der Wirtschaft anzunehmen. Niemand zwingt Banken, sich an der Risikospekulation auf den Finanzmärkten zu beteiligen, anstatt sich mit der Rendite aus Krediten an Hausbauer und an die mittelständische Wirtschaft zu begnügen.
Es kann durchaus zumindest in ernstzunehmenden Ansätzen ein richtiges Leben auch unter den falschen gesellschaftlichen Voraussetzungen geben: Gier müsste weder ein zentrales Politik- noch ein prioritäres Wirtschaftsprinzip sein. Hierhinter stehen Entscheidungen des Einzelnen sich den vorhandenen Strukturen mit der ganzen Persönlichkeit auszuliefern und sich dem Paradigma egozentrisch gesteuerter Gier zu unterwerfen.
Soziale und menschenrechtliche Folgen eines neoliberalisierten Kapitalismus
Anders sieht es für die Leidtragenden des neoliberalisierten Kapitalismus und der damit verbundenen Wirtschaftspolitik aus. Waren nach dem zweiten Weltkrieg noch Wohlstandsgewinne für größere Bevölkerungsteile und die Vergrößerung der Mittelschichten vor allem in den industrialisierten Staaten zu beobachten, sorgte die Neoliberalisierung für eine Umkehrung dieses Prozesses. Billiglohnsektoren weiteten sich auch in den westlichen Staaten aus, Lohndumping und Leiharbeit sowie Scheinselbstständigkeit sorgten dort für einen Abstieg aus der Mittelschicht und für entsprechende soziale Ängste bei den vom Abstieg Bedrohten. In den auch während der postkolonialen Zeit in Abhängigkeit gebliebenen Weltregionen gestalteten sich diese Entwicklungstendenzen noch viel dramatischer. Diese Länder dienen im Rahmen des durch Weltbank und IWF definierten ökonomischen Rahmens als Schuldner und Zinsenzahler, als Rohstofflieferanten und Anbauflächen von Monokulturen – so die Lateinamerika Expertin Sabine Kurtenbach (2019) am Beispiel Kolumbiens:
„Kolumbien könnte die Kornkammer Südamerikas werden mit ganz unterschiedlichen landwirtschaftlichen Produkten, weil es weltweit eines der Länder mit der höchsten Biodiversität ist. Stattdessen wird für den Export fast nur Palmöl angebaut.“ [4]
Das internationale Kapital sei insbesondere an einer Stabilisierung seiner Investitionstätigkeit und der damit verbundenen Profite durch autoritäre Regierungen in den postkolonialen Weltregionen interessiert. Demokratisch gewählte Regierungen jedoch, die an einer Nationalisierung der Bodenschätze, einer Auflösung der internationalen Arbeitsteilung im Interesse der reichen Nationen und der aus ihnen stammenden Großkonzerne interessiert seien, werden mit allen Mitteln, mit Geheimdiensten, Sanktionen, mit Medien-Propaganda und letztlich mit militärischen Mitteln bekämpft. Das Beispiel Chiles ist das bekannteste Beispiel, wie eine demokratisch gewählte Regierung mit der nachweislichen Unterstützung des CIA über einen Militärputsch gestürzt und 1973 ein neoliberales Regime unter einer rechts gerichteten Militärdiktatur installiert wurde. [5] Die verheerenden sozialen Auswirkungen des neoliberalen Modells in Chile sind immer wieder die Ursache für Massenproteste verbunden mit brutalen Einsätzen des chilenischen Militärs. In der Hauptstadt Santiago und weiteren Städten gab es z.B. im Jahr 2019 Demonstrationen mit über eine Million Menschen, die gegen die totale Privatisierung des Landes, die niedrigen Einkommen und Renten, die undemokratische Verfassung, die hohen Wasserpreise und Studiengebühren protestierten.
Ein Referendum für eine neue, gerechtere chilenische Verfassung scheiterte 2022 an der einseitigen Medienpropaganda und dem hierdurch erzeugten Votum gegen den Verfassungsentwurf.
Eine andere Variante der autoritären Investitionssicherung liegt in der direkten Einflussnahme von multinationalen Unternehmen auf an der Macht befindliche Regierungen in postkolonialen Ländern, wie z.B. in Nigeria, um Bewegungen gegen die Korruption und die Ausbeutung durch Konzerne in diesen Ländern unschädlich zu machen. Das Beispiel des Trägers des Alternativen Nobelpreise (‚Right Livelihood Award‘) Ken Saro-Wiwa und acht seiner Mitstreiter zeigt, wie das Interesse des Ölkonzerns Shell von der nigerianischen Militärregierung durchgesetzt wurde. Der Kritiker des Raubbaus an der Natur, der Unterdrückung des Ogoni-Volkes und der Enteignung der nationalen Bodenschätze, hier des Öls durch Shell, wurde in einem aus der Sicht internationaler Beobachter rechtswidrigen Prozess mit seinen Gefährten zum Tod durch Erhängen verurteilt. Ken Saro-Wiwa und seine Mitstreiter wurden 1995 trotz weltweiter Proteste von den Henkern der Militärregierung hingerichtet. Shell bestritt die Einmischung, bezahlte aber den Familien der Getöteten 14 Jahre später dennoch 15,5 Millionen Dollar Entschädigung. [6]
Die Folgen einer solchen repressiven Politik multinationaler Konzerne und der sie unterstützenden Regierungen sind – in der dependenztheoretischen Formulierung – strukturelle Heterogenität und Marginalisierung. Durch ‚Land Grabbing‘ vertriebene Kleinbauern finden sich unter den elenden Bedingungen der sich beständig ausweitenden städtischen Slums wieder, ohne geregeltes Einkommen und ein Mindestmaß an gesundheitlicher Versorgung sowie sauberem Trinkwasser. Auf der anderen Seite lebt die von der Ausbeutung des Landes profitierende und von den Konzernen korrumpierte Oberschicht sowie die ausländischen Manager mit ihren Familien in ummauerten und bewachten Siedlungsfestungen, die überall und weltweit ähnlich aussehen. Eine derartige strukturelle Heterogenität ist jedoch nicht die Voraussetzung für ein demokratisches System, sondern führt in der Regel zu autoritären Lösungen, um diese Verhältnisse einer sozialen Ausgrenzung der Bevölkerungsmehrheiten aufrecht erhalten zu können.
Der weltwirtschaftliche Mechanismus, der diesen Verhältnissen zugrunde liegt, wird in der Dependenztheorie mit dem Phänomen des ungleichen Tauschs beschrieben. Dies bedeutet, dass der vorhandene Reichtum eines postkolonialen Landes, in Form von Bodenschätzen und Arbeitskraft, billig in die reicheren Regionen der Welt abzugeben ist. Hingegen müssen die Leistungen der industrialisierten Regionen in Form von gefertigten Waren oder technischen Dienstleistungen in den ärmeren Teilen der Welt mit hohen Preisen bezahlt werden. [7]
Großkonzerne versuchen nun ihre Vertreter direkt in den Schaltstellen der Politik zu positionieren
Allerdings liefern sich auch die multinationalen Konzerne einen Überbietungswettbewerb, bei dem derjenige vom größeren Unternehmen geschluckt wird, der nicht schnell genug wächst. Hedgefonds erkaufen sich zudem die Aktienmehrheit von Konzernen, zerlegen sie und liquidieren ohne Rücksicht auf die Arbeitsplätze und dort beschäftigten Menschen Konzernteile, die keine überdurchschnittliche Rendite erzielen. Es ist offensichtlich, dass Gier das ökonomische Prinzip der Wirtschaftskonzentration und in Verbindung damit das leitende Interesse des Finanzkapitals darstellt. [8] W. I. Lenin bezeichnet die durch das Finanzkapital, also der Verschmelzung von Industrie und Bankkapital, dominierte Epoche als die Phase des Imperialismus, als die am weitesten entwickelte Phase des Kapitalismus:
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Definition des Imperialismus: „1. Konzentration der Produktion und des Kapitals, die eine so hohe Entwicklungsstufe erreicht hat, daß sie Monopole schafft, die im Wirtschaftsleben die entscheidende Rolle spielen; 2. Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital und Entstehung einer Finanzoligarchie auf der Basis dieses ‚Finanzkapitals‘; 3. Der Kapitalexport, zum Unterschied vom Warenexport, gewinnt besonders wichtige Bedeutung; 4. Es bilden sich internationale monopolistische Kapitalistenverbände, die die Welt unter sich teilen, und 5. Die territoriale Aufteilung der Aufteilung der Erde unter die kapitalistischen Großmächte ist beendet.“ [9]
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Ob diese fünf Merkmale ausreichen, um den Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus auszuweisen, sei dahin gestellt. Zweifel sind angebracht, da Lenin natürlich die Auswüchse des digitalisierten Kapitalismus noch nicht kennen konnte [10], die fundamentalen Interessensunterschiede unterschiedlicher Kapitalfraktionen nicht berücksichtigte sowie hier keine ökologischen Aussagen vornimmt.
Auf jeden Fall scheint der Kapitalismus immer wieder neue Formen anzunehmen, die dazu führen, dass immer weniger Unternehmen eine zunehmende Wirtschaftsmacht und Finanzkraft besitzen, das Kapital von Großbanken und Konzernen nicht mehr auseinanderzuhalten ist, neue Wertschöpfungsketten entstehen und hierbei immer weniger Personen immer mehr Kapital anhäufen können. Außerdem lässt sich zunehmend feststellen, dass Großkonzerne es immer wenig nötig haben, nur Lobbyisten zu politischen Mandatsträgern zu senden. Sie positionieren entweder selbst Konzernmitarbeiter oder nahestehende Personen in politische Schaltstellen oder nehmen kurz nach dem Ausscheiden Regierungsvertreter unter Vertrag, so dass sie deren politischen Netzwerke nutzen können. Der ehemalige Geschäftsführer von Greenpeace International, Thilo Bode, spricht hier von einem „politisch-ökonomischen Komplex“, der zunehmend die Demokratie unterlaufe und dafür sorge, dass die unterschiedlichen ökonomischen Interessen der multinationalen Konzerne in Konkurrenz zueinander durchgesetzt werden. [11]
Gerhard Schröder, Mario Draghi, Joschka Fischer, Christine Lagarde, Richard B. ‚Dick Cheney‘, Emmanuel Macron oder Donald Trump sind nur einige von zahlreichen Persönlichkeiten, die entweder direkt aus internationalen Konzernvorständen hinein in führende politische Ämter positioniert wurden oder kurz nach ihrem Ausscheiden als Regierungsmitglieder in Konzernvorstände eintraten.
Die Frage ist hier nun, ob der Kapitalismus sich sozial reformieren lässt, oder ob die Verbindung aus kollektiver Geldgier, Wirtschaftskonzentration und Finanzspekulation nur durch einen Systemwechsel, also durch eine radikale Neuordnung der Ökonomie und der Politik, aufgebrochen werden kann.
Sicherlich kann man dies nicht nur auf der systemischen Ebene bedenken, sondern muss auch in Verbindung hiermit den Einzelnen in seinem sozialen Kontext in den Blick nehmen. So weisen die Sozialwissenschaftler Ulrich Brand und Markus Wissen (2017) darauf hin, dass die systemische Ausbeutung von Mensch und Natur im Zuge eines neoliberalisierten Kapitalismus eine psychosoziale Entsprechung im Rahmen einer imperialen Lebensweise aufweist. Die imperiale Lebensweise ist nicht nur verankert in Institutionen und strukturell verstetigten Herrschaftsformen, sondern über einen Akt psychologischer und sozialisatorischer Vermittlung auch in den individuellen kognitiv und emotional gesteuerten und sozialen Verhaltensweisen der Menschen vorfindbar.
Zunächst basiere die imperiale Lebensweise erstens auf der Ausbeutung des Billiglohnsektors in den reichen Gesellschaften und zweitens auf der Ausbeutung des globalen Südens durch den globalen Norden. Des Weiteren beuten selbst die marginalisierten Menschen im Billiglohnbereich der reicheren Regionen wiederum die Arbeitskräfte in den ärmeren Regionen aus. Hierbei werde weder Rücksicht auf menschliche Grundbedürfnisse der Ausgebeuteten noch auf die Notwendigkeiten einer nachhaltigen Entwicklung aufgrund des massiven humanen und ökologischen Ressourcenverbrauch genommen.
Die imperiale Lebensweise benötigt grundsätzlich Regionen und Menschen, zu denen die Kosten für Produktion und Konsumtion hin ausgelagert bzw. externalisiert werden können. Für eine sozialökologische Transformation der Gesellschaft ist die imperiale Lebensweise strukturell und auch psychosozial zu überwinden. [12]
US-amerikanische Kritik am neoliberalen Modell des Kapitalismus
Auch in den USA gibt es Ansätze einer Systemkritik, die von der Verflechtung von Banken- und Konzernkapital sowie deren Verfilzung mit den politisch herrschenden Kräften ausgeht, die letztlich zur heutigen neoliberalen Variante des Kapitalismus führte.
Noam Chomsky, Träger von zehn Ehrendoktorwürden, analysiert den von Großkonzernen und der Finanzwirtschaft initiierten ‚Washington Consensus‘ als Ausdruck neoliberaler Interessendurchsetzung gegen die armen Weltregionen und insbesondere deren verarmten Bevölkerungsschichten. Der Washington Consensus wurde von der Weltbank und dem Internationalen Weltwährungsfonds (IWF) unterstützt und in seiner Durchsetzung gefördert.[13]
Der Washington Consensus von 1989 schrieb u.a. Deregulierung, Privatisierung, Absenkung der Unternehmenssteuern und Handelsliberalisierung als Richtlinien einer vorgeblichen Förderung insbesondere der Staaten des globalen Südens durch die Weltbank und den IWF fest. Hierdurch wurden diesen Staaten in Wirklichkeit die Möglichkeiten von Schutzzöllen und zur Abwehr des internationalen Finanzkapitals genommen, was – wie der Nobelpreisträger für Ökonomie, Joseph Stiglitz (2002), eindrucksvoll analysiert – zur weiteren Verarmung und finanziellen Ausblutung dieser Länder führte.
Aber auch die ehemals reichen Staaten, wie die USA, Großbritannien oder weitere europäische Staaten wurden aufgrund der Neoliberalisierung des Kapitalismus und der Entgrenzung der Märkte, insbesondere der Finanzmärkte, sozial zerklüftet. Dies führte zu einer immer reicher werdenden Oberschicht und einem Absinken ehemaliger Angehöriger der Mittelschichten in die soziale Armut:
In „most advanced countries, the market economy has been failing large swaths of society.
Nowhere is this truer than in the United States. Long regarded as a poster child for the promise of free-market individualism, America today has higher inequality and less upward social mobility than most other developed countries. After rising for a century, average life expectancy in the US is now declining. And for those in the bottom 90% of the income distribution, real (inflation-adjusted) wages have stagnated: the income of a typical male worker today is around where it was 40 years ago.“ [14]
Stiglitz macht deutlich, dass ein 40 Jahres andauerndes neoliberales Experiment kläglich gescheitert sei und fordert einen sozial eingehegten Kapitalismus ein („progressiver Kapitalismus“ [15), bei dem der Staat wieder seine zentrale Rolle und soziale und ökologische Verantwortung erkennen müsse.
Während Stiglitz vor allem im Nachlassen der staatlichen Aktivität im neoliberalisierten Kapitalismus zugunsten von Konzerninteressen das zentrale Problem sieht, machte der US-amerikanische Ökonom Michael Hudson (1939/2003, 1) schon früh auf die enorme Bedeutung der an weltpolitischer Hegemonie interessierten staatlichen Interventionsstrategien aufmerksam. Er fasste seine historisch orientierten finanzpolitischen Studien einleitend wie folgt zusammen:
„One lesson of U.S. experience is that the national diplomacy, embodied in what now is called the Washington Consensus, is not simply an extension of business drives. It has been shaped by overriding concerns for world power (euphemized as national security) and economic advantage as perceived by American strategists quite apart from the profit motives of private investors.“
Auch Chomsky (2000, 23) sieht die Verbindung staatlicher Interventionen und Konzerninteressen, wenn er kritisch über den Washington Consensus formuliert:
„Die ‚hauptsächlichen Architekten‘ des neoliberalen ‚Konsenses von Washington‘ sind die Herren und Meister der Privatwirtschaft, in der Hauptsache riesige Konzerne, die weite Bereiche der internationalen Wirtschaft kontrollieren und über Mittel zur Beherrschung der politischen Willensbildung wie zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung verfügen. Aus ersichtlichen Gründen spielen die USA in diesem System eine Sonderrolle.“
Chomsky weist nun im Rahmen seines Buches ebenfalls – vergleichbar mit der Wahrnehmung von Michael Hudson – nach, wie die US-Konzerne zwar die Liberalisierung und Deregulierung weltweit einforderten, allerdings selbst massiv vom US-Staat strategisch mit Subventionen und Handelsbegünstigungen unterstützt wurden. So sind natürlich auch die aktuellen Bemühungen der Trump-Regierung einzuschätzen: Selbst Schutzzölle erheben, aber von den anderen Staaten die Aufhebung von Schutzzöllen zu fordern. Chomsky kritisiert daher, dass der Washington Consensus nicht für die USA, sondern nur als Doktrin für Länder gelte, auf denen der ungehinderte Zugriff der US-Konzerne erleichtert werden solle und die der Gier der Reichen in den USA diene:
„Die gepriesenen Doktrinen dienen in ihrem Entwurf und ihrer Verwendung den Zwecken von Macht und Profit. Die gegenwärtig durchgeführten ‚Experimente‘ folgen einem vertrauten Muster, indem sie die Form eines ‚Sozialismus für die Reichen‘ annehmen, der im System eines globalen Merkantilismus der Konzerne angesiedelt ist, wo der ‚Handel‘ zum größten Teil in zentral geleiteten, innerbetrieblichen Transaktionen zwischen riesigen Institutionen besteht, die in ihrem Wesen nach totalitär sind und nur dem Zweck dienen, demokratische Entscheidungsprozesse zu unterminieren und die Herren und Meister vor der Disziplin des Marktes zu bewahren. In ihren strengen Lehrsätzen werden nur die Armen und Hilflosen unterwiesen.“ [16]
Zur Krisenhaftigkeit des neoliberalisierten Kapitalismus
Bereits Lenin analysierte die parasitären Ausbeutungsstrukturen innerhalb der globalen Arbeitsteilung:
„Monopole, Oligarchie, das Streben nach Herrschaft statt nach Freiheit, die Ausbeutung einer immer größeren Anzahl kleiner oder schwacher Nationen durch ganz wenige reiche oder mächtige Nationen – all das erzeugte jene Merkmale des Imperialismus, ihn als parasitären oder in Fäulnis begriffenen Kapitalismus zu bezeichnen.“ [17]
Sahra Wagenknecht analysiert in ihrem Buch „Wahnsinn mit Methode. Finanzcrash und Weltwirtschaft“ neuere Entwicklungen, die bei Marx/Engels und Lenin zwar im Grundsatz bereits analytisch angelegt waren, allerdings in dieser modernisierten Form noch nicht bekannt sein konnten. Wagenknecht sieht die Ursache für die 2007/2008 weltweit sich auswirkende Wirtschafts- und Finanzkrise in einer durch Bankengier gesteuerten leichtfertigen Kreditvergabe an insolvente Hausbesitzer (‚Subprime-Hypotheken‘), in dem Verkauf der undurchsichtigen und auf fehlende Bonität beruhenden Kreditpapier-Portfolios (‚Asset Backed Securities‘) auf den internationalen Finanzmärkten und im Platzen der so geschaffenen Immobilienblase, die wiederum die Erschütterung des Bankensystems nach sich zog. Die Voraussetzung hierfür war die Deregulierung der Finanzmärkte und des internationalen Kapitalverkehrs. In der Phase der Kreditverbriefung und des Verkaufs der entsprechenden Portfolios lag eine überdurchschnittliche Rendite begründet – so Wagenknecht (2008, 39):
„Zum einen lagen die Margen in diesem Geschäft deutlich höher als bei der traditionellen Kreditvergabe, die in der Regel weniger als 10 Prozent Rendite brachte, und zum anderen konnte das Kreditvolumen auf diese Weise weit über die Grenzen des Eigenkapitals der betreffenden Bank ausgedehnt werden. Da die Gewinne der Bank mit jedem vergebenen Kredit weiter anschwollen und das Ausfallrisiko ja auf die Käufer der Kreditpapiere überging, waren die Baufinanzierer fortan verständlicherweise bestrebt, so viele Darlehen wie möglich an wen auch immer zu vergeben.“
Letztendlich mussten die Steuerzahler die Rettung der Banken, die die faulen Hypothekenverbriefungen in großem Umfang erworben hatten, bezahlen. Die Nationalstaaten stützten die Großbanken aufgrund ihrer vermeintlichen Systemrelevanz („too big to fail“). Gewinne wurden also privatisiert und Verluste vergesellschaftet. Dass dann auch noch mit den Verlusten und den eventuell noch drohenden Staatsbankrotten über hochdotierte Wetten auf den Finanzmärkten zusätzliche Renditen zu erzielen versucht wurde, stellt einen zusätzlichen Aspekt des ‚Fäulnischarakters‘ dieser Wirtschafts- und Finanzordnung dar. [18]
Ökonomische Krisen werden im Kapitalismus mit einer Rückkehr zum wirtschaftlichen Wachstum versucht zu lösen - also mit genau der gleichen Medizin, die letztendlich zur Wirtschaftskrise geführt hatte. Wachstumsdenken führt zur Überproduktion, denn bezahlbarer Konsum ist begrenzt. Überproduktionskrisen führen in eine Rezession mit Folgen für die politische und kulturelle Stabilität. Rechtsextremismus und 'Wutbürger' sind typische Erscheinungen der Krisenhaftigkeit moderner kapitalistischer Gesellschaften.
Das Setzen auf grenzenloses Wirtschaftswachstum verkennt auch die ökologischen Grenzen unseres Planeten und vernichtet Schritt für Schritt die zivilisatorischen Lebensgrundlagen der Menschheit. Die bereits eintretende Klimakatastrophe, die Vermüllung der Erde sowie die Vernichtung der für die Ökologie dieses Planeten unabdingbaren Artenvielfalt sind Ausdruck einer prioritär Wachstums orientierten Wirtschaftsweise und Konsumorientierung.
Diese Kritik bezieht sich nicht nur auf die Verhältnisse des globalen Nordens sondern ebenfalls auf den kapitalistischen Entwicklungspfad in den Ländern des globalen Südens - so der Politikwissenschaftler und Aktivist Alexander Behr (2022, 29):
"Auch in vielen anderen Ländern des globalen Südens ist ein brutaler Klassenkampf im Gange. Die nationale Bourgeoisie bedient die Interessen transnationaler Konzerne. Kurzfristig kann sie sich dabei zwar auf eine wachsende Mittelschicht stützen, die ihre imperiale Lebensweise absichern will. Doch der hegemoniale Entwicklungspfad - ob staatsinterventionistisch wie in China oder neoliberal wie in Brasilien - ist zutiefst zerstörerisch und wird Ressourcenkonflikte in Zukunft weiter verstärken. Er gefährdet damit letztlich die Versorgungssicherheit aller Menschen."
Gier als psychologische Grundlage ökonomischen Handelns
Gier beschreibt eine Geisteshaltung und psychische Gestimmtheit, bei der ein Mensch rücksichtslos und egomanisch versucht, bei sich Werte und Ressourcen in Form von Geldäquivalenten, Grundstücken und Produktionsanlagen aufzuhäufen. Gier ist die psychische Grundstruktur und Motivationslage des neoliberalisierten Kapitalismus. Gier hat dazu geführt, dass inzwischen ein Prozent der Menschheit so viel besitzt wie die übrigen 99%. [19]
Gier zeigt sich auch im massenhaften Versuch der Vermögenden, ihr zusammengerafftes Geld ohne Versteuerung ins Ausland zu schaffen – so thematisiert Hans-Jürgen Burchardt (2017) im Interview die Kapitalflucht und den Steuerbetrug über Konten auf den Cayman Islands oder nach Panama:
„In den Panama-Papieren tauchten aber 28 deutsche Banken auf, darunter sechs der sieben größten Geldhäuser. Neben England, Schweiz und Luxemburg gehört Deutschland mit Platz acht zu den elf Ländern, die illegitime Finanzflüsse weltweit am stärksten begünstigen. Das geschätzte Vermögen von Ausländern in Deutschland, über die sie zuhause keine Rechenschaft ablegen müssen, beträgt circa drei Billionen Euro. Darunter ist auch viel Geld, das in Entwicklungsländern erwirtschaftet und von den dortigen Eliten ins Ausland geschafft wurde. Diese Fakten machen zweierlei deutlich: Armut - hier wie anderorts - beruht nicht auf einem Mangel an Ressourcen, sondern auf ungleicher Verteilung sowie legaler und illegaler Steuervermeidung. Und die deutsche und europäische Politik hat alle Möglichkeiten, dagegen vorzugehen.“ [20]
Die ökonomische Gier zeigt sich nicht nur auf individueller sondern auch auf kollektiv-kontinentaler Ebene, wo reiche Kontinente und Regionen ärmere Regionen und Erdteile noch über das existierende Ungleichheitsniveau ausbeuten wollen. So verlangt die EU im Zuge der durch die Weltbank und den IWF gesteuerten Liberalisierung und Deregulierung des Welthandels (‚Washington Consensus‘) von Ländern des Kontinents Afrika den Abbau von Schutzzöllen, wobei EU-Produzenten gleichzeitig EU-subventionierte landwirtschaftliche Produkte und US-Konzerne ihre subventionierte Produktion in einem neokolonialen Sinne auf den afrikanischen Markt werfen:
„Die europäischen Handelsabkommen mit afrikanischen Ländern pochen bisher auf eine radikale Marktöffnung Afrikas. Dies verführt dazu, die mit EU-Subventionen hochgetriebenen, landwirtschaftlichen Überschüsse in Afrika abzusetzen: So hat zum Beispiel in den letzten Jahren der Verkauf von europäischen Milchprodukten, Fleisch oder Geflügel auf afrikanischen Märkten deutlich zugenommen. Gegen diese oft hochsubventionierten Lebensmittel können die afrikanischen Kleinbauern - die Mehrheit der Erwerbsbevölkerung - nicht konkurrieren. Sie verlieren ihre Einkommensquelle und migrieren in die Städte. Dort erfahren sie, dass dank EU-Handelsverträge auch die wenigen lokalen Industrien bald mit weltmarktgestählten EU-Unternehmen im ruinösen Wettbewerb stehen werden und auf mehr Beschäftigung kaum zu hoffen ist. Wem ist es dann zu verdenken, wenn er auf die Bremer Stadtmusikanten hört, die uns einst lehrten: Etwas Besseres als den Tod finden wir überall! Wir müssen uns heute entscheiden, ob wir unsere Abkommen mit Afrika auf eine echte Partnerschaft ausrichten wollen oder ob wir die afrikanische Wirtschaft zu einem Ramschbasar deklassieren, der immer mehr Menschen zwingt, ihr Glück woanders zu suchen.“ [21]
Nadège Compaoré (2017, 3) kritisiert in diesem Zusammenhang die Ausbeutung der afrikanischen Bodenschätze durch ausländische Minengesellschaften und Investoren („structural power imbalances in Africas mining sector“). Auch hier zeigt sich das Phänomen des ungleichen Tauschs (Senghaas 1974), bei dem Bodenschätze in den Ländern des Südens billigst eingekauft und fertig produzierte, technische Güter des Nordens teuer zurück verkauft werden. Die Politikwissenschaftlerin Compaoré fordert, dass der Mineralreichtum Afrikas zum Wohle der dort lebenden Menschen („Mineral wealth can be garnered to benefit its people“ (Compaoré 2017,5)) verwendet werde und fordert inklusive Partizipationsprozesse über das Einwirken von zivilgesellschaftlichen Gruppen und lokalen Kommunen.
Der Ökonom Franklin Obeng-Odoom (2020, 2021) analysiert das gleiche Phänomen hinsichtlich der Privatisierung von Land und des afrikanischen Land-Grabbings, bei dem die Menschen von ihrem Land, auf dem sie seit Generationen lebten und Landwirtschaft betrieben, vertrieben werden oder dort in Leibeigenschaft der Großgrundbesitzer geraten. Die Privatisierung von in Gemeineigentum befindlichen Landes im Rahmen kolonialer und postkolonialer Prozesse und Strukturen bezeichnet er als die „tragedy of the commons“ und fordert eine Dekolonialisierung des Landes in einem großen Maßstab. Hiermit meint er nicht die Nationalisierung bzw. Verstaatlichung von Land sondern dessen Vergesellschaftung, d.h. die angemessene Beteiligung an den Gewinnen und Landrechte für diejenigen, die dort arbeiten und produzieren sowie sich selbst organisieren. Obeng-Odoom betont die Wichtigkeit des Umgangs mit Land in der Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse und kapitalistischer Ökonomie aber auch für die Menschen selbst:
„ … land is not capital as in the conventional sense and land is not one thing, but rights and interests. It is, for many people, identity, another name for nature or spirit. Land is power.“ (Obeng-Odoom 2021)
Die negativen Folgen der Gier zeigen sich nicht nur in Bezug auf ärmere Gesellschaften, sondern durchdringen gerade hinsichtlich der Produktion von Waffen auch in brutaler und destruktiver Weise reichere Gesellschaften. Jedes Jahr werden in den USA Menschen in der Größenordnung einer mittelgroßen Stadt mit Schusswaffen umgebracht. Die Morde an US-Schulen an Schülern und Lehrern zeigen auf erschreckende Weise, wie sich die Waffenindustrie durchsetzen kann und Hürden für den Waffenerwerb durch Lobbytätigkeit, Kaufen von Spitzenpolitikern und großzügigen Wahlkampfspenden an die Regierenden gering gehalten werden.
Die Politikwissenschaftler Ulrich Brand und Markus Wissen (2017) machen deutlich, dass diese Form der kollektiven westlichen Gier und insbesondere der Bedürfnisstruktur der herrschenden und profitierenden Eliten in eine imperiale Lebensweise eingebunden ist. Imperiale Lebensweisen beruhen auf einer Mentalität, die davon ausgeht, dass ein Teil der globalen Gesellschaft berechtigt ist, von den Ressourcen, wie Arbeitskraft und Bodenschätze, des anderen Teils zu leben. Hierbei wird von den Profitierenden wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass ihr gutes Leben durch das schlechte Leben der anderen ermöglich werden könne. Ressourcenverschwendung, Umweltverschmutzung und Klimazerstörung werden für das eigene Lebensniveau in Kauf genommen. Die negativen Effekte werden aber zum großen Teil externalisiert, d.h. den ärmeren Teilen der Welt überlassen. Dies sei als hegemonialer Konsens in den Gesellschaften insbesondere des globalen Nordens aber auch im Denken der profitierenden und oftmals korrupten Eliten des globalen Südens verankert:
„Die imperiale Lebensweise ist ein wesentliches Moment in der Reproduktion kapitalistischer Gesellschaften. Sie stellt sich über Diskurse und Weltauffassungen her, wird in Praxen und Institutionen verfestigt, ist Ergebnis sozialer Auseinandersetzungen in der Zivilgesellschaft und im Staat. Sie basiert auf Ungleichheit, Macht und Herrschaft, mitunter auf Gewalt und bringt diese gleichzeitig hervor. Sie ist den Subjekten nicht äußerlich. Vielmehr bringt sie die Subjekte in ihrem Alltagsverstand (…) hervor, normiert sie und macht sie gleichzeitig handlungsfähig: als Frauen und Männer, als nutzenmaximierende und sich anderen überlegen fühlende Individuen, als nach bestimmten Formen des guten Lebens Strebende.“ [22]
Dies bedeutet dann auch, dass Gier und imperiale Lebensweise kein losgelöstes psychologisches Konstrukt bzw. Lebensstilelement sind, sondern in den strukturellen Bedingungen des Produzierens und des Warencharakters der erzeugten Produkte verankert sind. So viel anzuhäufen und zu konsumieren, wie möglich, ist Merkmal des kapitalistischen Gesellschaftssystems. Immer mehr besitzen, Krisen ausnutzen und die Profitrate vergrößern, auf Wirtschaftswachstum setzen, Mitmenschen als funktionales Humankapital zu behandeln, spekulative Gewinne erzielen, um das private Eigentum zu maximieren, sind Verhaltensweisen, die systemimmanent und Ausdruck eines allgemein anerkannten und medial verstärkten kapitalistischen Wertekonsenses sind.
Hegemonie in diesem Sinne heißt nicht nur, dass manifester Herrschaftsdruck ausgeübt wird, um die vorherrschenden Verhältnisse zu stabilisieren, sondern auch dass eine latente Manipulation der Menschen stattfindet. Es gelingt denjenigen Herrschaftsschichten, die im globalen Norden übermäßig von ungehemmten Wirtschaftswachstum, aber auch in Krisenzeiten in Zeiten der Rezession, profitieren, auch in den Mittelschichten bis in die sozial abgestuften Schichten hinein ein Bewusstsein zu verankern, dass der Kapitalismus, Profitstreben, Naturverschleiß, Konsumdenken, Niedriglöhne und bedingungslose Orientierung am Wirtschaftswachstum unumstößliche Größen sind. In diesem Sinne analysiert Alexander Behr (2022, 57):
„Dies führt dazu, dass relevante Teile der Bevölkerung den herrschenden Verhältnissen zustimmen und sie als alternativlos empfinden. Endloses Wirtschaftswachstum, die Ausbeutung von Mensch und Natur sowie die Entwicklung ständig neuer Konsumgüter gelten als Garanten für Wohlstand, Prosperität und Sicherheit. Über das anzustrebende Konsumniveau herrscht ein weitreichender gesellschaftlicher Konsens: Es gilt als wünschenswert und normal, dass eine mittelständische Familie eines oder mehrere Autos besitzt, aus Modegründen regelmäßig neue Kleidung kauft oder mit dem Flugzeug in den Urlaub fliegt. Wer dies nicht tut, dem fehlen in der Regel die Mittel dafür – nur eine Minderheit reduziert aus freier Entscheidung das eigene Konsumniveau.“
Anmerkungen:
(Vollständige Quellenangabe zum Ende der Unterseite https://www.klaus-moegling.de/international-edition/)
[1] Marx/Engels (1848/1983, 27).
[2] Stiglitz (2019).
[3] Vgl. hierzu ausführlich u.a. Altvater (2006) und Wagenknecht (2008).
[4] Sabine Kurtenbach im Interview mit Jonas Seufert: https://www.fluter.de/politische-situation-in-suedamerika, 20.6.2019, 30.7.2019.
[5] Vgl. z.B. https://amerika21.de/video/129730/cia-verschwoerung-allende, 14.9.2015, 24.9.2019; insbesondere hier das Videointerview mit dem Lateinamerika-Experten Harald Neuber. Vgl. hierzu auch das Spiegel-Interview mit dem Dokumentarfilmer Patrizio Guzmán: https://www.spiegel.de/geschichte/40-jahre-pinochet-putsch-gegen-die-regierung-allende-nachts-hoerten-wir-die-schuesse-der-exekutionen-a-951404.html, 11.9.2013, 24.9.19.
[6] Vgl. Erhardt (2009).
[7] Vgl. u.a. Senghaas (1974).
[8] Vgl. hierzu in den Einzelheiten über die Macht der Konzerne Bode (2018).
[9] Vgl. Lenin (1917/1970, 94f.).
[10] Vgl. hierzu Kapitel 2.7.
[11] Vgl. Bode (2018, 33ff.).
[12] Vgl. ausführlicher hierzu Brand/ Wissen (2017)
[13] Zur Kritik am Washington Consensus und der entsprechenden institutionellen Politik vgl. auch Stiglitz (2002, 2010).
[14] Stiglitz (2019).
[15] Stiglitz (2019b).
[16] Chomsky (2000, 50).
[17] Lenin (1917/1970, 133).
[18] Vgl. auch Altvater (2006) und Scherrer (2015).
[19] Vgl. OXFAM Deutschland (2018, 4).
[20] Burchhardt (2017).[
21] Burchhardt (2017).
[22] Brand/ Wissen (2017, 45)
(....)
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Ergänzender Artikel zum Buchtext
Widerstand gegen den Energy Charter Treaty (ECT)
von Klaus Moegling
26.10.2022, letzte Aktualisierung: 5.11.2022
Eine Handvoll junger Menschen aus Europa klagt gegen den Energie-Charta-Vertrag. Sie wollen verhindern, dass multinationale Energiekonzerne zukünftig Staaten, die sich in der sozialökologischen Transformation befinden, vor internationalen Schiedsgerichten verklagen können. Auch zahlreiche NGOs und mehrere EU-Regierungen kritisieren den Ende des Jahres auf europäischer Ebene zur Abstimmung stehenden Vorschlag der EU-Kommission eines modernisierten ECT.
(Inzwischen hat die deutsche Bundesregierung den Austritt aus dem Energie-Charta-Vertrag beschlossen. Allerdings sind noch 20 Jahre Klagen von Energie-Konzernen gegen sich sozialökologisch transformierende Staaten möglich (siehe unten))
Kaum bemerkt von der Öffentlichkeit unterzeichneten u.a. die EU-Staaten rechtsverbindlich 1994 einen 1998 in Kraft getretenen internationalen Vertrag, der insbesondere dazu diente, Investitions- und Handelssicherheit für multinationale Energiekonzerne zu schaffen, die damals in den rechtlich unsicheren Verhältnissen in Osteuropa und Zentralasien investieren wollten. Inzwischen sind dem Energy Charter Treaty (ECT) 51 Staaten aus Europa und Asien sowie die EU und EURATOM beigetreten. Des Weiteren bezieht sich der Vertrag – entgegen seiner ursprünglichen Intention – nun auch maßgeblich auf die energiewirtschaftliche Investitionstätigkeit innerhalb der EU. Der Vertrag, der das Risiko für eine Investitionstätigkeit im Bereich der Energiewirtschaft postsowjetischer Staaten vermindern sollte, führte vor allem zu Klagen gegen EU-Staaten in Milliardenhöhe. Besonders strittig ist hierbei die im Vertrag verankerte Funktion internationaler Sondergerichte, die zum Teil in den USA sitzen und EU-Recht nicht anerkennen. Sie entscheiden in intransparenten Verfahren, wenn ein Konzern einen Staat verklagt, der ökologische Reformen vornimmt, von denen sich dieser Konzern benachteiligt fühlt. So verklagte RWE den niederländischen Staat, da dieser den Kohleausstieg auf das Jahr 2030 vorziehen wollte. Auch die hohen Abfindungssummen des deutschen Staates für den schwedischen Konzern Vattenfall im Zuge des deutschen Ausstiegs aus den Kernkraftwerken sind vor dem Hintergrund des ECT zu sehen. So klagte beispielsweise auch der britische Ölkonzern Rockhopper Explorations den Staat Italien aufgrund verweigerter Bohrgenehmigungen vor der italienischen Küste (Region Abruzzen). Slowenien wurde verklagt, da es von Konzernen ein Gutachten zur Umweltverträglichkeit von Fracking verlangte. Bis heute sind 150 Investorenklagen vor dem Hintergrund des ECT bekannt. [1]
Der Absatz 16 des Vertrags über die Energiecharta legt die Bestimmungen zu den Sondergerichten fest:
„Ist ein Investor einer anderen Vertragspartei der Auffassung, daß eine Regierung ihren nach den Investitionsschutzbestimmungen zu erfüllenden Verpflichtungen nicht nachgekommen ist, dann kann der Investor vorbehaltlich der bedingungslosen Zustimmung der Vertragspartei im Hinblick auf die Beilegung entweder das nationale Gericht befassen oder eine internationale Schiedsstelle (ICSID, die Zusatzeinrichtung des ICSID, das UNCITRAL oder die Stockholmer Handelskammer) einschalten.“ [2]
Dies bedeutet, dass unter dem Vorwand des Investitionsschutzes Staaten mit Milliardenklagen multinationaler Energiekonzerne überzogen werden können, wenn sie konsequente Maßnahmen gegen die eintretende Klimakatastrophe ergreifen oder der Gefährlichkeit von AKWs und der fehlenden Entsorgung radioaktiven Materials begegnen wollen. Hierbei können nicht nur entstandene Kosten sondern auch entgangene Gewinne eingeklagt werden. Derartige Vertragsdetails werden nur selten in der Medienöffentlichkeit thematisiert. Die Berliner Zeitschrift ‚Der Tagesspiegel‘, auf die sich hier u.a. bezogen werden soll, war eine der wenigen Zeitschriften, die ausführlich über die Problematik des Energiecharta-Vertrags und die laufenden Verhandlungen im Jahr 2022 berichteten [3].
Europäische Regierungen fordern einschneidende Reformen des ECT
Die NGO ‚Investigate Europe‘ [4] berechnete, dass es zukünftig um ein Klagevolumen von ca. 345 Milliarden Euro (!) gegen EU-Staaten gehen werde. Hierbei ist in diese Berechnung insbesondere der geschätzte Wert von erschließbaren Öl- und Gasfeldern im europäischen Raum eingeflossen.
Regierungen würden bereits im Vorfeld gesetzlicher Regelungen mögliche Investorenklagen von Energieunternehmen berücksichtigen und ihre Gesetzgebung entsprechend anpassen. Die Sorge vor Investorenklagen würde daher die notwendigen Gesetze für eine konsequente Bekämpfung der Klimakrise verhindern.
Seit 2017 sind daher angesichts dieses Klagerisikos Forderungen europäischer Staaten nach einer einschneidenden Veränderung des Energiecharta-Vertrags erhoben worden. Die EU-Kommission verhandelte dann auch einen veränderten ECT und bezeichnete das neue Vertragswerk [5], das im Juni 2022 abgeschlossen wurde, als Verhandlungserfolg, da er nun den EU-Klimazielen angepasst sei. Doch verschiedene europäische Vertragsstaaten sahen dies anders. Zwar würden neue fossile Unternehmensinvestitionen zukünftig nicht mehr durch den Vertrag geschützt werden. Der Schutz gelte nun vor allem für Investitionen in Wasserstoff und erneuerbare Energien, aber bereits bestehende Investitionen in die Fossilwirtschaft würden noch weitere 10 bis 20 Jahre Investitionsschutz und damit verbunden die Klagemöglichkeit vor den fragwürdigen internationalen Schiedsgerichten besitzen. Investitionen in die Förderung von Gasvorkommen würden sogar noch bis 2040 geschützt sein. Dies wäre ein erhebliches Hindernis für die gerade in der nächsten Dekade zu leistenden Energiewende und den wirkungsvollen Kampf gegen die Klimakrise.
Problematisch ist auch im Modernisierungsvorschlag der EU-Kommission der zeitlich unbegrenzte Schutz von Kernkraftwerken, da die mit der zivilen Nutzung der Atomenergie verbundenen Probleme noch nicht gelöst sind (wenn dies überhaupt lösbar ist).
Aber auch den bisherigen Energie-Charta-Vertrag unterstützende Staaten, wie Japan und Großbritannien sowie Erdöl exportierende Staaten wie Kasachstan und Turkmenistan, wenden sich gegen den reformierten ECT der EU-Kommission [6]. Derartige auf Fossilwirtschaft und z.T. auf Atomindustrie basierende Staaten möchten überhaupt keine Veränderungen des ursprünglichen ECT vornehmen. So kündigt Japan an, den modernisierten Vertragsvorschlag der EU-Kommission zu blockieren.
Forderungen nach dem Austritt aus dem Energiecharta-Vertrag
Dementsprechend überlegen derzeit verschiedene europäische Staaten, aus dem internationalen Vertragswerk des ECT auszusteigen. Italien hat den ECT bereits 2016 aufgekündigt. Spanien und die Niederlande wollen ebenfalls voraussichtlich den ECT verlassen, Deutschland und Frankreich prüfen die Möglichkeit, den Vertrag auch unter den reformierten Bedingungen zu kündigen.
In einem offenen Brief von 78 internationalen Klimawissenschaftler:innen kritisieren diese den Reformentwurf und fordern u.a. von der EU-Kommission und dem Rat der EU einen Austritt aus dem Energie-Charta-Vertrag, da ansonsten aufgrund der staatlichen Maßnahmen gegen die Klimakrise eine Vielzahl von Investor-State-Dispute-Settlements (ISDS, also Klagen von Investoren vor internationalen Schiedsgerichten) zu erwarten seien – so die Wissenschaftler:innen:
„By maintaining in the modernised ECT the protection of foreign investment in existing fossil fuels, EU countries will have to choose between keeping the existing fossil fuel infrastructure running until the end of their lifetimes or facing new ISDS claims. Both options will jeopardise the EU climate neutrality target and the EU Green deal.“ [7]
Diese Kritik an dem Entwurf eines modernisierten Energiecharta-Vertrags wird von zahlreichen NGOs, wie z.B. dem Climate Action Network Europe (CAN) oder ATTAC geteilt. Bereits 2021 zählte die Süddeutsche Zeitung [8] in ihrem Bericht über den ECT Hunderte Wissenschaftler und mehr als 250 Mitglieder des Europäischen Parlaments, die einen Austritt aus dem ursprünglichen Vertrag fordern würden. Mehr als eine Million Menschen in Europa hatten im März 2021, bereits zwei Wochen nach deren Veröffentlichung, eine Petition [9] gegen den ECT unterschrieben.
Der modernisierte Energie-Charta-Vertrag muss nun im November 2022 einstimmig von den ECT-Vertragsparteien angenommen werden. Dies ist sicherlich fraglich, ob eine derartige Annahme des Entwurfs der EU-Kommission gelingen wird. Auch müssen hiernach der EU-Rat und das EU-Parlament dem Vertragsentwurf zustimmen. Des Weiteren müssten die nationalen Parlamente der Mitgliedsstaaten dem Vertrag zustimmen. Dies wäre ein Prozess, der sich noch Jahre hinziehen könnte. [10]
Im September 2021 hatte übrigens bereits der Europäische Gerichtshof (EuGH) ein Urteil gefällt, dass die Anwendung von Bestimmungen des Energiecharta-Vertrags auf Rechtsansprüche im innereuropäischen Verhältnis europarechtlich nicht zulässig sei. Die Klage innereuropäischer Gegnerparteien vor internationalen Schiedsgerichten sei nicht mit dem europäischen Recht vereinbar. Gegner des ECT würdigten daher das EuGH-Urteil als die Beerdigung des Vertragswerkes. Dennoch hielt dies Unternehmen und Schiedsgerichte nicht davon ab [11], weitere Klagen einzureichen bzw. zuzulassen.
Eine 17-jährige Klimaaktivistin von Fridays for Future klagt gegen den ECT.
Gemeinsam mit einigen anderen jungen europäischen Klimaaktivisten reichte die Schülerin Julia, die aus dem von der Klimakrise massiv betroffenen Ahrtal stammt, im Juli 2022 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Klage gegen zwölf europäische Staaten ein. Die Klage will erreichen, dass diese Staaten aus dem Energiecharta-Vertrag austreten. Eine französische Anwältin und mehrere NGOs unterstützen diese Klage.
Julia, die die katastrophalen Folgen der Klimakrise im Ahrtal selbst erfahren hat, ist der Auffassung, dass der Energiecharta-Vertrag den Kampf gegen die Klimakrise erschweren bzw. behindern würde. Er sei im Interesse der Fossilwirtschaft verfasst, auch in seiner modernisierten Form, und sei mit der notwendigen Energiewende im Sinne der Pariser Klima-Verträge unvereinbar. Die Klagemöglichkeit von Energie-Konzernen gegen Staaten in Milliardenhöhe stellt aus ihrer Sicht eine Verhinderung von staatlichen Maßnahmen zum Schutz des Klimas und damit auch eine massive Beeinträchtigung der Menschenrechte dar – so Julia:
„Ich habe das erlebt. Ich weiß, was Klimakrise macht. Also wenn so etwas passiert und nicht ausreichend gehandelt wird, was muss dann noch passieren? (…) Ich fühle mich direkt in meinen Menschenrechten verletzt.“ [12]
Austritt oder einschneidende Reform des ECT?
Der Austritt von Staaten aus dem Energiecharta-Vertrag, die mit der sozialökologischen Transformation angesichts der Klimakrise ernst machen wollen, scheint auf den ersten Blick ein plausibles Anliegen zu sein. Italien hat bereits 2016 diesen Schritt gewagt. Fakt aber ist, dass Italien, laut Vertrag, von 2016 an noch 20 Jahre von Fossilunternehmen verklagt werden kann, wenn Italien deren Investitionen behindere bzw. beeinträchtige. Ein Austritt europäischer Staaten würde also in den nächsten beiden, für die Bekämpfung der Klimakrise entscheidenden, Dekaden wenig ändern. Daher müsste m.E. eher eine deutlichere Überarbeitung des Energy Charta Treaty mit dem Ziel erfolgen, vor allem Investitionssicherheit für Energieunternehmen zu schaffen, die in erneuerbare Energien und in die zukünftige Wasserstoffwirtschaft investieren. Eine weitere Klagefrist für Fossilunternehmen vor Sondergerichten ist im Einklang mit europäischem Recht auszuschließen.
Der bisherige Modernisierungsvorschlag der EU-Kommission ist daher kritisch zu betrachten, da er zudem noch zwischen 10-20 Jahren Investitionssicherheit und die entsprechende Klagemöglichkeit vor internationalen Schiedsgerichten für die Fossilwirtschaft (Öl, Gas, Kohle) gewährleistet. Auch müsste das intransparente Klageverfahren zugunsten einer Klagemöglichkeit vor europäischen Gerichten beseitigt werden, die den Rechtsansprüchen des EuGH entsprechen. Eine weiterhin geltende Paralleljustiz widerspricht [13] europäischem Recht.
Es verwundert, dass über die genannten Aktivitäten im Widerstand gegen die Modernisierung des ECT kein größeres Protestpotenzial in der europäischen Bevölkerung ausgelöst wird – so wie es vor ein paar Jahren bei den weltweiten Protesten gegen die internationalen Investitionsschutz- und Handelsabkommen TTIP und CETA noch der Fall war.
Eine weitere Information [14] der internationalen Journalisten-NGO ‚Investigate Europe‘ könnte hier noch einmal als Weckruf wirken – nämlich,
· „dass an den Schiedsgerichten ein kleiner Zirkel von Anwälten tätig ist, die mitunter in den Verfahren mal als Schiedsrichter und mal als Anwalt fossiler Konzerne arbeiten. Im Gespräch mit ‚Investigate Europe‘ nennt ein Schiedsrichter dies unethisch. Die Gehälter der Schiedsrichter sind zudem nahezu unbegrenzt und werden auch aus Steuergeldern bezahlt.
· dass selbst Juristen das System der Schiedsrichter und des Energiecharta-Vertrags längst kritisch sehen. In Gesprächen mit ‚Investigate Europe‘ bezeichneten sie dieses als ‚russisches Roulette‘ sowie als ‚historischen Fehler‘.“
Die gegenwärtigen Ereignisse um den Krieg in der Ukraine scheinen die Öffentlichkeit sehr stark in ihrer Aufmerksamkeit zu fokussieren und von anderen drängenden Fragen abzulenken. Es ist zumindest zu hoffen, dass u.a. die Mitglieder des EU-Parlaments der Tragweite zukünftiger Beschlüsse hinsichtlich des Energiecharta-Vertrags weiterhin ihre kritische Aufmerksamkeit zuwenden. Wenn das EU-Parlament seine kürzlich beschlossene Resolution [15] zur Beendigung fossiler Energiewirtschaft und zur Stärkung erneuerbarer Energien ernst nimmt, dann kann es keine Klagemöglichkeit zwischen 10 und 20 Jahren hinnehmen, wenn Konzerne ihre an fossiler Energieproduktion orientierten Interessen beeinträchtigt sehen. Hier ist das EU-Parlament gefordert, sich nicht wieder – wie bei der Zustimmung zum Greenwashing der EU-Nachhaltigkeits-Taxonomie [16] – den Vorgaben der EU-Kommission mehrheitlich zu beugen.
Der ursprüngliche, noch geltende, Energy Charter Treaty ist der Versuch der neoliberalen politischen und ökonomischen Fraktion des Kapitalismus, Extra-Profite auf Kosten der Steuerzahler herauszuholen und gleichzeitig die Abkehr von der Nutzung fossiler Rohstoffe zu behindern. Hier handelt es sich um einen massiven Versuch der Privatisierung öffentlicher Gelder. Auch der modernisierte Vertragsentwurf ist noch z.T. von den Problemen des ursprünglichen Vertrags belastet. Wenn aber die Transformation des ECT nicht gelingt, würde sich an dieser Situation erneut die Unvereinbarkeit von Demokratie und ungebremstem Kapitalismus zeigen. Die Mehrheit der Bevölkerung würde sicherlich nicht einsehen wollen, warum sich Fossilkonzerne noch in der entscheidenden Phase sozialökologischer Transformation und der Bekämpfung der bereits eintretenden Klimakatastrophe mit Hilfe von intransparenten Klagen vor internationalen Schiedsgerichten auf ihre und nachfolgender Generationen Kosten bereichern können.
Fazit und offene Fragen
Meiner Meinung nach sollte eine radikale Modernisierung des Vertrags nach einem möglichen Veto des EU-Parlaments zum aktuellen Modernisierungsvorschlag der EU-Kommission versucht werden. Hierbei sollte ein Investitionsschutz für Ökologie feindliche Konzerne (Öl, Gas, Kohle) ausgesetzt werden. Auch dürften Investitionen in Kernkraftwerke zukünftig nicht mehr durch den modernisierten ECT geschützt werden, da hier weder die Entsorgungsmöglichkeit noch die Frage der Reaktorsicherheit geklärt sind.
Der Investitionsschutz darf sich nur auf Investitionen in die sozialökologische Transformation beziehen. Wenn eine derartige Modernisierung des ECT auf EU-Ebene nicht gelingt (was wahrscheinlich ist), sollten immer mehr Staaten aus dem Energiecharta-Vertrag aussteigen, bis dieser dadurch unwirksam wird bzw. kaum noch internationale Relevanz besitzt. Die Regierungen von Spanien, der Niederlande, Polens, Sloweniens sowie Italiens (bereits ausgetreten) haben bereits entsprechende Ankündigungen vorgenommen. Deutschland und Frankreich denken derzeit über einen Austritt nach. Voraussetzung hierfür ist, dass z.B. die europäische Gerichtsbarkeit sich gegen die europarechtliche Missachtung von Seiten der internationalen Schiedsgerichte durchsetzt und die Beendigung der Gültigkeitsklausel des ECT erreicht wird, die austretende Staaten noch zu 20 Jahren Investitionsschutz für Investitionen in fossile Energien verpflichtet ('Sunset-Klausel').
Anschließend ist auf globaler Ebene, z.B. unter dem Dach der UN, ein neuer Investitionssicherungsvertrag für Investitionen im Kampf gegen die eintretende Klimakatastrophe auszuhandeln, an dem alle UN-Staaten teilnehmen können. Dieser Vertrag müsste ohne die eine intransparente Paralleljustiz darstellenden internationalen Schiedsgerichte auskommen können. Im Konfliktfall müssten die nationale Gerichtsbarkeit und die zuständigen UN-Institutionen ausreichen, wenn ein Staat seinem Investitionsschutz nicht nachkommt. Hierbei ist auch über die Einrichtung eines multilateralen Gerichtshofs unter dem Dach der UN nachzudenken, im Rahmen dessen unabhängige und auf internationales Recht spezialisierte Richter Klagen gegen staatliche Verstöße gegen den Schutz von Klima-Investitionen verhandeln. [17]
Offene rechtliche sowie politisch zu klärende Fragen könnten sein:
* Die internationalen Schiedsgerichte erkennen das EuGH-Urteil von 2021 nicht an, das besagt, dass die zwischen europäischen Gegnern durchgeführten internationalen Schiedsgerichtsverfahren nach EU-Recht unzulässig sind. Welches Recht gilt nun?
* In diesem Sinne: Wie stark sind Staaten überhaupt an internationale Schiedsgerichtsverfahren gebunden, wenn deren Urteile EU-Recht und auch nationalem Recht widersprechen würden?
* Sind internationale Schiedsgerichte, deren Mitglieder überhaupt keine Richter sind und die intransparent entscheiden, überhaupt für Demokratien zulässig?
* Was passiert, wenn die EU zu keiner mehrheitsfähigen Auffassung kommt, ob sie den modernisierten Vertrag akzeptiert oder für einen Ausstieg plädiert?
* Wie kann eine Investitionssicherheit für Investoren auf internationaler Ebene initiiert und durchgesetzt werden, die in erneuerbare Energien investieren?
* Wie kann eine Diskriminierung von binnenländischen Investoren verhindert werden, die z.B. als Genossenschaften in Windparks investieren? Der ECT - auch die modernisierte Variante - schützt nur Konzerne aus anderen ECT-Staaten.
* In diesem Zusammenhang ist zu klären: Was sind überhaupt erneuerbare Energien? Auch Biogas, Biomasse? Wasserstoff? Was ist mit Techniken wie z.B. 'Carbon capture' und 'Carbon storage'?
* Inwieweit ist ein neuer auf regenerative Energien ausgerichteter ökologischer Investitionssicherungsvertrag mit der Nachhaltigkeits-Taxonomie der EU kompatibel, die in einem umstrittenen Verfahren die Nachhaltigkeit von Kernkraft und Gas unter bestimmten Voraussetzungen festlegt? (Dies wird allerdings von Österreich vor dem EuGH beklagt.)
* Was bedeutet die vorgesehene Ausweitung des ECT auf ca. 40 weitere Staaten in Afrika und Südostasien für die Zukunft dieser Länder, von denen viele Staaten Entwicklungsländer sind?
* Müsste nicht der Investitionsschutz für Investitionen der Fossilindustrie auch aus anderen internationalen Investitionsschutz- und Handelsverträgen herausgenommen werden, wie z.B. bei CETA?
* Und letztlich: Müsste die Entwicklung eines ökologisch orientierten Investitionssicherungsvertrags nicht eine dringende Angelegenheit der UN sein, wenn der künftig geltende Energiecharta-Vertrag gegen die Klimaschutzziele der Vereinten Nationen verstoßen und deren Umsetzung behindern sollte? Sollten die UN nicht initiativ für die Einrichtung eines qualifizierten, unabhängigen und an transparenten Verfahren interessierten multilateralen Gerichtshof werden, der Investitionsstreitigkeiten verhandelt?
Dies alles sind m.E. wichtige Fragen, die es im politischen Diskurs zu klären gilt, wenn am 22.11.2022 die ECT-Vertragsstaaten ihre Entscheidung zum Modernisierungsvorschlag der EU-Kommission gefällt haben. Die umfassende Tragweite und Vielschichtigkeit eines derartigen Vertrags dürfte deutlich gemacht haben, dass bei neuen Vertragsverhandlungen verantwortungsvoller mit dem Blick auf die Klimaentwicklung und damit verbunden auch mit den sozialen Verwerfungen umgegangen werden muss, die letztlich ein derartiger Investitionsschutz- und Handelsvertrag auslösen kann. [18]
(Dies ist ein überarbeiteter und aktualisierter Artikel, der ursprünglich in einer früheren Fassung in Telepolis unter dem Titel ‚Julia gegen den Energiecharta-Vertrag‘ publiziert wurde. In: Telepolis, https://www.heise.de/tp/features/Julia-gegen-den-Energiecharta-Vertrag-7317343.html, 23.10.2022, 24.10.2022.)
Anmerkungen:
[1] Vgl. zur Anzahl der Investorenklagen in Anmerkung 1: https://endfossilprotection.org/sites/default/files/2022-06/2022-06-21%20Letter%20from%20climate%20scientists%20to%20EU%20leaders.pdf, o.D., entnommen 26.10.2022, vgl. zu den Beispielen für Klagen u.a. https://www.energiezukunft.eu/politik/italien-verliert-energiecharta-prozess-und-soll-oelkonzern-millionen-zahlen/, 26.8.2022, 26.10.2022.
[2] Text der Energiecharta: https://www.energycharter.org/fileadmin/DocumentsMedia/Legal/ECT-de.pdf, 1.10.1996, 26.10.2022.
[3] Vgl. z.B. Schulz, Florence (2022): Ringen um die Energiecharta. In: https://background.tagesspiegel.de/energie-klima/ringen-um-die-energiecharta, 21.6.2022, 21.10.2022 u. Schmidt, Nico (2022): Fliehkräfte in der Energiecharta wachsen. In: https://background.tagesspiegel.de/energie-klima/fliehkraefte-in-energiecharta-wachsen, 18.8.2022, 21.10.2022.
[4] Vgl. https://www.investigate-europe.eu/de/2021/energiecharta-vertrag/, Februar 2021, 26.10.2021.
[5] https://www.euractiv.com/wp-content/uploads/sites/2/2022/06/Agreement-in-principle-ECT_FS.pdf?_ga=2.172897254.419498057.1666437145-801624528.1643693634, 24.6.2022, 26.10.2022.
[6] Vgl. https://www.sueddeutsche.de/politik/energiecharta-klimaziele-schiedsgerichte-klagen-1.5223327, 4.3.2021, 21.10.2021.
[7] Vgl. https://endfossilprotection.org/sites/default/files/2022-06/2022-06-21%20Letter%20from%20climate%20scientists%20to%20EU%20leaders.pdf, o.D., 26.10.2022.[8] Vgl. https://www.sueddeutsche.de/politik/energiecharta-klimaziele-schiedsgerichte-klagen-1.5223327, 4.3.2021, 21.10.2021.
[9] Vgl. https://www.energiezukunft.eu/politik/austritt-unausweichlich/, 12.3.2021, 26.10.2022.
[10] Vgl. Schmidt, Nico (2022): Fliehkräfte in der Energiecharta wachsen. In: https://background.tagesspiegel.de/energie-klima/fliehkraefte-in-energiecharta-wachsen, 18.8.2022, 21.10.2022.
[11] Vgl. https://background.tagesspiegel.de/energie-klima/eugh-erklaert-energiecharta-vertrag-fuer-nicht-anwendbar, 3.9.2021, 26.10.2022.
[12] Nonninger, Bruno (2022): Julia aus dem Ahrtal klagt in Straßburg gegen den Klimaschutz. In: https://www.swr.de/heimat/eifel-ahr/warum-die-17-jaehrige-julia-aus-dem-ahrtal-in-strassburg-klagt-100.html, 22.7.2022, 26.10.2022.
[13] Vgl. hierzu https://www.windkraft-journal.de/2022/10/19/energiecharta-vertrag-ect-ermoeglicht-fossilen-konzernen-gegen-die-energiewende-zu-klagen/180736, 19.10.2022, 21.10.2022.
[14] Vgl. https://www.investigate-europe.eu/de/2021/energiecharta-vertrag/, Februar 2021, 26.10.2022.
[15] Vgl. https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/B-9-2022-0461_EN.html, 11.10.2022, 26.10.2022.
[16] Vgl. die kritische Analyse zur von der EU-Kommission vorgestellten und u.a. vom EU-Parlament mehrheitlich beschlossenen Nachhaltigkeits-Taxonomie: Moegling, Klaus (2022): Ist der Slogan "Atomkraft? – Nein danke!" jetzt zukunftsfeindlich?
https://www.heise.de/tp/features/Ist-der-Slogan-Atomkraft-Nein-danke-jetzt-zukunftsfeindlich-6346228.html, 3.2.2022, 26.10.2022.
[17] Vgl. hier die entsprechenden Vorschläge in: Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (o.D.): Investitionsschutz. In: https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Artikel/Aussenwirtschaft/investitionsschutz.html, o.D., 4.11.2022.
[18] Die NGO PowerShift ruft zu Eingaben an die Bundesregierung auf, damit Deutschland aus dem ECT aussteigt. Diese Aktion wird international und mit Bezug auf weitere nationale Regierungen durchgeführt. Dauer der Aktion: Bis zum 31.12.2022. Vgl. https://power-shift.de/exit-ect/, o.D., 5.11.2022.
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1.4 Militärische Krisen und Rüstungspolitik
1.4.1 Das Wachstum des militärischen
Gewaltpotenzials
1.4.1.1 Waffenexporte und der militärisch-ökonomische Komplex
Es ist nachvollziehbar, dass – solange noch kein stabiles und sicheres internationales System über die Vereinten Nationen existiert, solange hochgerüstete Staaten mit aggressiven geostrategischen Absichten vorhanden sind, Staaten bzw. Staatenverbünde trotz des Vorrangs der Diplomatie und internationalen Verständigung auch ein notwendiges Minimum an Wehrfähigkeit besitzen müssen. Die Produktion von Waffen sollte jedoch in staatlicher Kontrolle und nicht in privatwirtschaftlichen Händen liegen, da sich ansonsten ein militärisch-ökonomischer Komplex mit verhängnisvollen Interessensverflechtungen entwickelt.
Der militärisch-ökonomische Komplex soll hier als eine Ökonomie des Todes angesehen werden, die über militärische Aufrüstung, eine Steigerung von Waffenexporten und häufig brutale Zerstörung gesellschaftlicher Ordnungen in Form von Kriegen unterschiedlichster Art Renditen für ihre Anteilseigner erzeugt. [1] Eigentlich müsste von einem militärisch-ökonomischen-politischen Komplex gesprochen werden, da es die Politiker sind, die Kriegsentscheidungen fällen und Rüstungsausgaben kontrollieren. Rüstungsunternehmer, Kriegsherren, Rüstungslobbyisten und staatstragende Politiker bilden in der Regel – seien es nun formale Demokratien oder offene Diktaturen – eine Einheit mit oftmals miteinander kompatiblen Interessen. Oder anders formuliert: Ohne die medial geschürte Angst vor dem Gegner, ohne kriegerische Auseinandersetzungen, d.h. ohne das massenhafte Sterben von Menschen in den Kriegsgebieten, lassen sich in der Rüstungsindustrie keine nennenswerten Gewinne erzielen. Dies bedeutet, dass internationale tragfähige Abkommen zur Friedenssicherung nicht im Interesse der Rüstungsindustrie und der mit ihr verbundenen militärischen Führung sowie der kooperierenden (und hin und wieder auch profitierenden) Politikern sein können.
Hierbei darf nicht unerwähnt bleiben, dass nicht nur die Generalität, die Banken- und die Konzernchefs, Regierungspolitiker zum militärisch-ökonomischen Komplex gehören, sondern auch die Arbeitnehmer in der Rüstungsindustrie sowie die Soldaten in den Armeen. Beide Gruppierungen haben existenzielle Interessen am Funktionieren der Rüstungsindustrie und identifizieren sich weitgehend mit deren Zielen und Strukturen bzw. verlangen allenfalls noch eine zusätzliche Effizienzsteigerung.
Der damals scheidende US-Präsident Dwight D. Eisenhower – als Republikaner wahrlich kein politisch links stehender Kritiker des Systems – warnte bereits 1961 in einer Fernsehansprache vor dem militärisch-industriellen Komplex, der aus seiner Sicht dabei sei, die demokratische Staatsform mit seinem Einfluss zu unterlaufen. Eisenhower warnte eindringlich vor dem entdemokratisierenden Einfluss des militärisch-industriellen Komplexes:
„In the councils of government, we must guard against the acquisition of unwarranted influence, whether sought or unsought, by the military-industrial complex. The potential for the disastrous rise of misplaced power exists and will persist.
We must never let the weight of this combination endanger our liberties or democratic processes.“ [2]
Die Interessen des militärisch-ökonomischen Komplexes – Waffenexporte in Spannungsgebiete als Ausdruck moralischer Unterentwicklung
Greta Thunberg warf den auf dem UN-Klimagipfel vertretenen Staats- und Regierungschefs 2019 mit ihrem empörten „How dare you?!“ ihre Ignoranz und Untätigkeit angesichts der eintretenden Klimakrise vor. Müsste man nicht den gleichen empörten Vorwurf heute der Waffenindustrie machen und in der politischen Öffentlichkeit gegen die Regierungsvertreter erheben, die Waffenexporte in Spannungsgebiete genehmigen: „Wie können Sie es wagen!?“?
Ist die menschengemachte Klimakrise nicht vergleichbar mit den Waffenexporten in Spannungsgebiete? Die Klimakrise und ethisch nicht zu rechtfertigende Waffenexporte stellen ein globales Phänomen dar, das durch den Menschen verursacht wird. Auch in der durch Waffenexporte beschleunigten Destruktion von Gesellschaftssystemen gibt es Kippunkte und Rückkoppelungseffekte, wie dies ebenfalls bei der krisenhaften Entwicklung des Weltklimas der Fall ist. Letztlich bleiben eine sich steigernde Destruktionsdynamik mit Toten und Verletzten, Failed States, einer zerstörten Umwelt sowie zertrümmerten Gebäuden und Einrichtungen übrig.
Beides – Klimakrise und durch globalen Waffenexport verschärfte Kriegssituationen – entstehen aus dem gleichen Zustand moralischer Unterentwicklung, aus der gleichen unreifen Geisteshaltung, aus der heraus alles, was eine Rendite einbringt, trotz massiver Zerstörung von Lebensgrundlagen dennoch realisiert wird.
Gier als Ausdruck moralischer Unterentwicklung, ökonomische und politische Motive spielen eine zentrale Rolle beim Export von Rüstungsgütern in Spannungsgebiete. Hierbei sollen unter der Bezeichnung ‚Spannungsgebiete‘ alle Staaten und Regionen gemeint sein, in denen entweder zwischenstaatliche Kriege, asymmetrische Konflikte sowie massive staatlich organisierte Menschenrechtsverletzungen und staatlich organisierter Terror sowie Bürgerkriege drohen oder bereits existieren.
Es gibt allerdings eine einzige Ausnahme, wo Waffenexporte in Spannungsgebiete sinnvoll sind: Wenn ein Staat durch einen mächtigeren Staat angegriffen wird und alle Verhandlungsangebote vergebens sind, dann kann es legitim sein, den angegriffenen Staat sehr dosiert mit Waffenlieferungen zu unterstützen (und gleichzeitig die diplomatischen Bemühungen aufrecht zu erhalten). Die russische Invasion in die Ukraine stellt einen solchen Konfliktfall dar, der zu legitimen Waffenexporten in die Ukraine führte. Hierbei wäre es wichtig gewesen, eine verbindliche und prinzipiengeleitete ‚rote Linie‘ für die Waffenexporte zu formulieren, also was geliefert werden darf und was nicht. Auch sollten dies prioritär Waffen sein, wie Abwehrsysteme zum Abschuss angreifender Kampfjets oder Waffen zur Abwehr von Drohnenangriffen, sowie Waffen zur Abwehr angreifender Panzer, z.B. Panzerfäuste. Waffen, die primär zum Angriff gegen den angreifenden Staat im Landesinnern verwendet werden können, wie Raketen mit weiter Reichweite sowie Kampjets, müssten hier jenseits der friedenspolitisch vertretbaren Entscheidungen liegen.
Zu den ökonomischen Motiven des Rüstungsexportes auch in Spannungsgebiete lässt sich feststellen, dass die Rüstungsindustrie wachsende Renditen verzeichnet, steigende Aktienkurse notiert, bei Anlegern besonders nachgefragt ist und sich auch in Krisenzeiten in einem sicheren Verwertungszusammenhang befindet. [3]
Die genehmigenden Politiker_innen wiederum geben vor, Arbeitsplätze und Technologietransfer sichern zu wollen, haben z.T. ebenfalls ökonomische Interessen (‚Drehtüreffekt‘), stehen unter dem massiven Lobbydruck der Rüstungsindustrie und handeln aus dem Kalkül geostrategischer Interessen heraus.
Offiziell positioniert sich in Deutschland beispielsweise jeder politisch Verantwortliche, Wähler wirksam, gegen die Waffenexporte in Spannungsgebiete, da die nationale und internationale Rechtslage bzw. entsprechende Verordnungen hier inzwischen öffentlich wahrnehmbare Barrieren markieren. Auch sind Waffenexporte in Spannungsgebiete nicht populär. Die überwiegende Mehrheit (mehr als drei Viertel) der deutschen Bevölkerung lehnt Waffenexporte in Spannungsgebiete ab. [4]
Abgesehen von der Ausnahme, bei der aus Solidarität mit einem angegriffenen Staat gehandelt wird, spielen neben den ökonomischen Motiven geopolitische Motive beim Waffenexport eine Rolle. Waffen bekommen vor allem diejenigen, von denen sich die genehmigenden Politiker im Falle ihres militärischen Sieges einen Vorteil erhoffen. Manchmal werden sogar beide gegeneinander kämpfende Kriegsparteien gestärkt, wenn deren geostrategische Schwächung dem Interesse der Waffen liefernden Nationen entspricht. Die Waffenlieferungen sowohl an den Iran als auch an den Irak von Seiten der USA und auch der damaligen UDSSR während des ersten Golfkriegs sind ein Beispiel hierfür. Das zynische Kalkül, beide Seiten zu schwächen, ließ einen Krieg eskalieren, dem etwa eine Million Menschen zum Opfer fielen.[5]
Welche konkreten rechtlichen Barrieren wurden nun im Zuge langanhaltender Proteste und deutlicher Kritik an Waffenexporten in Spannungsgebiete errichtet? Dieser Frage soll im nächsten Abschnitt der Untersuchung zunächst für die internationale Ebene und dann für die nationalen Rechtsgrundlagen der Genehmigungspraxis nachgegangen werden. Anschließend wird gefragt, wie wirkungsvoll diese Regelungen für die tatsächliche Praxis der Waffenexporte in Spannungsgebiete sind.
Internationale Regelungen, um Waffenexporte in Spannungsgebiete zu verhindern
Regelungen der Vereinten Nationen
Der UN-Vertrag über den Waffenhandel (Arms Trade Treaty – ATT), der im April 2013 von der UN-Generalversammlung verabschiedet wurde und 2014 wirksam wurde, ist eindeutig. Die Vertragsstaaten verpflichten sich, ein transparentes und wirksames Kontrollsystem für konventionelle Waffenexporte zu installieren. Ein Vertragsstaat darf laut Artikel 6, Absatz 3 des ATT
„keinerlei Transfer von konventionellen Waffen (…) genehmigen, wenn er zum Zeitpunkt der Entscheidung Kenntnis davon hat, dass die Waffen oder Güter bei der Begehung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, schweren Verletzungen der Genfer Abkommen von 1949, Angriffen auf zivile Objekte oder Zivilpersonen, die als solche geschützt werden, oder andere Kriegsverbrechen im Sinne völkerrechtlicher Übereinkünfte, deren Vertragspartei er ist, verwendet werden würden.“ [6]
Das Problem hierbei ist, dass bisher nicht alle UN-Mitglieder den ATT ratifiziert haben: 113 Staaten haben den Vertrag ratifiziert, akzeptiert, genehmigt oder sind ihm beigetreten („state parties“), von 28 Staaten, die den Vertrag unterschrieben haben, steht dies noch aus („Signatories that are not yet States Parties“), 54 Staaten haben noch nicht unterzeichnet („States that have not yet joined the treaty“) (Stand März 2023) [7]. Waffenexporteure, wie Russland und Iran, haben den ATT-Vertrag noch nicht unterzeichnet. Die USA hatten ihm zugestimmt, ihn aber noch nicht ratifiziert, so dass er für sie völkerrechtlich nicht gültig war. Trump bekräftigte nun im Jahr 2019, dass die USA den Vertrag nicht ratifizieren würden: „Amerikaner leben nach amerikanischen Gesetzen, nicht nach Gesetzen anderer Länder“. [8]
Aber auch die Biden-Administration hat bisher noch keine Schritte unternommen, den ATT zu ratifizieren – so Rachel Stohl (2022):
„Unfortunately, the Biden administration has been frustratingly and disappointingly silent on the ATT despite support for the treaty appearing in the Democratic Party’s platform and numerous promises to review the agreement and the U.S. role in it. This decision sits firmly in the executive branch’s hands; no congressional action is required to recommit to the treaty. (…)President Biden need only send a letter to the UN stating that it will fulfill its responsibilities as a signatory and be bound by the object and purpose of the treaty, which are to reduce human suffering and ensure a responsible, accountable, and transparent arms trade.“
Deutschland hat den ATT ratifiziert, damit ist der Vertrag für Deutschland völkerrechtlich verbindlich. Mit China, Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Großbritannien haben Staaten das Abkommen unterzeichnet, die zu den zehn größten globalen Waffenexporteuren gehören. China trat dem ATT relativ spät bei, er wurde mit dem Bestätigungsschreiben der UN im Oktober 2020 rechtsgültig.
Somit lässt sich festhalten, dass zwei der führenden Waffenexporteure, USA und Russland, sich noch nicht entschlossen haben bzw. sich verweigern, dem ATT rechtsverbindlich beizutreten. Auch wenn weitere maßgebliche Waffenexporteure, wie z.B. Deutschland, China oder Frankreich, dem ATT-Vertrag beigetreten sind, kann er seine Wirksamkeit nur sehr eingeschränkt entfalten, bis zumindest alle ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates bereit sind, sich u.a. dem Exportverbot von Waffen in Krisenregionen und Spannungsgebiete anzuschließen.
Des Weiteren muss kritisiert werden, dass der ATT keine Regelungen zu verbindlichen Kontrollen und Sanktionen enthält. Es wird lediglich an die Nationalstaaten appelliert, die Anforderungen des ATT in nationales Recht zu überführen und die rechtlichen Grundlagen sowie die Genehmigungspraxis und die Art, den Umfang und Zielort der Waffenexporte auf freiwilliger Basis an das ATT-Sekretariat der Vereinten Nationen weiterzuleiten. Dies soll durch den Anreiz finanzieller Förderung durch das ATT-Sponsorship Programme und den ATT Volantary Trust Fund unterstützt werden.
Allerdings muss festgestellt werden, dass diese Anreize nicht wirkungsvoll genug sind, da auch ATT-Unterzeichnerstaaten, wie z.B. Frankreich, Deutschland, Großbritannien, China und Italien, in Spannungsgebiete – ohne dass dort eine Unterstützung einer Selbstverteidigung im Sinne der UN-Charta vorliegt – Waffen exportieren. Amnesty International (o.D.) führt hier z.B. die importierenden Staaten, wie z.B. Saudi-Arabien, Israel und Ägypten an.
EU-Regelungen
Auch auf der Ebene der Europäischen Union haben wir ebenfalls entsprechende Regelungen, die den Waffenexport in Spannungsgebiete strikt untersagen und über den Waffenexport insgesamt Kontrolle ausüben wollen.
Im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU (GASP) wurde ein sogenannter „Gemeinsamer Standpunkt des Rates“ 2008 (in Fortschreibung und erneutem Beschluss 2019) entwickelt. [9] Hierbei wird zunächst betont, dass die Mitgliedsstaaten Anträge auf Waffenexport oder auf den Export von Waffentechnologie vor dem Hintergrund internationaler Vereinbarungen zu prüfen haben. Dies sind in erster Linie Bündnisverpflichtungen gegenüber der EU und der UN, die sich u.a. aus Übereinkünften zu verhängten Sanktionen, der Nicht-Verbreitung von Nuklearwaffen, dem Verbot von Antipersonen-Minen (Ottawa-Übereinkunft) sowie dem Verbot chemischer und biologischer Waffen ergeben (Art. 2 (1) des „Gemeinsamen Standpunkts des Rates“). Im Art. 2 (2) werden acht Kriterien für die Zusage bzw. die Ablehnung des Waffenexports festgelegt. Insbesondere bei einem Verstoß eines Staates gegen die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht ist eine Exportgenehmigung in ein Endbestimmungsland zu versagen. Wenn ein Risiko besteht, dass die exportierten Rüstungsgüter und Militärtechnologien zur internen Repression in dem Empfängerland führen würden, wenn dort schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen und Verstöße gegen das geltende Völkerecht vorgenommen würden oder zu erwarten sind, wenn bewaffnete Konflikte im Innern und mit anderen Staaten hierdurch verschärft würden, wenn eine unerwünschte Haltung zum Terrorismus bestehe, dann müsse die Exportgenehmigung verweigert werden. Auch wenn eine Abzweigung von Militärtechnologie zu erwarten und das Risiko eines Weiterexports von Rüstungsgütern in unsichere und risikobehaftete Drittstaaten zu erwarten sei, müsse der Rüstungsexport verweigert werden.
Mit diesen Formulierungen bewegt sich der Beschlussrahmen auf der Ebene des UN-Vertrags für Waffenexporte (ATT).
Probleme ergeben sich allerdings, wenn die Bestimmungen des Artikels 2 (1) und 2 (2) in einen Widerspruch zueinander treten. Unwägbar und offen bleibt die staatliche Genehmigungspraxis, wenn aufgrund von Bündnisverpflichtungen eine Lieferung von Rüstungsgütern als notwendig erachtet wird, obwohl diese Waffen dann zur Unterdrückung der eigenen Bevölkerung, der Aggression im Nachbarstaat oder für die direkte Lieferung an kriegsführende Parteien in Spannungsgebieten eingesetzt werden. Hier wären sicherlich beispielsweise die deutschen Waffenlieferungen in die Türkei, nach Saudi-Arabien sowie die Waffenlieferungen von Frankreich und Italien im Libyen-Konflikt zu nennen. Auch die USA und Russland liefern weltweit Waffen an ihre an militärischen Konflikten beteiligten Bündnispartner, ohne dass dies durch Regulierungen der UN-Charta legitimiert ist.
Der auf Waffenexporte spezialisierte Journalist Wolf-Dieter Vogel verweist zudem darauf, dass der ‚Gemeinsame Strandpunkt des Rates‘ keine Rechtsverbindlichkeit im Sinne einer EU-Verordnung besitze. [10] Offensichtlich belässt man bewusst einen erheblichen Entscheidungsspielraum für die Mitgliedsstaaten bei dem Export von Rüstungsgütern. Die fehlende Rechtsverbindlichkeit der Beschlüsse sowie die potenziell in einen Widerspruch zueinander tretenden Bestimmungen von Art. 2 (1) und 2 (2) bieten dann auch eine ungünstige Voraussetzung für Sanktionen gegenüber EU-Staaten, die sich nicht an die Vereinbarung des Rates zu Waffenexporten in Spannungsgebiete bzw. in die Menschenrechte missachtende Staaten halten.
Nationalstaatliche Regelungen am Beispiel Deutschlands
Jeder Staat hat seine eigenen Regelungen zur Frage der Waffenexporte, die unterschiedlich streng bzw. nachlässig gestaltet sein können. Es soll hier am Beispiel Deutschlands demonstriert werden, inwieweit dort welche normativen Erwartungen an den Waffenhandel formuliert werden. Diese werden dann in einem nachfolgenden Schritt– genauso wie für die globale und die europäische Ebene – überprüft, inwieweit Anspruch und Realität zusammenfinden können.
Die Beschränkungen des Waffenexports aus Deutschland in andere Staaten beziehen sich zunächst auf das grundsätzliche Friedensgebot des Artikels 26 (1) und der Ansprüche des Artikels 26 (2) des deutschen Grundgesetzes, in dem die Herstellung von Waffen und der Waffenexport als genehmigungspflichtig deklariert werden („Zur Kriegsführung bestimmte Waffen dürfen nur mit der Genehmigung der Bundesregierung hergestellt, befördert und in Verkehr gebracht werden.“ (GG Art. 26 (2)).
Im geltenden Koalitionsvertrag von 2017 beruft sich die Bundesregierung u.a. auf den ATT, den ‚Gemeinsamen Standpunkt des Rates‘ der EU, das Außenwirtschaftsgesetz (AWG) und das Kriegswaffenkontrollgesetz (KrWaffKontrG) und legt für sich restriktiv hinsichtlich des Waffenexports fest:
„Die Beachtung der Menschenrechte im Empfängerland spielt bei der Entscheidungsfindung eine hervorgehobene Rolle. Wenn hinreichender Verdacht besteht, dass die zu liefernden Rüstungsgüter zur internen Repression oder zu sonstigen fortdauernden und systematischen Menschenrechtsverletzungen missbraucht werden, wird eine Genehmigung grundsätzlich nicht erteilt.“[ 11]
Neben der Einhaltung der Menschenrechte ist das zweite entscheidende Kriterium die Frage nach der friedenspolitischen Zuverlässigkeit bzw. der Gefährdung des zwischenstaatlichen Friedens durch das Empfängerland:
„Nach § 6 KrWaffKontrG besteht kein Anspruch auf Erteilung einer Genehmigung für die Ausfuhr von Kriegswaffen. Diese ist zwingend zu versagen, wenn die Gefahr besteht, dass die Kriegswaffen bei einer friedensstörenden Handlung verwendet, völkerrechtliche Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt werden oder aber der Antragsteller nicht die für die Handlung erforderliche Zuverlässigkeit besitzt.“ [12]
Eigentlich sind diese Regelungen genügend restriktiv und verantwortungsvoll formuliert. Dennoch kritisiert auch hier Wolf-Dieter Vogel, dass diese Formulierungen eher Ansprüche und keine rechtlich verbindlichen Regelungen darstellen („Die deutschen Rüstungsexportrichtlinien sind nicht rechtsverbindlich“ [13]). Diese Kritik lässt sich m.E. zwar auf den Koalitionsvertrag sowie auf den Bundesexportbericht beziehen, aber weder auf das AWG noch auf das KrWaffKontrG, die Gesetzescharakter besitzen und auf deren Grundlagen im Falle von Verstößen die Strafverfolgung eingeleitet werden kann bzw. müsste.
Der offizielle Weg zu einer Waffenexportgenehmigung sieht eine Voranfrage eines Rüstungsunternehmens bei dem Ministerium für Wirtschaft und Energie über die Möglichkeit eines Waffenexports bzw. Exports von Rüstungsgütern vor. Das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA), eine Oberbehörde des Bundeswirtschaftsministeriums, ist an der Kriegswaffenkontrolle beteiligt, dem regelmäßig Kriegswaffenbestände und Bestandsveränderungen zu melden sind. Maßgeblich für die Genehmigung einer Voranfrage ist – neben einer politischen Einschätzung des Empfängerlandes – eine lange und detaillierte Waffenliste, die definiert, welche Gerätschaften der Exportkontrolle unterliegen (Ausfuhrliste zur Außenwirtschaftsverordnung (2018)). Falls die Voranfrage eines Rüstungsunternehmens abschlägig beschieden wird, wird das Projekt zumindest auf diesem offiziellen Weg in der Regel nicht weiter verfolgt. Wird die Voranfrage positiv beschieden, dann kann der Waffenexport in der Regel erfolgen. Ein Waffenexport, der außerhalb Europas zu Staaten erfolgen soll, die nicht zur NATO oder vergleichbaren Staaten angehören oder die als problematische Staaten gelten, führt bei entsprechender politischer Bedeutung zur Verhandlung vor dem Bundessicherheitsrat (BSR), einem Kabinettsausschuss, der von der Bundeskanzlerin bzw. dem Bundeskanzler geleitet wird und in dem u.a. mehrere Bundesminister sitzen. Dort wird u.a. unter Ausschluss der Öffentlichkeit über entsprechende Anträge auf Waffenexport verhandelt. Die Sitzungen des Bundessicherheitsrats sind geheim. Es wird weder ein Sitzungsdatum noch eine Tagesordnung im Vorhinein bekannt gegeben. Erst im Nachhinein wird nach erfolgter Entscheidung der Bundestag informiert. Allerdings untersteht der Bundesssicherheitsrat nicht der parlamentarischen Kontrolle des Bundestags. Er entscheidet über Waffenlieferungen in der Regel autonom und ist der Bundesregierung nur verpflichtet, wo dies gesetzlich festgelegt ist. Hierbei stehen die Waffenexportgenehmigungen in einem Zusammenhang mit der deutschen Sicherheitspolitik und ihrer strategischen Ausrichtung, so wie dies der Bundessicherheitsrat und die Bundesregierung für sich definieren.
Auch wird der Ermessensspielraum für den Bundesssicherheitsrat auch weiterhin dadurch belassen, dass transnationale Sanktionspolitik und Bündnisverpflichtungen aufgrund zwischenstaatlicher Verträge (KrWaffKontrG § 27 [14]) zu beachten sind. So sind nach dem Artikel 3 des Nordatlantikvertrags der NATO (1949) die Vertragsstaaten verpflichtet: „Um die Ziele dieses Vertrags besser zu verwirklichen, werden die Parteien einzeln und gemeinsam durch ständige und wirksame Selbsthilfe und gegenseitige Unterstützung die eigene und die gemeinsame Widerstandskraft gegen bewaffnete Angriffe erhalten und fortentwickeln.“
Ein weiteres Problem ist, dass das deutsche Waffenkontrollgesetz in einem partiellen Widerspruch zur Handhabung europäischer Rechtsnormen steht. Es gibt immer noch keine wirksame Kontroll- und Sanktionspolitik auf europäischer Ebene aufgrund des rechtsunverbindlichen Charakters der betreffenden EU-Regelungen. Dadurch wird der Waffenexport aus Deutschland in andere EU-Staaten ermöglicht, die wiederum Waffenexporte in Spannungsgebiete tolerieren. Hierdurch wird die Ausfuhr aus dem betreffenden EU-Land in Drittländer, zu denen dann auch Spannungsgebiete gehören können, ermöglicht.
Zwar wurden im Jahr 2015 von der Bundesregierung Richtlinien für Post-Shipment-Kontrollen formuliert, bei denen u.a. in Zusammenarbeit mit dem Bundeswirtschaftsministerium, insbesondere dem Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA), der Endverbleib der exportierten Waffen im Empfängerland kontrolliert werden soll. Das Problem hierbei stellt sich zunächst im Prinzip der exemplarischen Überprüfung und des fehlenden Personals für vollständige Überprüfungen sowie mit dem Blick auf die Einlösung von Handelsinteressen dar, wenn dort formuliert wird:
„Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie und die Rüstungszusammenarbeit mit Drittländern dürfen durch das System der Post-Shipment Kontrollen nicht gefährdet werden.“ [15]
Dementsprechend gibt es auch keine wirksame Handhabe gegenüber Direktinvestitionen von Rüstungskonzernen in Spannungsgebieten oder wenn in einen vermeintlich sicheren Staat außerhalb der EU und der NATO investiert wird. Wenn beispielsweise ein deutscher Technologietransfer nach Australien erfolgt, dort eine Waffenfabrik bzw. eine Munitionsfabrik in Zusammenarbeit mit einem deutschen Rüstungskonzern gebaut wird, ist aufgrund der entsprechenden Aussagen der australischen Regierung und der bereits getätigten Lieferungen nicht gesichert, dass diese dort produzierten Waffen nicht auch in Spannungsgebiete exportiert bzw. dort von dem beteiligten, Waffen produzierenden Staat eingesetzt werden.[16] Wenn in Südafrika von einem deutschen Rüstungskonzern eine Munitionsfabrik gebaut wird, dann muss man sich nicht wundern, wenn mit deutschem Know How im Jemen-Krieg getötet wird.
Die Realität der Waffenexporte
Das schwedische Friedensforschungsinstitut SIPRI (Stockholm International Peace Research Institute) stellte bereits in seinen im Frühjahr 2018 veröffentlichten Bericht fest [17], dass der internationale Waffenhandel in den letzten fünf Jahren im Vergleich zu 2008 bis 2013 um 12% zugenommen habe. Hierbei belege die Rüstungsindustrie der USA mit 34% Marktanteil (plus 25% Waffenverkäufe im Vergleich) den ersten Rang waffenexportierender Nationen. Die Verträge hierfür wurden unter der Regierung des Friedensnobelpreisträgers Obama unterzeichnet. Zweitgrößtes Exportland ist Russland (minus 7,1% Waffenverkäufe), dann folgen Frankreich (plus 27%) sowie Deutschland (minus 14%) und China (plus 38%). Die Rüstungsindustrien dieser fünf Staaten sind für 74% aller Waffenverkäufe von 2012-2017 verantwortlich. Nahezu jede dritte verkaufte Waffe wurde in Staaten des Mittleren Ostens geliefert, welche die Zahl ihrer Waffenimporte in den letzten fünf Jahren verdoppelt haben. Jede zweite US-Waffe wurde hierbei wiederum in den Mittleren Osten verkauft. Die Waffenverkäufe der deutschen Rüstungsindustrie in den mittleren Osten stiegen in den letzten fünf Jahren um 109%.
Im Jahr 2019 besitzen die USA bereits einen Waffenexportanteil von 36% und die Waffenexporte sind im Zeitraum 2015-2019 um 76% höher als die Exporte des Zweitgrößten Exportland Russland (minus 7,1% Waffenverkäufe) (SIPRI 2020a).
Insgesamt sind im globalen Kontext die jährlichen Waffenverkäufe im Vergleich zu 2002 bis zum Jahr 2018 um 42% gestiegen. Hierbei führen in der Skala der Waffen produzierenden Unternehmen fünf US-Konzerne:
„For the first time since 2002, the top five spots in the ranking are held exclusively by arms companies based in the United States: Lockheed Martin, Boeing, Northrop Grumman, Raytheon and General Dynamics. These five companies alone accounted for $148 billion and 35 per cent of total Top 100 arms sales in 2018. Total arms sales of US companies in the ranking amounted to $246 billion, equivalent to 59 per cent of all arms sales by the Top 100. This is an increase of 7.2 per cent compared with 2017.“ [18]
Die meisten Waffen wurden nach Indien verkauft (Spannungen mit China und Pakistan). Saudi-Arabien, das aktiv zur Destabilisierung des mittleren Ostens beiträgt und zerstörerische militärische Einsätze im Jemen fliegt, war zweitgrößter Importeur von Waffen (Verdreifachung seiner Waffeneinkäufe in den letzten fünf Jahren). Hiernach folgen Ägypten, die Arabischen Emirate und China.
China verringerte seine Importe, da es zunehmend selbst Waffen produziert. Die Steigerung der Waffenexporte Chinas (38%) bezieht sich vor allem auf Pakistan, Algerien und Bangladesch.
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„Seit 2003 hat die Bundesregierung ihre Beziehungen zu Saudi-Arabien stetig ausgebaut. Ziel der Bundesrepublik war und ist vor allem die Förderung des Außenhandels, doch hatten einige der neueren Geschäfte eine klare sicherheitspolitische Dimension. Bisheriger Höhepunkt der von mittlerweile drei deutschen Regierungen betriebenen Zusammenarbeit war der geplante Verkauf von 270 Leopard-Kampfpanzern in das Wüstenkönigreich. Vor dem Hintergrund des Arabischen Frühlings war dieses Geschäft jedoch höchst problematisch. Dies betraf zunächst einmal die Ausstattung der bestellten Panzer. Es handelt sich um den Leopard 2A7–+, der für die Aufstandsbekämpfung in bewohntem Gebiet umgerüstet ist und sich damit vor allem für die Niederschlagung von Unruhen im Inland eignet.“ [19]
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Dies bedeutet eindeutig, dass die Waffenlieferungen trotz politischer Diskussionen und anderslautender politischer Statements der jeweiligen Regierungen fast durchweg in Spannungsgebiete erfolgen. Die Ökonomie des Todes wächst mit jedem Spannungsherd – so Pieter Wezeman, Senior Researcher des ‚SIPRI Arms and Military Expenditure Programms‘:
“Widespread violent conflicts in the Middle East and concerns about human rights have led to political debate in Western Europe and North America about restricting arms sales (…) Yet the USA and European states remain the main arms exporters to the region and supplied over 98 per cent of weapons imported by Saudi Arabia.” [20]
Der Rüstungsexport in Spannungsgebiete hat oftmals massive militärische Unterdrückung der Zivilbevölkerung durch die verschiedenen Kriegsparteien (siehe Syrien oder Jemen) bis hin zum rassistisch unterlegten Versuch des Genozids zur Folge, wie z.B. aktuell in Myanmar (Birma) in Bezug auf die muslimische Volksgruppe der Rohingyas oder 1994 in Ruanda hinsichtlich des Massenmords an der Bevölkerungsgruppe der Tutsis durch Hutu-Milizen.
Auch Daten von SIPRI (2020) machen deutlich, dass die USA, Russland, Frankreich, Deutschland und China, die fünf größten globalen Waffenexporteure, Waffen überall hin exportieren – unabhängig davon, ob es sich hierbei um Spannungsgebiete handelt.
SIPRI (2023) verweist nun auf eine Trendwende hinsichtlich der regionalen Verteilung der Waffenimporte. Insbesondere europäische Staaten steigerte seine Waffenimporte, was sicherlich in einer Verbindung mit den wachsenden Spannungen mit Russland im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine steht:
„Imports of major arms by European states increased by 47 per cent between 2013–17 and 2018–22, while the global level of international arms transfers decreased by 5.1 per cent. Arms imports fell overall in Africa (–40 per cent), the Americas (–21 per cent), Asia and Oceania (–7.5 per cent) and the Middle East (–8.8 per cent)—but imports to East Asia and certain states in other areas of high geopolitical tension rose sharply. The United States’ share of global arms exports increased from 33 to 40 per cent while Russia’s fell from 22 to 16 per cent, according to new data on global arms transfers published today by the Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI).“
Die Zahlen des schwedischen Friedensforschungsinstituts SIPRI machten für den Zeitraum von 2015-2019 deutlich, dass die Rüstungsexporte beständig stiegen. Hiervon waren auch die Rüstungsexporte in Spannungsgebiete nicht ausgenommen:
Table 1: The 10 largest arms exporter and importers [21]
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Arms exports 2015-2019 Arms imports 2015-2019
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Rank Country Share in % Country Share in %
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1 USA 36 Saudi Arabia 12
2 Russia 21 India 9.2
3 France 7.9 Egypt 5.8
4 Germany 5.8 Australia 4.9
5 China* 5.5 China 4.3
6 UK 3.7 Algeria 4.2
7 Spain 3.1 South Korea 3.4
8 Israel 3.0 United Arab
Emirates (UAE) 3.4
9 Italy 2.1 Iraq 3.4
10 South Korea 2.1 Qatar 3.4
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Inzwischen (2022) ist die Ukraine zum drittgrößten
Waffenimporteur aufgestiegen (SIPRI 2023)
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* China's arms exports are most likely to be set higher, as no traceable international insight into Chinese arms exports is available .
Die Tab. 1 macht deutlich, dass die USA und Russland mit Abstand die größten Waffenexporteure sind, die für mehr als die Hälfte aller Waffenexporte verantwortlich sind (57%). Hierbei lassen sich weder diese beiden Staaten noch auch die acht folgenden Länder im Ranking der Exporteure von den internationalen Waffenexportverboten in Bezug auf Krisen- und Spannungsgebiete abhalten. Fast alle weltweit führenden, Waffen importierenden Staaten befinden sich in Spannungsgebieten bzw. sind in Kriege und asymmetrische militärische Konflikten verwickelt (bis auf Australien).
So stiegen die Waffenexporte in das Spannungsgebiet des Mittleren Osten im Vergleich der Jahre 2010-2014 mit dem Zeitraum von 2015-2019 um 61% (!). [22]
Insbesondere Syrien, Jemen und Libyen sind Kriegsschauplätze, auf denen vorwiegend mit aus den USA und aus Europa (incl. Russland) importierten Waffen Kriege geführt werden.
SIPRI (2023) zeigt nun, dass inzwischen die von der russischen Invasion betroffene Ukraine die größten Waffenimportsteigerungen aufweist und 2022 zum drittgrößten Waffenimporteur wurde:
„From 1991 until the end of 2021, Ukraine imported few major arms. As a result of military aid from the USA and many European states following the Russian invasion of Ukraine in February 2022, Ukraine became the 3rd biggest importer of major arms during 2022 (after Qatar and India) and the 14th biggest for 2018–22. Ukraine accounted for 2.0 per cent of global arms imports in the five-year period.“
Beispiel Libyen
Seit dem Sturz des Gaddhafi-Regimes 2011 befand sich Libyen in einer politisch äußerst instabilen Lage. Lange Jahre fand eine militärische Auseinandersetzung zwischen den Truppen des Generals Haftar und den Regierungstruppen der Regierung von al Sarradsch statt, immer wieder von kurzen Waffenstillständen unterbrochen. Trotz eines vom UN-Sicherheitsrat verhängten Waffenembargos, das auch noch einmal im Juni 2020 verlängert wurde, wurden von verschiedenen Staaten Waffen in das Spannungsgebiet geliefert. Die Türkei entsendete syrische Söldner, Waffen und Drohnen, um al Sarradsch zu unterstützen. Auch Katar unterstützt die Regierungstruppen. Russland, die Arabischen Emirate sowie Saudi Arabien unterstützte Haftar. Russland entsendete u.a. Söldnertruppen aus privaten russischen Militärfirmen nach Libyen.[23] Aber auch innerhalb der NATO und der EU gingen die Unterstützungsleistungen in eine unterschiedliche Richtung. Während die an der Ausbeutung libyscher Gasvorkommen interessierte Türkei al Sarradsch militärisch absicherte, wurde dieser ebenfalls von Italien mit der Lieferung von Militärausrüstung unterstützt, das ebenfalls Interesse an der Ausbeutung der Erdölfelder vor der libyschen Küste und dem Zurückhalten von Flüchtlingen hat. Italien hat hier eine längere Tradition, da Italien bereits al-Gaddafi Militärhubschrauber geliefert hatte, die er dann 2011 gegen seine revoltierende Bevölkerung einsetzte. Frankreich befindet sich, gemeinsam mit Russland, auf der Seite des Generals Haftar. Beide Staaten wiederum haben Interessen hinsichtlich der Sicherung Milliarden umfassender Aufträge, des Angebots eines Zugangs zum libyschen Energiemarkt, des Zurückdrängens von Islamisten sowie der Nutzung libyscher Mittelmeerhäfen. Alle Beteiligten haben hierüber hinaus geostrategische Interessen und wollen ihren Einfluss im arabischen Raum stärken. [24]
Während Deutschland zu internationalen Verhandlungsgesprächen zur Durchsetzung eines Waffenembargos einlädt, werden im Hintergrund von der deutschen Bundesregierung Waffenlieferungen im großen Umfang an Staaten genehmigt, die selbst wiederum Waffen in das libysche Konfliktgebiet liefern – so genehmigte die Bundesregierung seit Beginn des Jahres 2019 Rüstungsexporte im Wert von mehr als 1,3 Milliarden Euro in Staaten, die den Libyen-Krieg anheizen. [25]
Aufgrund der ökonomischen und geostrategischen Interessen wird sich über alle geltenden Bestimmungen des Waffenexports hinweggesetzt. Selbst ein einstimmig vom UN-Sicherheitsrat verhängtes Waffenembargo zeigt kaum eine Wirkung.
Aus den Mitteln der EFF werden in den Jahren 2022 und 2023 u.a. auch die militärischen Unterstützungsleistungen für die Ukraine finanziert (Bundesregierung 2023).
Waffenexporte in Spannungsgebiete aus der EU
Im Jahr 2012 erhielt die Europäische Union den Friedensnobelpreis. Im gleichen Jahr war die EU hingegen Exportweltmeister von Rüstungsgütern. Trotz der Regelungen des ATT und des ‚Gemeinsamen Standpunkts des Rats der EU‘ wurden aus der EU massiv Waffen gezielt in Spannungsgebiete geliefert:
„Von 51 autoritären Regimen weltweit bekamen 43 europäische Rüstungsgüter geliefert. Von 47.868 beantragten Exportlizenzen wurden nur 459 zurückgewiesen. Alleine die deutschen Rüstungsexporte in die sechs Staaten des Golf-Kooperationsrates – unter ihnen Saudi Arabien und Bahrain – beliefen sich im Jahre 2012 auf 1,42 Milliarden Euro!“[26]
Doch auch nach 2012 entwickelte sich dies nicht anders. Neben Deutschland sind vor allem Frankreich, GB, Spanien und Italien am Waffenexportgeschäft beteiligt. Ihr Anteil am Waffengeschäft beträgt 22.6%, knapp ein Viertel der weltweiten Waffenexporte. Hierbei gehen die Exporte vorrangig in Spannungsgebiete, wie Saudi-Arabien, die Türkei, Ägypten, Libyen, die Vereinigten Emirate oder Algerien.[27]
Die Ansprüche des „gemeinsamen Standpunkts der EU“ scheinen nicht zu greifen. Wenn Bündnisverpflichtungen und eigene geopolitische und ökonomische Interessen im Raum sind, wird der „Gemeinsame Standpunkt“ zur Makulatur bzw. umgangen.
Auch Regulierungen hinsichtlich des Exports von Gütern, die sowohl zivil als auch militärisch nutzbar sind („EU Dual-Use Regulation“), kamen bis zum jetzigen Zeitpunkt aufgrund von Meinungsverschiedenheiten in den Europäischen Gremien noch nicht zustande. Bei diesen zweifach verwendbaren Gütern handelt es u.a. um elektronische Produkte wie Störsender, die z.B. zur Störung des Internets und des Handy-Empfangs auch gegen die eigene Zivilbevölkerung eingesetzt werden können. Genauso können Militärlastwagen durch das Anbringen einer Lafette und eines Maschinengewehrs militärisch aufgerüstet werden.
Hingegen arbeitet die EDA (European Defense Agency) im Rahmen der Permanent Structured Cooperation (PESCO) hinsichtlich der Koordination der europäischen Rüstungsbemühungen bereits mit Hochdruck. Die EDA soll zwar u.a. nur für die Unterstützung der innereuropäischen Forschung und Entwicklung von Militärtechnologie zuständig sein. Dies vollzieht sich in einem finanziellen Rahmen von PESCO, bei der sich die beteiligten EU-Staaten verpflichtet haben, ihre Investitionen in Verteidigungsgüter um 20% zu erhöhen. Hierbei entzieht es sich der Kompetenz und Kontrolle der EDA, wenn eine derart entwickelte Technologie auch Gegenstand von Rüstungsexporten in Drittstaaten wird.
Die aktuelle Entwicklung hinsichtlich der europäischen Militärkooperation kann diese Problematik noch verschärft abbilden. Die derzeit auf EU-Ebene aufgrund des Antrags der Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik im Dezember 2017 auf den Weg gebrachte sogenannte ‚Europäische Friedensfazilität‘ (EFF) (European Peace Facility, EPF) gibt vor, vor allem die EU-Entwicklungszusammenarbeit von Kosten für die Sicherheitsarchitektur in Afrika zu entlasten, indem ein Fonds von 10,5 MRD € außerhalb des regulären EU-Haushalts u.a. hierfür bereitgestellt werden solle.
Die EFF sieht explizit – neben dem Angebot militärischer Ausbildung – den Export von Waffen, Munition und Sicherheitstechnik vor.
„Derzeit verfügt die EU nur über begrenzte Kapazitäten für eine Beteiligung an militärischen oder verteidigungspolitischen Maßnahmen wie Kapazitätsaufbau und Bereitstellung von Ausbildung, Ausrüstung oder Infrastruktur. Die EFF wird zum Ausbau der Kapazitäten von Streitkräften in Partnerländern zur Friedenssicherung, Konfliktverhütung und Bewältigung von Sicherheitsbedrohungen beitragen. Zum Beispiel wird der Erfolg militärischer Ausbildungsmissionen der EU manchmal dadurch infrage gestellt, dass die Partner wegen oftmals nur sehr rudimentärer Ausrüstung oder Infrastruktur aus dem Gelernten nur unzureichenden Nutzen ziehen können. Die EFF wird es der EU ermöglichen, umfassende Unterstützung durch integrierte Pakete zu leisten, die Ausbildung, Ausrüstung und andere Formen der Unterstützung vorsehen können. So wird es den Partnern leichter gelingen, Krisen und Sicherheitsbedrohungen aus eigener Kraft zu bewältigen.“ [28]
Zwar könnte die beabsichtigte Trennung von Entwicklungszusammenarbeit und Militärausgaben tatsächlich positive Effekte für den tatsächlichen Umfang der zivilen Entwicklungszusammenarbeit haben, dennoch ist dies nicht ohne Risiken. Insbesondere besteht eine Gefahr darin, dass diese Milliarden auch dazu dienen, Waffenexporte in Drittstaaten zu finanzieren, die erstens als Krisengebiete anzusehen sind und zweitens keine sicheren Endverbleibsstaaten sind, d.h. selbst diese Waffen weiter in Spannungsgebiete weiterleiten bzw. verkaufen. [29]
Dies wäre dann eine neue Qualität auch der offiziellen EU-Außen- und Sicherheitspolitik, wenn Waffenlieferungen offen in Drittstaaten bzw. Krisengebiete geliefert werden könnten.
Die EPF wird derzeit auf EU-Ebene diskutiert und der Ausgang der Entscheidung ist noch offen.
Deutsche Waffenexporte in Spannungsgebiete
In dem letzten Jahrzehnt wurden aus Deutschland Rüstungsgüter im Wert von knapp 17 MRD € exportiert. Im gleichen Zeitraum wurden Rüstungsgüter von ca. 63 MRD € durch die Bundesregierung für die zukünftigen Exporte genehmigt. [30] Hierbei lässt auch das Jahr 2019 eine ergiebige Rendite für die Zukunft erwarten.
Table 2: Licenses for arms exports from Germany [31]
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Number and value of individual
licenses for military equipment
granted by the German government 2018 in € billion 2019 in € billion
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Total 11,142 individual approvals 11,479 individual licenses
€ 4.82 € 8.02
-------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------to NATO states, EU states
and NATO-equivalent states € 2.28 € 4.48
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to third countries € 2.55 € 3.53
------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------to developing countries € 0.37 € 1.35
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to developing countries that Egypt (€ 0, 8),
qualify as areas of tension Indonesia (€ 0,2),
India (€ 0,93),
Pakistan (€ 0,63),
Morocco (€ 0, 61)
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Inzwischen ist die Ukraine das wichtigste Bestimmungsland von deutschen Waffenexporten:
„Die Mittel für die Ertüchtigungsinitiative belaufen sich auf insgesamt 2,2 Milliarden Euro für das Jahr 2023 (nach 2 Milliarden Euro im Jahr 2022). Die Mittel sollen vornehmlich der Unterstützung der Ukraine zugutekommen.“ (Bundesregierung (2023a)
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Tab. 2 macht deutlich, dass zunächst der Wert der Rüstungsexporte aus Deutschland von 2018 auf 2019 extrem gestiegen ist (von 4,82 auf 8,02 MRD €). Des Weiteren sind ungefähr 44% der Rüstungsexporte in Drittländer gegangen, die entweder selbst Spannungs- und Krisengebiete sind oder in denen ein Endverbleib von Waffen nicht kontrolliert werden kann. Aber auch selbst der Endverbleib von exportierten Waffen in EU-Staaten ist nicht gesichert. So sind aus Italien bis ins Jahr 2019 von der Rheinmetall-Tochter produzierte Waffen an die im Jemen kämpfende Saudi-Koalition geliefert worden.
Auch die Rüstungsexporte in Entwicklungsländer haben sich deutlich erhöht. Hierbei werden auch Rüstungsexporte an mit zwischenstaatlichen Spannungen bzw. Menschenrechte verletzende Staaten aus Deutschland vorgenommen.
Die Gesamtzahl und der Wert der Einzelgenehmigungen, die durch das Bundeswirtschaftsministerium und den Bundesssicherheitsrat vorgenommen werden, sind nicht gleichzusetzen mit den tatsächlich getätigten Ausfuhren von Rüstungsgütern. Dennoch geben sie einen Einblick in die zukünftig in den nächsten Jahren zu erwartenden Rüstungsexporte. Hierbei handelt es sich bei Rüstungsexporten nicht nur um Waffen. Es sind z.B. auch Lastwagen, Boote und Minenräumgeräte dabei. Hierbei kann dies leicht umgerüstet bzw. unterstützend bei kriegerischen Aktivitäten eingesetzt werden.
Zu den Einzelgenehmigungen kommen noch Sammelgenehmigungen für 2019 ungefähr im Wert einer halben MRD € hinzu. Der größte Anteil der Genehmigungen für Rüstungsgüter bezieht sich auf Panzerfahrzeuge und Militärlaster (3,06 MRD €) [32]
Tab. 3: The three most important countries of destination for individual licenses in 2019 [33]
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Rank Country Military equipment Value in total
in € billion
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1 Hungary Main battle tanks, self-propelled 1,7842
howitzers, armored engineer
vehicles, armored recovery vehicles,
armored bridge laying vehicles,
armored driving school vehicles,
trucks, all-terrain vehicles,
all-terrain vehicles,
trailers and parts for main
battle tanks, armored vehicles,
all-terrain vehicles, land vehicles,
driving and combat simulators
and parts for driving and combat
simulators
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2 Algeria Trucks and parts 0.847
for armored vehicles
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3 Egypt Missiles, firing equipment, 0.802
special tools and parts for missiles,
missiles, fire control equipment,
target acquisition systems,
target range finding systems
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In 2022/2023 ist aufgrund des russischen Angriffskriegs gegenwärtig die Ukraine das prioritäre Land für Einzelgenehmigungen.
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Allein die ersten drei in der Tab. 3 aufgeführten Staaten – abgesehen von der Ukraine – machen die Problematik der deutschen Rüstungsexporte für 2019 deutlich. Zwei Staaten (Algerien und Ägypten) sind als Spannungsgebiete zu bezeichnen, Staaten die ebenfalls die Grundrechte ihrer Bevölkerung missachten. Des Weiteren ist insbesondere von Ägypten die Unterstützung der Saudi-Koalition im Jemen-Krieg bekannt, so dass hier deutsche Waffen eingesetzt werden dürften, obwohl es ein von Deutschland unterstütztes internationales Waffenexportembargo für den Jemenkrieg gibt. Ungarn hingegen wird innerhalb der Union beschuldigt, die Grundrechte seiner Bürger auszuhebeln und die Gewaltenteilung zu zerstören.
In den Jahren zuvor dominierten des Weiteren Rüstungsexporte an die im Jemen beteiligten Kriegsparteien der Saudi-Koalition – so der Politikwissenschaftler und Publizist Markus Bickel im Jahr 2018:
„Obwohl das Europaparlament bereits 2016 ein Ende der Waffenlieferungen an die am Konflikt beteiligten Länder forderte, erteilt die Bundesregierung ungerührt weiter Exportgenehmigungen. In den vergangenen drei Jahren winkte der Bundessicherheitsrat allein an Saudi-Arabien Militärgüter im Wert von über einer Mrd. Euro durch. Ägypten erhielt Rüstungsexporte im Wert von 850 Mio. Euro und die Vereinigten Arabischen Emirate in Höhe von 474 Mio. Euro.“[34]
Die Waffenexporte in die Ukraine werden von der Bundesregierung – in Abkehr von der offiziellen Selbstdarstellung, Waffen möglichst nicht in Spannungsgebiete zu exportieren – mit dem Selbstverteidigungsrecht der Ukraine begründet und der Verpflichtung der UN-Staaten ein angegriffenes Mitglied der UN militärisch zu unterstützen. Insgesamt wurden der Ukraine Unterstützungsleistungen (Stand 2023) seit der russischen Invasion am 24.2.2022 von bereits 14 MRD € in Form von Waffen, direkter Zahlung oder humanitärer Unterstützung geleistet (Bundesregierung 2023b).
Beispiel der Waffenexporte in die Türkei
Die in einem Jahr genehmigten Rüstungsexporte sind nicht gleichzusetzen mit den in diesem Jahr tatsächlich stattfindenden Rüstungsexporten. Zwar ist seit dem Einmarsch der Türkei in Syrien der Bundessicherheitsrat zurückhaltend hinsichtlich der Genehmigung von Waffenlieferungen dorthin, dennoch erhielt das NATO-Land Türkei z.B. im Jahr 2019 Rüstungsgüter von nahezu 350 Millionen € aus Deutschland geliefert. [35] Entschuldigend wird von Regierungsseite in solchen Fällen jeweils angeführt, dass es sich um ältere Genehmigungen handele, die erfüllt werden müssten.
Mit der Türkei liegt derzeit ein aggressiver Staat vor, der mehrfach völkerrechtswidrig außerhalb seiner nationalen Grenzen militärisch eingegriffen hat (Syrien, Irak, Libyen). Des Weiteren liegen schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen im Inland vor (willkürliche Verhaftungen von Regimegegnern, lange Haft ohne rechtsstaatliche Verurteilung, fragwürdige Rechtsprechung, Ausschaltung und Verbot von Teilen der Opposition). Wenn die deutsche Regierung es ernst mit dem ATT der UN und dem Gemeinsamen Standpunkt des Rates der EU sowie mit den in den deutschen Gesetzen und Vereinbarungen formulierten Rechtsansprüchen meinen würde, dann würde sie – aufgrund der sich verschärfenden Lage im Zusammenhang mit der Türkei – gegebene Genehmigungen zum Waffenexport in die Türkei konsequent zurückziehen.
Wenn die Türkei mit Leopard 2-Panzern von Rheinmetall die syrischen Grenzen überschreitet und mit deutschen Waffen dort hiermit und mit anderen aus Deutschland stammenden Waffen die kurdische Bevölkerung bekämpft, dann ist der Bundesregierung vorzuwerfen, dass sie hier nicht rechtzeitig die Zeichen der Zeit erkannt hat und sich der Bezichtigung einer Mittäterschaft nur schwerlich entziehen kann. Auch ist zukünftig mit dem Argument einer gemeinsamen NATO-Mitgliedschaft kritischer umzugehen. Solange die NATO aus geostrategischen Gründen einen das Völkerrecht verletzenden Staat in seinen Reihen duldet, kann die gemeinsame NATO-Mitgliedschaft kein hinreichendes Argument für Waffenlieferungen innerhalb des NATO-Bündnisses mehr sein.
Bereits in den ersten vier Monaten des Jahres 2020 hat Deutschland wieder bereits knapp eine halbe Milliarde Waffen exportiert (40% mehr als im gleichen Zeitraum 2019). Hierbei sind dual zu nutzende Rüstungsgüter noch nicht einbezogen.
Die Linken-Politikerin und Bundestagsabgeordnete Sevim Dağdelen forderte nach einem Bericht des ‚Spiegels‘:
„ ‚Die Ausfuhr von nahezu 40 Prozent mehr Kriegswaffen als im Vorjahreszeitraum in einer Welt, in der die Konflikte jeden Tag zunehmen, ist völlig unverantwortlich‘, sagte Dağdelen, die abrüstungspolitische Sprecherin ihrer Fraktion ist. ‚Gerade mit den Kriegswaffenexporten an Ägypten und die Türkei mästet die Bundesregierung die Konflikte in und am Mittelmeer und verletzt damit sogar die eigenen laxen Rüstungsexportrichtlinien in eklatanter Weise.‘ Wer sein eigenes Bekenntnis, international mehr Verantwortung zu übernehmen, ernst nehmen würde, müsse die Exporte von Kriegswaffen in alle Welt stoppen.“ [36]
Interessanterweise werden zahlreiche Staaten nun in der Waffenexportliste Deutschlands nicht mehr gelistet – u.a. auch die Türkei – mit dem Hinweis, man könnte hierdurch Rüstungsunternehmen identifizieren, die dorthin geliefert hätten. Die Einstufung dieser Staaten als Verschlusssache würde zum Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen der beteiligten Rüstungsfirmen vorgenommen. Dies macht zukünftig natürlich die Identifizierung und Kontrolle von Rüstungsexporten zunehmend schwieriger und kann als ein problematisch zu bewertender Erfolg der Lobbytätigkeit der Rüstungsindustrie angesehen werden.
Die Exporte in die Türkei waren die ersten Waffenlieferungen, die von der Bundesregierung zur Geheimsache erklärt wurden und wohl auch nur durch einen Fehler veröffentlicht wurden – so Dağdelen in einem Papier der Links-Fraktion [37]
„Auf der Homepage des Bundeswirtschaftsministeriums wurde allerdings – vermutlich aus Versehen – eine parlamentarische Antwort veröffentlicht, wonach die Türkei im vergangenen Jahr insgesamt Kriegswaffen für 345 Millionen Euro aus Deutschland erhalten hat, was mehr als ein Drittel der gesamten deutschen Kriegswaffen in Höhe von 824 Millionen Euro ausmacht. Schon 2018 war Erdogan mit 242,8 Millionen Euro Rekordhalter unter den Empfängern deutscher Kriegswaffenexporte (770,8 Millionen Euro). Auch in den Monaten Januar bis April 2020 gehört sie zu den zehn Hauptempfängerstaaten. Vor dem Hintergrund der zahlreichen völkerrechtswidrigen Angriffskriege der Türkei in Syrien und aktuell im Norden Iraks sind die Waffenlieferungen besonders verwerflich.“
Beispiel der Waffenexporte zur Krieg führenden Allianz im Jemen
Der sich nun seit vielenJahren hinziehende Krieg im Jemen, einem der ärmsten Länder der Welt, hat zum Teil interne Gründe, aber ist auch zunehmend zu einem Stellvertreterkrieg zwischen der Saudi-Emirate-Koalition und dem die Houthis unterstützenden Iran geworden.[38] Der UN-Sicherheitsrat hat sich auf die Seite der Saudi-Allianz gestellt und 2015 einseitig in seiner Resolution 2216 ein Waffenembargo für die Houthis beschlossen. Hingegen werden der Gegenseite weitgehend unvermindert Waffen geliefert. Die UN-Resolution 216 ist die Grundlage für die Blockade des Jemen und die militärischen Maßnahmen der Allianz aus Saudi-Arabien, den Emiraten und unterstützt von westlichen Staaten.
Die drei größten Waffenexporteure an die im Jemen Krieg führende Saudi-Allianz sind die USA, Frankreich und Großbritannien.
Auch Deutschland ist an einem Export von Waffentechnik in das Spannungsgebiet beteiligt: Es fanden z.B. Lieferungen von in Deutschland (Mecklenburg-Vorpommern) produzierten 33 Patrouillenboote an Saudi Arabien statt, die vor der Küste zur Durchsetzung der Houthi-Blockade eingesetzt werden. Die Argumentation der Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD), dies seien nur Patrouillenboote, wird durch den militärisch relevanten Einsatz als Blockadeboote und natürlich der Möglichkeit, nachträglich z.B. mit Maschinengewehren bewaffnet zu werden, widerlegt. [39]
Insgesamt hat Deutschland seit Anfang 2019 nach Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums für ca. 1,2 MRD € Waffen an die im Jemen Krieg führende Saudi-Koalition genehmigt (insgesamt 224 Lieferungen). Hiermit verstößt die Bundesregierung gegen ihren eigenen Koalitionsvertrag, in dem der Stopp der Waffenlieferungen an die am Krieg im Jemen Beteiligten vereinbart wurde.
In einer Pressemitteilung der Zeitschrift ‚Die Zeit‘ werden die Daten differenziert zusammengefasst:
„Demnach wurden allein an Ägypten innerhalb von 15 Monaten 21 Waffenlieferungen für 802 Millionen Euro erlaubt. Für die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) waren es 76 Genehmigungen im Gesamtwert von 257 Millionen Euro. An drei weitere Mitglieder des Bündnisses – Bahrain, Jordanien und Kuwait – gingen Waffenexporte für zusammen 119 Millionen Euro.“ [40]
Allein für Saudi-Arabien wurde der Waffenlieferungsstopp in 2019 weitgehend eingehalten.
Im Jemen-Krieg gibt es insbesondere aufgrund der permanenten Bombardierungen des Jemen von Seiten der Saudi-Allianz Tausende von Opfern insbesondere unter der Zivilbevölkerung. Auch hierbei kamen westliche Waffen sowie Waffen aus Deutschland zum Einsatz. Inzwischen wurden durch Waffengewalt über 100.000 Menschen im Jemen getötet. Der Journalist Jacob Reimann macht 2020 den Umfang der Bombardierung deutlich:
„Massaker an der Zivilbevölkerung vonseiten der Saudi-Emirate-Koalition stehen seit jeher auf der Tagesordnung: Immer wieder wurden Schulen, Hochzeiten, Beerdigungen, Marktplätze, Flüchtlingsboote, Krankenhäuser und Moscheen vorsätzlich bombardiert. Insgesamt flog die Koalition in über fünf Jahren bereits 21.259 Luftschläge gegen den Jemen – im Schnitt über elf Angriffe pro Tag. Da die Koalitionäre – bis auf Ägypten – nur über rudimentäre eigene Rüstungsindustrien verfügen, sind sie in der Begehung ihrer Kriegsverbrechen auf die Komplizenschaft überwiegend westlicher Waffenexporteure angewiesen. Nach den USA, Frankreich, Russland und Großbritannien ist Deutschland hierbei auf Platz 5 der Hauptexporteure an die acht Koalitionäre in den Jahren des Krieges.“ [41]
Aber die meisten Opfer starben aufgrund der See- und Grenzblockade durch das Abschneiden der jemenitischen Bevölkerung von der Versorgung mit Lebensmitteln sowie von Medikamenten. Allein in den Jahren 2015 bis Ende 2019 sind im Jemen-Krieg, laut der internationalen NGO ,Save the Children‘ 85.000 Kinder im Alter unter fünf Jahren verhungert.[42]
Der aus Deutschland stammende Konzern ‚Rheinmetall‘ war an den Waffengeschäften mit der Saudi-Koalition massiv beteiligt. Bis 2019 lieferte er Fliegerbomben aus seiner italienischen Tochterfirma RWM Italia an die Saudis, die im Jemen-Krieg gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt wurden. Hierdurch erklären sich entsprechende Bombenfunde aus deutscher Abstammung im Jemen. Erst 2019 wurden diese Waffenlieferungen aus Italien auf Intervention der italienischen Regierung hin verboten.[43]
Die aktuelle Greenpeace-Studie zu deutschen Waffenexporten kommt gerade anlässlich derartiger Unternehmensaktivitäten zu folgendem Schluss:
„Diese Beispiele von Rüstungskooperationen, der Gründung von Tochterfirmen in Drittstaaten und deutschem Technologie- und Knowhow-Transfer offenbaren Regelungslücken in der deutschen Rüstungsexportgesetzgebung und in den dazugehörigen Verfahren. Diese betreffen den Export von technischer Unterstützung und Knowhow sowie die Kontrollmöglichkeiten bei Investitionen deutscher Rüstungsunternehmen in den Aufbau ausländischer Produktionskapazitäten. Diese Regelungslücken sind auch nach der Überarbeitung der Politischen Grundsätze vom Juli 2019 nicht geschlossen worden.“[44]
Militärisch-ökonomischer Komplex und Drehtüreffekte
Zur Rüstungsindustrie gehören ebenfalls Ausrüstungsfirmen, private militärische Forschungsinstitute, und Unternehmen, die auf den militärischen Transport spezialisiert sind. Auch hier gibt es zahlreiche Verbindungen zwischen Politik und Rüstungswirtschaft – Richard B. ‚Dick‘ Cheney ist das prominenteste Beispiel eines den Irak-Krieg befördernden US-amerikanischen Spitzenpolitikers [45], dessen einstige Firma Halliburton über entsprechende Ausrüstungs- und Transportaufträge profitierte. Hierbei handelt es sich nach Perlo-Freeman/Sköns (2008) um den Vorgang der Vorteilsnahme über ein öffentliches Amt mit Affinitäten zur Korruption. [46]
Das „System offener Drehtüren“ gibt es in allen Nationalstaaten. Dies lässt sich auch am Beispiel Deutschlands belegen, bei dem ehemalige Entscheider im politischen System, insbesondere ehemalige Mitglieder des Bundesssicherheitsrats, in die Rüstungsindustrie wechseln sowie ehemalige hochrangige Offiziere in die Rüstungsindustrie.
Dirk Niebel (FDP), Beratertätigkeit für Rheinmetall, der Wechsel von Franz Josef Jung (CDU) in den Aufsichtsrat von Rheinmetall oder die Ernennung des ehemaligen Staatssekretärs im Bundeswirtschaftsministerium, Georg Wilhelm Adamowitsch (SPD), zum langjährigen Hauptgeschäftsführer des hauptsächlich mit Lobbyismus befassten Bundesverbands der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV) sind Beispiele dieses verhängnisvollen Drehtüreffekts. [47]
Ein weiteres prominentes Beispiel ist der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr (2000-2002) der frühere Luftwaffengeneral Harald Kujat. Er war nach seiner Zeit als höchstrangiger deutscher Soldat und Bindeglied zwischen Bundeswehr und Bundesregierung Vorsitzender des NATO-Militärausschusses (2002-2005). Er wurde 2019 Aufsichtsratsvorsitzender des Rüstungsunternehmens Heckler & Koch. [48] Zur Erinnerung: Heckler & Koch waren es, die illegalerweise 5000 G36-Sturmgewehre in den von einem Embargo versehenen Bezirk Mexikos (Guerrero) geliefert hatten. Mit diesen Waffen wurden dann u.a. 2014 die Lehramtsstudenten ermordet, die auf dem Weg zu einer Demonstration gegen die Verschmelzung von mexikanischer Politik und organisierter Kriminalität waren. [49]
Kriege als Konjunkturhilfen
Kriege werden gern von Krieg führenden Politikern und einigen affirmativen Wirtschaftswissenschaftlern als Konjunkturhilfen für die heimische stagnierende Wirtschaft ausgegeben. Joseph Stiglitz (2008) [50] tritt Auffassungen entgegen, Kriege wären letztlich als Konjunkturprogramm geeignet, und fordert, die wahren Kosten von Kriegen transparent zu machen:
„Anfang des Jahres 2003 hieß es von der US-Regierung, der Irak-Krieg werde nur 50 bis 60 Milliarden Dollar kosten. War dies lediglich ein Irrtum, waren die Politiker also schlicht zu optimistisch? Erstens setzte man zu Beginn lediglich die Kriegskosten im engeren Sinne an, also die operativen Ausgaben. Ignoriert wurden die Kriegskosten im weiteren Sinne, wie zum Beispiel die Zinszahlungen auf Kriegskredite, die Kosten zur Pflege von Kriegsinvaliden und Veteranen oder Geld für die Geheimdienste. (…) Man muss auch bedenken, was man mit den drei Billionen Dollar Kriegsausgaben alles für die Konjunktur hätte tun können. Zum Beispiel amerikanische Infrastruktur aufbauen anstatt irakische zu zerstören. Vom ökonomischen Standpunkt her sind Krieg und massenhafte Zerstörung das schlechteste Konjunkturprogramm.“
Auch wäre es sicherlich mehr als zynisch, das massenhafte Leiden und Sterben von Menschen auf einer lediglich ökonomischen Ebene diskutieren zu wollen. Dies wäre dann wohl Ausdruck einer Weltsicht, die einen Vorrang ökonomischer Prioritäten vor den Notwendigkeiten der Humanität einräumen würde: Zerfetzte Menschen, Kinder, die ihre Eltern verlieren und Eltern, die ihre toten Kinder in den Armen halten, als Opfer ökonomischer Interessen im Spektrum von privatwirtschaftlichem Profitstreben bis hin zur volkswirtschaftlichen Erwartung einer Konjunkturhilfe durch die boomende Rüstungsindustrie im Kriegsfall.
Die Rolle privater Militärfirmen und Sicherheitsdienste
Zunehmend spielen auch private Militär- und Söldnerfirmen als Teil des militärisch-ökonomischen Komplexes eine Rolle in militärischen Konflikten. Hier agieren, z.B. in Afghanistan und Pakistan, private Söldnertruppen im Auftrag der USA gegen sich durch Rauschgifthandel finanzierende Terrorgruppen. Manchmal werden sie auch gegen Staaten eingesetzt. Moisés Naím beschreibt diese relativ neue Rüstungsindustriesparte in seinem Buch „The End of Power“:
“Often starting as small companies out of anonymous office parks in the outskirts of London or suburban Virginia, firms such as Blackwater (now renamed Academia), MPRI, Executive Outcomes, Custer Battles, Titan, and Aegis took on key roles in different military operations. Some were bought by larger firms, some went out of business, and some remained independent. Among other recent opportunities, private military firms have found a market for their services in protecting commercial vessels from Somali pirates. Mercenaries, with all the ancient associations of the word, have turned into a booming and diverse industry.” [51]
Der staatliche und auch der privatwirtschaftliche Einsatz von Söldnern privater Sicherungs- bzw. Militärfirmen bergen noch größere Risiken z.B. bezüglich des Einhaltens des Kriegsrechts, wie der Genfer Konvention oder der Haager Landkriegsordnung.
Die Tötung von 17 Zivilisten im Irak durch Söldner von ‚Blackwater‘ im September 2008 [52] warf ein Schlaglicht auf die Aktivitäten privater Militär- und Söldner-Firmen und führte zu breiter geführten Diskussionen über die Legitimität staatlicher Kooperation mit derartigen Unternehmen, die vor allem aus den USA und dem United Kingdom stammen. Die ‚Wagner-Gruppe‘ ist eine Militärfirma mit direkten Kontakten zur Putin-Regierung, die im Rahmen der russischen Invasion besonders brutal kämpft und die für zahlreiche Kriegsverbrechen verantwortlich ist. Die Söldner-Truppen der russischen Wagner-Gruppe sind für ein extrem robustes Handeln und ein verdecktes Vorgehen bekannt.
Aber auch andere Institutionen und Organisationen, wie z.B. multinationale Konzerne, einige NGOs und Intergovernmental Organizations (IGOs) arbeiten mit militärischen Sicherungsfirmen zusammen. Der Markt hierfür hat hohe Wachstumsraten. [53]
Söldnertum bzw. privat bezahlte Militärdienste gab es in der Geschichte bereits seit langem, doch die heutigen privaten Militärdienste sind nach Perlo-Freeman/Sköns (2008, 2f.) durch die Spezifik ihrer organisatorischen Eingebundenheit gekennzeichnet:
“One of the main differences between the current private providers of military services and private military organizations in the past is the corporatization of military services. The services are now provided by private firms, operating as businesses to increase value for their shareholders, and many of them are part of bigger multinational corporations.”
Söldner privater Sicherungsfirmen bzw. Militärfirmen werden gern von Regierungen hochentwickelter Staaten eingesetzt, da sie im Umgang mit technisch hochspezialisierten Gerät versierter sind und gefallene Angehörige von Militärfirmen für weniger öffentliche Aufmerksamkeit sorgen. Söldner können auch hinter den Fronten eingesetzt werden. Sie sind daher auch im Kampf gegen terroristische Gruppen ‚flexibler‘, d.h. z.T. unter Umgehung nationalen und internationalen Rechts, im Sinne von Geheimarmeen mit illegitimen Aufträgen einsetzbar. Auch entspricht der Übergang zu privaten Militärfirmen dem Trend zum kostensparenden, gewinnsteigernden und risikoärmeren Outsourcing in einem neoliberalen Sinne.
Relativierung des staatlichen Gewaltmonopols
Der Einsatz von Söldnern privater Sicherungsfirmen ist allerdings hochproblematisch, da er das Gewaltmonopol demokratisch legitimierter Regierungen relativiert bzw. unterläuft:
“While a key principle of modern states is that they alone have the exclusive legitimacy to exercise violence – the state monopoly of violence – the reliance on private companies for its execution increases the distance between decision making and implementation of force, creating an intermediate actor with its own private, profit-maximizing goals. This thus challenges both the ability of government to exercise direct control over the use of force and the accountability of security providers to the electorate.“ [54]
Die SIPRI-Forscher Perlo-Freeman/Sköns (2008, 17) fassen daher die Problematik privater Militärfirmen wie folgt treffend zusammen:
“The continuing expansion of the private military services industry raises many issues. The view that outsourcing is economically efficient can be challenged on a number of grounds, not least when these services are provided in operationally deployed contexts. The involvement of private companies in assisting military operations in armed conflict situations such as Iraq also raises serious concerns about the democratic accountability of armed forces, the status of civilian contractors in military roles, and the political influence of companies that have a vested interest in the continuation of the conflict.”
Der Frankfurter Politikwissenschaftler Tim Engartner bezieht sich auf die Unterschiedlichkeit demokratischer Zielsetzungen eines Staates und dem betriebswirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Denken in seiner Konsequenz für eine angeblich vom Parlament kontrollierte Armee. Im Zuge eines Ausverkaufs staatlicher Dienstleistungen und Institutionen, wie z.B. der Post oder der Bundesbahn, gerate auch das Militär in den Blick von staatlichen Privatisierungsanstrengungen in einem neoliberalen Sinne:
„Wie bei Privatisierungen in anderen vormals staatlich verantwortbaren Bereichen bleibt die Interessensdivergenz zwischen Gewinnerzielungsabsichten auf der privaten und Gemeinwohlverpflichtungen auf der öffentlichen Seite bestehen. Kurzfristig zu hebende Einsparpotenziale können die Preisgabe parlamentarischer Kontrolle und die damit verbundene Entdemokratisierung nicht rechtfertigen. Andernfalls läuft ein leidlich demokratischer Staat Gefahr, sicherheitsrelevante Informationen preiszugeben und Entscheidungen, die eines der kostbarsten Güter überhaupt – das Gut ‚Frieden‘ – betreffen, privaten Unternehmen anheimzustellen.“
(Engartner 2018, 13) 55]
Zivilgesellschaft als Angriffsziel
Eine weitere Eskalationsstufe kriegerischer Auseinandersetzungen liegt in der gezielten Bombardierung zivilgesellschaftlicher Institutionen. Die gewaltsamen Angriffe und Massenmorde in militärischen Konflikten machen auch nicht vor den Institutionen der Bildung und vor Kindern und Lehrern halt – so die Organisation „World Vision“ im Rahmen ihrer – u.a. von UNICEF getragenen – Initiative „Safe Schools Declaration“:
„In den letzten zehn Jahren hat sich die Anzahl der gewaltsamen Konflikte fast verdoppelt, was dazu führt, dass weltweit jedes vierte Kind keine Schule besucht. Das Ausmaß der Angriffe auf Bildungseinrichtungen ist erschreckend: der aktuell veröffentlichte Bericht ‚Education Under Attack 2018‘ dokumentiert zwischen 2013 und 2017 mehr als 12.700 Angriffe auf Bildungseinrichtungen, bei denen mehr als 21.000 Lernende und Lehrende verletzt oder getötet wurden. Mehr als 1.000 Angriffe (gezielt oder als „Kollateralschaden“) auf Schulen wurden jeweils in der Demokratischen Republik Kongo (allein 639 hiervon in der Kasai Region in den Jahren 2016/2017), in Israel und den Palästinensischen Gebieten, in Nigeria und im Jemen dokumentiert. Zwischen 500 und 999 Angriffe auf Schulen wurden sowohl in Afghanistan als auch im Südsudan, in Syrien und in der Ukraine verzeichnet.“ [56]
Diese Problematik verschärft sich, wenn militante Gruppen bewusst gerade Schulen und Krankenhäuser nutzen, um den gegnerischen Angriffen zu entgehen. Dementsprechend werden Schulen, Krankenhäuser und Krankentransporte zunehmend zum Zielobjekt militärischer Angriffe mit dem Argument, dass sich feindliche Kämpfer unter deren Schutzschirm verstecken bzw. von dort agieren würden.
Im Zuge der russischen Aggression gegen die Ukraine werden ebenfalls gezielt zivile Objekte angegriffen. Nicht nur die Energieversorgung der Ukraine wurde 2022/2023 zum Zielobjekt der russischen Raketenangriffe sondern auch Schulen, Krankenhäuser und Wohnbezirke. Der Internationale Strafgerichtshof hat des Weiteren im März 2023 den russischen Präsidenten wegen der Mitverantwortung bei der Entführung Tausender ukrainischer Kinder und deren Freigabe zur Adoption an russische Eltern strafrechtlich verurteilt. Putin kann ab jetzt in allen Staaten, die den IStGH anerkennen, theoretisch verhaftet werden. Auch ist dies natürlich ein wichtiger symbolischer Akt, dass niemand über dem Gesetz stehen darf. Die entsprechenden Konsequenzen dieses Sachverhalts für den Krieg im Irak, für die Politiker Bush jun. und Cheney dürften auf der Hand liegen.
Fazit: Der an privatwirtschaftlicher Profitmaximierung orientierte militärisch-ökonomische Komplex soll nicht als ‚normale‘ Ökonomie sondern als destruktive Wirtschaftsform vor dem Hintergrund der existierenden politischen Strukturen, als eine Ökonomie des Todes, aufgefasst werden. Waffenlieferungen in Spannungsgebiete, massiver Lobbyismus, Kriege als Konjunkturhilfen und privatwirtschaftliche Kriegsführung mit hohen Renditen verweisen auf einen zynischen Umgang mit der Tatsache massenhaften Sterbens der von der Kriegsführung betroffenen Zivilbevölkerung. Spekulation mit Aktien von Rüstungsbetrieben im Zusammenhang mit militärischen Konflikten und Kriegen, wie am Beispiel der russischen Invasion 2022 in der Ukraine und den damit verbundenen Aufrüstungszusagen westlicher Regierungen, führen zu hohen Profiten von Kriegsgewinnlern. Der rechtzeitige Kauf von Aktien der Rüstungskonzerne führte zu hohen Gewinnsteigerungen, die mit dem Leid vom Krieg betroffener Menschen erzielt werden.
Im nächsten Kapitel wird analysiert, wie der militärisch-ökonomische Komplex mit der Unterstützung der Politik sich weiterhin durchsetzt und eine neue Rüstungsspirale zur zunehmenden Unordnung der Welt beitragen wird.
Anmerkungen zum Kapitel 1.4.1.1
[1] Im weiteren Verlauf dieses Kapitels wird sich u.a. auf die Ausführungen bei Moegling (2020b) zu Waffenexporten in Spannungsgebieten gestützt, und es werden Teile dieses Beitrags in modifizierter Form übernommen.
[2] Eisenhower, Dwight (1961)
[3] Vgl. zur Effizienz von Investitionen in die Waffenindustrie: Stocker, Franz (2020)
[4] So lehnen beispielsweise nach einer 2019 veröffentlichten Greenpeace-Umfrage 81% den Waffenexport in am Jemen-Krieg beteiligte Länder ab. Vgl. https://www.dw.com/de/umfrage-deutsche-gegen-waffenexporte/a-49169332, 13.6.2019, 18.2.21. Laut einer weiteren repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov lehnen 64 Prozent der Befragten Waffenexporte generell ab. 80 Prozent der Befragten votierten gegen Waffenlieferungen in Kriegs- und Krisengebiete. 83% der Befragten lehnten den Export von Rüstungsgütern in die Türkei ab. Vgl. https://www.welt.de/newsticker/news1/article176788904/Umfragen-Deutliche-Mehrheit-der-Deutschen-ist-gegen-Verkauf-von-Waffen-an-andere-Staaten.html, 29.5.2018, 18.2.21.
[5] Nepo, Sara, 2012, Der Iran-Irak-Krieg 1980-1988. Die Balancepolitik der Großmächte. In: file:///C:/Users/Klaus_neu/Downloads/2222-2770-1-PB.pdf, 1.3.2013.
[6] ATT der UN, in deutscher Übersetzung abgedruckt in: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (Hrsg.) 2020, 49ff.
[7] Angaben nach https://thearmstradetreaty.org/treaty-status.html?templateId=209883, entnommen, o.D., 26.3.2023, Stand: März 2023.
[8] https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-04/nra-waffenhandel-usa-donald-trump-un-vertrag-att-waffenexport, 29.5.20.[9] Der komplette „Gemeinsame Standpunkt der Rates“ (2008/ 2019) siehe Anlage 2 im Rüstungsexportbericht 2019, a.a.O., S.43ff.
[10] Vogel (2015)
[11] Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (Hrsg.) (2020), 6.
[12] Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (Hrsg.) (2020), 10.
[13] Vogel (2015), o.S.
[14] Vgl. https://www.gesetze-im-internet.de/krwaffkontrg/__27.html, in der letzten Änderung vom 27.6.2020.
[15] Eckpunkte für die Einführung von Post-Shipment- Kontrollen bei deutschen Rüstungsexporten. In: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (Hrsg.) (2020, 42f). Hierbei muss angemerkt werden, dass die Bundesrepublik Deutschland 2019 ihrer eigenen Beurteilung nach das einzige EU-Land war, das überhaupt systematische Post-Shipment-Kontrollen versucht hat. Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (Hrsg.) (2020, 14) [16] Vgl. Wälterlin, Urs, (2018)
[17] Vgl. http://www.zeit.de/news/2018-03/12/mehr-waffenimporte-in-den-mittleren-osten-und-nach-indien-180312-99-441610, 12.3.18 und https://www.sipri.org/news/press-release/2018/asia-and-middle-east-lead-rising-trend-arms-imports-us-exports-grow-significantly-says-sipri, 13.3.2018.
[18] Vgl. die Angaben bei SIPRI auf https://www.sipri.org/media/press-release/2019/global-arms-industry-rankings-sales-46-cent-worldwide-and-us-companies-dominate-top-5;
9.12.19, 9.12.19.
[19] Steinberg (2013).
[20] SIPRI (2018).
[21] SIPRI Yearbook (2020a, 13)
[22] Vgl. SIPRI (2020, 12).
[23] Vgl. Knipp (2020).
[24] Vgl: Libyen: Der grenzenlose Konflikt? In: https://www.daserste.de/information/politik-weltgeschehen/weltspiegel/libyen-180.html, 19.1.20., 21.2.21.
[25] Vgl. Salzen, v. (2020)
[26] Die Linke im Europaparlament, 2020, Waffenexporte/ Rüstungsexporte. In:https://www.dielinke-europa.eu/de/article/8988.waffenexporte-ruestungsexporte.html, o.D. [27] Vgl. SIPRI (2020a, 13)
[28] Europäische Friedensfazilität. Ein außerbudgetärer EU-Fonds für die Friedensförderung und die Stärkung der internationalen Sicherheit. In: https://op.europa.eu/de/publication-detail/-/publication/b678ff59-7f34-11e8-ac6a-01aa75ed71a1/language-de/format-PDF, 13.6.2018, 21.2.21
[29] Vgl. zur kritischen Untersuchung der EPF: Bergmann/Furness (2019) sowie: Europäische Militär-Fazilität birgt erhebliche Risiken für den Frieden. Presserklärung von ‚Ohne Rüstung leben‘ zusammen mit 17 weiteren Organisationen. In: https://www.ohne-ruestung-leben.de/nachrichten/article/offener-brief-europaeische-militaer-friedens-fazilitaet-erhebliche-risiken-329.html, 8.10.19
[30] Vgl. Deutschland exportiert deutlich mehr Kriegswaffen. In: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-07/waffenexporte-ruestungsindustrie-kriegswaffen-deutschland, 14.7.20, 21.2.21.
[31] Alle Zahlen tabellarisch zusammengestellt aus: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (Hrsg.) (2020, 8 u. 22).
[32] Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (Hrsg.) (2020, 24), die Höhe der Sammelgenehmigungen ebenda, S.23.
[33] Alle Zahlen tabellarisch zusammengestellt nach Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (Hrsg.) (2020,8 u. 22).
[34] Bickel (2018, o.S.)
[35] Türkei erhält mehr als ein Drittel der deutschen Waffenexporte. dpa-Meldung vom 23.6.20, in: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/tuerkei-erhielt-mehr-als-ein-drittel-der-deutschen-waffenexporte-a-52c320a4-147c-4b92-8a35-9fcfe1dd27a8, 23.6.20.
[36] Türkei erhält mehr als ein Drittel der deutschen Waffenexporte. dpa-Meldung vom 23.6.20, in: a.a.O., 23.6.20.
[37] Links-Fraktion, Geschäft mit Kriegswaffen boomt. In: https://www.sevimdagdelen.de/geschaeft-mit-kriegswaffen-boomt/, 16.7.20, 22.2.21
[38] Vgl. ausführlicher zum Jemen-Krieg bei Reimann (2020b).
[39] Vgl. Bickel (2018, o.S.).
[40] Rüstungsexporte: Deutschland liefert Rüstungsgüter für 1,2 Milliarden an Jemen-Allianz, In: https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-04/ruestungsexporte-jemen-krieg-deutschland-allianz, 1.4.20.
[41] Reimann (2020b, o.S.)
[42] Vgl. https://www.mena-watch.com/im-jemen-sind-bis-zu-85-000-kinder-verhungert/, 8.10.2019.
[43] https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/italienische-rheinmetall-tochter-muss-bombenlieferungen-stoppen,RXsavKn, 1.8.2019, 1.8.2019.
[44] Greenpeace (Hrsg.) (2020, 29).
[45] Der ehemalige US-Vizepräsident Cheney war von 2001-2009 Vizepräsident des Konzerns Halliburton, der über seine Firmen als Ausrüster und Transportunternehmer vom in dieser Zeit stattfindenden 2. Irak-Krieg profitierte.
[46] “Furthermore, a long-term contracting relationship can lead to the ‘capture’ of the contracting process by the private firms and even to corruption. The close relationship between contractor and customer can create a ‘revolving door’ between government and industry, with senior personnel often moving from one to the other, and can result in a high degree of lobbying power for firms intimately connected with government activity.” (Perlo-Freeman/Sköns 2008, 15).
[47] Vgl. Vogel (2015, o.S.)
[48] Vgl. Danner (2019); inzwischen ist übrigens Kujat einem Machtkampf zweier Großanleger zum Opfer gefallen und musste diese Position wieder verlassen.
[49] Vgl. Eglau (2019).
[50] Das folgende Zitat entstammt einem 2008 von Stephan Kaufmann in der Berliner Zeitung geführten Interview mit Joseph Stiglitz (Stiglitz 2008).
[51] Naím (2014, 118).
[52] Vgl. Perlo-Freeman/Sköns (2008, 1).
[53] Vgl. Perlo-Freeman/Sköns (2008, 2).
[54] Perlo-Freeman/Sköns (2008, 13).
[55] Vgl. hierzu auch das entsprechende Kapitel ‚War sells‘: Die Bundeswehr. im Buch von Engartner (2016, 109ff.).
[56] https://www.worldvision.de/pressemitteilungen/2018/05/22/safe-schools-declaration,o.D., 23.5.18.
(Das vollständige Literaturverzeichnis findet sich zum Schluss der Unterseite 'international edition')
1.4.1.3 Umwelt, Militär und Krieg
(3. aktualisierte und erweiterte Ausgabe, Verlag Barbara Budrich, 2020, mit Zusätzen aus der wiederum aktualisierten englischsprachigen Ausgabe unter https://www.klaus-moegling.de/international-edition/)
Ein über lange Zeit vernachlässigter Aspekt von Aufrüstung und militärischer Aktivitäten liegt in der massiven Umweltzerstörung, die weltweit durch das Militär und insbesondere während und nach Kriegen verursacht werden. Aber auch im Regelbetrieb militärischen Alltags und militärischer Übungen ist das Militär der größte institutionelle Emittent von Klimagasen.
Die Vergiftung und Zerstörung der Umwelt mit schwerwiegenden Folgen für Menschen, Tiere und Pflanzen kommen erst jetzt am Rande der aktuellen Proteste der Umwelt- und der Friedensbewegung allmählich an die Öffentlichkeit. Doch der norwegische Friedensforscher Johan Galtung hat diesen Aspekt bereits 2004 weitsichtig thematisiert:
„Eine Sache ist der Schaden, der dem Ökosystem zugefügt wird, eine andere die Verstärkung des allgemeinen kulturellen Codes der Herrschaft über die Natur, die auch ein Teil des Vergewaltigungssyndroms ist. Unzählige Millionen von Menschen schauen sich nicht nur an, wie Menschen getötet und verwundet werden, sondern auch wie die Natur zerstört wird und in Flammen aufgeht. Der Krieg ist legitimiert, der Schaden, den er anrichtet, wird vielleicht beklagt, nicht jedoch seine Legitimation.“[1]
Geschichte militärbedingter Umweltzerstörung
Die militärbedingten Eingriffe in die Umwelt und die legitimatorische Selbstverständlichkeit der Naturvernichtung im Rahmen von militärischen Konflikten und zur militärischen Nutzung fanden jedoch bereits vor Hunderten von Jahren statt. Ökologische Zerstörungen durch Militär wurden früher nur selten als Bedrohungen angesehen; ökonomische und geostrategische Zielsetzungen hatten Priorität. So kritisiert bereits z.B. der römische Naturkundler Plinius der Ältere im 1. Jahrhundert n. Chr. die Abholzung der Wälder und die Verwüstung der Landschaften in Italien, Spanien und Nordafrika, um für den Handel und den Krieg u.a. Holz, Kupfer und Eisenerz zu gewinnen:
„Man durchgräbt die Erde auf der Jagd nach Reichtum, weil die Welt nach Gold, Silber, Elektron und Kupfer verlangt – dort der Prunksucht zuliebe nach Edelsteinen und Färbemitteln für Wände und Holz, anderswo um des verwegenen Treibens willen nach Eisen, das bei Krieg und Mord sogar noch mehr geschätzt wird als das Gold.“ [2]
Die Folgen dieser massiven Eingriffe in die Natur zeigen sich noch bis heute beispielsweise in der Verkarstung großer Teile der italienischen und spanischen Berglandschaft.
Später war der Kolonialismus mit weiteren Umweltzerstörungen und Eingriffen in ökologisch angepasste und funktionierende Systeme der Subsistenzwirtschaft verbunden: Indigene Bauern wurden in den eroberten Gebieten von ihrem Land vertrieben. Eine intakte Umwelt wurde oftmals aufgrund des militärischen Eingreifens der Kolonialmächte zu einer monokulturellen und einseitig ausgerichteten Plantagenwüste.
Die beiden Weltkriege verwandelten zahlreiche Regionen in eine zerstörte und mit Waffenresten verseuchte Landschaft.
Nach Schätzungen des Fraunhofer Instituts liegen ungefähr 1,6 Millionen Tonnen konventionelle Kampfmittel und ca. 200.000 Tonnen chemische Kampfmittel auf den Meeresböden der Ost- und Nordsee. Seeminen, Bomben, Giftgasgranaten rosten, werden porös und geben ihre giftige Ladung in die Umwelt frei, so dass über die Fische das Gift in die menschliche Nahrungskette gerät.[3]
Die beiden Atombombenabwürfe auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki im August 1945 bewirkten neben einer Viertelmillion Toten allein 1945 bis heute die radioaktive Verseuchung dieser Regionen sowie zahlreiche Krebstote und mit genetischen Defekten geborene Kinder.
Es wurden bereits 1961 Pflanzenschutzmittel in Vietnam nach Anordnung durch den US-amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy eingesetzt, um den Vietcong die Deckung im entlaubten Regenwald zu nehmen und deren Reisfelder zu zerstören. Ab Februar 1967 wurde das Pflanzengift ‚Agent Orange‘ zur Entlaubung des vietnamesischen Regenwalds und zur Zerstörung der Reisfelder des Vietcong im Rahmen des größten Chemie-Angriffs der Geschichte im Vietnam-Krieg eingesetzt. Das darin enthaltene Dioxin konnte bis heute nicht entfernt werden und ist für massive Krebserkrankungen und Gendefekte in Vietnam verantwortlich. Insgesamt wurden von der US-Armee 70 Millionen Liter Herbizide aus der Luft über Vietnam mit verheerenden Folgen für die Natur und die Gesundheit der Menschen versprengt.[4]
Aktuelle Umweltzerstörung durch Militär und Krieg
Die ‚Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen‘ (ICAN), die 2017 den Friedensnobelpreis erhielt, geht von ca. 2000 Atomwaffentests mit der Sprengkraft von 29.000 Hiroshima-Bomben aus, die unter der Erde, im Wasser und über dem Boden durchgeführt wurden. Die Atomwaffenversuche sind verantwortlich für eine umfangreiche radioaktive Verseuchung verschiedener Regionen sowie heute für ca. 2,4 Millionen Krebstote. So führten die USA von 1945 – 1992 insgesamt 1032 Test durch. Von der Sowjetunion wurden allein in Semipalatinsk in der kasachischen Steppe zwischen 1949 und 1991 456 sowjetische Nuklearwaffentests durchgeführt.[5]
Niemand weiß allerdings genau, wie viel Millionen Menschen tatsächlich aufgrund insbesondere der überirdischen Tests an Krebs erkrankten und starben. Die Organisation ‚Internationale Ärzte für die Verhütung eines Atomkriegs‘ (IPPNW) setzt die Opferzahlen im Rahmen ihrer Studie ‚Bedrohung des Lebens durch radioaktive Strahlung‘ noch höher als ICAN an. Die vom Münchner Biochemiker Prof. Roland Scholz geleitete Studie kommt bereits 1997 zum Ergebnis,
„dass allein die äußere Strahlenbelastung durch den Bomben-Fallout weltweit 3 Millionen zusätzliche Krebstote bis zum Jahr 2000 verursachen könnte. Hinzu kämen die Folgen der Inkorporation von Radionukliden durch Nahrung und Atemluft. Durch diese interne Strahlung könne es noch zusätzliche 30 Millionen Opfer geben.“[6]
Brennende Ölquellen im Zuge von militärischen Auseinandersetzungen im arabischen Raum, z.B. im Irak-Krieg, sorgten für eine massive CO2-Verschmutzung der Biosphäre. Ein weiteres Beispiel hierfür sind die brennenden Ölquellen Saudi-Arabiens im Rahmen des Jemen-Kriegs.
Aber insbesondere die 30-jährige Bombardierung des Iraks ist hier zu nennen, im Rahmen dessen Hundertausende von Einsätze von Kampfflugzeugen mit Tod bringender Bombenlast und massiver Umweltzerstörung erfolgten. Die USA und ihre Verbündeten töteten über 30 Jahre hinweg insgesamt 2,7 Millionen Menschen im Zuge des 2. und 3. Golfkrieges und den nachfolgenden Einsätzen und Maßnahmen, im Durchschnitt pro Tag 270 Menschen.[7] Des Weiteren kam es zu massiven ökologischen Schäden durch Bombardierungen, Anzünden von Ölanlagen sowie dem Einsatz von Uran-Munition (DU, depleted uranium) – so der Journalist Jacob Reimann (2021, o.S.):
„Am 24. Februar 1991 begannen die USA die Bodeninvasion Kuwaits und konnten innerhalb weniger Tage das gesamte Land zurückerobern. Auf dem Rückzug befindliche irakische Truppen setzten Dutzende Ölanlagen in Brand und öffneten kuwaitische Ölterminals, wodurch im Persischen Golf eine verheerende Umweltkatastrophe ausgelöst wurde. (…)
Die USA haben 1991 im Irak 320 Tonnen radioaktive DU-Munition verschossen. Die Krebsraten schossen in die Höhe. Wie schon bei der chemischen Kriegsführung der USA in Vietnam mittels Agent Orange werden auch von DU die Kleinsten am härtesten getroffen: In nur zehn Jahren kam es in Basra zu einer Versiebzehnfachung der Zahl von Missbildungen bei Neugeborenen. (….) Die USA haben durch ihre DU-Munition geradezu eine neuartige Klasse des menschlichen Elends und des Leids erschaffen.“
Hierüber hinaus: Wenn US-Truppen ein besetztes Gebiet verlassen, hinterlassen sie oftmals ein ökologisches Desaster, das schwerwiegende Folgen für die Gesundheit der dort noch lebenden Menschen hat. Die US-Armee darf nach ihrem eigenen Statut keine Materialien zurücklassen, so dass alles, was nicht mitgenommen wird, in sogenannten ‚Burn-Pits‘ verbrannt wird. Das sind große Gruben, in denen u.a. Ölrückstände, chemischer Abfall, Sprengstoff, Batterien, Farbe, Autowracks in Flammen aufgehen. Die Feuer brennen oft noch Wochen, nachdem die US-Truppen sich zurückgezogen haben. Durch die entstehenden Emissionen werden Giftpartikel in die Umwelt ungefiltert herausgelassen, was seine Auswirkung auf die Menschen und die Umwelt hat. Das Grundwasser wird verseucht, Krebs- und Lungenerkrankungen und vermehrte Fehlgeburten treten im Umfeld der ‚Burn-Pits‘ auf. Auch diejenigen, die das Feuer anfachen, die US-Soldaten, haben eine erhöhte Krebsrate und Lungenerkrankungen.[8]
Doch nicht nur im Irak wurde Uran-Munition eingesetzt. Auch die u.a. im ehemaligen Jugoslawien von der NATO verwendete Uran-Munition vergiftete die Umwelt und sorgte dort für radioaktiv verstrahlte Gebiete. Radioaktive Munition wurde auch im Irak und heute in Syrien eingesetzt, insbesondere für Panzer brechende Angriffswaffen. Als Folge kommen gehäuft Kinder mit massiven Missbildungen auf die Welt, sind oft nicht überlebensfähig.
Die langjährig in Damaskus akkreditierte Korrespondentin Karin Leukefeld berichtet über die Gesundheitsfolgen von Uranmunition aus abgereicherten Uran, das – neben seiner unmittelbar zerstörerischen Wirkung – hochgiftig für Umwelt, Tiere und Menschen, auch für zukünftige Generationen, ist:
„Die Folgen der von den USA und ihren Verbündeten in mehreren Golfkriegen eingesetzten abgereicherten Uranmunition haben noch heute die Familien im Südirak und westlich von Bagdad, in Falluja zu tragen. Unzählige Kinder werden tot oder mit schweren Missbildungen geboren: mit offenem Rücken, zusammengewachsenen Beinen, außenliegender Blase, einem Auge oder auch gar keinem Auge, offenen Schädeln, um nur einige Beispiele zu nennen.“[9]
Auch in Syrien wird Uranmunition eingesetzt. Hierbei verbrennt bei einem Beschuss das Uran bei bis zu 5000 Grad Celsius zu Nanopartikeln, die 100 Mal kleiner als rote Blutkörperchen sind, und fällt als radioaktiver Feinstaub zu Boden, der die Umwelt kontaminiert.[10]
Der russische Überfall und der Krieg in der Ukraine ab dem Februar 2022 brachten ebenfalls massive Mitweltzerstörungen mit sich, welche die Menschen, die Gebäude und die Infrastruktur sowie die Biosphäre betreffen. Tausende Detonationen durch Bomben- und Raketenangriffe, Sprengungen, explodierende Treibstofflager, die Gefahr des Austritts von Radioaktivität durch angegriffene Atomkraftwerke, umfangreiche CO2-Emissionen durch das Betreiben tausender Militärfahrzeuge und Kampfjets, zerstörte Landschaften und vermintes Gelände sind das Ergebnis dieses Krieges.
Susanne Aigner (2022) fügt in ihrem Bericht über die ökologischen Folgen des Ukraine-Kriegs diesen Schäden und Zerstörungen noch eine weitere Bedrohung hinzu:
„Daneben gibt es noch andere Arten radioaktiver Verseuchungen, eine geht auf den Krieg im Donbass zurück: Seit Kriegsbeginn 2014 wurden dort die alten Kohleschächte nicht mehr ordnungsgemäß ausgepumpt und gewartet. Infolge dessen wurden rund 200 Minen überflutet, die teilweise mit nuklearen Sprengungen gegraben wurden, so dass sich Chemikalien wie Quecksilber und Arsen im Grundwaqsser ausbreiten. Wie Messungen des ukrainischen Umweltministeriums bereits 2016 ergaben, lagen in der gesamten Region die Strahlungswerte in den Brunnen um ein Zehnfaches über dem Grenzwert.“ (Aigner 2022)
Der Krieg in der Ukraine hinterlässt eine zerstörte Mitwelt, für welche die Russische Föderation Milliarden Euro Reparationen zu zahlen hat, wobei dann letztlich hier nur der oberflächliche Schaden reparierbar wäre. Die tiefen Eingriffe in die menschliche Gesundheit aufgrund der eingeatmeteten Emissionen, des Trinkens belasteten Wassers und der zu ertragenden Strahlung sind nicht mit Geld bezahlbar.
Aber das Militär ist nicht nur im militärischen Einsatzfall, also im Krieg, sondern auch im militärischen Alltagsbetrieb, d.h. in noch kriegsfreien Regionen, einer der größten globalen Umweltverschmutzer. So schreibt Markus Gelau (2018) am Beispiel des US-Militärs:
„Offiziell werden auf den weltweit 1.000 Militärbasen täglich 320.000 Barrel Öl verbraucht. Hauptsächlich verursacht durch die sich ständig im Einsatz befindlichen 285 Kampf- und Versorgungsschiffe der US-Navy. Ebenso rund 4.000 Kampfflugzeuge, 28.000 gepanzerte Fahrzeuge, 140.000 sonstige Fahrzeuge, über 4.000 Hubschrauber, mehrere Hundert Transportflugzeuge und 187.493 Transportfahrzeuge (alle Zahlen aus 2012).
Zudem werden ausgemusterte Schiffe samt hochgiftiger Ladung zumeist nicht fachgerecht abgebaut und entsorgt, sondern auf hoher See einfach mit Torpedos und Raketen bombardiert und versenkt. Mindestens 109 Mal soll dies zwischen 1999 und 2012 so praktiziert worden sein. Nur 64 Schiffe wurden im selben Zeitraum verschrottet und recycelt“.[11]
Allein in den USA gibt es im Kontext militärischer Übungsgelände nach Pentagon-Angaben ca. 39.000 verseuchte Gegenden, deren Dekontaminierung Hunderte Milliarden Dollar kosten würde.[12]
Auch Deutschland ist beispielsweise von dieser Problematik nicht ausgenommen. Das zeigen die massiven Waldbrände auf dem ehemaligen Übungsgelände der DDR-Armee und der Bundeswehr mit der damit verbundenen Gefahr weiterer explodierender Munition in Mecklenburg-Vorpommern sowie die immer noch auftretenden Bombenfunde in deutschen Großstädten.
Der Friedens- und Umweltaktivist Bernhard Trautvetter sieht das weltweite Militär als einen der gefährlichsten institutionellen Klimaschädiger an, das bereits im Normalbetrieb massive Schäden verursacht – ganz abgesehen vom Kriegsfall:
„Ein Eurofighter verbrennt pro Flugstunde circa 3.500 kg Treibstoff, wobei circa 11 Tonnen CO2 entstehen. (…) Ein Panzer verbraucht je nach Gelände pro 100 km circa 500 Liter Treibstoff.“[13]
Man geht von Klimaschädigungen allein des US-Militärs in einer Größenordnung dreier Staaten aus – so das Ergebnis einer Anfrage von Wissenschaftlern an die ‚Defense Logistic Agency‘:
„Die Wissenschaftler ermittelten auf Basis dieser Daten, dass die US-Streitkräfte, wenn sie ein Nationalstaat wären, der 47. größte Emittent von Treibhausgasen in der Welt wären, wenn man nur die Emissionen aus der Kraftstoffnutzung berücksichtigen würde. Damit würde das US-Militär alleine mehr Emissionen verursachen als Portugal, Schweden oder Dänemark.
Im Jahr 2017 benötigte das US-Militär jeden Tag etwa 42,9 Millionen Liter Öl, dabei wurden mehr als 25 Millionen Tonnen Kohlendioxid emittiert. Die US-Luftwaffe kaufte im selben Jahr Treibstoffe im Wert von 4,9 Milliarden US-Dollar, die Marine 2,8 Milliarden US-Dollar, gefolgt von der Armee mit 977 Millionen US-Dollar und den Marines mit 36 Millionen US-Dollar, wodurch mehr klimawirksame Gase emittiert wurden als von den meisten mittelgroßen Länder.“[14]
Ein weiteres Problem stellt sich mit der ökologischen Kontaminierung durch Landminen dar. Die Vereinten Nationen schätzen, dass in den vergangenen Jahrzehnten mehr als 100 Millionen Landminen in über 70 Ländern gelegt wurden.[15] Derartige Gegenden z.B. im ehemaligen Jugoslawien, in der Demokratischen Republik Kongo, in Vietnam, Kambodscha oder Tschetschenien sind somit Kampfmittel verseucht und langfristig weder für Wohnungsbau oder Landwirtschaft nutzbar, da deren Beseitigung teuer und auch nur über einen längeren Zeitraum hinweg Schritt für Schritt erfolgen kann.
Zum gemeinsamen Interesse von Umwelt- und Friedensbewegung
Diese Bilanz könnte mit zahlreichen weiteren Beispielen (Einsatz von Streumunition durch Saudi-Arabien im Jemen, Fassbomben des syrischen Militärs, gesunkene sowjetische Atom-U-Boote in der Ostsee, CO2-Emissionen durch Militärbewegungen zu Luft und am Boden …) fortgeführt werden und zeigt:
Die Umwelt- und Friedensbewegung haben einen gemeinsamen substanziellen Schnittpunkt. Die Forderung nach einer Beendigung der Umweltzerstörung durch Militär und Kriege sollte sowohl von der Umweltbewegung als auch der Friedensbewegung als zentrale Forderungen an die Politik adressiert werden.
Diese Einschätzung wird nochmals dadurch unterstützt, dass das Militär nicht nur Ursache von Klimaschädigung ist, sondern auch die eintretende und in einem Zusammenhang mit kapitalistischen und geostrategischen Interessen stehende[16] Klimakrise wiederum die weitere Ursache für militärisch auszutragende Konflikte und die Zerstörung politischer Systeme gerade in den ärmeren Regionen der Welt sein wird – so Michael T. Klare (2015), Professor für Frieden und Weltsicherheit am Hampshire College in Massachusetts:
„Die stärksten und reichsten Staaten, insbesondere in den gemäßigteren Klimazonen, dürften mit diesen Belastungen besser zurechtkommen. Hingegen wird die Zahl der gescheiterten Staaten wohl dramatisch anwachsen, was zu gewaltsamen Auseinandersetzungen und regelrechten Kriegen um die verbleibenden Nahrungsquellen, landwirtschaftlich nutzbaren Böden und bewohnbaren Flächen führen wird. Große Teile des Planeten könnten also in Zustände wie jene geraten, die wir heute in Libyen, Syrien und dem Jemen vorfinden. Manche Leute werden bleiben und um ihr Überleben kämpfen; andere werden abwandern und so gut wie sicher auf wesentlich gewaltsamere Formen jener Feindseligkeit stoßen, die Einwanderern und Flüchtlingen in ihren Zielländern heute schon entgegenschlägt. Somit würde es unausweichlich zu einer weltweiten Epidemie von Bürgerkriegen und anderen gewalttätigen Auseinandersetzungen um Ressourcen kommen.“[17]
Dies bedeutet demnach, dass die weltweiten Militäraktivitäten sowohl Ursache als auch Folge von Umweltzerstörung sein können.
Dementsprechend fordert der Friedensaktivist Karl-Heinz Peil (2019, 13) (Bundesausschuss Friedensratschlag): „Für die Friedensbewegung gilt es (…), dass nur durch drastische Abrüstung globale Nachhaltigkeit und Ressourcenschutz ermöglicht wird.“[18]
Dies gilt genauso für die Umweltbewegung, welche die ökologische Gefährdung von Seiten des Militärs sowohl in Friedens- als auch in Kriegszeiten deutlicher in ihren Aufmerksamkeitsfokus nehmen müsste. Wenn eine Aufrüstung Deutschlands und der EU im Sinne der NATO-Anforderungen (2% des BIP für Militärausgaben) vollzogen wird, dann fehlt dieses Geld für die existenziell notwendige Bekämpfung der Klimakrise – so der internationale Friedensnetzwerker Rainer Braun und der Umweltpolitiker Michael Müller (2018):
„Wir leben aber in einem unfertigen Frieden, in dem soziale Unterschiede und ökologische Risiken zunehmen. Hunger, Elend und Umweltzerstörung erzeugen eine Gewalt, die Kriege auslösen kann. Zusätzlich fast 30 Milliarden Euro fürs Militär würden der Modernisierung der Infrastruktur, dem sozialen Wohnungsbau, der Entwicklungszusammenarbeit oder im Kampf gegen den Klimawandel fehlen.
Geld muss in die 17 Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 und das Pariser Klimaabkommen fließen, um die Erderwärmung möglichst bei 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Das sind Investitionen, die für den Frieden unverzichtbar sind.“[19]
In diesem Zusammenhang ist auch die Frage der Finanzierung einer Beseitigung der durch Militär verursachten Umweltschäden zu stellen. Hierzu müssten – neben den verursachenden Kriegsparteien – auch die Produzenten in der Rüstungsindustrie herangezogen werden. Gerade für die Rüstungsindustrie ist ja nicht vertretbar, dass eine Privatisierung der (erheblichen) Gewinne bei gleichzeitiger Vergemeinschaftung der Kosten auf den Staat und den Steuerzahler hin erfolgt. Eine derartige Externalisierung von Kosten und die Internalisierung von Gewinnen in der Rüstungsindustrie sind nicht mehr länger hinnehmbar. Es ist überhaupt nicht einsichtig, warum beispielsweise die Hersteller von Tellerminen nicht auch für deren Beseitigung und für Schadensersatzforderungen der Opfer aufkommen sollten.
Vor allem die Ausklammerung des Militärs als Klimaschädiger aus dem Kyoto-Protokoll und dem Versuch, dies auch für die Pariser Verträge vorzunehmen, insbesondere auf Druck der USA[20] verweist des Weiteren auf die internationale Dimension der Problematik. Hier sind die Vereinten Nationen gefragt, die Umweltproblematik im Zusammenhang mit dem Militär und den Kriegseinsätzen in den Bestand der internationalen Klima-Verträge aufzunehmen. Dies dürfte ihnen leichter fallen, wenn ein entsprechender zivilgesellschaftlicher Druck, z.B. über die Fridays-for-Future-Bewegung und die Ostermarsch-Bewegung bzw. weitere Aktivitäten der Friedensbewegung aufgebaut wird.
Insbesondere sollte hierbei auf das Missverhältnis von Militärausgaben und Investitionen in den Umweltschutz aufmerksam gemacht werden, welches Ausdruck eines problematischen Bewusstseinsstand der politisch Herrschenden ist und natürlich auch den Interessen der Rüstungsindustrie entgegenkommt. Der Friedensaktivist Bernhard Trautvetter (2019a) hat dies für Deutschland eindrucksvoll in Zahlen dokumentiert:
„Auch in Deutschland wird die indirekt umweltgefährdende Wirkung der Rüstung schon beim Blick auf den Bundeshaushalt unmittelbar klar: Der Ansatz für die sogenannte Verteidigung erreichte 2019 einen neuen Rekord, indem er sprunghaft von circa 38,5 Milliarden Euro auf 43,2 Milliarden Euro anstieg. Der Ansatz für Umwelt, Naturschutz und sogenannte nukleare Sicherheit stieg von knapp 2 Milliarden Euro auf knapp 2,3 Milliarden Euro. Das Verhältnis von Militärausgaben und dem Etat, der unter anderem die Kosten für Umwelt aufführt, beträgt circa neunzehn zu eins.“
An die Wahlbürger_innen ist entsprechend zu appellieren: Keine Partei mehr zu wählen, die sich nicht ökologisch eindeutig positioniert; keine Partei mehr zu wählen, die für die Ausweitung des Rüstungsetats und des Waffenhandels eintritt, auch wenn dies mit dem Arbeitsplatzargument unterstützt wird; keine Partei zu wählen, die bereit ist, sich an völkerrechtswidrigen Kriegen zu beteiligen, die immer sowohl gegen die Menschen als auch gegen die Umwelt gerichtet sind.
Des Weiteren: Wenn die erstarkende internationale Umweltbewegung, die derzeit vor allem von der jüngeren Generation getragen wird, über den Zusammenhang zwischen Militär, Krieg und Umweltzerstörung Kontakt zur Friedensbewegung aufnimmt, sich mit dieser vernetzt, dann wird ihre langfristige gesellschaftliche Relevanz weiterhin zunehmen. Wenn dann auch noch der Zusammenhang zwischen der vorwiegend durch ein ungebremstes Profitstreben und durch geostrategische Interessen ausgelösten Umweltzerstörung, gewalttätig ausgetragenen Verdrängungskonflikten und der Migration von fliehenden Menschengruppen thematisiert wird, dann könnte langfristig einer derartigen gesellschaftlichen Bewegung möglicherweise noch eine größere systemische Bedeutung zukommen, als dies bei der 1968er-Bewegung der Fall war.
Anmerkungen zum Kapitel 1.4.1.3
[1] Galtung (2004).
[2] Sonnabend (2010).
[3] Vgl. Fraunhofer Institut (2018).
[4] Vgl. Langels, Otto (2017): Der größte Chemieangriff der Geschichte. https://www.deutschlandfunkkultur.de/agent-orange-im-vietnamkrieg-der-groesste-chemie-angriff.932.de.html?dram:article_id=378270, 7.2.17, 9.7.19.
[5] Vgl. ICAN (o.J.).
[6] Aus: https://www.ippnw.de/atomwaffen/humanitaere-folgen/atomtests/artikel/de/millionen-krebstote-durch-atomtests.html, ohne Datum, 13.7.2019.
[7] Vgl. Reimann (2021)
[8] Vgl. hierzu Leukefeld (2019, 162f.)
.[9] Leukefeld (2019, 163).
[10] Vgl. Leukefeld (2019, 164) über eine von Frieder Wagner vorgenommene Analyse der
Wirkungsweise Uranmunition.
[11] Gelau (2018).
[12] Vgl. Braun (2019, 4).
[13] Vgl. Trautvetter (2021, o.S.)
[14] Vgl. Krebs (2019)
[15] In: https://handicap-international.de/sites/de/files/faktenblatt_landminen_3-2016.pdf, 12/2015, 30.11.2019.
[16] Vgl. ausführlicher zum Zusammenhang von Kapitalismus und Klimazerstörung bei Klein (2012, 2019).
[17] Klare (2015).
[18] Peil (2019).
[19] Braun/Müller (2018), vgl. hierzu auch den von Michael Müller (Vorsitzender der Naturfreunde Deutschlands, NFD) im Dezember 2018 gehaltenen Vortrag auf dem 25. Friedensratschlag in Kassel (Müller 2019).
[20] Vgl. Braun (2019): a.a.O., 3.
(Zur zugehörigen Literatur siehe das Literaturverzeichnis zum Ende der englischsprachigen Gesamtausgabe unter der Rubrik 'international edition')
1.4.1.5 Die mediale Konstruktion von Feindbildern
(3. aktualisierte und erweiterte Ausgabe, Verlag Barbara Budrich, 2020, mit Zusätzen aus der wiederum aktualisierten englischsprachigen Ausgabe unter https://www.klaus-moegling.de/international-edition/)
Feindbilder werden medial konstruiert. Sie manipulieren Menschen und sind Teil einer sozialpsychologischen Kriegsvorbereitung. Dies lässt sich an aktuellen Beispielen zeigen. [1]
Was ist unter einem ‚Feindbild‘ begrifflich zu verstehen?
Unter dem Begriff des Feindbildes sollen alle sprachlichen Versuche bzw. sozialen Deutungsmuster verstanden werden, andere Personen, Menschengruppen, Ethnien oder Staaten mit Hilfe von Negativsymbolen bzw. negativ besetzten Metaphern abzuwerten und ihnen ihre Menschenwürde zu nehmen. Diese Abwertung soll unangenehme Emotionen gegenüber diesen Personengruppen oder Staaten, wie z.B. Ekel, Hass oder Angst, auslösen. Hierbei wird eine vorurteilsbeladene Wirklichkeitswahrnehmung mit manipulativer Absicht benutzt, um die eigene Weltsicht als einzige Wahrheit auszuweisen und den Gegner so zu stigmatisieren, dass er nicht mehr zum Kreis einer akzeptierten Menschengemeinschaft gehört. [2]
Beispiele für die Entwicklung von Feindbildern
Bereits Caesar beschrieb die Gallier in der Mitte des ersten Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung als charakterlos, undiszipliniert und unberechenbar. Er wertete somit den Feind ab, um Tötungshemmungen zu beseitigen und die römischen Truppen zu motivieren.
Der berühmte Roman „Die Waffen nieder!“ (1889) der Friedensnobelpreisträgerin von 1905 und Friedensaktivistin Bertha von Suttner zeichnet die Sichtweise einer jungen Frau im Vorfeld des Krieges Österreich-Italien (1859) [3] nach, die sich kritisch mit Feindbildern in der österreichischen Gesellschaft befasst:
„Schlechte Eigenschaften, als da sind: Eroberungsgier, Rauflust, Haß, Grausamkeit, Tücke – werden wohl auch als vorhanden und als im Kriege sich offenbarend zugegeben, aber allemal nur beim ‚Feind‘. Dessen Schlechtigkeit liegt am Tage. Ganz abgesehen von der politischen Unvermeidlichkeit des eben unternommenen Feldzuges, sowie abgesehen von den daraus unzweifelhaft erwachsenden patriotischen Vorteilen, ist die Besiegung des Gegners ein moralisches Werk, eine vom Genius der Kultur ausgeführte Züchtigung ... Diese Italiener – welches faule, falsche, sinnliche, leichtsinnige, eitle Volk! Und dieser Louis Napoleon – welcher Ausbund von Ehrsucht und Intrigengeist! Als sein am 29. April publiziertes Kriegsmanifest erschien, mit dem Motto: ‚Freies Italien bis zum Adriatischen Meer‘ – rief das einen Sturm der Entrüstung bei uns hervor! Ich erlaubte mir eine schwache Bemerkung, daß dies eigentlich eine uneigennützige und schöne Idee sei, welche für italienische Patrioten begeisternd wirken müsse; aber ich ward schnell zum Schweigen gebracht. An dem Dogma ‚Louis Napoleon ist ein Bösewicht‘, durfte, solange er ‚der Feind‘ war, nicht gerüttelt werden; alles, was von ihm ausging, war von vornherein ‚bösewichterisch‘.“ [4]
Hier zeigt sich das Prinzip: Den Gegner mit negativen Zuschreibungen abwerten und ihm damit den Schutz der Humanität nehmen. Dies ist ein Prinzip, dass zu jeder Zeit angewendet wurde, um den Menschen die Skrupel des Tötens zu nehmen. Hitler entwarf das Bild des ‚slawischen Untermenschens‘, den es im ‚Kampf um Lebensraum für die arische Rasse‘ zu unterwerfen gelte. Kommunisten wurden als ‚Ungeziefer‘ bezeichnet, das ausgemerzt werden müsse. Kissinger bezeichnete Staaten, die sich von der Abhängigkeit zur USA lösen wollten als Viren, die abgetötet werden müssten. Bush jun. sprach von Schurkenstaaten und meinte Nordkorea, den Irak und den Iran. Die UDSSR setzte im Kalten Krieg US-Soldaten mit Mördern und Räubern gleich. Die Chinesische Polizei bezeichnete in Hongkong Protestierende als Kakerlaken.
Russlandphobien
Einerseits ist es nun angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine in 2022 fragwürdig, die Warnung vor russischer Aggression und vor der Persönlichkeit Putins als eine unberechtigte Konstruktion von Feindbildern zu bezeichnen.
Andererseits ist es auch schwierig, den Anteil der Wirkung einer Konstruktion des Feindbildes 'Russland' auf die Entscheidungen des russischen Präsidenten einzuschätzen.
Das Bild des Russens wurde in westlichen Spionage-Filmen als das Bild eines brutalen Menschen mit hässlichem Akzent gezeichnet, der skrupellos mordet und natürlich immer im Unrecht ist. Der ehemalige US-Präsident Ronald Reagan sprach dementsprechend von der ehemaligen UDSSR als dem „Reich des Bösen“.
Die nun wieder aktuelle Russlandphobie wurde zuvor von den USA und der NATO über sogenannte Experten in die Medien transportiert. Russland habe den Nachbarstaaten „wenig wirtschaftliche und technologische Entwicklungsimpulse anzubieten“ und könne daher den Einflussverlust nur mit der militärischer Gewalt bzw. deren Androhung kompensieren – so die FAZ-Redakteurin Kerstin Holm (2019). Auch die ehemalige US-Außenministerin Madeleine Albright pflegte das Feindbild Russland über die Dämonisierung Putins als einen bösen Menschen („smart, aber ein wirklich böser Mensch“), als nationalistischen ehemaligen Geheimdienstoffizier mit Großmachtsphantasien. [5] Im Zusammenhang mit dem NATO-Feindbild Russland ist dann auch ohne das Vorlegen von stichhaltigen Beweisen eines russischen Verstoßes gegen den INF-Vertrag zum Verbot von Mittelstreckenraketen die für Europa und Russland äußerst gefährliche Aufkündigung des INF-Vertrags von Seiten der Trump-Regierung im Jahr 2019 möglich gewesen.
Kaum von der Öffentlichkeit bemerkt wurde übrigens 2016 eine Task Force der EU gegründet, deren Begründung von Seiten des EU-Parlaments nicht unproblematisch ist. Hier heißt es in der Pressemitteilung des EU-Parlaments:
„Propagandistischer Druck auf die EU vonseiten Russlands und islamischer Terroristen wächst ständig. Dieser Druck zielt darauf, die Wahrheit zu torpedieren, Angst zu verbreiten, Zweifel zu provozieren und die EU auseinanderzudividieren.“ [6]
Hierbei wird also ein gemeinsames Feindbild Russland/islamistischer Terrorismus entwickelt, das diese beiden Einflüsse hinsichtlich ihres propagandistischen Drucks gleich behandelt. Sicherlich muss auch die aus Russland kommende Information und oftmals auch Desinformation kritisch beobachtet und begleitet werden. Allerdings erfolgt in dieser Aussage des obersten europäischen demokratisch gewählten Gremiums keine Differenzierung, und es erfolgt eine zusätzliche Herabsetzung Russlands über die parallele Nennung mit der Propagandatätigkeit des islamistischen Terrorismus. [7]
Doch Putin benutzte ebenso Feindbilder, um den Gegner herabzusetzen. Vor und während des russischen Überfalls auf die Ukraine wertete der russische Präsident Putin den demokratisch gewählten Präsidenten Selenskyj ebenfalls auf brutale Weise ab und bezeichnete ihn als einen drogenabhängigen Faschisten. Die ukrainische Regierung bezeichnete Putin als "Bande von Drogenabhängigen und Neonazis" sowie als "Terroristen". [8]
Hierdurch wollte Putin die Mordanschläge auf den ukrainischen Präsidenten sowie die Invasion in die Ukraine als legitime Maßnahmen in der russischen Öffentlichkeit psychologisch vorbereiten. Putin war also Projektionsfläche für Feindbilder, bediente sich aber auch selbst der im russischen Staatsfernsehen medial vermittelten Feindbildkonstruktion, um aggressive und völkerrechtswidrige geostrategische Ziele durchzusetzen.
USA-Iran: Aufbau gegenseitiger Feindbilder
Ein zweites Beispiel ist in der westlichen Islamophobie sowie der iranischen USA-Phobie zu sehen. Es erfolgt in beiden Staaten ein medialer Aufbau gegenseitiger Feindbilder: USA: Der Iran als terroristisches Mullah-Regime, als Schurkenstaat, der als ein Mitglied der „Achse des Bösen“ diskriminierend zu charakterisieren sei – so der damalige US-Präsident George W. Bush 2002 im Anschluss an 9/11. Hingegen beschimpft der Iran die USA als „großen Satan“, als „imperialistischen Teufel“, als „durch und durch verdorben“ (vgl. z.B. Roodsari 2019). Die gegenseitige Abwertung ist Ausdruck einer wechselseitigen historischen Einflussnahme, deren Eckpunkte durch den CIA- und britischen MI6-gesteuerten Sturz des demokratisch gewählten iranischen Premierministers Mohammed Mossadeq (1953), durch die Installierung des westlich orientierten Autokraten Schah Reza Pahlavi, den Sturz des Schahs durch die islamische Revolution (1979) angeführt durch Ajatollah Chomeini markiert sind. Im Gefolge kam es zur iranischen Besetzung der US-Botschaft in Teheran und zur Geiselnahme des Personals. Im Iran-Irak-Krieg tolerierte die USA den Giftgaseinsatz des Iraks und versorgte den Irak mit Plänen hinsichtlich der Aufstellung iranischer Truppen. Die Geschichte geht weiter mit heimlichen Waffenlieferungen der USA an den Iran; das Geschäft wollte man sich dann doch nicht entgehen lassen (ab 1985, Iran-Contra-Affäre). Die Schritte zur nuklearen Aufrüstung des Irans und die Provokationen gegenüber den USA spitzten sich mit der Wahl von Mahmud Ahmadinedschad zu, der auch gegenüber Israel eine äußerst feindselige Haltung einnahm. Seit dem 2015 ausgehandelten Atomabkommen, hielt sich der Iran – laut der Internationalen Atomenergiebehörde – an das Abkommen und verzichtete auf unzulässige Urananreicherungen. Bei Roodsari (2019) findet sich ein guter Überblick über die Chronik der Ereignisse, wie sie hier dargestellt wurden, und die durch wechselseitige Abwertungen und Vorwürfe gekennzeichnet sind. Derartig abgewertete Menschen bzw. Staaten werden auf diese Weise militärisch angreifbar. Die Abwertung dient der Enthumanisierung und dem Ausschluss aus dem (eigenen) humanen Wertekreis, wird zur ethischen bzw. moralischen Legitimation für alle folgenden Maßnahmen.
Nachdem nun von Seiten der USA und der Trump-Administration das Atomabkommen mit dem Iran einseitig aufgekündigt wurde, verschärfte sich wieder die abwertende Rhetorik zwischen beiden Staaten und führte zu einer gefährlichen Eskalation u.a. im Zusammenhang mit den Tankerangriffen in der Straße von Hormus sowie der Ermordung des Kommandeurs der Al Quds-Brigaden des Iran, Qasem Soleimani, in der irakischen Hauptstadt Bagdad durch US-Drohnen Anfang 2020.
Chinaphobien: Die gelbe Gefahr
Ein drittes Beispiel ist mit der Chinaphobie zu nennen und soll hier ebenfalls etwas ausführlicher skizziert werden. In den sechziger Jahren warnte der damalige Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger – ein ehemals ranghohes NSDAP-Mitglied und nationalsozialistischer Propaganda-Funktionär – bereits vor der „gelben Gefahr“ aus dem fernen Osten. Mit der Betonung des fremdkulturellen und völlig andersartigen Charakter der Asiaten und insbesondere der Chinesen, werden diese in manchen Medien als gefährlich und barbarisch dargestellt. Der Chinese sei autoritätsfixiert, kollektivistisch, umweltfeindlich, betrügerisch, unbarmherzig, menschenrechtsfeindlich, aggressiv, hegemonial und konkurrenzorientiert – alles vorurteilsbeladene Stereotype, die pauschal dem Chinesen als solchen zugeschrieben werden.
Neuere ausschließlich negative Zuschreibungen, wie z.B. bei Kinkartz (2019), können hier wie folgt zusammengefasst werden:
• Chinesische Headhunter jagen dem Westen Fachkräfte ab.
• Chinesen stehlen westliches Know How über Cyberattacken.
• China will sich hegemonial ausbreiten (Südchinesisches Meer, Taiwan).
• China zerstört seine Umwelt und trägt massiv zur globalen CO2-Verschmutzung bei.
• China unterdrückt brutal seine Minderheiten (z.B. Uiguren).
• China ist ein totalitärer Überwachungsstaat (‚social credit system‘).
• China zerstört die westliche Solarindustrie über staatlich subventionierte Dumping-Preise.
• Das chinesische Seidenstraßen-Projekt ist der Versuch, die Ressourcen anderer Länder auszubeuten (Arbeitskräfte, Bodenschätze, Häfen).
Hier mag einiges Richtiges dabei sein. Verschwiegen aber werden allerdings positive Errungenschaften der chinesischen Gesellschaft, wie z.B. der wachsende Wohlstand des Bevölkerungsdurchschnitts, das politische Zusammenhalten eines derartig großen Staatsgebiets, die infrastrukturellen Leistungen, die höchste Quote an Solaranlagen in China oder auch die zunehmende technologische Innovationsfähigkeit.
Wenn man der Auffassung ist, dass Handelskriege die Vorstufe zu militärischen Auseinandersetzungen sein können, dann sind die Abwertung der Chinesen und der chinesischen Kultur in einen Zusammenhang mit den US-Schutzzöllen gegen China zu sehen.[9]
Die demokratischen Medien als Adressaten von Feindbildern
Ein weiteres Beispiel bezieht nun einen umgekehrten Standpunkt. Hier werden Medien selbst zum pauschalen Feindbild – die ‚Lügenpresse‘ bzw. die ‚Fake News‘. Feindbilder gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit gegen Migranten, gegen Muslime oder grundsätzlich gegen südländische Ausländer bewirken hierbei, dass Pressemedien, die nicht im Sinne dieser rechtsextremen Feindbilder agieren, als Lügenpresse diskreditiert werden. Journalisten werden mit Hass- und Drohmails oder entsprechenden Posts in den sozialen Medien überzogen, oder es wird ihnen das Wort bei Pressekonferenzen mit der Begründung entzogen: „You are fake news“ (Trump).
Der Druck auf die Presse, entsprechende Feindbilder zu produzieren bzw. sich einer Feindbildproduktion von Politikern gegenüber zumindest neutral zu verhalten, nimmt zu. Auf diese Weise wird eine Mainstream-Presse geformt, im Rahmen derer abweichende journalistische Einschätzungen zur Beendigung einer journalistischen Karriere führen können.
Sozialpsychologische Funktionen von Feindbildern
Die sozialpsychologische Bedeutung von Feindbildern soll nun anhand von vier Thesen skizziert werden, die auf die manipulative Verwendung von Feindbildern aus einem systemischen Interesse heraus verweisen:
These 1: Feindbilder werten ein Gegenüber maßgeblich mit Hilfe von falschen bzw. gefälschten Angaben über die Medien ab, erzeugen Aversion, Bedrohungsgefühle und Hass, um humane Skrupel im Umgang mit diesen Menschen zu überwinden.
These 2: Feindbilder sind die Voraussetzung dafür, derart abgewertete Menschen, Gruppen oder Gesellschaften als nicht-menschlich anzusehen, so dass deren Schädigung bzw. Vernichtung nicht als inhuman, sondern als ‚Akt gesellschaftlicher Hygiene‘ ausgewiesen werden kann.
These 3: Feindbilder haben die Funktion, von eigenen systemischen Schwächen abzulenken und die gesellschaftliche Aggression von ihren Ursachen weg auf äußere Gegner zu lenken. Dies kann zu einer systemischen Stabilisierung über die emotionalisierte Zuwendung auf einen äußeren Feind führen.
These 4: Über Feindbilder entstehen Hassgemeinschaften, deren destruktives emotionales Potenzial sich in gewalttätigen Ausbrüchen niederschlägt, die politisch instrumentalisierbar und lenkbar sind.
Der kritische Umgang mit Feindbildern bedeutet nun nicht, dass alle in der Begründung von Feindbildern enthaltenen nachprüfbaren Tatsachen abzuwehren bzw. zu verdrängen sind. Beispielsweise Russland, USA, Saudi-Arabien, Iran und China sind sicherlich durchaus als problematisch in Bezug auf ihre Rolle hinsichtlich internationaler Friedenssicherung und Kriegsprävention anzusehen. Aber die einseitig negative Zuordnung von Fakten in Verbindung mit abwertenden und diskriminierenden Zuschreibungen macht den Begriff des Feindbildes und seine destruktiven Wirkungen aus.
Daher ist es wichtig, auch die eigene Verstrickung in die Konstruktion von Feindbildern zu erkennen und an ihrer Destruktion zu arbeiten.
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Jeder sollte sich auch persönlich fragen:
• Was habe ich für Feindbilder?
• Welche Vorurteile fließen dort ein?
• Welche pauschalen Abwertungen anderer sind darin enthalten?
• Wie sind diese Feindbilder entstanden?
• Wie kann ich sie wieder auflösen?
• Gibt es einen Weg, sie miteinander aufzulösen?
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Wenn sich gegen die pauschale Abwertung von Einzelnen, Bevölkerungsgruppen oder von Staaten in Form von Feinbildern gewendet wird, bedeutet dies nicht, dass nun alle Interessengegensätze und Gegnerschaften harmonisch übergangen werden sollen. Diese Interessengegensätze und Gegnerschaften gibt es, und sie sollten nicht verdeckt werden. Das Bewusstwerden von Feindbildern ermöglicht allerdings, dass durch Feindbilder hervorgerufene Spannungen zivilgesellschaftlich verhandelt werden und auch zu Kompromissen führen können. Manipulativ erzeugte und emotional verankerte Feindbilder jedoch zielen auf die Zerstörung und Vernichtung des anderen ab.
Konstruktion von Feindbildern als kriegsvorbereitender Akt
Hier gibt es bereits eine längere historische Tradition, mit falschen Angaben bzw. Fake-News Feindbilder zu konstruieren und Kriege zu legitimieren.
Hierbei werden mit der manipulativen, medialen Vorbereitung und auch offiziellen Verbreitung von Feindbildern politische, geostrategische und ökonomische Interessen verschleiert und durchgesetzt.
Der durch das Hitler-Regime fingierte Überfall von angeblich polnischen Soldaten auf einen deutschen Grenzposten, der erklärte, aber nicht stattgefundene (und damals nur als wahrscheinlich angenommene) zweite Angriff von Kanonenbooten des Vietcongs auf ein US-Kriegsschiff im Golf von Tonkin, das von einer Medienfirma inszenierte Herausreißen von Babys aus Brutkästen in Kuwait und die vom US-Außenminister Colin Powell vor dem UN-Sicherheitsrat vorgelegten gefälschten Dokumente zu Massenvernichtungswaffen des Iraks sind bekannte Beispiele gefälschter Kriegsgründe bzw. fingierter Gründe für die Verschärfung der militärischen Aktivitäten.
Hierbei ermöglichen die destruktiven Wirkungen von Feindbildern hohe Wachstumsraten und Renditen in der Rüstungsindustrie, einem Industriezweig, der Profiteur von ‚Feindbildern‘ und militärischen Konflikten ist. Ohne durch Feindbilder vorbereitete und erzeugte Kriege gäbe es keinen Absatzmarkt für die ‚Ökonomie des Todes‘. Oder anders ausgedrückt: Die Dämonisierung von Staaten als ‚Achse des Bösen‘ ist die Grundlage von Profiten, wie sie ansonsten nur in der Drogenindustrie möglich sind.
Werden Feindbilder als extreme Form kultureller Gewalt nach der Beendigung eines militärischen Konflikts nicht grundsätzlich mit Hilfe von Ritualen und Verfahren der Versöhnung aufgelöst, so existieren sie nach einem Krieg weiter fort und verhindern einen Frieden im umfassenden Sinne. Gesellschaften bleiben hierdurch kulturell kriegsbereit – so Johan Galtung (2004):
„Jedes Zeichen, das darauf hindeutet, dass der Feind noch am Leben ist, löst vorgefertigte Reaktionen aus; sind solche Zeichen nicht vorhanden, dann werden andere Feinde ausgemacht, um die Gestalt, die von diesem Typus kultureller Gewalt geformt wird, zu vollenden.“
Anmerkungen Kapitel 1.4.1.5
[1] Dieses Kapitel ist an Moegling (2019 d) orientiert, der Beitrag wurde aufgrund ergänzender Leserkommentierungen noch einmal überarbeitet und erweitert. Den entsprechenden Lesern_innen sei mein Dank für ihre Diskussionsbeiträge ausgesprochen, die zu einigen weiterführenden Überlegungen geführt haben.
[2] Ich habe mich hinsichtlich der hier vorgenommenen Definition auf eigene Überlegungen sowie u.a. auf entsprechende Gedanken bei Pörksen (2000) bezogen.
[3] Dies war der zweite italienische Befreiungskrieg.
[4] Aus: Suttner (1889), Kapitel 1.
[5] Vgl. Ultsch/Vieregge (2016).
[6] Pressemitteilung des EU-Parlaments zur Begründung der Task Force, nach Hofbauer (2019).
[7] Vgl. zur Herabsetzung Russlands in den Medien auch Trautvetter (2019b).
[8] https://www.sn.at/politik/weltpolitik/putin-ruft-ukrainische-armee-zur-machtuebernahme-in-kiew-auf-117604723, 25.2.2022.
[9] Vgl. Listl (2019).
(Die Literaturangaben finden sich zum Ende der Rubrik 'international edition' auf dieser Webseite)
Video mit einer Diskussion im 'Politischen Salon Essen':
Wenn der Frieden kippt, kippt auch das Klima.
(aus meiner Webseite
https://www.klaus-moegling.de/actual-blogs/)
Öffentliche Denunzierung des Friedensanliegens -
Zum gesellschaftlichen Umgang mit Friedensappellen zum Krieg in der Ukraine
von: Klaus Moegling
1.4.2023
Unabhängig von der Frage, ob die Russische Föderation die Alleinschuld für die militärische Eskalation in der Ukraine trägt oder auch die NATO bzw. einflussreiche NATO-Staaten, wie die USA oder Großbritannien, eine Mitschuld an dem Ausbruch des Krieges tragen, versuchten verschiedene Friedensinitiativen mit Hilfe von Aufrufen und Appellen Unterstützung in der Friedensbewegung sowie in breiteren Kreise der Bevölkerung zu finden. Das Mittel hierzu waren insbesondere Unterzeichner_innen-Listen auf Internetplattformen oder Webseiten, z.T. verbunden mit Aufrufen zu Kundgebungen und Konferenzen.
Zu nennen sind hier vor allem der von Alice Schwarzer offene Brief an den Bundeskanzler Olaf Scholz mit über 500.000 Unterzeichner_innen sowie deas weitere gemeinsam von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht initiierte ‚Manifest für Frieden‘ mit fast 800.000 Unterzeichnungen auf der Internetplattform Change.org (Stand: April 2023).
Über die öffentliche Aufnahme dieser breitere Bevölkerungskreise erreichende Friedensaktion insbesondere von Vertretern_innen der Regierungspolitik, von Politikwissenschaftlern sowie in den Medien wird etwas weiter unten noch ausführlicher geschrieben.
Zusätzlich gab es einen internationalen Aufruf vom International Peace Bureau (IPB) zu Weihnachten 2022/23, den nur wenige Tausend internationale Friedensfreunde_innen unterzeichnet hatten. Auch ein Peace Appeal mit Erstunterzeichner_innen aus 10 Staaten auf der Internetplattform ‚Action Network‘ fand bisher nur etwas über 3000 internationale Unterzeichner_innen (Stand: April 2023).
Appell für den Frieden
Etwas mehr Unterzeichnungen im internationalen Kontext fand ein deutsch-österreichischer Aufruf, der ‚Appell für den Frieden‘, mit bisher über 7000 Unterzeichnungen. Er weist einen friedensökologischen Ansatz auf und enthält drei Forderungen:
Nationale Regierungen und transnationale Institutionen sollten sich vor allem für drei friedenspolitische und -ökologische Maßnahmen stark machen:
1. Im Krieg in der Ukraine müssten spätestens ab jetzt diplomatische Initiativen Vorrang haben. Hierzu wird gefordert, dass eine durch den UN-Generalsekretär geleitete internationale hochrangige und hochlegitimierte Verhandlungskommission den Weg für Waffenstillstandsverhandlungen in der Ukraine als Voraussetzung für Friedensverhandlungen freimachen müsste. Die deutsche und die österreichische Bundesregierung sollten sich mit Nachdruck für eine derartige Friedensinitiative beim UN-Generalsekretär einsetzen.
2. Bei künftigen Klimaschutzverhandlungen sollten Regeln und Vorgaben für die verbindlichere Berücksichtigung militärisch bedingter CO2-Emissionen erarbeitet werden, die die einzelnen Staaten zu mehr Transparenz verpflichten. Hierbei sollten wirksame Kontrollen und strenge Sanktionen bei fehlender Berücksichtigung militärisch bedingter CO2-Emissionen im In- und Ausland im Rahmen der nationalen CO2-Bilanzen vorgesehen werden.
3. Der Krieg in der Ukraine wird derzeit für die internationale Aufrüstungsspirale instrumentalisiert. Zusätzlich sind fast alle wichtigen Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge von den USA und der Russischen Föderation gekündigt oder ausgesetzt worden. Im Gegensatz hierzu sind über die UN kontrollierte und koordinierte Abrüstungsverhandlungen zu fordern. Insbesondere sollte der Atomwaffenverbotsvertrag, der von ICAN erfolgreich in die Vereinten Nationen eingebracht wurde, von den anzusprechenden Staaten in einem miteinander koordinierten und überwachten Prozess unterzeichnet, ratifiziert und umgesetzt werden. (Österreich hat den Vertrag bereits ratifiziert.)
Allen diesen verschiedenen Friedensaufrufen ist gemeinsam, dass derartige friedenspolitische Initiativen in den sozialen Medien, neben Unterstützungen, einem extremen ‚Shitstorm‘ ausgesetzt waren. Auch die Verfasser_innen mussten sich Schmähkritik und persönliche Beleidigungen sowie Drohungen anhören bzw. lesen. Hier lässt sich eine Verrohung der öffentlichen Auseinandersetzung nun auch um friedenspolitische Inhalte über die sozialen Medien, wie z.B. Facebook oder Twitter, feststellen.
Auch hat man den Eindruck, dass hier organisierte Kräfte den Schutz der Anonymität und ihrer Decknamen nutzen, um für Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen plädierende Personen als Putinknechte, Verräter am ukrainischen Volk, bezahlt von Putin und Ähnliches zu diskreditieren.
Frieden schaffen!
Die jüngste Friedensinitiative stammt aus der Feder von SPD-Politikern, u.a. vom ältesten Sohn von Willy und Ruth Brandt, Peter Brandt (Historiker und Professor i.R.), Reiner Braun (Internationales Friedensbüro), Reiner Hoffmann (ehemaliger DGB-Vorsitzender) und Michael Müller (Bundesvorsitzender der NaturFreunde Deutschlands). In zwei deutschen Tageszeitungen wurde dieser Aufruf unter dem Titel "Frieden schaffen! Waffenstillstand und Gemeinsame Sicherheit jetzt!" mit 200 Unterzeichnern_innen veröffentlicht, zu denen u.a. der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, die Ex-Justizministerin Prof. Dr. Herta Däubler-Gmelin, Dr. Margot Käßmann, Theologin und ehem. Ratsvorsitzende der EKD, und EX-EU-Kommissar Günter Verheugen sowie u.a. mehrere Politikwissenschaftler_innen gehören. In diesem Aufruf wird Bundeskanzler Olaf Scholz aufgefordert, eine Verhandlungskommission zusammen mit Frankreich und insbesondere mit Brasilien, China, Indien und Indonesien zu bilden, die einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen in der Ukraine bewirken sollten. In dem Text heißt es „ (…) Mit jedem Tag wächst die Gefahr der Ausweitung der Kampfhandlungen. Der Schatten eines Atomkrieges liegt über Europa. Aber die Welt darf nicht in einen neuen großen Krieg hineinschlittern. Die Welt braucht Frieden. Das Wichtigste ist, alles für einen schnellen Waffenstillstand zu tun, den russischen Angriffskrieg zu stoppen und den Weg zu Verhandlungen zu finden.
Aus dem Krieg ist ein blutiger Stellungskrieg geworden, bei dem es nur Verlierer gibt. Ein großer Teil unserer Bürger und Bürgerinnen will nicht, dass es zu einer Gewaltspirale ohne Ende kommt. Statt der Dominanz des Militärs brauchen wir die Sprache der Diplomatie und des Friedens. (…)“ [1]
Der frühere ukrainische Botschafter in Deutschland war bereits vorher durch seine drastischen Aussagen (über Bundeskanzler Scholz: „beleidigte Leberwurst“) und seine maßlosen mit großer Dreistigkeit vorgetragenen Forderungen nach Waffenlieferungen für die Ukraine aufgefallen. Er hat sich sofort auch hier per Twitter in einem Ton eingeschaltet, der sicherlich der Ukraine nicht weiterhilft. Der zum stellvertretenden Außenminister der Ukraine beförderte Andrij Melnyk, schrieb auf Twitter, Brandt und Co. sollten sich mit ihren „senilen Ideen“, einen „schnellen Waffenstillstand zu erreichen“ und „den Frieden nur mit Russland zu schaffen“ zum Teufel scheren. [2] Kein weiterer Kommentar hierzu ...
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Aktuelle Unterzeichnungsmöglichkeiten für einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen in der Ukraine:
Offener Brief an den Bundeskanzler
https://www.change.org/p/offener-brief-an-bundeskanzler-scholz ·
Manifest für Frieden
https://www.change.org/p/manifest-f%C3%BCr-frieden ·
Christmas Appeal
https://www.christmasappeal.ipb.org/german-de/
(Anfang 2023 beendet) ·
Peace Appeal
https://actionnetwork.org/petitions/appeal-for-peace/ ·
deutsch-österreichischer Appell für den Frieden: Das Töten in der Ukraine muss beendet werden!
https://chng.it/N2ggCS5Q
(Des Weiteren sind ähnliche Friedensinitiativen u.a. in den Niederlanden, in Finnland, in Dänemark, in Mexiko, Brasilien, Tschechien und Italien bekannt.)
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Der propagandistische Feldzug gegen das ‚Manifest für Frieden‘
Die Kampagnen von Schwarzer und Schwarzer/Wagenknecht konnten auf große und über Jahre hinweg aufgebaute Netzwerke und Publikationsmedien zurückgreifen. Dies erklärt – neben dem Bekanntheitsgrad der beiden Persönlichkeiten – die hohe Unterzeichner_innenzahl dieser beiden Friedenstexte.
Daher stand insbesondere das ‚Manifest für Frieden‘, das mit einer Großkundgebung am Brandenburger Tor verbunden war, im Mittelpunkt der öffentlichen Reaktionen.
Das ‚Manifest für Frieden‘ sprach sich gegen eine eskalierende Fortführung des Kriegs in der Ukraine und für sofortige Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen aus. Es endet mit der Forderung an den deutschen Bundeskanzler:
„Wir fordern den Bundeskanzler auf, die Eskalation der Waffenlieferungen zu stoppen. Jetzt! Er sollte sich auf deutscher wie europäischer Ebene an die Spitze einer starken Allianz für einen Waffenstillstand und für Friedensverhandlungen setzen. Jetzt! Denn jeder verlorene Tag kostet bis zu 1.000 weitere Menschenleben – und bringt uns einem 3. Weltkrieg näher.“
An vier Beispielen soll nun deutlich gemacht werden, wie versucht wurde, den Text und die Intentionen der beiden Initiatorinnen zu verfälschen und diese zu diskreditieren.
1. Es wurde den Verfasserinnen in den Medien und von führenden Politikern unterstellt, dass sie im Text des Manifests geschrieben hätten, sie seien grundsätzlich gegen Waffenlieferungen zur Unterstützung der Selbstverteidigung der angegriffenen Ukraine. [3] Der ehemalige ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, äußerte sich dementsprechend auch abwertend: „Hallo ihr beide Putinschen Handlanger:Innen @SWagenknecht & #Schwarzer, euer Manifest für Verrat der Ukrainer könnt ihr zusammenrollen & gleich in den Mülleimer am Brandenburger Tor werfen.“ [4]
Fakt aber ist: Im Text wenden sich die Verfasserinnen gegen die „Eskalation von Waffenlieferungen“, was ein anderer Sachverhalt ist. Hierbei geht es um die Überschreitung ‚roter Linien‘, die zu einer unkontrollierbaren Eskalationsdynamik führen können. Jürgen Habermas hat dies mit seiner Benennung von Kipppunkten, einem ‚point of no return‘ angesprochen. [5]
2. Es wurde den Verfasserinnen eine Täter-Opfer-Umkehr vorgeworfen. Dieser Vorwurf wird zuerst vom deutschen Politikwissenschaftler Herfried Münkler vorgebracht [6] und anschließend von verschiedenen Politikern_innen mantraartig wiederholt. Es wird Schwarzer/ Wagenknecht hierbei vorgeworfen, sie würden primär die NATO und den Westen als Aggressor sehen und die Russische Föderation als Opfer. Auch dies ist eine Falschdarstellung, da im Text des Manifests der russische Aggressor klar benannt ist. Dort heißt es eindeutig: „Die von Russland brutal überfallene ukrainische Bevölkerung braucht unsere Solidarität.“ [7]
Dennoch denunziert der Politologe Münkler den Text als „gewissenloses Manifest“ und Schwarzer/Wagenknecht „betreiben mit kenntnislosem Dahergerede Putins Geschäft“. [8] [9]
3. Es wird Schwarzer/ Wagenknecht vorgeworfen, sie wollten die Ukraine über einen russischen Diktatfrieden an die Russische Föderation ausliefern. So Außenministerin Baerbock: „Ein Diktatfrieden, wie ihn manche jetzt fordern, das ist kein Frieden. Sondern das wäre die Unterwerfung der Ukraine unter Russland.“ [10] Fakt aber ist, dass im Manifest steht:
„Verhandeln heißt nicht kapitulieren. Verhandeln heißt, Kompromisse machen, auf beiden Seiten. Mit dem Ziel, weitere Hunderttausende Tote und Schlimmeres zu verhindern. Das meinen auch wir, meint auch die Hälfte der deutschen Bevölkerung. Es ist Zeit, uns zuzuhören!“ [11] Eine derartige Formulierung ist aber weit weg von der Akzeptanz eines ‚Diktatfriedens‘.
4. Es wurde Schwarzer/Wagenknecht vorgeworfen, sie würden sich nicht zum Rechtsextremismus abgrenzen und billigend in Kauf nehmen, dass Rechtsextreme an der auf das Manifest bezogenen Kundgebung teilnehmen würden. [12] So urteilte auch der ‚Spiegel‘: „Bei der sogenannten Friedensdemonstration am Samstag in Berlin zeigten sich die Konturen dessen, was Sahra Wagenknecht in Wahrheit anstrebt: eine prorussische, antiamerikanische, national orientierte Sammlungsbewegung. Die AfD reagiert erfreut.“ [13] Abgesehen davon, dass man bei einer Kundgebung, an der mehr als 10.000 Personen teilnehmen, nicht verhindern kann, dass sich einzelne Rechtsextreme unter die Menge mischen, basiert aber auch dieser Vorwurf auf einer Falschaussage. So ist öffentlich per Videoaufnahme dokumentiert, dass sich Sahra Wagenknecht in ihrer Ansprache vor dem Brandenburger Tor sehr deutlich mit folgenden Worten von rechtsextremer Beteiligung distanziert:
„Selbstverständlich haben Neonazis und Reichsbürger, die in der Tradition von Regimen stehen, die für die schlimmsten Weltkriege der Menschheitsgeschichte Verantwortung tragen, auf unserer Friedenskundgebung nichts zu suchen.“ [14]
Auch der grüne Co-Parteivorsitzende Omid Nouripour grenzt sich demagogisch in diese Richtung ab und unterstellt, dass der Vorsitzende der AFD zu den Erstunterzeichnern des Manifests gehöre: „Der Vorsitzende der AfD ist einer der Erstunterzeichner des Manifests. Die Linkspartei muss sich fragen lassen, wie sie damit umgehen will, dass eines ihrer bekanntesten Gesichter zusammen mit AfD‑Vorsitzenden Papiere unterschreibt.“ [15] Auch diese Aussage ist falsch, da der AfD-Vorsitzende nicht zu den 69 Erstunterzeichnern__innen gehört, sondern sich unter die zahlreichen Mitunterzeichner_innen gemischt hatte, was sich sicherlich bei einer offenen Unterzeichnungssituation wie bei Change.org nicht verhindern lässt.
Fazit
Der Friedensaktivist Bernhard Trautvetter bringt die Kritik am gesellschaftlichen Umgang mit dem ‚Manifest für Frieden‘ und an der Kampagne gegen die Friedensbewegung insgesamt auf seine Weise auf den Punkt:
„Die Kampagne gegen die Friedensbewegung stützt sich auf invalide Behauptungen, sie zersetzt demokratische Strukturen, indem sie Demokratinnen und Demokraten ausgrenzt, sie stärkt Kriegsgewinnler wie die Rüstungskonzerne in den Nato-Staaten sowie Nationalisten wie jene in der AfD, der sie mit der Behauptung, es gebe ein Bündnis unter ihrer Beteiligung, Aufmerksamkeit zukommen lässt, sie wertet den Militarismus auf, indem sie seine Narrative aufgreift; die Kampagne gegen die Friedensbewegung widerspricht den Lebensinteressen der Menschen nicht nur in unserem Land, da sie die Spannungen und die Risiken steigert, die mit der Eskalation der Gewalt verbunden sind. Und sie lenkt von vielen weltweiten Völkerrechtsbrüchen ab, in die Nato-Staaten aktiv verwickelt sind, etwa mit der Formulierung, man sei gegen den Krieg, so als gäbe es keine anderen Kriege etwa in der weiteren Golf-Region oder in Afrika.“ [16]
Trotz des mehrfachen Dementis von Wagenknecht/ Schwarzer und anderer Erstunterzeichner_innen des ‚Manifests für Frieden‘ werden die hier angesprochenen vier Falschaussagen von maßgeblichen Politikern, Politikwissenschaftlern und Medien permanent wiederholt. Insbesondere die Berichterstattung des angesprochenen Teils der bürgerlichen Presse ist kein Ausdruck einer unabhängigen und kritischen Berichterstattung, sondern weckt eher Erinnerungen an einen ‚eingebetteten Journalismus‘. Im Gegensatz hierzu ist von den Medien als selbsternannte vierte Instanz in der Demokratie zu verlangen, dass sie Argumente konträrer friedenspolitischer Positionen unabhängig und kritisch abwägen. Alle Formen des ‚eingebetteten Journalismus‘ mit Elementen der Kriegspropaganda und der Verunglimpfung der Andersdenkenden stehen in einem Widerspruch zum medialen Selbstanspruch als vierte Gewalt in einer Demokratie – im Gegenteil, dies stellt einen Beitrag zur Aushöhlung noch vorhandener demokratischer Strukturen dar. [17]
Anmerkungen
[1] https://www.naturfreunde.de/frieden-schaffen-waffenstillstand-und-gemeinsame-sicherheit-jetzt, o.D., 1.4.2023.
[2] https://www.deutschlandfunk.de/peter-brandt-initiiert-friedensappell-prominente-spd-mitglieder-unterschreiben-100.html, 1.4.2023, 1.4.2023.
[3] Vgl. z.B. https://www.rnd.de/politik/manifest-fuer-frieden-junge-politiker-kontern-petition-von-wagenknecht-und-schwarzer-LDP5L5PETFBXJOEEHGMT4HSCY4.html, 24.2.2023, 31.3.2023 oder https://www.berliner-zeitung.de/open-source/kommentar-meinung-krieg-waffenlieferungen-ukraine-konflikt-ist-das-manifest-fuer-frieden-ein-manifest-der-unterwerfung-li.321476, 25.2.2023.
[4] https://www.berliner-zeitung.de/news/annalena-baerbock-schmettert-ukraine-vorstoss-von-wagenknecht-und-schwarzer-ab-manifest-fuer-frieden-li.316625,11.2.2023, 30.3.2023.
[5] Siehe sein Interview in der Süddeutschen Zeitung, wo er sich für die Parallelität der politischen, humanitären und militärischen Unterstützung der Ukraine und für die Forcierung von Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen im Sinne einer Doppelstrategie einsetzt: https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/kultur/juergen-habermas-ukraine-sz-verhandlungen-e159105/?reduced=true, 14.2.2023, Zugriff: 6.3.2023, (hinter einer Bezahlschranke).
[6] Vgl. https://rp-online.de/politik/deutschland/herfried-muenkler-nennt-wagenknecht-schwarzer-manifest-verlogen_aid-84912697, 14.2.2023, 31.3.2023.
[7] https://www.change.org/p/manifest-f%C3%BCr-frieden
[8] https://www.berliner-zeitung.de/news/gewissenloses-manifest-berliner-politologe-herfried-muenkler-verurteilt-friedensaufruf-von-alice-schwarzer-und-sahra-wagenknecht-li.317574, 14.2.2023, 30.3.2023.
[9] Mit den Thesen Herfried Münklers setzt sich Matthias Kreck kritisch auseinander und kommt abschließend zu folgender zusammenfassender Einschätzung: „Die Kritik von Herrn Münkler hält einer wissenschaftlichen Analyse nicht stand. Und wenn er dem hochverehrten Kollegen Habermas als Reaktion auf dessen sehr nachdenklichen Artikel in der Süddeutschen Zeitung wünscht, dass er „etwas mehr Politikwissenschaftler“ wäre, dann stellt sich angesichts der wissenschaftlichen Fehler, auf die ich in diesem Artikel hinweise, die Frage, ob Kollege Münkler den Grundkurs über gute wissenschaftliche Praxis besuchen sollte.“
[10] https://www.berliner-zeitung.de/news/annalena-baerbock-schmettert-ukraine-vorstoss-von-wagenknecht-und-schwarzer-ab-manifest-fuer-frieden-li.316625, 10.2.2023, 30.3.2023.
[11] https://www.change.org/p/manifest-f%C3%BCr-frieden
[12] Vgl. hierzu https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/politik/wagenknecht-schwarzer-manifest-frieden-afd-100.html., 4.3.2023, 31.3.2023.
[13] https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/kundgebung-in-berlin-querfront-ja-aber-bitte-diskret-kolumne-a-9abaaaab-c006-4cca-947a-f81465217086 26.2.2023, 31.3,2023.
[14] Zitat nach der YouTube-Originalaufnahme: https://www.google.com/search?q=Sarah+Wagenknechts+Rede+am+Brandenburger+Tor+2023+Abgrenzung+gegen+Rechtsextreme&oq=Sarah+Wagenknechts+Rede+am+Brandenburger+Tor+2023+Abgrenzung+gegen+Rechtsextreme&aqs=chrome..69i57.19759j0j7&sourceid=chrome&ie=UTF-8#fpstate=ive&vld=cid:7c9181da,vid:I0AwgCYNz5s, 25.3.2023, 30.3.2023.
[15] https://www.rnd.de/politik/omid-nouripour-die-aeusserungen-von-frau-wagenknecht-wirken-in-der-ukraine-wie-hohn-E6KEVS7BMNAN5ABYGVOUZY4KIQ.html , 24.2.2023, 31.3.2023.
[16] Zitat aus einem noch unveröffentlichten Manuskript von Bernhard Trautvetter (3/2023): Die Strategische Kommunikation der Militärlobby und die Kampagne gegen die Friedensbewegung.
[17] Positiv zu nennen ist im Gegensatz hierzu der journalistische Ansatz bei Malte Lehming im Tagesspiegel, der jeweils fünf wichtige Fragen an die friedenspolitischen Kontrahenten stellt, die es abzuwägen gelte. Vgl. https://www.tagesspiegel.de/internationales/deutschland-streitet-uber-den-richtigen-weg-zum-frieden-beide-seiten-mussen-funf-fragen-beantworten-9359345.html, 16.2.2023, 31.3.2023.
1.5 Ökologische Krisen
1.5.1 Die geschundene Biosphäre wendet sich gegen den Menschen
Die Resilienz des planetaren Ökosystems, d.h. seine Widerstandsfähigkeit und Belastbarkeit, wird seit dem 19. Jahrhundert in nie dagewesener Weise angegriffen. Zwar gab es auch früher Klimaschwankungen, doch so schnell wie in den letzten 200 Jahren hat sich das Klima noch nie verändert. Dies ist ein deutlicher Indikator dafür, dass die Klimaerwärmung durch menschlichen Einfluss erzeugt wurde. Es besteht zunehmend die Gefahr, dass von außen an die ökologischen Wirkungszusammenhänge herangetragene Störungen die Verarbeitungsfähigkeit des Ökosystems und der Biosphäre überfordern, wobei zwar ernstzunehmende Warnzeichen und eintretende ökologische Krisen registrierbar sind, aber der ‚point of no return‘ nicht genau bestimmbar ist. [1]
Die planetare Ökologieproblematik ist sehr vielschichtig und facettenreich. Der Kampf um das Wasser führt zu vermehrten Ressourcenkonflikten, die gewaltsam ausgetragen werden. Die Klimakrise zeigt ihre ersten verheerenden Auswirkungen. Die Überdüngung landwirtschaftlicher Flächen mit den Ausscheidungsprodukten aus der Massentierhaltung führt zur Vergiftung landwirtschaftlicher Böden und zur Belastung des Grundwassers. Die weitgehend unregulierte weltweite Müllentsorgung sorgt z.B. für die Plastikvermüllung der Meere bis hin zu bereits ökologisch abgestorbenen Meereszonen. Die auf Verbrennungsmotoren basierenden Antriebestechniken von Fahrzeugen sorgen nicht nur für die klimabelastende Anhebung der CO2-Emissionen, sondern auch für die Emission von gesundheitsschädlichen Stickoxiden. Insbesondere die Feinstaubbelastung der Mega-Städte überschreitet alle vernünftigen Grenzen. Das Sterben von Insekten, gefährdet die Bestäubung von Pflanzen. Die Überfischung der Meere durch multinationale Fischereikonzerne raubt den einheimischen Fischern ihre Existenzmöglichkeit. Die Bodenerosion durch Abholzung der Wälder und landwirtschaftliche Übernutzung schreitet fort.
Die Bearbeitung dieser – sicherlich noch nicht vollständig aufgelisteten – ökologischen Probleme würde ein eigenes Buch erfordern. Daher soll sich im Folgenden auf einige wenige und besonders drängende Problemstellungen fokussiert werden.
Klimaentwicklung: Ökologische Kipppunkte und Rückkoppelungseffekte
In diesem Zusammenhang darf man nicht von einem langsamen und damit möglicherweise über begleitende Anpassungsmaßnahmen kontrollierbaren Anstieg des Klimas ausgehen. Ökologische Kipp-Punkte und ökologische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Rückkoppelungseffekte werden zu einer sich abrupt beschleunigenden Dynamik der krisenhaften Klimaentwicklung führen. Unter ökologischen Kipppunkten versteht man nicht mehr steuerbare klimatische Veränderungen, wenn ein bestimmter Punkt der Klimaschädigung erreicht ist:
„Bei großer globaler Erwärmung im Bereich jenseits von 2-3°C entsteht [...] ein wachsendes Risiko von qualitativen Änderungen im Klimasystem. Derartige stark nichtlineare Reaktionen von Systemkomponenten werden häufig als ‚Kipppunkte‘ des Klimasystems bezeichnet. Gemeint ist dabei ein Systemverhalten, bei dem nach Überschreiten einer kritischen Schwelle eine kaum noch steuerbare Eigendynamik des Systems einsetzt. Großskalige Teile des Erdsystems, die einen Kipppunkt überschreiten können, bezeichnet man als ‚Kippelemente‘.“ [2]
Es gibt eine Reihe bekannter Kippelemente, die derzeit aufgrund der menschengemachten Klimagasemissionen in einer äußerst problematischen Veränderung begriffen sind.
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Kipp-Punkte und entsprechende Rückkoppelungseffekte können im Zusammenhang mit folgenden Veränderungen stattfinden:
· „Schmelzen des Meereises und Abnahme der Albedo in der Arktis
· Schmelzen des Grönländischen Eisschildes und Anstieg des Meeresspiegels
· Instabilität des westantarktischen Eisschildes und Anstieg des Meeresspiegels · Störung der ozeanischen Zirkulation im Nordatlantik
· Zunahme und mögliche Persistenz des El-Niño-Phänomens
· Störung des Indischen Monsunregimes
· Instabilität der Sahel-Zone in Afrika
· Austrocknung und Kollaps des Amazonas-Regenwaldes
· Kollaps der borealen Wälder
· Auftauen des Permafrostbodens unter Freisetzung von Methan und Kohlendioxid · Schmelzen der Gletscher und Abnahme der Albedo im Himalaya
· Versauerung der Ozeane und Abnahme der Aufnahmekapazität für Kohlendioxid
· Freisetzung von Methan aus Meeresböden.“ [3]
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Die ökologische Entwicklung im ‚Holocene‘, dem Zeitabschnitt von ca. 10.000 Jahren vor dem Industriezeitalter, konnte als relativ stabil für menschliche Entwicklungsmöglichkeiten angesehen werden. Das ‚Holocene‘ war durch die ökologische Selbstregulation des Planeten gekennzeichnet. Mit dem Industriezeitalter ist das ‚Anthropocene‘ angebrochen, im Rahmen dessen der Mensch zunehmend zur dominanten planetaren Gestaltungskraft geworden ist – so Röckström/Steffen/Noone (2009, 472):
“During the Holocene, environmental change occurred naturally and Earth’s regulatory capacity maintained the conditions that enabled human development. Regular temperatures, freshwater availability and biogeochemical flows all stayed within a relatively narrow range. Now, largely because of a rapidly growing reliance on fossil fuels and industrialized forms of agriculture, human activities have reached a level that could damage the systems that keep Earth in the desirable Holocene state. The result could be irreversible and, in some cases, abrupt environmental change, leading to a state less conducive to human development. Without pressure from humans, the Holocene is expected to continue or at least several thousands of years.”
Aufgrund der bisher vorwiegend nur plakativen, weil sanktionsfreien, Klimapolitik der Vereinten Nationen und dem Versuch einzelner Nationalstaaten, sogar die UN-Minimalziele zu unterlaufen bzw. abzulehnen, kann eine an ‚sustainable development‘ orientierte Klimapolitik nicht umgesetzt werden, deren Ziel die Verhinderung irreversibler sozialökologischer Folgen ist. Plakativ ist die UN-Klimapolitik, da die Vereinten Nationen sich nicht auf effektive Sanktionen für das Verfehlen von Klimaschutzzielen einigen können. Es ist daher zu befürchten, dass die Menschheit erst ernsthafte Maßnahmen zum Schutz des Klimas ergreifen wird, wenn die bereits beobachtbaren ersten sozialökologischen Katastrophen zur Regel und für alle bedrohlich geworden sind.
Erste – durch den zivilgesellschaftlichen Druck erzeugte – ökologische Anpassungsmaßnahmen auf der nationalstaatlichen und internationalen Ebene reichen noch nicht aus, um die Klimaerwärmung unter 2 Grad Celsius oder gar unter 1.5 Grad Celsius zum Ende des 21. Jahrhunderts in Beziehung zur vorindustriellen Zeit zu belassen. Auch wenn die klimapolitischen Maßnahmen der Europäischen Union im internationalen Maßstab sehr weitestgehend und auch am verbindlichsten sind, reichen auch sie nicht aus um die notwendigen Schritte von Seiten Europas zu ergreifen. Der europäische Green Deal, der 2022 vom EU-Parlament beschlossen wurde, wird bereits massiv kritisiert - so Schöneberg (2022):
„Mit dem Klimavotum haben die EU-Parlamentarier in diesem Fall aber nicht nur Halbgares, sondern auch den Klima-Offenbarungseid absegnet: Die Treibhausgasemissionen zwischen Lissabon und Tallinn sinken damit zwar – ohne neue Katastrophen – um über 3 Prozent im Jahr. Aber das ist schlicht zu wenig, um die Erderhitzung bei 1,5 Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit abzubremsen.“
Doch die Biosphäre ist nachtragend, sie wartet nicht auf die menschlichen Korrekturmaßnahmen, wenn die Klimakatastrophe bereits im Anrollen ist. Stürme und Unwetter gigantischen Ausmaßes, Verwüstung weiter planetarer Regionen und damit verbundene Massenfluchten, Überflutung ganzer Meeres naher Regionen, Hitze, Dürre und unkontrollierbare Waldbrände sowie Vernichtung von Ernten durch Hagel und Dauerregen sind nur einige Reaktionen auf die derzeit beobachtbare Menschen verursachte Erderwärmung. Die
Die damaligen Appelle von Jonas [4], präventive Verantwortung für denkbare Negativszenarien zu übernehmen, erhalten hier nochmals eine Unterstützung von den weltweit führenden Klimaexperten. Noch ist nach dem IPPC-Bericht noch eine Umsteuerung möglich, wenn Intensität der klimapolitischen Maßnahmen eine enorme Steigerung erfahre. Ansonsten muss die Menschheit wohl erst durch eine äußerst schwierige Entwicklungsgeschichte hindurch, um endlich die Biosphäre achten zu können und den Vorrang ökonomischer Verwertungsinteressen, die Profitgier als Maßstab für ökologisches Verhalten, den Vorrang der Benzin betriebenen Verbrennungsmotoren und der Kohleverstromung, die Vermüllung der Meere sowie umweltfeindlichen Massenkonsum zu überwinden.
Auch in der Energieversorgung durch Atomkraftwerke kann keine Lösung gesehen werden. Die planetare Gefährdung durch Atomkraftwerke wurde lange Zeit heruntergespielt. Doch mit den schrecklichen Reaktorunfällen (GAU) und Maximalschäden u.a. in Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima, deren Folgen bis heute nicht beseitigt werden konnten, zeigte sich, dass die zivile Nutzung der Atomkraft nicht sicher beherrschbar ist. Hinzukommen die massiven Umweltschäden bei der Gewinnung des Urans und die ungelöste Entsorgungsproblematik. Noch immer kann der giftigste Stoff auf der Erde für die Energiegewinnung und den Bau von Nuklearwaffen verwendet werden, ohne dass hier die Entsorgungsfrage gelöst ist. Das Problem wird auf die kommenden Generationen verschoben. Der Versuch der EU-Kommission, die Energiegewinnung in Atomkraftwerken auch noch als nachhaltig auszugeben, versucht die zukünftigen Finanzströme in das Überleben der Kernkraft zu lenken und würde die notwendige Eenergiewende massiv behindern (vgl. zum Versuch des 'Greenwashing' durch die EU-Kommission dem im Anschluss and ieses Kapitel angefügten Beitrag zur EU-Taxonomie).
Der Krieg in der Ukraine zeigt des Weiteren eine weitere Gefährdungslage auf, wenn russisches Militär Atomkraftwerke besetzt, dort militärisches Gerät und Waffen lagert und das technische Personal drangsaliert. Gleichzeitig wird die Gefahr durch Artilleriebeschuss von ukrainischer Seite gesteigert. Hierbei muss überhaupt nicht das AKW selbst getroffen werden, sondern es reicht die Unterbrechung der Kühlkette oder der Stromversorgung aus, so dass ein Super-GAU eintreten kann. Der deutsche Naturwissenschaftler und Autor Karl-W. Koch (2023) warnt daher eindringlich vor einer kriegsbedingten Kernschmelze in der Ukraine:
„Ein mittlerweile sehr deutlich erkennbares Kriegsziel ist dabei die Vernichtung der technischen Infrastruktur der Ukraine, maßgeblich der elektrischen Infrastruktur. Die ist am einfachsten zu zerstören, wenn die Knotenpunkte der Hochspannungsfernleitungen zerstört werden und die Einspeisungsstellen in die Netze mittlerer Spannungen. Ein Hauptproblem dabei: Die nötigen Transformatoren liegen weder in der Ukraine noch in Rest-Europa in Mengen als Reserve herum. Sie müssen im Gegenteil aufwendig, auf die jeweilige Stelle genau zugeschnitten neu gebaut werden, und das dauerte jeweils mehrere Monate.
An diesen Knotenpunkten und Transformatoren hängen aber AUCH die Atomkraftwerke der Ukraine. Werden sie vom Stromnetz getrennt, dann muss das AKW zur Kühlung auf Notstromaggregate (Diesel) umgestellt werden. Diese haben eine Laufzeit von maximal 3 bis 10 Tage, für den Dauerbetrieb sind sie nicht ausgelegt. Versagen auch sie, fällt die Kühlung der Reaktoren aus. Und diese MÜSSEN AUCH gekühlt werden, wenn die Reaktoren herunter gefahren wurden. Und die Lagerbecken der ausgetauschten Brennstäbe bei den AKWs (und in Tschernobyl, das große Zwischenlager der Ukraine) müssen dauerhaft gekühlt werden. Sonst droht jeweils eine Kernschmelze mit der Freisetzung riesiger Mengen an Radioaktivität.“
Tierquälerei und Fleischvermarktung
Wie der Mensch zerstörerisch und ausbeuterisch mit der ihn umgebenden Natur umgeht, so verhält er sich zu den Tieren. Die Vielfalt der frei lebenden Tierarten ist extrem rückläufig. Die meisten der von Menschen gefangen gehaltenen und für den Fleischkonsum eingesperrten Tiere werden im Rahmen industrieller Massentierhaltung auf vielfältige Weise gequält, bevor sie geschlachtet werden. Schweine und Kühe stehen dort zwischen Metallgittern gehalten und ohne Bewegungsspielraum eingepfercht, werden mit Hormonspritzen und Antibiotika zum ungestörten und schnellen Fleischwachstum manipuliert, ihre Güllefluten werden dann auf den Feldern entsorgt, wodurch wiederum das Trinkwasser mit Nitraten vergiftet wird. Insbesondere die Menschen in den reichen Ländern des Nordens konsumieren in einem erschreckenden Ausmaß Fleischprodukte, so dass ein großer Prozentsatz buchstäblich seinen Leib aufbläht und krankhaft übergewichtig wird. Gleichzeitig fehlt vielen Menschen in den ärmeren Ländern die Möglichkeit, genügend Kalorien über die Ernährung aufzunehmen, so dass der Hunger in der Welt noch keineswegs besiegt ist.[5] Es existiert hinsichtlich der industriellen Massentierhaltung, der damit verbundenen Tierquälerei und des durchschnittlichen Fleischkonsums sowie der dadurch ausgelösten Umweltvergiftung, insbesondere der Belastung des Trinkwassers und des Ausstoßes von Kohlenstoffdioxid und Methan, ein verhängnisvoller ökologischer Zusammenhang. Auch das Abbrennen des ökologisch wertvollen Regenwaldes ist in einer Verbindung mit dadurch entstehenden Weideflächen für Rinder, dem Futtermittelanbau für Rinder (Soja) und dem Fleischkonsum zu sehen.
So fasst der Weltklimarat (IPCC 2019, 17) die entsprechenden Forschungsergebnisse wie folgt zusammen:
„The level of risk posed by climate change depends both on the level of warming and on how population, consumption, production, technological development, and land management patterns evolve (high confidence). Pathways with higher demand for food, feed, and water, more resource-intensive consumption and production, and more limited technological improvements in agriculture yields result in higher risks from water scarcity in drylands, land degradation, and food insecurity (high confidence).“
Ökologische Schwellenwerte für den Planeten
V. Weizsäcker/Wijkman (2017) verwenden den Begriff der planetaren Grenzen[6], der sich auf ökologische Schwellenwerte der Erde bezieht. Wenn diese Grenzen überschritten seien, bestehe die Gefahr einer unumkehrbaren Umweltveränderung.
Hinsichtlich folgender neun Faktoren lässt sich eine krisenhafte Entwicklung feststellen, wobei vor allem die genetische Vielfalt sowie der Stickstoff- und Phosphorkreislauf sich bereits im Hochrisikobereich, also jenseits des Unsicherheitsbereichs, befinden. Die komplexeste Gefahr mit Folgen für das gesamte ökologische System gehe vom Klimawandel aus, der ebenfalls schon seine planetaren Grenzen überschritten habe. [7]
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Neun ökologische Faktoren planetarer Grenzen [8]
· „Stratosphärischer Ozonabbau
· Verlust der Biodiversität und Artensterben
· Chemische Verschmutzung und Freisetzung neuartiger Verbindungen
· Klimawandel
· Ozeanversauerung
· Landnutzung
· Süßwasserverbrauch und der globale hydrologische Kreislauf
· Stickstoff und Phosphor fließen in Biosphäre und Ozeane
· Atmosphärische Aerosolbelastung“ [9]
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Hierbei muss festgestellt werden, dass einzelne Faktoren nicht isoliert betrachtet werden dürfen, da sie miteinander, sich wechselseitig beeinflussend, vernetzt sind. Nur über eine ganzheitliche Sichtweise, die sowohl Komplexität als auch Differenziertheit ermöglicht, kann die Tragweite des bereits entstandenen ökologischen und gesellschaftlichen Schadens verstanden werden:
“Although the planetary boundaries are described in terms of individual quantities and separate processes, the boundaries are tightly coupled. We do not have the luxury of concentrating our efforts on any one of them in isolation from the others. If one boundary is transgressed, then other boundaries are also under serious risk. For instance, significant land-use changes in the Amazon could influence water resources as far away as Tibet. The climate-change boundary depends on staying on the safe side of the freshwater, land, aerosol, nitrogen-phosphorus, ocean and stratospheric boundaries. Transgressing the nitrogen-phosphorus boundary can erode the resilience of some marine ecosystems, potentially reducing their capacity to absorb CO2 and thus affecting the climate boundary.” [10]
Die Zerstörung der Wälder – die Lunge der Erde
Die Studie des Weltklimarats (IPCC 2019, 3) macht die Dringlichkeit einer Umsteuerung auch in dem forst- und landwirtschaftlichen Umgang mit der Biosphäre deutlich („loss of natural ecosystems (e.g. forests, savannahs, natural grasslands and wetlands) and declining biodiversity (high confidence)“). Durch Besiedlung und agrarindustrielle Nutzung gehen zunehmend Flächen für CO2 absorbierende und Sauerstoff erzeugende Waldflächen verloren. So stellt der von den UN beauftragte IPCC fest:
„Land use change and rapid land use intensification have supported the increasing production of food, feed and fibre. Since 1961, the total production of food (cereal crops) has increased by 240% (until 2017) because of land area expansion and increasing yields. Fibre production (cotton) increased by 162% (until 2013).“ [11]
Die unter dem rechtspopulistischen brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro massiv beschleunigte Abholzung des Regenwaldes, der Lunge der Erde, zugunsten von Sojaanbauflächen, Rinderweiden und Bodenspekulation verstärkt die Klimakrise. Hierbei werden durch das bevorzugte Mittel der Brandrodung zusätzlich noch erhebliche Klima schädliche Mengen Kohlendioxids freigesetzt. Auch die Anbaustandards, z.B. hinsichtlich des Einsatzes von Pestiziden, entsprechen dort in der Regel nicht den Ansprüchen einer ökologisch ausgerichteten Landwirtschaft. Erhebliche Teile des brasilianischen Regenwaldes werden mit der ausschließlichen Perspektive der Bodenspekulation gerodet bzw. abgebrannt, um später einmal dieses Gelände als Anbaufläche oder sogar als Bauland vermarkten oder für die Ausbeutung von Bodenschätzen nutzen zu können. [12] Hierbei förderte der 2022 abgewählte brasilianische Präsident Bolsonaro in verhängnisvoller Weise diese Entwicklung:
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„Bolsonaro hat sich in seinen Ansprachen immer wieder zu Goldgräbern und Holzfällern bekannt, aber er äußert sich abfällig über indigene Völker (‚wie im Zoo‘) und die staatseignen Umweltschutzbeamten (‚Strafzettelindustrie‘). Am Amazonas wurde das wie eine Aufforderung verstanden, noch bevor er mit Dekreten die Gesetzeslage veränderte. Erst vor zwei Wochen machte der Mord am Häuptling des Waiãpi-Volks internationale Schlagzeilen. An einigen Orten sind Gebäude der Indianerschutz- und der Umweltschutzbehörde in Flammen aufgegangen, Unbekannte schossen in einem Abholzungs-Hotspot auf einen Behördenhubschrauber. Keine Woche vergeht mehr ohne Meldungen von Invasionen in Indianergebiete, von Vertriebenen oder gar Toten. Ergebnis: Vorläufige amtliche Satellitendaten zeigen, dass im Juni das Tempo, mit dem am Amazonas Bäume gefällt werden, um 88 Prozent über dem des Vorjahresmonats lag, im Juli waren es sogar 212 Prozent. Aktuell liegt die Abholzungsrate bei drei Fußballfeldern pro Minute. Seit den Siebzigerjahren, als die Abholzung im großen Stil unter der Militärdiktatur (1964–1985) begann, sind etwa 20 Prozent des gesamten brasilianischen Amazonaswaldes verschwunden, eine Fläche, zweimal größer als Deutschland.“ [13]
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Anstelle nun mit einer höheren Besteuerung von Rindfleisch- und Sojaexporten in die EU zu reagieren, wenn diese aus gerodeten Regenwaldflächen resultieren, beschließt die EU das Gegenteil: Es wird ein internationales Freihandelsabkommen zwischen den MERCOSUR-Staaten (Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay) und der EU auf den Weg gebracht, das ohne derartige Beschränkungen auskommt bzw. den zwischenstaatlichen Handel mit Rindfleisch und Sojaprodukten generell deutlich erleichtert. Dies bedeutet eine direkte Aufforderung, den Regenwald weiter zu vernichten und die Klimakatastrophe zu beschleunigen – ganz zu schweigen von den verstärkt notwendig werdenden interkontinentalen Warentransporten auf dem See- und dem Luftweg, die zusätzlich die Biosphäre belasten. [14]
Derartige Maßnahmen stehen eindeutig den ökologischen Beteuerungen der EU entgegen und gegen die Klimaziele der Vereinten Nationen. Solange hier nicht eine andere Handels- und Umweltpolitik von Seiten der EU erfolgt, werden deren ökologische Ansprüche als hohle Phrasen entlarvt.
Aufgrund des Postulats nationalstaatlicher Souveränität sind die UN derzeit nicht in der Lage, intervenierend einzugreifen. Hierzu müsste es zu einer Änderung der UN-Charta kommen, so dass für den Fall einer massiven ökologischen Schädigung mit Folgen für das Weltklima ein international gesteuertes Eingreifen, z.B. in Form von Wirtschaftssanktionen, möglich wäre.
‚Responsibility to Protect‘ wäre hier um das verantwortliche Eingreifen durch die Vereinten Nationen zu erweitern. Dies müsste zunächst mit diplomatischen Mitteln erfolgen, dann mit wirtschaftlichen Druck und im Falle der Erfolglosigkeit dieser Maßnahmen mit weltpolizeilichem Eingreifen unter Vorrang ziviler Mediationsmethoden und ‚Just Policing‘ im Kontakt mit einheimischen Bürgerinitiativen und indigenen Bevölkerungsgruppen durchgeführt werden. Wenn dies alles nichts nutzt, müssten im Falle einer massiven Beschädigung auch UN-Militär mit einem robusten Mandats des ökologischen Peacebuildings eingesetzt werden.
Die Atmosphäre, die schmale Gashülle, welche die Erde umgibt, ist derart dünn und verletzlich, bereits massiv beschädigt, so dass hier eine zukünftige Toleranz nicht mehr möglich ist. Man muss hierbei bedenken, dass die Troposphäre, die erdnaheste und für unsere Fortexistenz besonders bedeutsame atmosphärische Schicht, nur ein paar Kilometer hoch ist und dementsprechend kaum noch Kompensationsmöglichkeiten besitzt. Eine Milliarden Jahre umfassende Entwicklung ist in wenigen Jahrzehnten durch die menschliche Zivilisation und ihr ungebremstes ökonomisches Wachstumsdenken an die Grenze ihrer ökologischen Resilienz gebracht worden.
Auch die Versuche, zu multilateralen oder bilateralen Handelsabkommen zu gelangen, wie z.B. TTIP oder JEFTA [15], zeigen, dass es hierbei um eine ungebremste Steigerung des Wirtschaftswachstums geht, ohne Rücksicht auf natürliche Ressourcen zu nehmen. Es geht um die Einrichtung von internationalen ‚Freihandelszonen‘, die zu einem erhöhten Verbrauch natürlicher Ressourcen über die damit eintretende Produktionserhöhung sowie über den ansteigenden Transport von Waren zwischen den Kontinenten führen wird. Auch besteht die Gefahr der Absenkung internationaler Standards im Bereich des Umweltschutzes.
Die Neoliberalisierung der Wirtschaft verstärkt die bereits historisch durch die Kolonalisierung und die postkoloniale Zeit entstandene globale Ungerechtigkeit zwischen dem reicheren und dem ärmeren Teil der Welt, auch mit dem Blick auf die Klimaentwicklung. Während die reichen Länder sich über die Externalisierung der Klimaschäden weiter bereichern konnten, konnten die ärmeren Länder diese Entwicklung aufgrund der ungerechten Welthandelsverhältnisse selbst nicht vollziehen. Die reichen und industrialisierten Regionen belasteten über zwei Jahrhunderte die Erdatmosphäre mit CO2-Emissionen, wobei insbesondere die ärmeren Regionen die Folgen der Klimakatastrophe nun erleiden müssen. Diese kritische Einschätzung muss dann natürlich auch Konsequenzen für die Forderungen zur zukünftigen Finanzierung der notwendigen Klimaschutzmaßnahmen haben.
Auch der Weltklimarat (2023, 5) machte in seinem zusammenfassend analysierenden Synthebericht die doppelte Ungerechtigkeit im globalen Kontext anhand klimawissenschaftlicher Daten deutlich:
„Widespread and rapid changes in the atmosphere, ocean, cryosphere and biosphere have occurred. Human-caused climate change is already affecting many weather and climate extremes in every region across the globe. This has led to widespread adverse impacts and related losses and damages to nature and people (high confidence). Vulnerable communities who have historically contributed the least to current climate change are disproportionately affected (high confidence).“
Geschäfte mit dem Wasser
Des Weiteren existiert der Versuch einer weiteren Privatisierung natürlicher Ressourcen im Rahmen dieser Abkommen, insbesondere der Privatisierung des Trinkwassers, die nachweisbar zu Preiserhöhung und zur Absenkung der Trinkwasserqualität führt. [16]
Über die multilateralen Handelsverträge versucht sich der Weltkapitalismus auf der Vertragsebene abzusichern und sich möglichst günstige Bedingungen für den Raubbau an den natürlichen Ressourcen und der Inwertsetzung von Natur zu verschaffen. Aber auch transnationale Institutionen, wie z.B. IWF, Weltbank und WTO, arbeiten an den Voraussetzungen einer neoliberal orientierten Privatisierung von Ressourcen, wie z.B. der für die Erzeugung von Trinkwasser zur Verfügung stehenden Süßwasserquellen. Der Konflikt um den Zugang zu Trink- und Brauchwasser verschärft sich durch die Klimaveränderungen und das Anwachsen der Weltbevölkerung, so dass durch internationale Vereinbarungen multinationale Konzerne zukünftig privilegiert werden sollen:
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„Wasser – von der Quelle des Lebens zur Quelle von Profiten
Zurückzuführen ist diese Politik auf den Washington Consensus (1990), der eine Reihe wirtschaftspolitischer Maßnahmen zur weltweiten Förderung von wirtschaftlicher Stabilität und Wachstum beinhaltet, in welchem Wirtschaftsprozesse liberalisiert und die Wirtschaftstätigkeit weitgehend privatisiert werden sollten. Dadurch, so der wirtschaftsliberale Gedanke, werde die Grundlage dafür geschaffen, dass Ressourcen besser alloziiert und effizienter verwendet werden. Das Konzept des Washington Consensus wird von IWF und Weltbank vorangetrieben. Dazu gehören unter anderem die Liberalisierung der Handelspolitik und die Privatisierung öffentlicher Einrichtungen. Der IWF fungiert als Kreditgeber für die Zentralbanken, die Weltbank übernimmt diese Funktion für Privatbanken. Darüber hinaus ist ein internationales Netzwerk regionaler Entwicklungsbanken mit IWF, Weltbank und WTO verbunden, wie die European Investmentbank, Inter-American Development Bank, Asian Bank, Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung und die Islamic-Development Bank. Global agierende Wasserkonzerne, der Weltwasserrat und Global Water Partnership arbeiten eng mit WTO, Weltbank und IWF zusammen. Sie verbindet das Ziel, Wasser als Wirtschaftsgut einzustufen, damit es dementsprechend frei vermarktet werden kann. Offiziell wird die Politik der Wasserprivatisierung und – damit verbunden – der Bau von Staudämmen mit der Armutsbeseitigung begründet. Dass diese Argumentation nur vorgeschoben ist, zeigt sich etwa daran, dass sich die involvierten Organisationen und Konzerne nicht für dezentrale Lösungen, wie beispielsweise die Nutzung von Regenwasser einsetzen. Vielmehr werden Großstaudämme und kapitalintensive Infrastrukturprojekte propagiert, zu deren Realisierung oft sogar Entwicklungshilfeorganisationen als Geldgeber eingespannt werden. Ein Hand in Hand arbeitendes Netzwerk aus Lobbyisten und Branchenverbänden steht hinter dieser Ausrichtung der weltweiten Wasserpolitik.“[ 17]
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Die hinter den aus dem ‚Washington Consensus‘ heraus angeregten Beschlüsse stehenden Lobbyisten, Politiker, Gruppierungen und Konzerne, wie z.B. Coca Cola oder PricewaterhouseCoopers, arbeiten größtenteils verdeckt und intransparent, um Störungen dieses Prozesses, etwa über zivilgesellschaftlichen Widerstand, zu vermeiden.
Ressourcenkonflikte sind hinsichtlich des Wassers unvermeidlich. Der Konflikt zwischen den Ex-Sowjetrepubliken Tadschikistan und Kirgistan, an der chinesischen Grenze gelegenen Staaten, um den Zugang und die Kontrolle einer Wasserverteilstelle ist exemplarisch für diese Problematik:
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Kampf um Trinkwasser „Das kirgisische Gesundheitsministerium in Bischkek teilte übereinstimmenden Berichten zufolge mit, bei den Kämpfen seien 31 Menschen getötet und 154 verletzt worden. Auf tadschikischer Seite war von 10 Toten und etwa 90 Verletzten die Rede, wie das Internet-Portal Asia-Plus meldete. Eine Bestätigung der Zahlen gab es in dem autoritär geführten Land zunächst nicht. Der Konflikt eskalierte Mitte dieser Woche, als tadschikische Beamte eine Videokamera in der Nähe einer Wasserverteilerstation installieren wollten. Kirgisische Bürger wehrten sich dagegen. Sie warfen zunächst mit Steinen, wie Medien berichteten. Dann verstärkten beide Seiten ihre Grenztruppen, die dann aufeinander schossen. Die Wasserverteilstelle liegt auf von Kirgistan kontrolliertem Gebiet an einem Kanalausgang, der einen Stausee in der Region Batken befüllt. Für die Menschen dort ist dies der wichtigste Zugang zu Trinkwasser. Tadschikistan erhebt unter Berufung auf ältere Karten Anspruch auf das Gebiet.“ [18]
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Die Auseinandersetzungen in Zentralasien sind ein Beispiel für zwischenstaatliche Wasserkonflikte. Ein weiteres Beispiel ist der Konflikt zwischen Ägypten und Äthiopien um das Nilwasser. Hier hat Ägypten bereits mehrfach Äthiopien mit Krieg gedroht. Ägypten bezieht 90% seines Trinkwassers aus dem Nil und sieht die Trinkwasserversorgung durch die Planung von Staudämmen durch Äthiopien bedroht. Auch Israel hat beispielsweise im Zuge der verschiedenen militärischen Auseinandersetzungen es geschafft, dass inzwischen 90% des Jordanwassers nach Israel umgeleitet werden, die nun in einer sehr regenarmen Region in Jordanien, Syrien und in den Palästinensergebieten fehlen. So wird palästinensischen Bauern verboten, neue Brunnen zu bohren, während israelische Siedler in palästinensischen Gebieten hierfür ohne Schwierigkeiten die Genehmigung zu einer Brunnenbohrung erhalten. [19]
Doch auch innerstaatlich kommt es zu Kämpfen um die Ressource Wasser. Mehr als eine Milliarde Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. So versiegen Quellen und fallen vermehrt Niederschläge aufgrund der klimatischen Verschiebungen aus. Des Weiteren beanspruchen agrarindustrielle Großprojekte sowie der Abbau von Rohstoffen, wie z.B. für die Gewinnung der seltenen Erden für die Batterienherstellung in Chile, riesige Wasserressourcen, die den einheimischen Bauern fehlen und ihnen die Existenzgrundlage rauben.
Innerstaatliche Auseinandersetzungen in Kenia beispielsweise zeigen die Dynamik einer solchen Problematik. Hier kämpfen nomadisierende Viehzüchter gegen die Export orientierte und hierfür ehemalige Weideflächen beanspruchende Landwirtschaft. Sowohl der zunehmende Bevölkerungsdruck als auch die durch klimatische Verschiebungen sich verzögernden Regenfälle verschärfen diesen Konflikt. Konflikte im Norden Kenias werden inzwischen nicht mehr mit Speeren, sondern mit aus Somalia importierten Kalaschnikows ausgetragen und führen zu steigenden Opferzahlen in diesem Konflikt um die kostbare Ressource. So intensivieren westliche Konsumbedürfnisse, wie z.B. die steigende Nachfrage nach Rosen und Tulpen, innerstaatliche Konflikte in einem afrikanischen Staat. Zusätzlich wird diese Problematik von ethnischen Spannungen überlagert. [20]
Am Beispiel des Nestlé-Konzerns soll nun die Problematik der internationalen Versuche der Wasserprivatisierung exemplarisch entfaltet werden.
Nestlé – „Sie sind Raubtiere und Wasserjäger“ (Maude Barlow)
Der multinationale Schweizer Konzern Nestlé ist – so die eigene Darstellung – das weltweit größte Unternehmen für Lebensmittel und Getränke, das Niederlassungen in 189 Ländern besitzt. Zur Nestlé-Unternehmensgruppe gehören u.a. Marken wie MAGGI, Thomy, Nescafé, Nesquick, Kitkat, Smarties, After Eight, Bübchen sowie u.a. das in Flaschen verkaufte Wasser, wie z.B. die Marken S. Pellegrino, Vittel und Nestlé Pure Life. [21]
Eine zentrale Geschäftsidee Nestlés ist das Bohren von Tiefbrunnen und die Vermarktung von in Plastikflaschen portioniertem Trinkwasser. Denn Nestlé habe, so der Konzern in der Selbstdarstellung, seine Verantwortung hinsichtlich der ökologischen Bedeutung des Wassers erkannt:
„Wasser ist Leben. Es ist unentbehrlich, aber an vielen Orten der Welt – bereits jetzt – knapp. Wir bei Nestlé sind der festen Überzeugung, dass der Zugang zu Wasser ein grundlegendes Menschenrecht ist. Jeder Mensch, überall auf der Welt, hat das Recht auf sauberes, sicheres Trinkwasser und sanitäre Einrichtungen.“ [22]
Damit hat Nestlé eine Geschäftsidee, die zukunftsträchtig scheint, denn es droht in der Zukunft in vielen Regionen ein dramatischer Wassermangel. Das Aufkaufen von Wasserquellen und das Erkaufen von Bohrgenehmigungen für Tiefbrunnen, um mit Wasser gefüllte Trinkflaschen portionsweise zu vermarkten, verspricht ungeahnte Profite, auch wenn dann die Wasserquellen von militärischen Sicherungsdiensten vor den Einheimischen zu bewachen sind.
Im Jahr 2012 erschien der Film des Schweizer Filmemachers Urs Schnell und des aus der Schweiz stammenden Journalisten Res Gehriger mit dem Titel „Bottled Life“, der sich mit dem Wassergeschäft von Nestlé kritisch auseinandersetzt. Die Schweizer Zeitschrift ‚Tagesanzeiger‘ schreibt hierüber:
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„Journalist Gehriger liess sich nicht abwimmeln. In Äthiopien besuchte er ein Flüchtlingslager, für das Nestlé 2003 mit 750.000 Dollar die Wasserversorgung erstellt hatte. Zwei Jahre später zog sich der Konzern zurück, seither funktioniert die kaum noch gewartete Anlage mangelhaft, Wasserknappheit ist wieder Alltag. In Nigerias Hauptstadt Lagos erfährt Gehriger, dass Familien die Hälfte ihres Budgets für Wasser in Kanistern aufwenden. Wer es sich leisten kann, trinkt Pure Life von Nestlé. Oder die Dorfgemeinschaften im US-Bundesstaat Maine, die gegen das Abpumpen von Grund- und Quellwasser durch Nestlé kämpfen. Es gilt das Recht der stärksten Pumpe: Wer Land besitzt, darf darauf so viel Wasser pumpen, wie er will. Nestlé schöpft jährlich mehrere Millionen Kubikmeter ab und transportiert das Wasser per Tanklastwagen zu den Abfüllanlagen. ‚Die wollen mit unserem Wasser Profit machen, zahlen pro Liter den Bruchteil eines Cents‘, empört sich eine Kleinunternehmerin. ‚Die verkaufen das Wasser, das wir fürs WC und zum Händewaschen verwenden, als teures Quellwasser‘, höhnt ein anderer. Doch weil Nestlé den Gemeinden Steuern bringt, empfangen viele Behörden den Konzern, der von einer Armada von Anwälten und PR-Beratern unterstützt wird, mit offenen Armen. Im Film läuft der Kampf zwischen David und Goliath auf ein Patt hinaus: Am einen Ort gewinnt Nestlé, am anderen die lokale Opposition.“ [23]
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Nestlé selbst ist auf seiner Homepage um eine Imageverbesserung bemüht und spricht von nachhaltiger Wasserbewirtschaftung, ökologischer Verantwortung und seinem Einsatz für Humanität in den armen und von Trockenheit bedrohten Gebieten der Welt.
Die ehemalige UN-Chef-Beraterin für Wasserfragen und kanadische Wasseraktivistin Maude Barlow entlarvt diesen PR-Anspruch des Konzerns allerdings als Medien-Propaganda, um die hochproblematische Aktivität des Konzerns zu verbergen. In ihrem Buch ‚Blaue Zukunft. Das Recht auf Wasser und wie wir es schützen können‘ analysiert Maude Barlow (2014) die an Profitmaximierung orientierten Aktivitäten der Wasserkonzerne, wie z.B. Nestlé. Im Film ‚Bottled Life‘ bringt sie ihre Kritik an Nestlé auf den Punkt:
„Nestlé ist ein Wasserjäger, ein Raubtier auf der Suche nach dem letzten sauberen Wasser dieser Erde.“ [24]
Nestlé macht einem Umsatz mit Flaschenwasser von sieben Milliarden Euro und ist in diesem Segment Weltmarktführer. Die Journalistin Rabea Weihser (2013) der Zeitschrift ‚Die Zeit‘ rekonstruiert die Kritik der Produzenten des Films ‚Bottled Life‘ und charakterisiert den ausbeuterischeren Charakter der Nestlé-Aktivitäten:
„Sie zeigen, wie dessen Marke Pure Life durch gezielte Werbung in Pakistan zum Statussymbol und in Nigeria zu einer der wenigen zuverlässig sauberen Trinkwasserquellen wurde. Kein Getränk ist so stark verbreitet wie Pure Life. Es besteht in 27 Ländern aus gefiltertem, mit künstlichen Mineralien versetztem Leitungswasser und schmeckt überall gleich. Wo korrupte Regierungen die öffentliche Wasserinfrastruktur verrotten lassen, schließt Nestlé eine Marktlücke und scheffelt das Geld der Ärmsten.“ [25]
Der Verkauf von Trinkwasser verspricht wachsende Profite in der Zukunft. Solange der rechtliche Rahmen und das damit verbundene Verständnis von Ökonomie das Geschäft mit der – neben der Luft – wichtigsten Ressource, dem Wasser, ermöglicht, wird sich hier zukünftig ein wachsendes Geschäftsfeld mit überdurchschnittlichen Renditen erschließen. Die Absenkung des Grundwasserspiegels sowie die Exklusion weiter Teile der Bevölkerung von sauberer Wasserversorgung wird hierbei wirtschaftspolitisch über die Befolgung des ‚Washington Consensus‘ – und wenn es sein muss – mit militärischer Absicherung betrieben werden.
Der ‚Washington Consensus‘ als Hindernis ökologischer Steuerung
Der ‚Washington Consensus‘, der für die Privatisierung, Deregulierung und Steuersenkung für Unternehmen steht, ist Ausdruck eines neoliberalen Kapitalismus-Verständnisses. Der neoliberalisierte Kapitalismus ist ein Haupthindernis hinsichtlich der auf massive Regulation angewiesenen, bereits eintretenden Klimakrise bzw. die Voraussetzung für eine noch extremere Ausbeutung der natürlichen Ressourcen.
Die kanadische Aktivistin und Autorin Naomi Klein (2019, 30) macht den fatalen Zusammenhang zwischen der historischen Durchsetzung eines neoliberal deregulierten Kapitalismus und der gleichzeitig verschärft eintretenden Notwendigkeit, regulierend gegen die Naturzerstörung einzugreifen, deutlich:
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„Wir haben nicht die notwendigen Dinge getan, um die Emissionen zu reduzieren, weil diese Dinge in fundamentalem Widerspruch zum deregulierten Kapitalismus stehen, der herrschenden Ideologie, seit wir uns um einen Weg aus der Krise bemühen. Wir kommen nicht weiter, weil die Maßnahmen, die am besten geeignet wären, die Katastrophe zu verhindern – und die dem Großteil der Menschen zugutekommen würden –, eine extreme Bedrohung für eine elitäre Minderheit darstellen, die unsere Wirtschaft, unseren politischen Prozess und unsere wichtigsten Medien im Würgegriff hat. Zu einem Zeitpunkt der Geschichte wäre das Problem vielleicht nicht unüberwindbar gewesen. Wir haben jedoch als Gemeinschaft das große Pech, dass die Wissenschaft ihre eindeutige Diagnose einer Klimabedrohung ausgerechnet in dem Augenblick stellte, als diese Eliten eine uneingeschränkte politische, kulturelle und intellektuelle Macht genossen wie seit den 1920er Jahren nicht mehr.“
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Warschauer Pakt-Staaten fiel die Systemkonkurrenz für den kapitalistischen Westen weg. Der Kapitalismus gab sich als das überlegene System aus und ließ seine sozial-ökologische Maske fallen. Mit der eintretenden Klimareaktion entwickelte sich der Kapitalismus in eine neoliberale Richtung, die das ungehinderte Profitdenken und die zunehmende Ausbeutung der Ressourcen begünstigte sowie eine Bewusstseinsindustrie installierte, die hiervon ablenken sollte.
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Leugnung des anthropogenen Teils der Klimakrise als Geschäft
Entgegen der früheren Veröffentlichungen des IPCC und des 2023 veröffentlichten IPCC-Synthesebericht, bei dem die führenden Klimawissenschaftler_innen über 9000 wissenschaftliche Studien zur Klimaentwickelten analysierten und auf ihre Konsequenzen hin beurteilten, leugnen Politiker, wie z.B. Trump, Putin oder Bolsonaro die Existenz der Klimakrise und können sich hier u.a. auch auf gekaufte wissenschaftliche Gutachten stützen.
Die wissenschaftliche Leugnung der Klimakrise bzw. der eintretenden Klimakatastrophe wird von Teilen der Fossilindustrie, wie z.B. Öl- und Gas-Konzernen, gut bezahlt. Einige korrupte Wissenschaftler lassen sich nicht nur das ‚Greenwashing‘ von Konzernen bezahlen, sondern auch die Leugnung der menschengemachten Klimakrise, damit die Ausbeutung der Ressourcen fortgesetzt werden kann. Im Gegensatz zu 97% der Wissenschaftler, die die Fakten zur Klimasituation aufgrund der wissenschaftlich korrekt ermittelten Datenlage analysieren würden, werden z.B. US-amerikanische Think Tanks von interessengeleiteter Seite mit Millionen Dollar bezahlt, die von einer Klimahysterie und den natürlichen Klimaschwankungen sprechen und den Menschen verursachten Teil an der Klimaentwicklung abstreiten. [26]
So wird beispielsweise behauptet, dass die Klimaerwärmung nicht anthropogen verursacht sei, sondern mit der gesteigerten Sonnenaktivität zusammenhänge. Aber genau das Gegenteil ist der Fall: Messungen u.a. des ‚Wold Radiation Center‘ sowie des ‚Laboratory for Atmospheric and Space Physics‘sind zum Ergebnis gekommen, dass in den letzten 35 Jahren die Sonneneinstrahlung auf die Erde sogar abnahm, während wir in dieser Zeit den schnellsten Anstieg der Klimaerwärmung seit dem Beginn der Industrialisierung hatten. [27]
Auch wird von interessierten Klimaskeptikern behauptet, dass die derzeit zu beobachtende terrestrischer Erwärmung um 1oC überhaupt kein Problem sei, da es schon immer Klimaschwankungen gegeben habe, mit denen die Erde fertig werden musste. Auch sei bei solchen Wärmeperioden keine erhöhte CO2-Konzentration vorhanden gewesen. Die Erwärmung sei eine natürliche Tendenz nach einer kleineren Eiszeit und sei nicht menschengemacht.
Hiergegen lässt sich zunächst einwenden, dass die gegenwärtige schnelle Erwärmung nicht vergleichbar mit der nach Eiszeiten viel langsamer erfolgenden Erwärmung ist. Auch ist untersucht worden, dass bei allen klimatischen Veränderungen, die abrupt, z. B. bei Vulkanausbrüchen größeren Ausmaßes, erfolgten, der massive Ausstritt von Klimagasen, wie Kohlenstoffdioxid oder Methan beteiligt waren. So die Einschätzung der Scientists for Future:
„But there have been several times in Earth’s past when Earth's temperature jumped abruptly, in much the same way as they are doing today. Those times were caused by large and rapid greenhouse gas emissions, just like humans are causing today.
Those abrupt global warming events were almost always highly destructive for life, causing mass extinctions such as at the end of the Permian, Triassic, or even mid-Cambrian periods. The symptoms from those events (a big, rapid jump in global temperatures, rising sea levels, and ocean acidification) are all happening today with human-caused climate change.
So yes, the climate has changed before humans, and in most cases scientists know why. In all cases we see the same association between CO2 levels and global temperatures. And past examples of rapidcarbon emissions (just like today) were generally highly destructive to life on Earth.“ [28]
Die Natur ist für den Kapitalismus nur interessant, wenn sie in Wert gesetzt wird.
Daher sind weltweite Gegenbewegungen und Initiativen, wie über die NGO’s Attac, Transparency International, World Commission on Dams (WCD), Lobby Control oder Water Aid dabei, über die Zusammenhänge zwischen Raubbau an Ressourcen, Privatisierungstendenzen, transnationalen Vereinbarungen und kapitalistischer Profitmaximierung aufzuklären. Auch stellt sich die Frage, ob nicht gerade dieser Zusammenhang zwischen neoliberalisiertem Kapitalismus und drohender zivilisatorischer Vernichtung der Menschheit durch die einsetzende Umweltkatastrophe doch zu einem radikaleren Umlenken und einer systemischen Neuordnung führen wird.
Zwar hat auch der Staatssozialismus sowjetischer Prägung die Natur auf das Äußerste ausgebeutet und ökologische Grenzen verantwortungslos überschritten, doch scheint genauso ein Zusammenhang zwischen Naturausbeutung und Kapitalismus zu bestehen. Die Natur ist für den Kapitalismus nur interessant, wenn sie in Wert gesetzt wird. Hierbei herrscht eine Mentalität vor, dass die Natur unerschöpflich, umsonst verfügbar und ohne Beachtung der Folgen für die Wertschöpfung nutzbar ist. Der Raubbau an der Natur entspricht der sich im Kapitalismus auslebenden menschlichen Gier nach Reichtumsanhäufung. Daher ist es trotz aller gutgemeinten internationalen Beschlüsse fraglich, ob sich in einem rigorosen weltkapitalistischen System tatsächlich einschneidende Maßnahmen zur Erhaltung der Biosphäre umsetzen lassen.
Die historische Entwicklung zur Entbettung der Ökonomie (Polanyi, 1957) führte zu einer Verselbstständigung der Wirtschaft und einer Loslösung von humanen Bedürfnissen zugunsten einer Dominanz der Ökonomie über das gesellschaftliche Leben. Die ‚große Transformation‘ bedeutete dann auch die Transformation der Natur zu einem ökonomisch eingeengten und anthropozentrischen Mensch-Natur-Verhältnis. Dieser sich über ca. zwei Jahrhunderte sich beschleunigt entwickelnde Prozess müsste nun wieder verlangsamt und dort umgekehrt werden, wo er die ökologischen Voraussetzungen des Lebens auf der Erde vernichtet.
Oftmals stehen vor allem die Emissionen aus industrieller Produktion und Verkehr im Vordergrund der Klimadiskussion. Daher seien auch den Skeptikern gegenüber dem negativen anthropogenen Einfluss auf die Klimaentwicklung abschließend noch einmal die zusammenfassenden Ergebnisse des Weltklimarats hinsichtlich des allein durch die agrar- und forstwirtschaftliche wirtschaftliche Nutzung ausgelösten Greenhouse Gas (GHG) in seinem 2019 erschienen Klimareport dargestellt. Der in Kooperation mit den Vereinten Nationen aus Wissenschaftlern_innen aller Weltregionen bestehende und der weltweit vorliegenden Forschungsergebnisse zur Klimaentwicklung analysierende und bewertende Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) fasst für den Zeitraum von 2007-2016 den menschlichen Einfluss der Landnutzung auf das Klima zusammen. Wenn man weiß, wie z.B. die Emissionen von Kohlenstoffdioxid und Methan in landwirtschaftlichen Produktionsprozessen sowie die Verminderung des Waldbestandes auf den Umfang der Waldaktivität im Sinne einer CO2-Senke sowie der Sauerstoffproduktion wirken, müsste man durch die folgenden Ergebnisse des IPCC erschrecken – es sei denn, man vertritt rücksichtslos die Interessen der Fossilindustrie oder ist einfach nicht bereit, gesicherte wissenschaftliche Ergebnisse zur Kenntnis zu nehmen:
„Agriculture, Forestry and Other Land Use (AFOLU) activities accounted for around 13% of CO2, 44% of methane (CH4), and 82% of nitrous oxide (N2O) emissions from human activities globally during 2007-2016, representing 23% (12.0 +/- 3.0 GtCO2e yr-1) of total net anthropogenic emissions of GHGs21 (medium confidence). The natural response of land to human-induced environmental change caused a net sink of around 11.2 GtCO2 yr-1 during 2007-2016 (equivalent to 29% of total CO2 emissions) (medium confidence); the persistence of the sink is uncertain due to climate change (high confidence). If emissions associated with pre- and post-production activities in the global food system are included, the emissions are estimated to be 21-37% of total net anthropogenic GHG emissions (medium confidence).“[29]
Fünf Konstellationen in Ostafrika
Welchen Einfluss klimatische Veränderungen auf das Leben der Menschen hat, soll nun anhand von Konfliktsituationen und gewalttätigen Auseinandersetzungen in Ostafrika beschrieben werden.
Die SIPRI-Forscher Malin Mobjork und Sebastian van Baalen (2016, 1 ff.) entwickeln am Beispiel Ostafrikas fünf Konstellationen, bei denen der Klimawechsel zu gewalttätigen Ausschreitungen bzw. mit Waffengewalt ausgetragenen Konflikten unterschiedlicher Art führt:
· „Worsening livelihood conditions“: Dürren, massiver Dauerregen, zerstörte Böden und Vegetation aufgrund des Klimawechsels führen zu schlechteren sozialen Lebensbedingungen in einer Region und erhöhen die Anfälligkeit dafür, auf gewalttätigem Wege zu überleben bzw. sich die Existenz zu sichern. Dies führe zur Beteiligung an Aktionen bewaffneter Gruppen und zu chronischer Unsicherheit in einer von Naturkatastrophen heimgesuchten Region.[30]
· „Increasing migration“: Wenn Menschen in großer Anzahl von einer verwüsteten Region in eine andere Region auswandern, die verbesserte ökologische und auch ökonomische Bedingungen aufweist, kann es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Einheimischen und Migranten im Kampf um die Ressourcen kommen. Insbesondere wenn Bevölkerungen eine starke kulturelle Identität haben, könne diese ihre Mitglieder besser zum Einsatz von Gewalt mobilisieren. Oft handelt es sich hierbei um eine Vermischung ökologischer, ökonomischer, sozialer und kultureller, auch religiöser, Faktoren.
· „Changing pastoral mobility patterns“: Wenn sich die Wege der mit ihren Herden herumziehenden Hirten, z.B. in Kenia, Äthiopien oder dem Sudan, aufgrund von Dürre und damit verbundener Wasserknappheit deutlich verändern, führt dies zu einem Verdrängungswettbewerb zwischen auf diesen Wegen angestammten Hirtengruppen und zum Einsatz von Gewalt, um die angestammten Routen gegen die Neuankömmlinge zu verteidigen.
· „Tactical considerations“: Wetter und kurzfristige klimatische Veränderungen können das Verhalten von bewaffneten Gruppen beeinflussen, z.B. bei Viehdieben. So lässt sich beobachten, dass in Regenzeiten in bestimmten Regionen Ostafrikas der Viehdiebstahl durch organisierte Gruppen zunimmt. In dieser Zeit haben die gestohlenen Viehherden während des illegalen Transports genügend Nahrung und Wasser. Auch bietet die in dieser Zeit üppige Vegetation einen verbesserten Schutz vor Entdeckung.
· „Exploitation by elites“: Im Sudan und ähnlich in Kenia, Äthiopien, Uganda und Ruanda lässt sich beobachten, wie herrschende Eliten den Kampf um Ressourcen zwischen unterschiedlichen Gruppen ausnutzen, um sich selbst über Korruption zu bereichern, politische Gegner zu beseitigen und die eigene Macht über kaum beachtete Verfassungsänderungen zu festigen.
Die SIPRI-Forscher fassen ihre Analyse zwischen Klimaentwicklung und gewalttätigen Konflikten zusammen:
“The relationship between climate-related environmental change and violent conflict does not exist in a political and social vacuum. Political processes permeate every link in the causal chain from environmental change to an increased risk of violent conflict. A group’s access to natural resources or vulnerability to climate change is determined by both political and biophysical processes.” [31]
Dies bedeutet, dass eine Klimapolitik auch gleichzeitig eine Friedenspolitik ist. Die klimatische Veränderung raubt den Menschen, hier am Beispiel Ostafrikas verdeutlicht, ihre Existenzgrundlagen und führt zu Verdrängungskonflikten und Kriegen.
Zusammenfassend lässt sich feststellen: In seinem im März 2023 veröffentlichten Synthesebericht macht der Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC 2023) eindeutig den menschlichen Einfluss für die gegenwärtige Klimakrise verantwortlich. Der menschliche Einfluss habe die Atmosphäre, die Ozeane und das Land erwärmt, eine Entwicklung, die nur durch drastische und sofort einzuleitende Maßnahmen eingedämmt werden könne.
Daraus folgt: Ein Frieden mit der Biosphäre im globalen Maßstab wird sich erst dann realisieren lassen, wenn der Zusammenhang von Ökologie und Ökonomie einen Paradigmenwechsel erfährt. Das ungebremste Wirtschaftswachstum ist zugunsten einer gemeinschaftlichen und demokratischen Kontrolle über die wichtigsten Produktionsmittel und der damit verbundenen Unternehmensformen im Sinne einer gemeinwohlorientierten und insbesondere ökologischen Neuordnung des Produzierens und Konsumierens grundlegend umzustrukturieren. Unternehmen und kollektive Produktionsstätten müssen sich für die Bewahrung der Biosphäre in einem an Nachhaltigkeit orientierten Sinne verantwortlich fühlen und hieran durch einen entsprechend strukturierten und verbindlichen internationalen Beschluss- und Sanktionsrahmen gebunden sein. Staatliche Lenkungs- und Steuerungsaktivitäten müssen einen kalkulierbaren Planungsrahmen für landwirtschaftliche und industrielle Aktivitäten innerhalb eines derart eingehegten marktwirtschaftlichen Szenarios eröffnen.
Die Voraussetzung auf der sozioökonomischen Ebene ist ein über weltweiten zivilgesellschaftlichen Druck bewirktes Revidieren der Privatisierungs- und Deregulierungstendenzen des neoliberalisierten Kapitalismus, der systemisch gegen die notwendigen Interventionen und Regulierungen zum Zwecke der Bekämpfung der Umweltkrise steht. Ein auf neoliberalen ökonomischen Grundannahmen und auf das Vertrauen in den sich selbstregulierenden, ungesteuerten Markt basierendes System ist nicht geeignet für ökologische Regulierungen, die das Eintreten von Kipp-Punkten und Rückkoppelungseffekten noch verhindern bzw. wirksam vermindern können. Die notwendigen globalen ökologisch orientierten Maßnahmen zur Vermeidung der Klima-Katastrophe in einem für die menschliche Zivilisation und die Biosphäre zerstörerischen Ausmaß müssen daher mit dem Umbau des wirtschaftlichen und politischen Systems in grundlegender Weise einhergehen.
Am Beispiel des Konzerns Nestlé wurde die Kritik am profitorientierten Umgang mit der lebenswichtigen Ressource des Wassers entwickelt und die Gefahren veranschaulicht, wenn Unternehmensaktivitäten nicht reguliert und eingehegt werden.
Am weiteren Beispiel von Konfliktsituationen und der Störung des gesellschaftlichen Friedens durch klimatische Veränderungen in Ostafrika wurde deutlich, dass Klimaentwicklung und gesellschaftlicher Frieden zusammenhängen. Dies lässt sich natürlich auch auf den Zusammenhang zwischen Klimaflucht, Migrationsbewegungen und den daraus resultierenden gesellschaftlichen Konflikten in den reichen Ländern des Nordens übertragen.
Ein globales Wirtschaftssystem, das durch fehlende Reglementierung und ungehemmtes Profitdenken gekennzeichnet ist, entzieht den Menschen weltweit ihre Existenzgrundlagen.
Allerdings ist nicht nur die systemische und strukturelle Ebene zu betrachten, sondern auch das Bewusstsein der systemisch Handelnden. Die Voraussetzung hierfür auf der Persönlichkeitsebene ist, dass der Mensch wieder lernt, sich als Bestandteil der Natur zu begreifen und für sich die gleichen Gesetze zu beachten, denen auch die Natur um ihn herum unterworfen ist. Es reicht nicht, notwendige Veränderungen auf der strukturellen Ebene erreichen zu wollen, wenn das individuelle auf das Klima bezogene Verhalten den Anforderungen widerspricht, denen sich andere auszusetzen haben und die an strukturelle Veränderungen gestellt werden.
Dies bedeutet, dass den Veränderungen auf der Makroebene auch vorherlaufend und damit verbunden Veränderungen auf der Mikroebene entsprechen müssen. Persönliche Veränderungen im Bewusstsein zur Mitwelt und Weiterentwicklungen im persönlichen Lebensstilverhalten müssen mit strukturellen Veränderungen einhergehen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. hierzu Wuppertaler Institut für Klima, Umwelt, Energie (2006, 33 ff.).
[2] WBGU (2007, 77).
[3] Umweltbundesamt (2008, 4f.).
[4] Jonas (1979/2015, 64).
[5] Vgl. zum Ausmaß des Welthungers u.a. Ziegler (2015), der in diesem Zusammenhang von einer kannibalischen Weltordnung spricht.
[6] Vgl. Zur Entwicklung dieses Begriffs Rockström/Steffen/Noone et al. (2009).
[7] Vgl. Röckström/Steffen/Noone (2009, 473).
[8] Die deutschsprachige Übersetzung der Faktoren in Anlehnung an Rockström/Steffen/Noone et al. (2009, 472) bei V. Weizsäcker/Wijkman (2017, 44f.).
[9] = Luftverschmutzung über z.B. CO2- oder SO2-Emissionen.
[10] Röckström/Steffen/Noone (2009, 474).
[11] IPCC (2019, 4).
[12] Vgl. Fischermann (2019).
[13] Fischermann (2019).
[14] Das MERCOSUR-Abkommen ist bereits von der EU beschlossen; es fehlen allerdings die notwendigen Beschlüsse auf der nationalen Ebene.
[15] TTIP = Transatlantic Trade and Investment Partnership, JEFTA = Japan-EU Free Trade Agreement.
[16] Vgl. weitergehende Ausführungen und Belege hierzu bei Lieb (2009).
[17] Lieb (2009).
[18] https://www.zeit.de/news/2021-04/30/kampf-um-wasserressourcen-mehr-als-40-tote, 30.4.2021, 1.5.2021.
[19] https://www.planet-wissen.de/natur/umwelt/wassernot/pwiekonfliktstoffwasser100.html, o.D., 1.5.2021
[20] Vgl. https://www.epo.de/index.php?option=com_content&view=article&id=9223:kenia-zunehmende-konflikte-um-kostbares-wasser&catid=99:topnews&Itemid=100028, o.D., 1.5.2021.
[21] Vgl. https://www.nestle.de/unternehmen/struktur/marken, o.D., 23.9.19.
[22] In: https://www.nestle.de/wasser, o.D., 23.9.19.
[23] In: https://www.tagesanzeiger.ch/kultur/kino/Dokufilm-uebt-massiv-Kritik-an-Nestle/story/31103319, 17.1.2012, 23.9.2019.
[24] In: https://www.zeit.de/kultur/film/2013-08/bottled-life-nestle-wasser-film/seite-2, 12.9.13, 23.9.19.
[25] Weihser (2013).
[26] Vgl. detaillierter hierzu bei Klein (2019, 61ff.) und Rahmstorf (2016).
[27] Vgl. hierzu https://skepticalscience.com/solar-activity-sunspots-global-warming.htm, o.D., 24.10.19.
[28] Zitat entnommen aus der Faktensammlung der Scientists for Future: https://skepticalscience.com/climate-change-little-ice-age-medieval-warm-period.htm, Verfasser Howard Lee; o.D., 1.11.2019.
[29] IPCC (2019, 7).
[30] Dies gilt m.E. nicht nur für Länder bzw. Regionen, die ohnehin mit Armut zu kämpfen haben. Auch in reichen Staaten können Naturkatastrophen zu einer Zunahme von Kriminalität und Gewalttätigkeit führen, z.B. die Überflutung New Orleans im Jahr 2005 in Zusammenhang mit massiven Plünderungen von Geschäften und Häusern:„Das überflutete New Orleans droht in Anarchie zu versinken: Schüsse auf einen Militärhubschrauber und Brandstiftungen verzögerten am Donnerstag die Evakuierung des Superdomes. Bürgermeister Ray Nagin zog angesichts immer hemmungsloserer Plünderungen die Polizisten vom Rettungseinsatz ab und wies sie an, stattdessen für Ordnung zu sorgen. Weitere 10.000 Soldaten der Nationalgarde wurden in das Katastrophengebiet abkommandiert.“ (https://www.stern.de/panorama/weltgeschehen/nach--katrina--new-orleans-versinkt-in-wasser-und-anarchie-3290996.html, 1.9.2005 19.1.2019).
[31] Mobjork/van Baalen (2016, 2).
(ausführliche Literaturangaben zum Ende der Webseite 'International edition')
1.5.24 Die Letzte Generation
Kriminalisierung von Protest. Angesichts der vorgenommenen Razzien und des Vorwurfs der Bildung einer kriminellen Vereinigung gegen die Letzte Generation stellt sich die Frage, ob sich der Staat nicht in seinen Maßnahmen selbst delegitimiert.
Die Letzte Generation ist eine Umweltorganisation in Deutschland und Österreich, die aufgrund der fortschreitenden Klimazerstörung und anderer Umweltbelastungen nicht mehr bereit war, traditionelle Formen des Protests wahrzunehmen, wie z.B. Demonstrationen und Kundgebungen, sondern für die Gesellschaft unangenehmere Protestformen entwickelte. Sie sind der Auffassung, dass sie die letzte Generation seien, die noch etwas gegen die bereits eintretende Klimakatastrophe und gegen weitere Formen der Umweltzerstörung unternehmen könnten. Sie wurden insbesondere bekannt durch die Behinderung des Nahverkehrs durch das Hinsetzen auf die Verkehrswege und das Ankleben der Hände. Wenn Autofahrer sie nicht überfahren wollten, mussten sie ihr Fahrzeug anhalten. Es kam zu Staus, zu langen Wartezeiten und zum Teil wütenden Reaktionen der Autofahrer bis hin zu Gewalttätigkeiten der Aufgehaltenen.
Die Polizei brauchte jeweils eine längere Zeit, um die Handflächen wieder von dem Asphalt zu lösen und die Protestierenden der Letzten Generation wegzutragen, bis die Sitzblockade beendet war und sich die Staus wieder auflösten.
Auch wurden Gemälde in Kunstgalerien mit Farbattacken auf die Glasscheiben symbolisch beschmutzt. Ein Hungerstreik wurde erfolglos abgebrochen.
Razzien gegen die Letzte Generation
Waren es anfangs nur wenige jüngere Menschen, denen die Proteste von Fridays for Future nicht mehr ausreichten, so wurden es immer mehr Protestierende, die sich dieser Bewegung anschlossen, entstanden Büros und finanzielle Unterstützungssysteme.
Wurden bislang nur vereinzelte ordnungs- und strafrechtliche Maßnahmen gegen aktive Mitglieder der Letzten Generation verhängt, wird nun, z.B. von der bayrischen Landesregierung und der nachgeordneten Strafverfolgungsbehörden der Staatsanwaltschaft sowie in Brandenburg und Thüringen, erwogen, gegen Mitglieder der Letzten Generation Anklage mit dem Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung zu erheben. [ 1] In diesem Kontext erfolgten bereits Ende Mai 2023 unter Leitung der bayrischen Staatsanwaltschaft Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmungen von Bankkonten, Sperrung der Homepage, Beschlagnahmung von Computern und Datenmaterial in sieben Bundesländern, was wiederum Protestaktionen, wie Protestmärsche von Unterstützern, in mehreren Städten auslöste. So fand Ende Mai 2023 ein Protestmarsch von ca. 400 Unterstützern der Letzten Generation in Berlin statt. Der Protest verlief durchweg friedlich und es wurden Briefe an das Kanzleramt überreicht. Zwei ältere an der Kundgebung Teilnehmende trugen ein Plakat mit der Aufschrift „Unsere Kinder sind keine Verbrecher“. [2] In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass die Linkspartei in Bayern Strafanzeige gegen Mitglieder der bayrischen Landesregierung und der bayrischen Staatsanwaltschaft gestellt hat. Es handele sich hierbei um den Tatbestand der Verleumdung und Beleidigung, wenn z.B. die Homepage der Letzten Generation mit dem Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung gesperrt werde. [3]
Auf einen Spendenaufruf im Anschluss an die Razzien beteiligten sich spontan 6000 Menschen an der Aktion und spendeten innerhalb von zwei Tagen 300.000€ an die Organisation Letzte Generation. [4]
58 Prozent der deutschen Bevölkerung halten hingegen in einer Umfrage die Razzia gegen die Letzte Generation für richtig, immerhin 37 Prozent fanden das Vorgehen für überzogen. [5]
Carl-Christian Porsch, ein Aktivist der Letzten Generation, kritisiert die Razzien gegen Mitglieder der Letzten Generation mit folgenden Worten:
„Polizisten und Polizistinnen standen morgens mit Waffen in ihrer Wohnung. Ich empfinde das als sehr unverhältnismäßig. Ich verstehe nicht, warum wir kriminalisiert werden. Wir setzen uns doch nur für den Planeten ein. Andere, die unsere Zukunft verheizen, kommen ungeschoren davon.“ [6]
Zur Frage des strafrechtlichen Vorgehens gegen Klimaproteste
Der Vorwurf einer kriminellen bzw. sogar terroristischen Vereinigung stellt m.E. eine Zuspitzung der Auseinandersetzungen dar, die hochproblematisch ist. Vorwiegend jüngere Menschen, deren Zukunft offensichtlich bedroht ist, versuchen auf die eintretende Klimakatastrophe mit immer noch friedlichen Mitteln und der Verneinung von Gewalt aufmerksam zu machen und werden von denen, die interessengeleitet nicht die notwendigen Maßnahmen hiergegen ergreifen, möglicherweise als Terroristen eingestuft und verfolgt. Handelt es sich nicht eher um den Terrorismus der die Umwelt zerstörenden Generationen, die gegenwärtig an der Macht sind und generationenegoistisch handeln? Müssten nicht Fossilkonzerne, umweltzerstörende Staaten und Institutionen, Kriegswaffen produzierende und an hegemoniale Kriege führende Staaten Waffen ausliefernde Konzerne und dies befürwortende Politiker vor Gericht gestellt werden? Handelt es sich hier nicht um eine Umkehrung der Verhältnisse – die Opfer werden verfolgt, die eigentlichen Täter stellen sich als moralisch in Talkshows hin, wenn sie rechtsstaatliche Strukturen für die Zerstörung der Biosphäre missbrauchen.
Es ist des Weiteren sicherlich nicht abwegig, die nun gerade von der bayrischen Landesregierung und insbesondere dem bayrischen Ministerpräsidenten Söder geforderte rechtsstaatliche Strenge gegen die Letzte Generation in einem Zusammenhang mit den am 8.10.2023 stattfindenden Landtagswahlen zu betrachten. Es wäre ein weiterer rechtsstaatlicher Skandal, wenn regierende Politiker mit eher populistisch konnotierten Forderungen Wählerstimmen zu Lasten einer angemessenen Einordnung rechtswidriger aber auch an einem übergeordneten, durchaus vertretbaren Ziel orientierter Aktionen junger Menschen zu gewinnen suchen.
Sicherlich ist es fraglich, ob durch massive Verkehrsbehinderungen und der damit verbundenen Belastungen für die Verkehrsteilnehmer Unterstützer für das ökologische Anliegen gewonnen werden können. Aber vergreift sich der Staat nicht in den Mitteln, wenn er Ordnungswidrigkeiten und Straftaten, wie das friedliche Blockieren einer Straße, die im Interesse zukünftiger Generationen als Form des politischen Protests begangen werden, mit Aktivitäten einer kriminellen Vereinigung gleichsetzt? So stellt der Soziologe und Rechtsextremismusforscher Matthias Quent fest, dass die Mitglieder der Letzten Generation „auffällig friedlich“ seien und sich nicht einmal wehren würden, wenn sie von aufgebrachten Autofahrern körperlich angegriffen und verprügelt würden.
Des Weiteren sind die Verkehrsblockaden auch nicht so weit von den Streikmaßnahmen einzelner Eisenbahngewerkschaften oder der Flugpiloten entfernt - ohne dies gleichsetzen zu wollen. Einerseits geht es dort um das gesetzlich verbriefte Streikrecht. Andererseits werden hier Verkehrsblockaden mit durchaus vorhandener Nötigung der Passagiere u.a. zur Steigerung der eigenen materiellen Vergütungsoptionen genutzt, während die Letzte Generation nicht für einen höheren eigenen Lohn den Verkehr blockiert, sondern ihre ebenfalls friedlichen Aktionen im berechtigten Interesse ihrer und kommender Generationen an einem zu erhaltenen Planeten durchführt.
Auch geraten Landesregierungen, wie z.B. in Bayern, in Verdacht mit der übertriebenen Strenge gegen Klimaschützer von ihrer eigenen Vernachlässigung des Klimaschutzes abzulenken zu wollen. So ist liegt Bayern hinten beim derzeitigen Bau von Windrädern. Im ersten Quartal des Jahres 2023 (Stand: Mitte März) wurde beispielsweise dort noch kein einziges Windkraftwerk genehmigt. Im flächenmäßig halb so großen Nordrhein-Westfalen lagen im gleichen Zeitraum bereits 20 Genehmigungen vor. Gleichzeitig kehrt Bayern zunehmend zu Kohle und Gas zurück und die Landesregierung fordert den Weiterbetrieb der Atomkraftwerke. [7]
Gewünschte Radikalisierung?
Und: Wenn tatsächlich der Versuch die Letzte Generation als kriminelle oder sogar terroristische Organisation einzustufen und deren Mitglieder und Unterstützer in schwerster Form zu kriminalisieren sich durchsetzen würde, würde nicht möglicherweise ein Teil der Mitglieder – in dieser Weise kriminalisiert - in den Untergrund gehen und beginnen tatsächlich umweltterroristische Handlungen zu begehen? In diesem Fall hätte der Staat durch ein strafrechtliches Überreagieren sich seine eigene ökoterroristische Organisation geschaffen. In diesem Sinne formuliert Quent:
„Soziale Bewegungen radikalisieren sich häufig, wenn sie sich isoliert und in den Untergrund gedrängt fühlen. Razzien dieser Art können dazu führen, dass künftig klandestine Aktionen durchgeführt werden. Es ist gut möglich, dass die Kriminalisierung innerhalb der Klimabewegung zu Radikalisierung führen kann und dass diese auch im Interesse ihrer politischen Gegner ist.“ [8]
Hier könnte somit von interessierten Kreisen versucht werden, ein Exempel zu statuieren, das dann auch für Klima-Bewegungen wie Fridays for Future und Extinction Rebellion einschüchternd wirken soll. Hierbei sollte man bedenken, dass eine derartige Wirkung durchaus bereits eintreten kann, wenn man bedenkt, dass beispielsweise in Bayern eine Teilnahme an Klebeaktionen bereits zu 30 Tagen Präventivgewahrsam im Gefängnis führen kann, bevor eine ordentliche Anklageerhebung oder gar ein ordentlicher Prozess stattfindet.
Auch der Rechtswissenschaftler Robin Mayer hält die staatlichen Maßnahmen und den Vorwurf einer kriminellen Vereinigung für völlig überzogen und sie würden vor allem verfassungsrechtlichen Urteilen widersprechen:
„Das Bundesverfassungsgericht hat Blockadeaktionen als zulässige Demonstrationsform und von der Versammlungsfreiheit geschütztes Verhalten bestätigt. Und zwar selbst dann, wenn die Blockade beabsichtigt und nicht nur Nebenfolge ist. Es steht dem Staat nicht zu, von diesem geschützten Verhalten durch Repressionen abzuschrecken, indem er sie als Zweck zur Begehung von Straftaten wertet. Die Wahrnehmung eines Grundrechts kann nicht gleichzeitig einen Straftatbestand verwirklichen. Nach wie vor zeigt sich, dass das Strafrecht als Antwort auf zivilen Ungehorsam völlig ungeeignet ist.“ [9]
Hier gerät der Staat in den begründeten Verdacht sich selbst zu delegitimieren, wenn er rechtsstaatlich widersprüchlich und unangemessen hart reagiert und der Letzten Generation die Bildung einer kriminellen Organisation vorwirft sowie Mitglieder nachts mit vorgehaltenen Waffen aus ihren Betten holt. Dieses überharte Reagieren ist vielleicht politisch opportun und bringt Wählerstimmen. Aber die politischen Schäden sind groß, ohne dass dies im Kontext einer politischen Ordnung mit einem demokratischen Anspruch notwendig wäre.
Lösungsperspektiven
Wäre es daher nicht so viel richtiger – anstatt zivilgesellschaftlichen Klimaprotest zu kriminalisieren -, in vernünftiger Reaktion auf die Proteste und das Anliegen der Letzten Generation zu reagieren und mit ihren Mitgliedern und Sprechern wiederholt und auch auf Augenhöhe zu sprechen und gemeinsame Wege aus der eintretenden Klimakatastrophe zu suchen? Die jungen Menschen, die sich dort zivilgesellschaftlich organisieren und engagieren, sind gesprächsbereit und haben konkrete ökologische Forderungen. Sie fordern z.B. im direktdemokratischen Sinne in einem offenen Brief an den deutschen Bundeskanzler einen – zufällig gelosten – Gesellschaftsrat, der über geeignete Maßnahmen gegen die Klimakatastrophe und die Umweltzerstörung berät. Dann würden sie ihren Protest beenden. [10] Auch fordern sie entschiedenere Maßnahmen zur Reduktion von Klimagasen und zur Verkehrswende, wie z.B. ein Tempolimit oder ein 9-Euro-Ticket für die Bahn. Ein paar Milliarden weniger für die Anschaffung von Waffen könnten dies sicherlich finanzieren.
Auf ihrer inzwischen wieder freigeschalteten Homepage schreibt die Letzte Generation selbst:
„Die Regierung hat sich in den Koalitionsvertrag geschrieben: ‚Wir werden Bürgerräte zu konkreten Fragestellungen durch den Bundestag einsetzen und organisieren.‘ Wir nehmen sie beim Wort, denn Vorbilder aus Frankreich, Irland, Belgien zeigen, dass das Format Menschen in ihrer Anstrengung vereint und konstruktive Ansätze hervorbringt.
Wir fordern die Bundesregierung auf, einen Gesellschaftsrat einzusetzen und seine Beschlüsse umzusetzen. Wir fordern, dass wir, die 99 Prozent, endlich mitentscheiden dürfen über den Erhalt unserer Lebensgrundlagen. Denn es hat sich gezeigt: immer da, wo Bürger:innen informiert über ihr Schicksal mitentscheiden dürfen, wartet eine bessere, sicherere, gerechtere Welt auf uns.“ [11]
Vielleicht hört man daher ihnen einmal zu und korrigiert ggf. dann auch staatliches, ökonomisches und auch individuelles Verhalten, das die Biosphäre dieses Planeten und die Lebensbedingungen der nächsten Generationen zerstört. Immerhin waren in einer 2022 durchgeführten repräsentativen Umfrage von Infratest dimap 82 Prozent der deutschen Bevölkerung der Auffassung, dass es einen großen oder sogar sehr großen Handlungsbedarf hinsichtlich des Klimaschutzes gäbe. Nur 4 Prozent waren der Auffassung, dass die bisherigen Klimaschutzaktivitäten nicht verändert werden müssten. [12]
Bedenkenswert ist auch die Forderung nach dem Schutz von Klimaaktivisten im Anschluss an die Razzien bei der Letzten Generation von Seiten der UN. Antonio Gutèrres ließ seinen Sprecher ausrichten, Klimaschützer müssten sich einerseits an staatliche Gesetze halten, andererseits seien sie aber auch zu schützen - so der Sprecher des UN-Generalsekretärs:
"Klimaaktivisten – angeführt von der moralischen Stimme junger Menschen – haben ihre Ziele auch in den dunkelsten Tagen weiterverfolgt. Sie müssen geschützt werden und wir brauchen sie jetzt mehr denn je." [13]
Die Soziologie-Professorin Gesa Lindemann ordnet die Aktivitäten der Letzten Generation oder von Ende Gelände als den legitimen Versuch junger Menschen ein, für ihre Zukunft gegen ökologische Gewalt, die strukturell verankert sei, zu kämpfen. Es handele sich bei den massiven Verfolgungen der Letzten Generation um eine völlig überzogene staatliche Reaktion, die gegen das die ökologische Arbeitsverweigerung der Bundesregierung anprangerte BVerG-Urteil stehe und somit eine Täter-Opfer-Verkehrung darstelle:
„Die Aktionen von Letzte Generation oder Ende Gelände tun nichts anderes, als die deutsche Politik daran zu erinnern, dass das BVerfG sie dazu verpflichtet, der ökologischen Gewalt nach innen und in der internationalen Politik entgegenzutreten. Diese Aktivist:innen kämpfen nicht nur für den Schutz des Klimas, sondern faktisch auch für den Schutz der Verfassung. Nur, wenn die ökologische Gewalt wirksam bekämpft wird, lässt sich die moderne verfassungsbasierte Ordnung des Vertrauens in Gewaltlosigkeit erhalten.“ [14]
Sie fordert dementsprechend den zivilgesellschaftlichen Widerstand innerhalb des Nationalstaats gegen derartige Täter-Opfer-Verkehrungen und illegitime staatliche Übergriffe und den damit verbundenen Versuch, diesen auch international gegen alle Formen ökologischer Gewalt zu mobilisieren, ein.
Anmerkungen:
[1] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/letzte-generation-umfrage-kriminelle-vereinigung-100.html, 25.5.2023, 1.6.2023.
[2] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2023-06/klimaschutzbewegung-letzte-generation-demonstriert-in-mehreren-staedten?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F, 1.6.2023, 1.6.2023.
[3] https://www.sueddeutsche.de/bayern/letzte-generation-anzeige-razzia-soeder-linke-1.5892616, 31.5.2023, 1.6.2023.
[4] https://www.telepolis.de/features/Letzte-Generation-Mehrheit-findet-Razzien-richtig-9092956.html, 31.5.2023, 1.6.2023.
[5] https://www.telepolis.de/features/Letzte-Generation-Mehrheit-findet-Razzien-richtig-9092956.html, 31.5.2023, 1.6.2023.
[6] Aus einem Interview in der Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen (HNA), vom 3.6.2023, S.7.
[7] Vgl. https://www.erneuerbareenergien.de/technologie/onshore-wind/2023-noch-keine-einzige-genehmigung-fuer-neue-windturbine-bayern, 17.3.2023, 3.6.2023.
[8] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/letzte-generation-razzia-radikalisierung-soziologe-quent-100.html, 24.5.2023, 1.6.2023.
[9] https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/letzte-generation-die-friedlichen-kriminellen, o.D., 1.6.2023.
[10] https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/klimaschutzgruppe-letzte-generation-demonstrationen-klima-100.html, 31.5.2023, 1.6.2023.
[11] https://letztegeneration.org/erklaerung/, o.D., 5.6.2023.
[12] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1252503/umfrage/umfrage-zum-handlungsbedarf-im-klimaschutz/, 5.5.2023, 1.6.2023.
[13] https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-05/razzia-klimaschuetzer-un-schutz-antonio-guterres#:~:text=Die%20Welt%20brauche%20Klimasch%C3%BCtzer%20mehr,Er%20forderte%20friedlichen%20Protest, 26.5.2023, 1.6.2023.
[14] Gesa Lindemann: Die ökologische Gewalt fordert längst ihre Opfer. In: https://www.zeit.de/kultur/2022-11/klimawandel-oekologische-gewalt-aktivismus-klimaschutz, 11.11.2022, S.8.
Über den Versuch der EU-Kommission, Atomkraftwerke und mit fossilem Gas betriebene Kraftwerke grün zu waschen bzw. als nachhaltig auszuweisen.
Ist der Slogan "Atomkraft? – Nein danke!" jetzt zukunftsfeindlich?
In Telepolis: https://www.heise.de/tp/features/Ist-der-Slogan-Atomkraft-Nein-danke-jetzt-zukunftsfeindlich-6346228.html, 3.2.2022, 5.2.2022 .
Video zu 10 kontroversen Aspekten gesellschaft-licher Neuordnung im selbstdialogischen Verfahren
Psychische Krisen: Durchsetzung instrumenteller Vernunft und Massenneurose
(Dies ist ein Aufsatz, der an dem Kapitel 1.7 aus dem Buch 'Neuordnung. Eine friedliche und nachhaltig entwickelte Welt ist (noch) möglich.', orientiert ist. Er wurde in der Zeitschrift ,Der Freitag' veröffentlicht: https://www.freitag.de/autoren/profdrklausmoegling1952/psychische-krisen/view, 5.5.2021, 5.5.2021)
Gesellschaft und psychische Strukturen
Bereits Marx/Engels ziehen eine deutliche Verbindung zwischen psychischen Strukturen, Denkweisen und gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen:
„Bedarf es tiefer Einsicht, um zu begreifen, daß mit den Lebensverhältnissen der Menschen, mit ihren gesellschaftlichen Beziehungen, mit ihrem gesellschaftlichen Dasein auch ihre Vorstellungen, Anschauungen und Begriffe, mit einem Worte auch ihr Bewußtsein sich ändert?
Was beweist die Geschichte der Ideen anders, als daß die geistige Produktion sich mit der materiellen umgestaltet. Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse.“ [1]
Mit der sich entwickelnden Industriegesellschaft – und dies gilt noch viel stärker in der digitalen Gesellschaft – wird ein Menschentypus hervorgebracht, der durch eine Formung der Weltwahrnehmung gekennzeichnet ist, die Horkheimer (1947/1986) als instrumentelle Vernunft kennzeichnet. Die Ausschaltung von empathischen Gefühlen und die Einengung des Denkens orientiert an instrumenteller Effizienz bedeutet, die natürliche und soziale Mitwelt nur daraufhin zu betrachten, inwieweit sie der egoistischen Interessensdurchsetzung von Nutzen ist. Hierbei liegt der Maßstab im wirkungsvollen Einsatz von Mitteln, um einen Zweck, z.B. eine angemessene Rendite, zu erzielen. Alle Überlegungen und eingesetzten Mittel werden diesem Zweck untergeordnet. Störende Gedanken und Gefühle werden verdrängt, z.T. ins Unterbewusste abgeschoben.
Die Anwendung der Rational-Choice-Theorie in den Wirtschaftswissenschaften zeigt idealtypisch, wie diese instrumentelle Vernunft zu funktionieren hat. Handlungsmöglichkeiten werden danach ausgewählt und rational abgewogen, inwieweit sie die optimalen Möglichkeiten zur Nutzenmaximierung bieten, ohne dass die persönlichen Kosten den Nutzen übersteigen. Hierhinter steht das Menschenbild des ‚homo oeconomicus‘, der eigennützig, selbstzentriert und unter Verdrängung der Emotionalität handelt. Persönlicher Nutzen wird maximiert, Kosten werden möglichst auf die anderen abgewälzt. Die Interpretation von Situationen und die selektive Wahrnehmung einer Situation richten sich also danach, welche Wahrnehmung den größten Nutzen bietet. [2] Im Mittelpunkt des in diesem Sinne rational handelnden und entscheidenden ‚homo oeconomicus‘ steht der persönliche ökonomische Erfolg. Er versucht soziale Situationen so zu kontrollieren, dass seine eigene Interessensdurchsetzung und Bedürfnisbefriedigung nicht gefährdet ist. Er ist in erster Linie konkurrenzorientiert, ist aber auch in der Lage, mit anderen zu kooperieren, wenn dies seiner persönlichen Nutzenmaximierung dient. Er – der ja genauso eine Frau sein kann – kann sogar empathisch sein, wenn dies seinen Interessen dient. Er ist macht sich höchstens dann um gesellschaftliche Probleme Sorgen, wenn dies seine Rendite gefährdet. Er ist der Globalisierungsgewinnler, dessen imperiale Lebensweise den Planeten zugrunde richtet. Der ‚homo oeconomicus‘ ist der Prototyp des kapitalistisch sozialisierten Menschen.
Marx/Engels beschreiben bereits für das 19. Jahrhundert, dass das kapitalistische Gesellschaftssystem alle bisherigen Verhältnisse und Bindungen brutal zerreißen und einen bestimmten Menschentypus hervorbringen würde. Die Klasse, die vom Kapitalismus vor allem ökonomisch und politisch profitiert, die Klasse der Kapitaleigentümer, würde das Denken der Menschen dominieren und:
„kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriglassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ‚bare Zahlung‘. (…) Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst. (…) Sie hat mit einem Wort an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt.“ [3]
Instrumentelles Denken hat – nach Horkheimer – einen subjektiven Vernunftbegriff zum Hintergrund, also wie das einzelne Individuum im Rahmen des Zweck-Mittel-Denkens in optimierter Weise handeln kann. Hingegen sind seiner begrifflichen Unterscheidung nach objektive Vernunftentwürfe auf als wertvoll erachtete Ziele einer Kultur gerichtet. Das individuelle Verhalten hierbei ist – im Gegensatz zum technisch-instrumentellen Denken – an einem Denken orientiert, das diese Ziele versteht, kritisch durchdenkt und im Falle positiver Akzeptanz zur Richtschnur des eigenen Handelns macht. Das entwickelte und gereifte Humane bildet sich daher nicht ausschließlich in einem technisch-instrumentellen Verständnis von Vernunft ab, sondern zeigt vor allem in einer Vernunft, die auf das kritische und unabhängige Durchdenken von Zielen des Zusammenlebens gerichtet ist und an der Verantwortlichkeit für das übergeordnete Ganze orientiert ist.
Max Horkheimer zieht die Verbindung zwischen technischer Entwicklung und Entmenschlichung, die nun durch die Digitalisierung und ein hybrides Mensch-Technik-System noch eine aktuelle Variante erhalten hat:
„Das Fortschreiten der technischen Mittel ist von einem Prozess der Entmenschlichung begleitet. Der Fortschritt droht das Ziel zunichte zu machen, das er verwirklichen soll – die Idee des Menschen.“ [4]
Hier kann es natürlich nicht um ein Plädoyer gegen technischen Fortschritt generell gehen, nämlich dann nicht, wenn er dem Humanen oder auch der Mensch-Umwelt-Beziehung dient. Es geht allerdings um die Verhinderung einer Überwältigung des Menschen (und seiner Umwelt) durch die von ihm eingesetzte menschliche Technik und um die Kritik einer Vernunft, deren Grundlage nicht kritisches und theoriegeleitetes Denken sondern eine Unterwerfung unter ein rigoroses Zweck-Mittel-Denken ist – so Horkheimer:
„Als die Idee der Vernunft konzipiert wurde, sollte sie mehr zustande bringen, als bloß das Verhältnis von Mitteln und Zwecken zu regeln; sie wurde als das Instrument betrachtet, die Zwecke zu verstehen, sie zu bestimmen.“ [5]
Eine objektive Vernunft im von Horkheimer gemeinten Sinne ist dementsprechend eine Vernunft, die aus sich heraus zielgerichtet mit bestimmten Werten verbunden ist, wie z.B. Gerechtigkeit, Toleranz und Glück.
Herbert Marcuse verweist in diesem Sinne auf die Verbindung von Gesellschaftsstruktur und Individualität. Gesellschaft werde mehr und mehr eindimensional und forme entsprechend die Bedürfnisstrukturen des Individuums. An die Stelle kritischen Denkens und befreiten sowie der Befreiung dienenden Handelns würde eine psychische Unterwerfung unter die Bedürfnisformierung der Gesellschaft treten. Derartige Bedürfnisse sind vor allem Konsum- und Statusbedürfnisse, deren Durchgängigkeit an die Stelle brutaler Unterwerfung im Sinne einer subtilen sozialen Kontrolle treten würden:
„Die Menschen erkennen sich in ihren Waren wieder; sie finden ihre Seele in ihrem Auto, ihrem Hi-Fi-Empfänger, ihrem Küchengerät. Der Mechanismus selbst, der das Individuum an seine Gesellschaft fesselt, hat sich geändert, und die soziale Kontrolle ist in den neuen Bedürfnissen verankert, die sie hervorgebracht hat. (…)
Es ist daher kein Wunder, dass die sozialen Kontrollen in den fortgeschrittensten Bereichen dieser Zivilisation derart introjiziert worden sind, daß selbst individueller Protest in seinen Wurzeln beeinträchtigt wird. Die geistige und gefühlsmäßige Weigerung ‚mitzumachen‘ erscheint als neurotisch und ohnmächtig. Das ist der sozialpsychologische Aspekt des politischen Ereignisses, von dem die gegenwärtige Periode gekennzeichnet ist: das Dahinschwinden der historischen Kräfte, die auf der vorhergehenden Stufe der Industriegesellschaft die Möglichkeit neuer Daseinsformen zu vertreten schienen.“[ 6]
Wenn sich nun instrumentelles Denken mit autoritären Persönlichkeitsstrukturen verbindet, entsteht ein Persönlichkeitstypus der von Theodor W. Adorno u.a. beschriebenen autoritären Persönlichkeit, die gern nach oben buckelt und nach unten tritt, Minderheiten diskriminiert, ganze Menschengruppen abwertet. [7] Dieser Persönlichkeitstypus fügt sich funktional in hierarchische Strukturen ein und ist das Produkt von Unterdrückung und Unterwerfung in den gesellschaftlichen Sozialisationsprozessen sowie entsprechend hierarchischen Strukturen in Politik und Wirtschaft. Gesellschaftliche Strukturen setzen sich in Charakterstrukturen um und haben einen Bezug zu psychoanalytisch zu betrachtenden Persönlichkeitsprozessen:
„Um die ‚Internalisierung‘ des gesellschaftlichen Zwangs zu erreichen, die dem Individuum stets mehr abverlangt als sie ihm gibt, nimmt dessen Haltung gegenüber Autorität und ihrer psychologischen Instanz, dem Über-Ich, einen irrationalen Zug an. Das Individuum kann die eigene soziale Anpassung nur vollbringen, wenn es an Gehorsam und Unterordnung Gefallen findet; die sadomasochistische Triebstruktur ist daher beides, Bedingung und Resultat gesellschaftlicher Anpassung.“[ 8]
Zur psychischen Situation in herrschaftsbesetzten Strukturen
Die Identifikation mit der Entfremdung kann auch durchaus für formal demokratische Gesellschaften gelten, welche die Demokratie im fassadenhaften Anspruch zum Verfassungsprinzip erklären, die aber in der Realisierung, z.B. in den Familienstrukturen, den Unternehmen, den Schulen oder in dem Parteiensystem, nur verdeckt-autoritäre Gesellschaften darstellen.
Dieter Duhm zeigt in seinem 1972 erschienenen ‚linken Bestseller‘ (‚Angst im Kapitalismus‘) wie Realangst, die durch körperliche Gewaltausübung z.B. im Elternhaus entsteht, sich im Laufe der menschlichen Sozialisation in neurotische Angst umwandelt. Neurosen seien die „konservierte Realangst“ (Duhm 1972, 35), bei der die eigenen Bedürfnisse ins Unterbewusstsein verdrängt und dort neurotisch festgehalten würden. Dies sei eine psychologische Anpassungsleistung, so dass der Mensch in hierarchischen Strukturen von sich aus funktioniere und in der Regel auf offene Gewaltausübung verzichtet werden könne.
Duhm analysiert fast 50 Jahre später, dass gerade in Corona-Zeiten noch einmal die Angstdosis erhöht und das globale Angstpotenzial gesteigert werde. Und: Corona verschärft die psychischen Probleme von Angst, Depression und Vereinsamung, erhöht den ohnehin vorhandenen psychischen Druck. – „Corona is the condensation of a latent field of fear through which all of humanity is moving today.“ [9]
Der Psychologe und Kognitionsforscher Rainer Mausfeld (2019a) macht ebenfalls deutlich, dass der Aufbau latenter Angst ein effektives Machtinstrument der jeweils Herrschenden ist:
„Macht und Angst gehören in der politisch-gesellschaftlichen Welt eng zusammen. Macht bedeutet das Vermögen, seine Interessen gegen andere durchsetzen zu können und andere dem eigenen Willen zu unterwerfen. Macht hat also für den, der sie hat, viele Vorteile und für diejenigen, die ihr unterworfen sind, viele Nachteile. Macht löst bei den ihr Unterworfenen häufig Gefühle aus, von der Macht überwältigt und ihr gegenüber ohnmächtig zu sein. Macht erzeugt also Angst. Da Angst selbst wiederum Macht über die Geängstigten ausübt, haben diejenigen, die es verstehen, Angst zu erzeugen, eine sehr wirkungsvolle Methode, auf diese Weise ihre Macht zu stabilisieren und zu erweitern.“
Mit ängstlichen Menschen ist es schwierig, eine echte Demokratie aufzubauen. Allerdings könne eine „kapitalistischen Demokratie“ unter den Bedingungen einer subtil verinnerlichten Ängstlichkeit ihrer Bürger durchaus funktionieren. Kapitalismus und Demokratie würden sich in einem Grundwiderspruch befinden und können nur durch die neurotische Angst ihrer Bürger funktionieren, die es nicht wagen würden, die Eigentumsfrage, d.h. die Frage nach der Abschaffung der privaten Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel, zu stellen. [10]
Natürlich stellt sich hierbei sofort auch die Frage, ob dies tatsächlich ein psychisches Phänomen ist, das nur spezifisch für den Kapitalismus gilt. In den realsozialistischen Ländern wurde ebenfalls aus einer Kombination aus Realangst sowie aus neurotischen Ängsten gearbeitet. Die Realangst, verhaftet, eingesperrt, gewalttätig verhört, umgebracht zu werden, entwickelte sich zu einer latent neurotischen Angst, zur psychischen Ausrichtung und auch dort in Richtung auf eine Systemanpassung.
Angst ist für alle hierarchischen Herrschaftsformen ein geeignetes Mittel ihrer Machtsicherung, solange hier keine echte Demokratie, also eine maßgebliche Partizipation in allen gesellschaftlich wichtigen Fragen für die Mehrheit der Gesellschaft vorhanden ist.
Mit ängstlichen Menschen, die zudem bemüht sind, selbst Amtsautorität und Angstinduktion in den gesellschaftlichen Institutionen aufzubauen, ist es problematisch, eine echte Demokratie aufzubauen und weiterzuentwickeln. Mit autoritär sozialisierten und neurotischen Persönlichkeiten ist es zudem sowohl schwierig, eine friedliche Gesellschaft aufzubauen, als auch den Frieden in der Welt zu bewahren.
Hierbei stellen insbesondere die militärisch gedrillten und national eingeschworenen jungen Menschen in den Armeen der Welt ein hochproblematisches Potential autoritär disziplinierter Persönlichkeiten und instrumenteller Vernunft dar, die es gewohnt sind, ohne Zweifel äußern zu dürfen, Gehorsam zu leisten und Befehle auszuführen, die über Tod oder Leben entscheiden.
Die Zunahme instrumentell und autoritär sozialisierter Menschen soll als psychisches Krisenphänomen angesehen werden. Hierbei sind auch die Analysen von Adorno zur sexuell frustrierten autoritären Persönlichkeit zu berücksichtigen, deren Frustration und Triebstau sich in Gewalteruptionen niederschlagen.
Wilhelm Reich: „ein hochproblematisches Potential autoritär disziplinierter Persönlichkeiten“
In seiner Rede an den ‚kleinen Mann‘ charakterisiert der österreichische Arzt, Psychoanalytiker und Soziologe Wilhelm Reich 1948 den ‚kleinen Mann‘ als einen autoritär sozialisierten kranken Menschen, der solange Schreckliches anrichten wird, bis es ihm gelingt, sich selbst zu erkennen und zu entwickeln:
„ …du warst ein wenig betrunken, und du warst gerade von Übersee heimgekehrt, aus dem Kriege, und ich hörte dich die Japaner als ‚häßliche Affen‘ bezeichnen. Und dann sagtest du mit dem bestimmten Ausdruck im Gesicht … ‚Wißt ihr, was man mit diesen Japs an der Westküste machen sollte? Jeden einzelnen aufknüpfen sollte man, aber nicht rasch, sondern ganz langsam, indem man alle fünf Minuten die Schlinge am Hals um eine Windung enger dreht‘ … Hast du jemals ein neugeborenes japanisches Baby in den Armen gehalten, kleiner Patriot? Nein? Du wirst Jahrhunderte japanische Spione und amerikanische Flieger und russische Flieger und russische Bäuerinnen und deutsche Offiziere und englische Anarchisten und griechische Kommunisten aufknüpfen, erschießen, mit Elektrizität verbrennen, in den Gaskammern ersticken, doch an deiner Verstopfung des Darmes und des Verstandes, an deiner Liebesunfähigkeit, an deinem Rheumatismus und an deiner Geisteskrankheit wird sich nicht das geringste ändern. Keine Schießerei und keine Hängerei wird dich aus dem Dreck ziehen, in dem du steckst; sieh dich selbst an, kleiner Mann! Es ist deine einzige Hoffnung! [11]
Wilhelm Reich sieht den Ausweg zu Recht in einer Bewusstwerdung („sieh dich selbst an“). Erst, wenn sich Menschen zum Bezugspunkt ihres kritischen Nachdenkens machen, haben sie die Chance aus den vorgegebenen normativen Grenzen herauszutreten und auch psychisches Neuland zu betreten. Hier müssen strukturelle Veränderung und Selbstarbeit sich wechselseitig entwickeln und ergänzen.
Fazit: Menschen, die sich psychisch den auf Ausbeutung, Entfremdung, Gewalttätigkeit und Kriegstreiberei ausgerichteten Strukturen über Identifikationsprozesse unterwerfen, können nicht zum historischen Subjekt friedfertiger Welt- und Gesellschaftsentwicklung werden. Erst Menschen, die ihr humanes Potenzial zu entdecken und entfalten gelernt haben, können letztendlich Träger einer auf Emanzipation und Friedfertigkeit gerichteten gesellschaftlichen Bewegung werden.
Insbesondere die neurotische psychische Struktur erscheint als Hindernis für eine echte Demokratisierung von Gesellschaft, die mehr als eine Schein- bzw. eine Fassadendemokratie ist. Auch das die Psyche dominierende instrumentelle Denken und der damit verbundene Habitus des ‚homo oeconomicus‘, der prioritär im Sinne seiner egozentrischen Nutzenmaximierung entscheidet, stellen ein Hindernis für eine gesellschaftliche Neuordnung dar, die an Solidarität, Ökologie und Gemeinwohl orientiert ist.
Die zunehmende Remilitarisierung der Welt und die Wiederkehr soldatischer Disziplin und nationalchauvinistischen Denkens durch die wieder anwachsenden nationalen Armeen und militärischen Koalitionen prägen wieder vermehrt die Jugend der Welt. Dies hängt – neben den davon Überzeugten und Freiwilligen – vor allem entweder mit staatlicher Repression, mit psychischer Manipulation oder mit gesellschaftlicher Perspektivlosigkeit zusammen. Wo Jugendliche sich in wohlhabenden Gesellschaften frei entscheiden können, z.B. in Deutschland, haben Armeen Rekrutierungsprobleme.
Militär benötigt autoritär sozialisierte Persönlichkeiten, die sich bereitwillig unterwerfen, wirkt aber auch in diese Richtung hin. Eigenart und Kritikfähigkeit sind in der Befehlssituation nicht gefragt. Der Soldat im Einsatz wird gezwungen, seine Individualität aufzugeben und zu einem Rädchen im militärischen Getriebe zu werden. Soldaten müssen sich zum Instrument in der Befehlskette degradieren lassen. Sie müssen bereit sein zu töten, aber auch das Risiko einzugehen, sich erschießen, verbrennen oder in die Luft sprengen zu lassen. Der Preis, den sie für ihre militärische Existenz zu zahlen haben, ist hoch. Die Folgen ihres Verhaltens für andere sind ebenfalls tödlich.
Anmerkungen
[1] Marx/Engels (1848/1983, 44).
[2] Vgl. Hill (2015, 29ff.)
[3] Marx/Engels (1848/1983), 26.
[4] Horkheimer (1947/1986, 13).
[5] Horkheimer (1947/1986, 21).
[6] Markuse (1964/1980, 29).
[7] Der Untersuchungsansatz von Adorno ähnelt hier dem theoretischen Ansatz ‚gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit‘ bei Heitmeyer (2012).
[8] Adorno (1950/1996, 323).
[9] https://verlag-meiga.org/corona-and-the-other-reality/, 11.2.2021, 4.5.2021.
[10] Vgl. Mausfeld (2019 a u. b).
[11] Reich (1948/2013, 104f.).
( Der nachfolgende Aufsatz stellt eine modifizierte Fassung der Kapitel 2.7 und 4.5 im Buch von Klaus Moegling (2020): Neuordnung eine friedliche und nachhaltig entwickelte Welt ist noch möglich‘. 3. Auflage, Opladen, Berlin & Toronto. dar.
Er ist ebenfalls in zwei Teilen in der Online-Zeitschrift 'Telepolis' publiziert und für die nun hier vorliegende Publikation weiter bearbeitet worden:
Digitale Imperien und die mediale Transformation des Humanen. Teil 1
https://www.heise.de/tp/features/Digitale-Imperien-und-die-mediale-Transformation-des-Humanen-6254576.html, 6.11.2021, 6.11.2021.
Der digitalen Weltbeherrschung Grenzen setzen. Teil 2
https://www.heise.de/tp/features/Der-digitalen-Weltbeherrschung-Grenzen-setzen-6254572.html, 7.11.2021, 7.11.2021)
Digitale Imperien und die mediale Transformation des Humanen
In jedem Parteiprogramm wird, wie selbstverständlich die Digitalisierung der Verwaltung und der Wirtschaft gefordert. Doch Digitalisierung hat verschiedene Seiten. Vorteile hinsichtlich der Prozessschnelligkeit und Verarbeitungskapazität stehen bürgerrechtlich zu begründende Nachteile entgegen. Zu diskutieren ist des Weiteren, was unter dem Humanen in seiner Essenz zu verstehen ist und wie dies durch bestimmte Formen zukünftiger Digitalisierung gefährdet sein könnte.
Marx/Engels sahen bereits Mitte des 19. Jahrhunderts die permanente Notwendigkeit für die Eigentümer von Fabriken und Dienstleistungsunternehmen, die technischen, organisatorischen, rechtlichen und politischen Möglichkeiten weiter zu entwickeln, um in der regionalen und globalen Konkurrenz bestehen zu können:
„Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftliche Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. (…) Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeois-Epoche aus.“ [1]
Die Ausmaße zukünftiger Digitalisierung stellen eine Form dieser von Marx/Engels beschriebenen Revolutionierung der gesellschaftlichen Verhältnisse dar, deren tatsächliche Reichweite wohl noch immer unterschätzt bzw. selektiv wahrgenommen wird.
1 Digitale Negativszenarien, die bereits von der Gegenwart partiell eingeholt sind.
Ein Negativszenario versucht deutlich zu machen, was passieren kann, wenn die falschen Entscheidungen getroffen werden. Es kann also eintreten, es muss aber nicht eintreten. Negativszenarien sind spekulative Zugriffe auf die Zukunft, um drohende Gefahren erkennen zu können. Die vorliegenden sechs Negativszenarien wurzeln in gegenwärtigen Entwicklungen, gehen aber deutlich hierüber hinaus. [2]
Digitales Negativszenario 1: Die totale digitale Transparenz: Google kennt uns besser.
Die digitale Revolution ist im vorliegenden Negativszenario eine Form der gesellschaftlichen Transformation, deren Triebfeder die ungehemmte Gier im entfesselten Kapitalismus nach immer größeren Profiten auf Kosten des Humanen ist.
Negativszenarien eines übermächtigen digitalen Zeitalters bzw. digitaler Hegemonie im Interesse hierauf ausgerichteter Ökonomien und politischer Herrschaftsverhältnisse in der utopischen Literatur sind z.T. bereits von der gesellschaftlichen Wirklichkeit eingeholt bzw. überholt worden. Die Bedrohung der Humanität, also des menschlichen Kerns, über die digitale Koppelung und Beherrschung der Individuen zu einem human-digitalen Zwidderwesen, einem Cyborg, ist in ernst zu nehmenden Ansätzen erkennbar. Ein aus digitalen Uhren, Smartphones, Alexa und Siri, Chip-Implantaten unter der Haut, digital vernetzten audiovisuellen Systemen und humaner Substanz bestehendes symbiotisches Lebensverhältnis führt zum Verlust der humanen Subjektivität. Totale digitale Transparenz ermöglicht die Vernichtung individueller Freiheitsspielräume, jeglicher Privatsphäre und auch die Möglichkeit zum systematischen Zweifeln und praktizierter Mündigkeit und Kritikfähigkeit. Der ‚antiquierte Mensch‘, also ein Mensch, der an den Zielen der Aufklärung festhält, wird zum zu verfolgenden Gegenbild einer digitalen Modernisierung, die aufgeklärte Antiquiertheit ausgrenzen und vernichten will. [3]
Der Mensch ist nicht mehr in der Lage, mit seinen technischen Erfindungen Schritt zu halten, überblickt nicht mehr, welche Konsequenzen die digitale Überwachung der Subjekte in den individuellen, sozialen und gesellschaftspolitischen Bezügen hat. Günther Anders (1956) fokussierte vor allem die atomare Bedrohung und die hierauf bezogene planetare Apokalypse. Zu diesem Bedrohungsszenario tritt nun die digitale Apokalypse hinzu, über die Verschmelzung des Humanen mit dem Digitalen.
Der deutsche Informatiker und engagierte Vertreter einer wissenschaftlichen Ethik, Werner Meixner, warnt vor einer bereits eingetretenen und sich in Zukunft weiter verstärkenden Entwicklung in Zeiten der gesetzlich beschlossenen Staatstrojaner, der kontrollierenden Apps sowie der in Smartphones, Tablets und anderen PC’s bereits bei der Produktion eingebauten Sicherheitslücken, welche die humane Privatsphäre gefährden bzw. vernichten:
| Unsere Privatsphäre ist massiv gefährdet, und es gibt allen Grund, sich mit den Ursachen und Urhebern der Gefährdung zu beschäftigen. Marc Rotenberg hat in einem Artikel für den Nachrichtensender CNN die Eingriffe in die Privatsphäre durch die Internetfirma Google als ‚eine der größten Gesetzesübertretungen der Geschichte‘ bezeichnet. (…) Rotenberg war Präsident des Electronic Privacy Information Center (EPIC), eines unabhängigen gemeinnützigen Forschungszentrums in Washington, D.C., das auf den Schutz der bürgerlichen Grundrechte achtet. Und Google Chef Eric Schmidt prahlt, dass Google uns besser kennen würde als wir uns selbst (…). Man fragt sich, ob es noch eines weiteren Beweises bedarf, dass unsere Privatsphäre gefährdet ist. Übrigens sind sowohl Datendiebstahl als auch staatliche Überwachung für die Betroffenen weitgehend unsichtbare Vorgänge. Es findet ein Umbruch statt. Schritt für Schritt wird das Grundgesetz geändert oder unwirksam gemacht. Die wesentlichen gesellschaftlichen Entscheidungsprozesse werden dem Parlament entzogen und in undemokratische Außengremien verlagert. Die Mündigkeit der Bürger wird systematisch untergraben, indem man nicht mehr parlamentarisch offen diskutiert (…). Der Umbruch, von dem wir hier reden, ist nichts Geringeres als der Angriff auf die verfassungsrechtlich verbrieften Grundlagen unseres Staates. [4]
Die Individuen dürfen die Kosten dieser digitalen Ausspähung und Beherrschung zum großen Teil selbst finanzieren, da ihnen das digitale Zeitalter und die entsprechenden Medien über manipulative Werbestrategien sowie bereits im Kindesalter über Computerspiele schmackhaft gemacht werden.
Digitales Negativszenario 2: Der Mensch zwischen Algorithmen und Werten
So gesehen ist auch das digitale Zeitalter mit gigantischen Renditen für die sich zunehmend ausbreitende und gleichzeitig in riesigen Medienkonzernen konzentrierende digitale Wirtschaft versehen, die das neue Menschenbild und das digitale Verständnis des Modernen in das Denken und Fühlen der Menschen propagandistisch und manipulativ zu implementieren versucht. Ähnlich wie früher Religionen bereits im frühen Kindesalter manipulativen Zugang zum Menschen suchten, werden bereits Kleinkinder an die Displays digitaler Medien gewöhnt und Schritt für Schritt in einen digital-menschlichen Cyborg überführt. Das zunehmende Betreten virtueller Welten (,Virtual Reality‘) - auch von Kindern und Jugendlichen - mit Hilfe von VR-Brillen durchmischt die reale Wirklichkeit mit der virtuellen Welt ohne die Sicherheit, dass noch Beides auseinander gehalten werden kann bzw. ohne das Wissen, wie es sich gegenseitig beeinflusst. Das Zeitalter der digitalen Hybrid-Menschen ist eingeleitet.
Im Zuge der Durchsetzung digitaler Zugriffe ist das Verhältnis zwischen künstlicher Intelligenz und der Eigenart des Humanen zu klären und inwieweit, die künstliche Intelligenz auch in Zukunft noch beherrschbar ist. Entscheidend wird sein, wann die Politik auf diese Problematik aufmerksam wird, ob sie dies unterstützt oder sich widerständig zeigt und ob sie verbindliche ethische Richtlinien zur Entwicklung künstlicher Intelligenz in Kooperation mit den beteiligten Wissenschaftlern_innen entwickelt.
Die Voraussetzung hierfür ist, dass ein Diskurs stattfindet, was den Menschen eigentlich ausmacht. Ist es Liebesfähigkeit, Fähigkeit zu verstehen oder Einfühlungsvermögen, ethisch geleitete Kritikfähigkeit? Sind dies die Eigenschaften, die den Menschen von den intelligenten Maschinen unterscheiden? Genauso muss gefragt werden, was die technologisch möglichen Reichweiten künstlicher Intelligenz sind, und welche Gefährdungen für den Fortbestand der Menschheit hierin zu sehen sind – so der Journalist Ulrich Schnabel (2018, 39):
„Ob all die Fähigkeiten des Homo sapiens – Liebe, Empathie, Kunst, Fehleranfälligkeit, Flexibilität, Innovationskraft, moralisches Denken und Zuversicht – am Ende ausreichen, die Maschinen auf Dauer unter Kontrolle zu halten, wird man sehen. Aber wenn wir nicht beginnen, über Unterschiede nachzudenken, haben wir schon jetzt verloren.“ [5]
Digitales Negativszenario 3: Manipulation und Fake News in digitalen Medien
Automatisierte Kommunikation über Bots hat bereits mehrfach einen manipulativen Einfluss auf Wahlen bzw. Abstimmungen genommen, wie z.B. bei der Trump-Wahl in den USA oder bei der Brexit-Abstimmung in GB. Digitale Manipulation könnte hierbei zu einem Bestandteil hybrider Kriegsführung werden. Gegnerische Staaten versuchen in diesem Fall Fehlinformationen zu streuen, um Menschen gegen ihre Regierung aufzuwiegeln bzw. politische Systeme zu destabilisieren.
In digitalen Medien ist es nicht einfach, zwischen Fake News und realistischen Meldungen zu unterscheiden, da Fake News oftmals seriös aufgemacht sind. Problematisch ist des Weiteren, dass digitale Desinformation zudem eine immer größere Rolle aufgrund der sich verändernden Informationsgewohnheiten einnimmt.
Matthias C. Kettemann (2021) fasst die Problematik digitaler Desinformation zusammen:
· „Sie kann leicht geteilt werden (sogar ‚viral’, das heißt exponentiell vervielfältigt und
verbreitet werden),
· die Kommunikation erfolgt unmittelbar,
· Verbreiter von Desinformationen können bei minimalen Kosten viele Menschen erreichen (ein Beispiel für die Macht asymmetrischer Informationswege),
· Menschen können nicht ohne weitere Quellen wahre von falschen Nachrichten unterscheiden,
· menschliche Vorurteile bzw. mangelndes Wissen machen uns anfällig für Online-Inhalte,
die unsere Ängste wecken oder zu bestätigen scheinen
· Anonymität und fehlende persönliche Interaktion schwächen die Bereitschaft zu kooperativem Verhalten, während sie aggressives Verhalten und Reden erleichtern.“ [6]
In dem vorliegenden Negativszenario werden die User zunehmend abhängig von raffiniert getarnten Formen der Desinformation, da sie sich immer weniger durch journalistisch qualifiziert recherchierte Artikel und Medienbeiträge informieren. Dies führt zu einer Beschädigung der Demokratie, die auf gut informierte Bürger_innen, die sich mündig und vielseitig informiert entscheiden können, angewiesen ist.
Auch stellt sich zukünftig die Frage; wer eigentlich die digitalen Medien wirkungsvoll kontrolliert und wie viel Macht ständig wachsende Unternehmen wie YouTube, Apple oder Facebook haben werden.
Wenn die Internetkonzerne selbst die Macht haben, darüber zu entscheiden, welche Information gegeben werden darf und welche nicht, besteht die Gefahr der Einschränkung der durch die Verfassung garantierten Meinungsfreiheit. Hier werden des Weiteren dann Nutzer von digitalen Medien zunehmend in Messenger-Dienste abwandern, um einer digitalen Zensur zu entgehen. Die Folge hiervon ist das Verschwinden gehaltvoller öffentlicher Diskussionen aus den digitalen Medien, die der demokratischen Öffentlichkeit zugängig sind.
Digitales Negativszenario 4: Das chinesische ‚Social Credit System‘
Hunderte Millionen digitaler Videokameras sollen zukünftig in China eine absolute Transparenz und Kontrolle über die Menschen erreichen. Zunächst liefen in China regionale Testprogramme zur Implementierung des chinesischen ‚Social Credit System‘, im Rahmen dessen Chinas Bürger lückenlos überwacht und sanktioniert werden sollen. Inzwischen hat die überregionale Einführung des SCR begonnen.
Die Aufnahmen der Videokameras werden vermischt mit digital ermittelbaren Informationen z.B. aus digitalen Netzwerken oder behördlichen Aufzeichnungen über einzelne Personen, der gerichtlichen Aktenlage, finanziellen Daten sowie schulischen und beruflichen Beurteilungen und ergeben zusammen genommen eine Bewertung nach Punkten, deren Bewertungskriterien für alle Chinesen gleich sein sollen.
Hierbei wird im gegenwärtigen noch positives Verhalten positiv sanktioniert, was sich natürlich nach der vollständigen Implementierung auch schnell ändern kann, so dass abweichendes Verhalten generell als negativ betrachtet wird und zu Punkteabzug führt.
Auf einmal bekommt dann ein Bürger die Nachricht, dass er nicht mehr mit der Eisenbahn fahren dürfe, dass eine Behandlung von ihm im Krankenhaus nicht mehr möglich sei oder dass bei einem Dating-Portal niemand mehr reagiert, weil der angezeigte Punktestand zu niedrig ist.
Eine Gesellschaft wird somit im Auftrag des Staates digital bis in die Feinheiten des Sozialverhaltens kontrolliert. Dies geht weit über Orwells oder Huxleys Utopien hinaus, erinnert eher an Dave Eggers‘ Werke ‚The Circle‘ und ‚The Every‘.[7]
Eine aktuelle Variante eines solchen Negativszenarios, das kommen kann, aber nicht eintreten muss, ist die digitale Gesundheitsdiktatur. Die Corona-Krise hat gezeigt, wie schnell sich Menschen angesichts der Gesundheitsgefahr beeinflussen und ihre Freiheiten massiv einschränken lassen (Ausgeh- und Versammlungsverbote, Abschaffung der Demonstrationsfreiheit, Einschränkung der Pressefreiheit). Es besteht hier die Gefahr, dass zukünftige Pandemien in so manchen autoritären Staaten ausgenutzt werden, grundsätzlich die bürgerlichen Freiheitsrechte abzuschaffen und dies u.a. mit verpflichtenden digitalen Apps in obligatorisch zu benutzenden Kommunikationsmedien zu kontrollieren. Auch in den Staaten mit einem demokratischen Selbstanspruch, wie z.B. Deutschland, ist darauf zu drängen, dass die Grundrechtseinschränkungen wieder zurückgenommen werden, sobald die pandemische Lage sich entspannt.
Digitales Negativszenario 5: Arbeitswelt 4.0
Im Rahmen eines Negativszenarios zur Digitalisierung der Gesellschaft kann vor allem vorausgesehen werden, dass der Mensch als arbeitendes Wesen weitgehend überflüssig gemacht sowie in die totalitäre digitale Kontrolle der Herrschenden gezwungen wird. Die digitale Transformation von Arbeitsprozessen setzt den Menschen aus Arbeitsprozessen frei, ist aber darauf angewiesen, ihn digital zu kontrollieren, damit er nicht gegen dieses System rebelliert.
Die Arbeitswelt 4.0 sieht die digitale Steuerung und Durchführung der Arbeitsprozesse vor: Automatisierung, intelligente Roboter in der Fertigung, Arbeitssubstitution durch Computeralgorithmen und smarte Technik in Büros. Hierbei findet die Zukunft der Arbeit laut OECD in den nächsten Jahren ohne 14% der bisherigen Jobs statt und weitere 32% sind einschneidenden Veränderungen unterworfen. [8]
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„Unter den Technologien, die in den letzten Jahren marktreif geworden sind, ist vor allem der mobile, kollaborative Roboter zu nennen. Statt wie ein klassischer Industrieroboter, der an einem Ort feststeht und immer wieder die vorprogrammierten Arbeitsschritte erledigt, kann er unterschiedliche Tätigkeiten an verschiedenen Orten verrichten und dabei mit Menschen zusammenarbeiten. Bisher waren beim Einsatz von Industrierobotern trennende Schutzeinrichtungen notwendig, um Personen, die sich im Arbeitsfeld des Roboters befanden, sicher gegen Verletzungen durch die sich schnell bewegenden Roboter zu schützen. Kollaborierende Roboter dagegen sind mit Sensoren ausgestattet, die Verletzungen des menschlichen Mitarbeiters verhindern. Damit wird es möglich, dass Menschen eng mit Robotern zusammenarbeiten. Ein kollaborativer Roboter kann zum Beispiel eingesetzt werden, um schwere Werkstücke zu heben und zu positionieren, um dem Menschen die Arbeit zu erleichtern.“ [9]
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Hierbei sind insbesondere Jobs gefährdet, die durch sich wiederholende manuelle Tätigkeiten gekennzeichnet sind. Dies wird daher eher die ärmere Schicht der Gesellschaft treffen und weniger Lehrer, Ärzte oder Wissenschaftler. Digitalisierung und der Einsatz der Künstlichen Intelligenz sind in diesem Szenario gefräßige Jobvertilger mit einem sich steigernden Appetit.
Bisherige Widerstandsbewegungen richteten sich insbesondere gegen Umweltzerstörung, gegen Kriegstreiberei und Aufrüstung oder gegen gesellschaftliche Ungerechtigkeiten, wie z.B. der Verlust von Arbeitsplätzen oder die ungerechte Vermögensverteilung. Der Protest gegen Arbeitsplatzverluste wird nun eine neue Dimension durch die sich beschleunigende Entwicklung von Zukunftstechnologien bekommen.
Der zu erwartende Sprung in der die Arbeitswelt betreffenden Technologieentwicklung ist bereits angesetzt und dürfte in einer Kombination von digitalen Technologien und Biotechnologien bestehen. Diese Technologieentwicklung ist u.a. durch Genmanipulation, Künstliche Intelligenz, Robotik, integrierte Netzwerke von Menschen und Algorithmen, Chip-Implementierung, Blockchain und Kryptowährungen, digitale Beschleunigung von Informationsflüssen, digitale Automatisierung und maschinelles Lernen gekennzeichnet. Hierbei ergibt sich eine doppelte Problematik: Zum einen wird der Mensch in seiner Eigenart durch Genmanipulation, invasive Chiptechniken oder die Integration in durch Algorithmen gesteuerte neuronale Netzwerke verändert. Andererseits entfällt ein Großteil der vorhandenen Arbeitsplätze, ohne dass die meisten hiervon betroffenen Menschen zunächst die Qualifikationen haben, in die neue Arbeitswelt zu wechseln. Der Schriftsteller und Historiker Yuval Noah Harari, der in der Lage ist, sich nicht nur in die Vergangenheit zu versetzen, sondern auch weit in die Zukunft zu denken, sieht hierin eine gegenüber früheren Protestbewegungen gewandelte Problematik:
„Möglicherweise werden populistische Revolten im 21. Jahrhundert nicht gegen eine Wirtschaftselite aufbegehren, welche die Menschen ausbeutet, sondern gegen eine solche, welche die Menschen schlicht nicht mehr braucht. Kann gut sein, dass die Menschen diese Schlacht verlieren. Denn es ist viel schwerer, gegen Bedeutungslosigkeit zu kämpfen als gegen Ausbeutung.“ [10]
Negativszenario 6: Künstliche Intelligenz und Cyber-War
Die meisten Vorstellungen eines Cyber-Wars beruhen auf bewussten menschlichen Eingriffen in das internationale System bzw. in die digital verwaltete Sicherheitsarchitektur eines Staates, berücksichtigen allerdings nur selten die Möglichkeit von Software in Computersystemen, die sich im Zuge entwickelnder künstlicher Intelligenz selbstständig macht. Was ist, wenn die hektische Aktivität im Bereich der Erforschung und Installierung künstlicher Intelligenz von Google, Amazon, Facebook, Apple und Co. dazu führt, dass diese sich in digitale Netze einmischt und hinsichtlich militärischer Angriffe und entsprechender Abwehrreaktionen aktiv wird? Ist dies völlig ausgeschlossen und szenarischer Unsinn?
Der Neurobiologe und Physiker Christoph v. d. Malsburg, der ansonsten ein eher nüchternes Verhältnis zu Utopien künstlicher Intelligenz aufweist, stellt Aufsehen erregend fest:
„Ich denke trotzdem, man muss die Gefahr der künstlichen Intelligenz sehr ernst nehmen, das ist schlimmer für die Menschheit als die Atombombe.“ [11]
Auch ein solcher Vorgang dürfte, wenn er denn eintritt, eher schleichend und zunächst wenig bemerkt passieren. Gefährlich wird es vor allem dann, wenn sich die für militärische Kontrollzwecke eingesetzte Software selbstständig macht und eigene Initiativen in militärischer Hinsicht entwickelt, z.B. den Abschuss gegnerischer Atomwaffen gegen das eigene Staatsgebiet fälschlicherweise dokumentiert.
Wie ausgeschlossen ist eine derartige Entwicklung in einem solchen Szenario?
Der Informationswissenschaftler Werner Meixner ist der Auffassung, dass es einen grundlegenden Gegensatz zwischen der weltweit vernetzten Anlage von ‚Big Data‘ und einem gelingenden Sicherheitskonzept für vernetzte Rechner gibt, der zu einer nicht beherrschbaren Gefährdung der Menschheit wird:
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„Zur tödlichen Gefahr wird die Vernetzung allerdings dann, wenn ein Baustein der Autonomisierung von kriegerischen Angriffen aus dem Internet heraus agiert, weil Algorithmen befehlen, eine mutmaßliche Gefahr abzuwenden. Das mag nach Science-Fiction klingen, dieser Baustein wird jedoch bereits entwickelt. (…) Er ermöglicht den autonomen präventiven Cyberkrieg und ist notwendig, weil die Reaktionszeiten zu kurz sind, als dass man einen menschlichen Entscheidungsprozess vorschalten könnte. Verantwortungsbewusste Hacker und Whistleblower haben gezeigt, was wir befürchten müssen. Eine schnell wachsende Internetkriminalität zeichnet sich ab. Atomanlagen, Energieversorgung, Wasserversorgung, Krankenhäuser, Öffentlicher Verkehr, Behörden sind von Anschlägen und Spionage bedroht. Die Existenz jedes Einzelnen ist in Gefahr, zerstört zu werden. Wegen der bereits bestehenden Risikolage müssen sofort alle kritischen Anlagen vom Internet genommen werden. Universitäten müssen Alarm schlagen. Politisch ist zu fragen, ob Amtseide verletzt werden. Die weltweite Vernetzung der „Welt der Dinge“ mit zentraler Datenverarbeitung ist eine gefährliche Fehlentwicklung. Sie bedeutet den Verlust der Souveränität aller Nationalstaaten, weil die Nationalstaaten ihre Sicherheit nicht mehr selbst gewährleisten können. Zwangsläufig entsteht ein zentraler Überwachungsstaat, weil man sich von diesem allein noch Sicherheit erhofft. Aber selbst der Zentralstaat kann die erhoffte Sicherheit nicht bieten und wird nach und nach alle Freiheiten seiner Bürger abschaffen, weil nicht mehr klar ist, wer der Feind in einem Cyberkrieg ist. Warum sollten die Völker zulassen, dass mit den Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen auf den Roulettetischen von Forschung und Entwicklung gespielt wird?“ [12]
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2 Der digitalen Weltbeherrschung Grenzen setzen
Es stellt sich nun die Frage, inwieweit diese digitalen Negativszenarien bereits tatsächlich ihren Ursprung in gegenwärtigen gesellschaftlichen Strukturen und Tendenzen haben. Hierbei soll insbesondere der Fokus auf die gesellschaftliche Rolle der Transparenz sowie das Aufhalten in virtuellen Welten gelegt werden.
Transparenz kann für eine Demokratie insofern nützlich sein, als Entscheidungsprozesse für die Bürgerinnen und Bürger nachvollziehbar und transparent werden, um sie zu befähigen und zu ermutigen, sich zu beteiligen. Dabei haben die Medien eine wichtige Funktion in der Demokratie. Eine freie und kontroverse Medienöffentlichkeit ist ein unverzichtbarer Baustein demokratischer Gesellschaftsordnungen.
Wenn aber das Maß an Transparenz, das ein Staat, die Behörden, für seine Bürgerinnen und Bürger bereitstellen, ein bestimmtes Ausmaß übersteigt, wenn absolute und einseitige Transparenz von oben nach unten als Kontrollsystem jeden Winkel des Lebens durchdringt, indem überwachende Maßnahmen die Privatsphäre der Bürgerinnen und Bürger kontrollieren, dann führt die für die Menschen intransparente Transparenz zur totalen Kontrolle. Sie führt zur Zerstörung individueller Lebensspielräume und zwingt die Menschen zur totalitären Anpassung an vorgegebene Normen.
Dies stellt insbesondere ein Problem dar, wenn ein Staat demokratisch erodiert und autokratisch wird, wie dies derzeit beispielsweise in der Türkei der Fall ist. So wird zur gegenseitigen Bespitzelung aufgerufen, werden die sozialen Netzwerke auf regimefeindliche Aussagen durchsucht und wird beispielsweise das Instrument des ‚IMSI-Catcher‘ eingesetzt. Hierbei saugt die türkische Polizei die Identifikationsnummern eingeschalteter Handys von Demonstranten während einer oppositionellen Demonstration ab. Am nächsten Tag steht die Polizei vor der Tür und nimmt Verhaftungen vor.
Eines der illegalen Spionageprogramme, die von Geheimdiensten entwickelt und eingesetzt werden, ist Pegasus, das von der israelischen Firma NSO entwickelt wurde, ursprünglich zur Bespitzelung der Palästinenser in den besetzten Gebieten. Pegasus erfordert keinen physischen Kontakt und kann heimlich auf Smartphones als Spionage-Software zur systematischen Überwachung von Bürgern installiert werden.
Die Verwendung von IMSI-Catcher, von WLAN-Catcher, stillen SMS, in Kombination mit Kontrollmaßnahmen im Rahmen des Funkzellenabfragens, die heimliche Installierung von Pegasus wird z.T. nicht nur in autokratischen Staaten gegen die politische Freiheit ihrer Bürger eingesetzt.
Chinas ‚Social Credit System‘ stellt – wie beschrieben – eine weitere Variante totalitärer Transparenz dar.
Wenn digitale Kontrolle weltbeherrschend wird, z.B. auch unter Mithilfe von digitalen Imperien, wie z.B. Google oder Facebook, und hierbei auch noch eine maßgebliche Steuerung über digital verankerte künstliche Intelligenz dominiert, dann ist dies in dieser zweifachen Hinsicht deutlich entgegengesetzt zum demokratischen Anliegen und zur Durchsetzung bzw. dem Erhalt der Menschenrechte.
Hier stellt sich auch die Frage, inwieweit die Weiterentwicklung künstlicher Intelligenz, orientiert an ethisch begründeten Richtlinien und Kriterien des humanen Wesenskerns, stärker kontrolliert und reguliert werden sollte. Wenn Forscher beispielsweise bereits darüber nachdenken, das menschliche Gehirn auf eine Computer-Festplatte zu programmieren, mit der Begründung, die Erde sei ohnehin nicht mehr als längerfristiger Standort menschlicher Entwicklung geeignet, und nur die Digitalisierung des menschlichen Gehirns könne einen Transport auf ferne Galaxien gewährleisten, dann ist die Grenze des Zumutbaren sicherlich überschritten.
Auch die Frage nach dem Sich-Aufhalten in virtuellen Welten und der Frage, was in virtuellen Welten erlaubt sein darf und was nicht, ist breit zu diskutieren und in demokratischen Diskursen dringend zu klären.
Wenn Menschen über VR-Brillen[13] zunehmend Erfahrungen in einer künstlichen Realität machen, dann ist danach zu fragen, welche Einfluss derartige Erfahrungen auf menschliche Persönlichkeiten und ihr Verhalten in der primären (echten) Welt haben. Auch die Kombination und Vermischung von primärer und sekundärer (virtueller) Realität müssten u.a. hinsichtlich der Folgen für die Gesundheit bzw. die Erkrankung von Menschen zuerst untersucht werden, bevor man entsprechende Medien und Software vertreibt und hier versucht Profite zu erzielen. Die Immersion, d.h. die psychische Einbindung in die virtuelle Welt, basiert auf der Illusion, dass eine tatsächliche Interaktivität zwischen dem Nutzer und den Ereignissen in der virtuellen Welt vorhanden ist.
Was aber, wenn die Einflüsse der virtuellen Erfahrung übermächtig werden? Wie verändert sich ein Mensch, wenn er sich täglich in vielen Stunden in virtuellen Welten aufhält und dort schießt, zusticht, hackt, zerteilt, foltert und Menschen zerfetzt? Was bedeutet es, wenn ein Mensch im Cyberspace gewaltpornografische Erfahrungen macht, vergewaltigt und tötet?
Menschen übernehmen im Cyberspace die Identität von Avataren. Was passiert psychisch mit einem solchen Menschen, der sich regelmäßig in einem Avatar aufhält? Welche Halluzinationen entstehen, wenn hier eine neue menschliche Erfahrungsebene vorhanden ist, bei der Robotik, künstliche Intelligenz und virtuelle Realität zusammenwachsen?[14] Was bedeuten solche Veränderungen in der Erfahrung des Einzelnen für soziale Gruppen und für die Gesellschaft, wenn sie zu einem Massenphänomen werden?
Destabilisierungsprozesse im Zuge von Erfahrungen zwischen realer und virtueller Welt wirken sich nicht nur negativ auf das Individuum aus, indem sie verunsichernde Emotionen aufkommen lassen, sondern können in gleicher Weise störende Auswirkungen auf die gesamte auf Mensch-Mensch-Beziehungen basierende soziale Architektur haben.
Wenn das ‚Metaverse‘ von Facebook sich durchsetzt, ist davon auszugehen, dass die virtuelle Welt so an Bedeutung gewinnt, dass die reale Welt an Wertigkeit verliert. Dann werden auch gesellschaftliche Krisen und Katastrophen in der realen Welt aus der Sicht der Spielsüchtigen ihre Bedrohlichkeit verlieren – ist doch die Flucht in virtuelle Welten möglich, in denen in Echtzeit dank 5G und Blockchain gelebt werden kann.
3 Gesellschaftliche Lösungsperspektiven
Eine positive Vision gesellschaftlicher Entwicklung wird für eine Neuordnung der Welt hinsichtlich der Nutzung virtueller Welten an Prinzipien des Humanismus orientierte, verbindliche Regeln aufstellen müssen, mit denen der Nutzungsrahmen für virtuelle Welten festgelegt werden muss. Die Menschheit kann es sich nicht erlauben, aufgrund des Profitstrebens von Konzernen, die mit virtuellen Kriegsspielen oder gewaltpornografischen Angeboten Geld verdienen wollen, sich ihre Monster selbst heranzuzüchten.
Es ist des Weiteren notwendig, alle lebenswichtigen Einrichtungen entweder aus der weltweiten digitalen Vernetzung herauszunehmen oder so abzusichern, dass kein digitaler Angriff von Außen möglich wird. Atomanlagen, nukleare Waffentechnik oder Verkehrssteuerung sind so zu isolieren und sicher zu machen, dass keine Hacker-Angriffe oder sogar sich verselbstständigende Algorithmen zu Katastrophen führen können.
Diese Problematik müsste weltweit, z.B. im Kontext der UN, gelöst werden.
Den Nachteilen der digitalen Transformation der Arbeitsprozesse ist mit Qualifizierungsprozessen zu begegnen, andererseits sind nicht nur Nachteile in einer stärker und mit Augenmaß digitalisierten Welt zu sehen.
Harari (2019) sieht in der Substitution traditioneller Arbeitsplätze durch Künstliche Intelligenz daher nicht nur Nachteile, sondern auch erhebliche Vorteile. Mehr als eine Million Menschen kämen jährlich durch menschenverschuldete Verkehrsunfälle (Fehlentscheidungen, Alkohol am Steuer) ums Leben. KI-gesteuerte selbstfahrende Autos würden Menschenleben verschonen. KI-Ärzte könnten über die Internetverbindungen allen Bereichen der Welt, auch ärmeren Regionen, eine ärztliche Gesundheitsversorgung bieten – so Harari:
„Dank lernender Algorithmen und biometrischer Sensoren könnte ein armer Dorfbewohner in einem unterentwickelten Land über ein Smartphone eine weit bessere ärztliche Versorgung erhalten, als der reichste Mensch heute im fortschrittlichsten Krankenhaus bekommt.“[15]
Hierbei wäre natürlich anzusprechen, wie wichtig der soziale Kontakt zwischen Arzt und Patient ist, und inwieweit eine digitale Therapie und medikamentöse Versorgung unter den Bedingungen von Armut möglich sind. Des Weiteren ist zu fragen, ob sich ‚ein armer Dorfbewohner‘ ein Smartphone leisten kann. Auch wird hier ausgeblendet, welche ethischen Probleme es bei selbstfahrenden Autos gibt (Entscheidungsdilemmata).
Einerseits gehen durch Maschinenlernen, Roboterisierung und KI Arbeitsplätze verloren, andererseits entsteht dennoch auch die Möglichkeit neuer qualifizierter Arbeitsplätze – so die Journalistin Adriane Palka:
„Das zeigen beispielsweise Zahlen aus den USA: Im Februar 2017 hatten 145,8 Millionen Menschen in den USA einen Job – 205 Prozent mehr als 1970, als Computer noch in den Kinderschuhen steckten. Die Bevölkerung ist im selben Zeitraum nur um 58,8 Prozent gewachsen. Zu einem ähnlichen Ergebnis für Deutschland kommt eine Berechnung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB): In einer bis 2035 voll digitalisierten Arbeitswelt könnten in Deutschland zwar fast 1,5 Millionen Jobs verloren gehen. Aber es würden auch ähnlich viele Arbeitsplätze neu entstehen.“ [16]
Diese Einschätzung und diese Zahlen müssten daraufhin geprüft werden, inwieweit sie sich auf Vollzeitjobs beziehen. Wenn zunehmend Menschen 2-4 Jobs benötigen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, täuschen die Zahlen für das amerikanische Jobwunder täuschen.
Bei einer Umstrukturierung der Arbeitsplätze im Zuge der Digitalisierung muss natürlich genau geprüft werden, welche Arbeitsplätze tatsächlich wegfallen könnten, da sie menschenunwürdig und gesundheitsschädlich sind, und durch intelligente Maschinen ersetzt werden sollten. Andererseits sollte nicht alles ersetzt werden, das substituierbar ist, wenn hier zufriedenstellende und qualitativ hochwertige Arbeitsplätze ersetzt werden sollen, nur weil sie dadurch mehr Rendite abwerfen könnten.
| „In den letzten Jahren sind also vor allem mobile, kollaborative Roboter und selbstlernende Computerprogramme sowie erste Anwendungen von 3DDruck und Virtueller Realität so weiterentwickelt worden, dass immer mehr berufliche Tätigkeiten als potenziell ersetzbar eingestuft werden müssen. Gleichzeitig haben sich aber auch die Berufsbilder verändert. Weil automatisierbare Tätigkeiten von Robotern oder Computeralgorithmen erledigt werden können, müssen sie nicht mehr vom Menschen ausgeführt werden. Sie verlieren an Bedeutung oder sind für die Ausübung des Berufes nicht mehr relevant. In der Regel schlägt sich das darin nieder, dass eine bislang als Kerntätigkeit deklarierte Tätigkeit in Stellenausschreibungen oder Ausbildungsordnungen nicht mehr erwähnt wird oder für die Ausübung des Berufes nicht mehr als zentral gewertet wird. So werden 2016 Tätigkeiten wie „Modelle anfertigen“ oder „Berechnen“ seltener als Kernkompetenz beschrieben als noch 2013.“ [17]
Daher muss die Forderung gestellt werden, dass über KI automatisierte Arbeitsabläufe, die einen Arbeitsplatz ersetzen, mit einer Automatisierungs- bzw. Digitalsteuer belegt werden sollten, die einen ernstzunehmenden Anteil an dem durch die digitalisierte Automatisierung erzielten Mehrwert ausmacht. Mit dem hieraus resultierenden finanziellen Volumen sind Fort- und Weiterbildungen für Arbeitnehmer_innen zu finanzieren, die ihren Job aufgrund der Automatisierungstendenzen der Arbeitswelt 4.0 verloren haben. Dies dürfte für die Zukunft eine zentrale gewerkschaftliche Forderung sein, die es durchzusetzen gilt.
Die digitale Umwälzung der Arbeitsverhältnisse ist seit geraumer Zeit absehbar und wird auch noch einige Zeit benötigen. Daher bleibt genügend Zeit, hier – neben der Arbeitszeitverkürzung – über weitere Modelle für notwendige sozialpolitische Maßnahmen nachzudenken. Die Digitalsteuer, zu der auch eine Roboter-Steuer gehört, ist hier ein sinnvoller Vorschlag, der finanzierbar ist und nicht zu Lasten der Arbeitnehmer_innen geht.
Bei allen Maßnahmen einer digitalen Transformation der Arbeit sind die Vertreter der Arbeitnehmer_innen maßgeblich zu beteiligen, die Gewerkschaften und die Betriebsräte, um zu verhindern, dass der Unternehmensprofit im Sinne des privatwirtschaftlich nutzbaren Mehrwerts den Prozess dominiert. Dies bedeutet dann auch, dass qualitativ hochwertige Arbeitsplätze nicht durch eine digitalisierte und vollautomatische Produktion zu ersetzen sind – auch wenn man dazu in der Lage wäre. Die Lebens- und Arbeitsqualität der arbeitenden Menschen muss Vorrang vor einer einseitigen Renditementalität haben.
Es ist allerdings nicht sicher, dass dies unter den gegenwärtigen systemischen Bedingungen leistbar ist. [18] Ein vernünftiger Umgang mit der Digitalisierung wird davon abhängen, ob die zukünftige Gesellschaftsentwicklung sich den Spielarten eines neoliberalisierten Kapitalismus überlässt oder ob eine gesellschaftliche Neuordnung erreicht werden kann, bei der die Priorität des Renditedenkens und der eigenen Nutzenoptimierung zugunsten gesamtgesellschaftlicher Verantwortlichkeit verdrängt werden kann. 19]
Anmerkungen:
[1] Marx, Karl/Engels, Friedrich (1848/1983): Manifest der Kommunistischen Partei. Stuttgart: Reclam, 26 u. 27.
[2] Der vorliegende Aufsatz stellt eine modifizierte Fassung der Kapitel 2.7 und 4.5 im Buch von Klaus Moegling (2020): Neuordnung eine friedliche und nachhaltig entwickelte Welt ist noch möglich‘. 3. Auflage, Opladen, Berlin & Toronto. dar.
[3] Zum Begriff der menschlichen Antiquiertheit vgl. insbesondere Anders, Günther (1956): Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele des Menschen in der zweiten industriellen Revolution. München: C. H. Beck. mit dem gerade heute äußerst wichtigen Titel ‚Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele des Menschen in der zweiten industriellen Revolution‘; sowie Morat, Daniel (2006): Die Aktualität der Antiquiertheit. Günther Anders’ Anthropologie des industriellen Zeitalters, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 3 (2006), H. 2, URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/2-2006/id=4605, 22.10.2017 Druckausgabe: S. 322-327.
[4] Meixner, Werner (2018): Die smarte Diktatur. Die allgegenwärtige Vernetzung nimmt totalitäre Züge an. In: https://www.rubikon.news/artikel/die-smarte-diktatur, 21.7.2018, 16.3.2019.
[5] Schnabel, Ulrich (2018): Wenn die Maschinen immer klüger werden: Was macht uns künftig noch einzigartig? In: Die Zeit, Nr. 14, 28.3.2018, 37.
[6] Kettemann, Matthias C. (2021): Digitale Desinformation. In: https://www.bpb.de/gesellschaft/digitales/digitale-desinformation/341326/ordnungsbildung-in-online-kommunikationsraeumen, 4.10.2021, 9.11.2021.
[7] Vgl. zu Chinas Social Credit System z.B. System Gruber, Angela/Kühnreich, Katja (2017): Chinas Social Credit System: Volle Kontrolle. Veröffentlicht am 28.12.2017, in: http://www.spiegel.de/netzwelt/netzpolitik/china-social-credit-system-ein-punktekonto-sie-alle-zu-kontrollieren-a-1185313.html, 28.12.2017, 10.8.2018 sowie Hennig, John (2018): Wie China das Netz erobert. In: https://www.rbb24.de/politik/thema/2018/republica2018/beitraege/republica-2018-das-chinesische-internet-china-social-credit-system.html, 4.5.2018, 10.8.2018.
[8] http://www.oecd.org/berlin/themen/zukunft-der-arbeit/, o.D., 22.11.2019.
[9] Dengler, Katharina/Matthes, Britta (2018): Substituierbarkeitspotenziale von Berufen. Wenige Berufsbilder halten mit der Digitalisierung Schritt. In: http://doku.iab.de/kurzber/2018/kb0418.pdf, o.D., 22.11.2019, 2.
[10] Harari, Yuval Noah (2019): 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert. München: C.H. Beck, 30.[11] Vgl. die Aussage von Christoph v. d. Malsberg in: Die Zeit, 28.3.2018, S. 39.
[12] Meixner, Werner (2018): Die smarte Diktatur. Die allgegenwärtige Vernetzung nimmt totalitäre Züge an. In: https://www.rubikon.news/artikel/die-smarte-diktatur, 21.7.2018, 16.3.2019.
[13] VR = Virtual Reality
[14] Vgl. hierzu auch die Überlegungen bei Metzinger, Thomas (2016): Lecture: Virtuelle Realität und künstliche Intelligenz. Vortrag vom 20.10.2016, in: video.ethz.ch, 9.8.2018. sowie bei Weber, Christian (2017): „Ich war so erschöpft wie nach einem Langstreckenflug.“ In: Sueddeutsche.de, vom 5.2.2017, 9.8.2018.
[15] Harari (2019, a.a.O., 48f.)
[16] Vgl. Palka, Adriane (2018): Digitalisierung gefährdet Millionen von Jobs – welche besonders betroffen sind. In: https://www.handelsblatt.com/unternehmen/management/digitaletransformation/oecd-studie-zur-zukunft-des-arbeitsmarktes-digitalisierung-gefaehrdet-millionen-von-jobs-welche-besonders-betroffen-sind/21217278.html?ticket=ST-3397671-DBatMECSuby0fk4nKxRG-cas01.example.org, 26.4.2018. 1.11.2021.
[17] Dengler, Katharina/Matthes, Britta (2018): Substituierbarkeitspotenziale von Berufen. Wenige Berufsbilder halten mit der Digitalisierung Schritt. In: http://doku.iab.de/kurzber/2018/kb0418.pdf, o.D., 22.11.2019, 4.
[18] Vgl. zur systemsprengenden Kraft digitaler Entwicklungsprozesse u.a. Trautvetter, Bernhard (2018): Die Gespensterdebatte. Gedanken zum 200. Geburtstag von Karl Marx. In: https://www.rubikon.news/artikel/die-gespensterdebatte, 24. April 2018, 5.8.2021.
[19] Das Konzept einer gesellschaftlichen Neuordnung auf regionaler, nationalstaatlicher und globaler Ebene wird bei Moegling (2020, a.a.O.) entwickelt und diskutiert.
(Der vorliegende Blog stellt eine überarbeitete Fassung meines Beitrags in der Online-Zeitschrift Telepolis dar: https://www.heise.de/tp/features/Zukunft-der-EU-Militaerische-Grossmacht-oder-globale-Friedenskraft-7253544.html, 5.9.2022, 7.9.2022.)
Die EU sollte sich entscheiden: Militärische Großmacht oder internationale Friedensvermittlerin.
von Klaus Moegling
7.9.2022
Die EU befindet sich am sicherheitspolitischen Scheideweg. Der Krieg in der Ukraine scheint sie in eine langfristige Aufrüstungsphase zu zwingen. Aber wie zwangsläufig ist diese Aufrüstungsdynamik wirklich und welche sicherheitspolitischen Alternativen gäbe es?
Von Europa ausgehend nahm sowohl die Aufklärung als auch die Kolonialisierung ihren Anfang. Europa ist der Ort, an dem sich Nationen in Dutzenden blutiger Kriege auf das Heftigste bekämpft haben – eine historische Tatsache, deren schreckliche Erfahrungen aber auch die Voraussetzung für den Versuch waren, miteinander in weiten Teilen Europas friedlich zusammenzuarbeiten und transnationale Strukturen in Form der Europäischen Union zu bilden.
Wäre daher Europa als Kontinent und als Europäische Union nicht besonders geeignet, die Friedenssache voranzubringen? Die historische Rolle vieler europäischer Staaten im Rahmen der damaligen KSZE-Verhandlungen stimmt zunächst optimistisch, dass Europa grundsätzlich dazu in der Lage wäre, zur weltweiten Entspannung beizutragen. [1]
Es ist noch nicht entschieden, ob der Friedensnobelpreis für die EU berechtigt war.
Die EU erhielt 2012 den Friedensnobelpreis für ihre friedenssichernde Funktion und ihre multilateralen Vermittlungsaktivitäten. Die Frage ist allerdings noch nicht entschieden, ob dieser Friedensnobelpreis zu Recht vergeben wurde. Entscheidend bei der Klärung dieser Frage dürfte sein, inwieweit sich der Teil Europas, der in der EU repräsentiert ist, in Zukunft militarisieren und versuchen wird, ihre globalen politischen und ökonomischen Interessen primär mit militärischer Gewalt durchzusetzen und zu sichern.
Der Politikwissenschaftler Werner Ruf stellt die Verbindung zwischen Neoliberalisierung und Militarisierung der EU her. Er analysiert die Beziehung zwischen der auch von der EU betriebenen neoliberalen Öffnung der Märkte in den nordafrikanischen Staaten, wie z.B. Tunesien oder Marokko, und der durch den Wegfall von Schutzzöllen und europäischer Marktinvasion bedingten schleichenden Enteignung der Bewohner. Diese Enteignung ging einher mit der Verringerung der staatlichen Steuerungsfähigkeit in diesen Ländern, den durch die extreme Absenkung des Lebensstandards maßgeblich bedingten Migrations- und Fluchtbewegungen und dem damit verbundenen Aufbau der Festung Europa. Er fasst seine Analyse wie folgt zusammen:
„Die Öffnung der Märkte liefert die Bausteine für die Transformation Europas zur Festung, die beschworenen gemeinsamen Werte geraten zu einer immer durchsichtigeren Tünche, die die Doppelstandards des Menschenrechtsdiskurses und die zunehmende Militarisierung des einstigen Friedensprojekts immer schlechter kaschieren kann.“
(Ruf 2018, 101) [2]
Angesichts dieser problematischen Entwicklung gelte es, der ursprünglichen Friedensidee Europas, die letztlich die ethische Fundierung im normativen Selbstanspruch der Gründungsphase der europäischen Vereinigung war, tatsächlich Geltung zu verschaffen und auch der Verleihung des Friedensnobelpreis eine Realität friedensschaffender Maßnahmen folgen zu lassen.
Dies hätte m.E. zunächst bedeutet, dass die seit spätestens 2010 festgefahrenen OSZE-Verhandlungen wieder belebt werden und sich eine verbindliche Agenda geben müssten. Dies wär der geeignete institutionelle Rahmen, in den sich u.a. die EU friedenssichernd einzubringen hätte. Hier hätte an eine friedensstiftende Verhandlungstradition angeknüpft werden können, die dann auch zu einem wesentlichen Bestandteil einer positiven europäischen Identität im weltbürgerlichen Bewusstsein werden könnte. Doch die russische Aggression gegen den ukrainischen Staat [3] lässt dies wohl in weite Ferne rücken. Sicherlich kann die EU nicht tatenlos zusehen, dass in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft ein Staat zerstört, ein systematischer Beschuss ziviler Objekte, eine Zerstörung der Infrastruktur erfolgt sowie Tausende Menschen getötet werden. Es ist völkerrechtlich notwendig und moralisch gerechtfertigt, dass die EU-Staaten die Ukraine u.a. auch militärisch unterstützen. Doch die Unterstützung der Ukraine im Widerstand gegen einen bewaffneten russischen Aggressor müsste gleichzeitig von einer geschlossenen Verhandlungsmacht der EU und entsprechenden Verhandlungsangeboten an die am Krieg beteiligten Akteure begleitet sein. Nur über die Verbindung von einer umfassenden Unterstützung der sich wehrenden Ukraine im Sinne der UN-Charta und beständig angebotenen Verhandlungsoptionen durch die EU an beide Seiten ist ein Waffenstillstand und die gemeinsame Entwicklung eines Friedensplans bzw. einer europäischen Sicherheitsordnung möglich. [4]
Sicherheitsarchitektur von Lissabon bis Wladiwostok?
Erst nach der Beendigung des Ukraine-Kriegs könnten Ansatzpunkte für kommende OSZE-Verhandlungen zunächst im Verbot von Waffenexporten in Spannungsgebiete liegen – abgesehen von der Unterstützung angegriffener Staaten. Das größere Projekt aber liegt dann sicherlich in der Abrüstung der Vertragsstaaten über die (Re)Installierung entsprechender Abrüstungsverträge – auch in Verhandlung mit Staaten außerhalb der OSZE. Natürlich gehört hierzu auch die Ratifizierung des von ICAN voran getriebenen UN-Verbotsvertrags für Nuklearwaffen im Rahmen einer internationalen Ratifizierungsbewegung.
Dies wäre auch dringend notwendig: Die USA planen den größten Rüstungsetat seit ihrem Bestehen. Russland kündigt ein neues Programm für urangetriebene Atomraketen an, die jeden Ort auf der Erde erreichen und nationale Verteidigungsmaßnahmen umgehen können. China investiert einen großen Teil seines für ökologische und soziale Maßnahmen erforderlichen Staatshaushalts in die Rüstung. Saudi-Arabien investiert seine Ölmilliarden in der Auseinandersetzung mit dem Iran und dem Stellvertreterkrieg im Jemen in Waffentechnik. Die USA und Russland haben einen Teil ihrer nuklearen Abrüstungsverträge aufgekündigt. Frankreich und GB arbeiten an der Modernisierung ihrer Nuklearwaffen. Deutschland plant Atomwaffen taugliche Kampfjets anzuschaffen.
Gerade die Voraussetzungen und die Entwicklung im Krieg in der Ukraine zeigen die Problematik der nuklearen Bedrohung bei einem konventionell geführten Krieg. Unverhohlen droht die russische Regierung mit dem Einsatz von Atomwaffen, indem sie die Einsatzbereitschaft ihrer Nuklearwaffen im Zuge des Kriegs in der Ukraine demonstrativ erhöht hat. Putin droht zu Beginn des Krieges offen damit, dass jeder – so auch dann Europa – der sich einmische und Russland bedrohe, etwas erleben werde, dass er historisch noch nie erlebt habe. [5] Die nukleare Gefahr zeigt sich allerdings im Ukraine-Krieg in doppelter Perspektive: Als Bedrohung durch Atomwaffen und als Gefährdung der Kernkraftwerke, die zur Waffe im Krieg werden. [6]
Der österreichische Friedensforscher Thomas Roithner stellt fest, dass sich Europa, angelegt durch den Vertrag von Lissabon (2007) in die Reihe der politischen Mächte einzuordnen versucht, die hochrüsten, und entwickelt hier gegen gewandt einen Vorschlag für ein ziviles Kerneuropa (Roithner 2020, 213f.). Auch der deutsche Politikwissenschaftler Werner Ruf geht davon aus, dass die EU sich auf dem Weg zu einem militärischen ‚Global Player‘ begeben möchte (Ruf 2020) [7] und fordert eine sicherheitspolitische Rückkehr im Sinne von diplomatischer Friedenssicherung und unterstützender Entwicklungspolitik ein. Er fordert noch weitergehender sogar eine Sicherheitsarchitektur von Lissabon bis Wladiwostok. Diese Vision wendet der ehemalige russische Präsident und aktuelle stellvertretende Chef des russischen Sicherheitsrat Dmitri Medwedew ebenfalls an und bezieht sich hierbei auf eine nationalchauvinistische Sichtweise aus russischer Perspektive. Er vergleicht die Ukraine mit dem Dritten Reich. Der Zusammenbruch dieses nazistischen Systems könne die Befreiung für ein „offenes Eurasien von Lissabon bis Wladiwostok“ sein. [8] Gleichzeitig spricht Putin vom Konzept der russischen Welt, der „Russki Mir“, die es international zu schützen gelte. [9] Hier wird deutlich, dass die Forderung nach einem eurasischen Friedensraum nur anzustreben ist, wenn dies tatsächlich transnational gedacht und unabhängig von nationalchauvinistischer und völkischer Verformung entwickelt wird.
Wie wird sich die EU nun verhalten?
Wird Europa ebenfalls weiter hochrüsten oder eine friedensstiftende Macht sein, die ihre politische und ökonomische Macht auf diplomatischem Wege friedensbewahrend einsetzt? Wie wird sich ein Staat, wie z.B. die ökonomisch starke Bundesrepublik Deutschland, hier einbringen – als Vertreter von Diplomatie und Multilateralität oder als Vertreter einer Militarisierung der EU? [10] Wird die EU in Auseinandersetzung mit den globalen Großmächten (USA, Russland, China) sich dafür einsetzen, dass Atomsprengköpfe und Trägerraketen verringert werden bis hin zum völligen Verbot nuklearer Waffen, Tellerminen verboten, chemische und biologische Waffen weiterhin vernichtet werden, die konventionelle Rüstungsindustrie sich in eine Friedensindustrie konvertiert? Wird die EU den Export von Waffen in Spannungsgebiete verbieten oder ihn weiter wie bisher betreiben? Wird die EU darauf bestehen, dass Staaten, Gruppierungen und Unternehmen, die zur Umweltzerstörung durch den Einsatz von Waffentechnik beitrugen, zur Finanzierung der Schadensbeseitigung herangezogen werden? Oder wird die EU die Rüstungsindustrie im Rahmen ihrer Taxonomie als nachhaltig einstufen und den Nachhaltigkeitsbegriff erneut pervertieren?
Wird die EU ihre im Rahmen von GASP und PESCO [11] angestrebte Erhöhung der nationalen Wehretats auf einen Anteil von 2% am Bruttoinlandsprodukt zugunsten eines höheren Etats für internationale Entwicklungsaufgaben aufgeben? Wird ein Abbau eigenständiger nationaler militärischer Strukturen zugunsten europäischer Verteidigungsbemühungen zur aggressiven Militarisierung der EU oder zu einer erheblichen Friedensdividende führen, mit deren Erlös die globalen Probleme angegangen werden können? Oder wird die EU den russischen Überfall auf die Ukraine zu einer langfristig angelegten Aufrüstung nutzen zulasten der Entwicklungsförderung?
Lässt sich die Finanzierung des „Future Combat Air System“ (FCAS) mit einer Kombination aus Atomwaffen tauglichen Tarnkappenbombern, begleitenden Drohnenschwärmen sowie digital vernetzten Kampfmitteln wie Kriegsschiffen und Panzern neuerer Generation noch verhindern, welches der Rüstungsindustrie Milliardengewinne beschert und die Zukunftsressourcen Europas mit diesem gigantischen Zerstörungsprogramm an militärische Destruktivität bindet?
Von der Beantwortung dieser Fragen wird die Beurteilung abhängen, ob die Verleihung des Friedensnobelpreises für die Europäische Union vorschnell oder tatsächlich berechtigt gewesen war.
Auf jeden Fall liegt in der Europäischen Union immer noch eine große Chance begründet, nationalstaatliche Grenzen – trotz aller Rückschläge – Schritt für Schritt zugunsten einer transnationalen Regionalisierung zu überwinden, damit einerseits die nationalstaatlichen bzw. nationalchauvinistisch begründeten Kriegsideologien innerhalb Europas weiterhin zu entschärfen und andererseits zu einer transnationalen und überregionalen Handlungsperspektive hinsichtlich einer globalen Sicherheitspolitik zu finden. Eine weitere Aufrüstung und Militarisierung der EU ist – auch im Zuge des Ukraine-Kriegs – nicht als zwingend anzusehen. Kein anderer transnationaler Staatenverbund im globalen Kontext weist eine derartige Historie gemeinsamer Verständigung, einer Abkehr von zwischenstaatlicher Aggression bei gleichzeitiger Entwicklung gemeinsamer demokratischer Institutionen und Verfahren wie die EU auf. Hierbei spielt sicherlich das historische Gedächtnis der EU-Staaten eine zentrale Rolle, die in den letzten Jahrhunderten vielfach erlebt haben, wie vernichtend sich militärische Aggression auf das Zusammenleben der europäischen Staaten auswirkte.
Sicherlich wird auch eine Rolle spielen, wer sich durchsetzen wird: Die Wirtschaftskräfte, die von einer weiteren Aufrüstung profitieren, oder die auf den internationalen Handel und damit auf friedliche Verhältnisse angewiesene Ökonomie der EU.
Europäische Entwicklungsperspektiven und Sicherheitskonzepte
Die EU wird ihre friedenspolitische Rolle zukünftig nur wirkungsvoll einnehmen können, wenn sich ihre Strukturen weiterentwickeln und damit auch Vorbild für die notwendigen Veränderungen im Rahmen der UN sein könnten.
Die sich weiter entwickelnde Institution des Europäischen Parlaments könnte zum Beispiel hinsichtlich ihres Wahlverfahrens und der Sitzverteilung ein Vorbild für ein demokratisches Weltparlament sein – so wie dies die Kampagne für ein demokratisches Parlament bei der UNO (UNPA-Kampagne) bereits vorsieht. [12] Wenn dann auch noch das Einstimmigkeitsprinzip im Rat der Europäischen Union aufgegeben würde, könnte auch hier ein Vorbild für ein globales Regierungskonzept im Rahmen der UN entwickelt werden. Dort gilt es insbesondere das Veto-Recht der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats zu überwinden, das u.a. dafür verantwortlich ist, dass ein Aggressor wie die Russische Föderation sein Veto gegen eine Verurteilung dieser Aggression und gegen friedensschaffende Maßnahmen in der Ukraine einlegen kann.
Das friedenspolitische Bündnis ‚Sicherheit neu denken‘ entwickelt im Rahmen eines Positivszenarios bis zum Jahr 2040 alternativ zur militärischen Hochrüstung der EU ein Konzept, das aus fünf Säulen der Sicherheitspolitik besteht: Gerechte Außenbeziehungen, Stärkung der nachhaltigen Entwicklung, Ausbau der internationalen Sicherheitsarchitektur, resiliente Demokratie und Rüstungskonversion. [13]
Es lassen sich mit dem Fokus auf Europa folgende zentrale Konzeptbausteine aus den fünf Säulen der Sicherheitspolitik der Friedensinitiative ‚Sicherheit neu denken‘ identifizieren:
- Der UN-Sicherheitsrat besteht aus Vertretern kontinentaler regionaler Sicherheitsräte, wie z.B. einem europäischen Sicherheitsrat.
- Die OSZE entwickelt sich zum sicherheitspolitisches Schlüsselorgan im europäischen Raum.
- Es besteht ein Vorrang ziviler Maßnahmen der Kriegsprävention und Sicherheitspolitik vor weltpolizeilichen oder gar militärischen Maßnahmen.
- Die NATO akzeptiert Aufwendungen für zivile Maßnahmen der Konfliktregulierung und der Entwicklungszusammenarbeit. Es findet ein schrittweiser Umbau der NATO zu einem Organ ziviler Sicherheitspolitik statt.
- Es wird ein Entwicklungsplan für den Nahen Osten und Afrika unter der Federführung der UN aufgestellt. Hierbei wird auch die Friedens- und Sicherheitsarchitektur in diesen Regionen gestärkt.
- Es werden weltweite Friedenseinsätze mit weltpolizeilichen Mitteln nur dann durchgeführt, wenn zivile Konfliktvermittlung nicht mehr hilft.
- Es werden Ausbildungsprogramme für die Bevölkerungen in resilienter Sicherheitspolitik durchgeführt. Hierdurch wird ein Aufbau der Fähigkeiten zu zivilem Widerstand im Falle autokratischer Selbstermächtigung oder eines Überfalls vorgenommen.
- Es erfolgt ein Aufbau einer zivilen Konfliktkultur in Staaten und Regionen. Es werden z.B. nationale und internationale Mediationszentren aufgebaut;
- Es wird ein Auf- und Ausbau des zivilen Friedensdienstes und unbewaffneter ziviler Friedenssicherung vorgenommen.
- Die Rüstungsindustrie wird weitgehend in eine Friedenindustrie umgewandelt und es erfolgt eine Transformation nationalen Militärs in Technische Hilfswerke. [14]
Dies sind konzeptionelle Elemente einer prioritär zivilen europäischen Sicherheitspolitik, die den hier vertretenden Sichtweisen sehr nahe kommen und die es langfristig zu unterstützen gilt.
Es wäre allerdings Ausdruck politischer Naivität zu glauben, dass eine transnationale Organisation wie die EU derzeit angesichts der russischen Aggression sowie weiterer militärisch hochgerüsteter Staaten einseitig abrüsten und nur auf zivile Friedenssicherung setzen sollte. Dennoch muss die weitere Aufrüstung in der EU vermieden werden, da die finanziellen Ressourcen für andere prioritäre Ziele, wie z.B. die Bekämpfung der Klimakrise und gegen die Verarmung eines Teils der EU-Bevölkerung, einzusetzen sind. Dies bedeutet somit im Zuge einer anzustrebenden Verringerung europäischer Militärausgaben eine Erhöhung der Anstrengungen europäischer Koordination und zentraler Steuerung der europäischen Militärpolitik. Die Überwindung des weitgehend isolierten Betreibens nationaler Rüstungs- und Militärpolitik würde erhebliche Synergie- und erhebliche Einspareffekte mit sich bringen, ohne weiter aufrüsten zu müssen.
Hierbei ist die Notwendigkeit zu betonen, unabhängiger von den USA zu werden, der in der Vergangenheit ebenfalls erhebliche Verstöße gegen die Menschenrechte international nachgewiesen werden können (z.B. Napalm- und Agent Orange-Einsatz in Vietnam oder der 2. Irakkrieg). Auch steht das nationalchauvinistische ‚America first‘ der USA sicherlich den friedenspolitischen Intentionen von ‚Sicherheit neu denken‘ entgegen. Auch ist nicht gesichert, ob sich die zumindest derzeit noch weitgehend formaldemokratischen Strukturen in den USA zukünftig erhalten lassen. Hier wäre die Wiederwahl Trumps oder eines ähnlich eingestellten Republikaners eine Katastrophe für das politische System der USA, das auch ohne dies reformbedürftig ist. Doch von einer zunehmend zu einer unsicheren und schwachen Demokratie werdenden Großmacht kann sich die EU zukünftig nicht mehr abhängig machen.
Auch eine verstärkte sicherheitspolitische Eigenständigkeit der EU gegenüber der US-dominierten NATO wäre dementsprechend zukünftig erforderlich – es sei denn die NATO nähert sich – nach einer demokratischen Erneuerung Russlands – Russland erneut an.
Fazit:
Die Europäische Sicherheitspolitik kann zu einer auch global vernetzten Friedenspolitik und einer demokratisch kontrollierten globalen Sicherheitsarchitektur führen, wenn sie sich von einer zu engen Bindung an die USA und die NATO löst, sich von ihrem neoliberalen Regime befreit, sich aus der Umklammerung des militärisch-ökonomischen Komplexes begibt, sich auch auf die Beseitigung des sozialen Gefälles innerhalb der EU und stärker auf die Entwicklungszusammenarbeit mit den EU-Nachbarstaaten bezieht. Dort könnte sie zur Stabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse im Interesse der dortigen Bevölkerungsmehrheit im Sinne einer an sozialem Ausgleich, wirtschaftlichem Fortschritt, friedlichem Zusammenleben, an Verteilungsgerechtigkeit und an Nachhaltigkeit orientierten Politik beitragen.
EU-Sicherheitspolitik sollte daher nicht prioritär als Aufrüstungsprogramm und Kriegspolitik, sondern primär als Friedenspolitik verstanden werden, die auf synergetischer Sicherheitspolitik, multilateraler Verständigung und auf Diplomatie und Verhandlungsgeschick beruht.
Es ist nicht vertretbar, zwar (noch) innerhalb der EU Frieden zu halten, aber nach außen Waffen zu exportieren und fragwürdige Kriegseinsätze, wie z.B. die Aggression der Türkei gegen die Kurden in Syrien oder das völkerrechtswidrige Verhalten Saudi-Arabiens im Jemen, zu unterstützen, sich als Sozialunion auszugeben und letztlich bei einer Militärunion zu enden.[15]
Gern hätte ich hier weiterhin abschließend formuliert: Hierbei sollte Russland nicht als Gegner im Rahmen einer sich verschärfenden internationalen Konfrontation angesehen werden, sondern, solange die Möglichkeit noch besteht, als ein Verhandlungspartner der EU, mit dem es auf diplomatischem Wege für die Weiterentwicklung beider Regionen sicherheitspolitisch, ökonomisch, kulturell und ökologisch zu kooperieren gilt. Diese Möglichkeit ist derzeit aber aufgrund der russischen Aggression in der Ukraine nur noch eingeschränkt vorhanden. Dennoch sollte die kooperative Perspektive im Sinne einer auf Diplomatie und Verträgen basierenden Sicherheitspolitik sowie politischer und wirtschaftlicher Zusammenarbeit zumindest mittelfristig handlungsleitend für die EU-Politik sein. Eine kontinuierliche Steigerung der Rüstungsausgaben wäre hierbei äußerst kontraproduktiv.
(Radio: Zu diesem Blog gibt es ein etwa 11 Minuten langes Interview mit Klaus Moegling im Audio-Portal Freier Radios in Deutschland, geführt von Andrasch Neunert (Radio Loracmuc, München) , frei zugänglich unter https://www.freie-radios.net/117413)
Anmerkungen:
[1] Der vorliegende Blog stellt eine überarbeitete Fassung meines Beitrags in der Online-Zeitschrift Telepolis dar: https://www.heise.de/tp/features/Zukunft-der-EU-Militaerische-Grossmacht-oder-globale-Friedenskraft-7253544.html, 5.9.2022, 7.9.2022. Einige Gedanken sind dem Kapitel 5.4 meines Buches ‚Neuordnung. Eine friedliche und nachhaltig entwickelte Welt ist (noch) möglich.‘ entnommen (Verlag Barbara Budrich, 3. erweiterte Auflage 2020). Englische Version im open access unter https://www.klaus-moegling.de
[2] Ruf, Werner (2018): Die vielen Gesichter der EU: Vom Friedenprojekt zur Festung Europa. In: Eis, Andreas/Moulin-Doos, Claire (Hrsg.) (2018): Kritische politische Europabildung – Die Vielfachkrise Europas als kollektive Lerngelegenheit. Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich, 91-105.
[3] Sicherlich hat der russische Überfall auf die Ukraine eine Vorgeschichte. Doch die Entscheidung der osteuropäischen Staaten, eine NATO-Aufnahme zu beantragen, ist eine sicherheitspolitische Entscheidung autonomer Staaten und kann nicht als Rechtfertigung für Russlands Angriff dienen. Kein Staat darf nur als ‚Vorhof‘ der eigenen geostrategischen Interessen betrachtet werden. Dies gilt sowohl für Russland als auch natürlich für die Vereinigten Staaten.
[4] Vgl. zu den notwendigen friedenspolitischen Maßnahmen u.a. meinen Beitrag in Telepolis: Russlands Krieg gegen die Ukraine: Vier Schritte nur zum Frieden? In: Telepolis, https://www.heise.de/tp/features/Russlands-Krieg-gegen-die-Ukraine-Vier-Schritte-nur-zum-Frieden-7132665.html?seite=2, 6.6.2022, 6.6.2022.
[5] Vgl. u.a. https://www.tagesspiegel.de/politik/putins-rede-kurz-vor-dem-angriff-wer-sich-einmischt-muss-mit-vergeltung-rechnen/28099766.html, 24.2.2022, 1.9.2022.
[6] Vgl. hierzu den Essay von Bernhard Trautvetter in: https://www.heise.de/tp/features/Wie-weit-ist-es-von-der-Zeitenwende-zum-Zeitenende-7250400.html, 1.9.2022, 1.9.2022, sowie den Beitrag von John Mearsheimer in: https://www.heise.de/tp/features/Brinkmanship-in-der-Ukraine-7246879.html?seite=all, 30.8.2022, 1.9.2022.
[7] Ruf, Werner (2020): Vom Underdog zum Global Player. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne. Köln: PapyRossa Verlag.
[8] Vgl. den Bezug zu der Medwedew-Aussage in https://www.welt.de/politik/ausland/article238010209/Medwedew-will-offenes-Eurasien-von-Lissabon-bis-Wladiwostok.html, 5.4.2022, 1.9.2022.
[9] Vgl. https://www.focus.de/politik/ausland/ukraine-krise/neue-doktrin-erlassen-was-russkij-mir-fuer-putins-aussenpolitik-bedeutet_id_141788633.html, 6.9.2022, 6.9.2022.
[10] Werner Ruf meldet hier bereits deutliche Bedenken über die friedensstiftende Rolle Deutschlands an, da Aufrüstung und Ausbau wirtschaftlicher und politischer Dominanz im EU-Rahmen und Waffenexporte in internationale Spannungsgebiete zu beobachten seien (Ruf 2020).
[11] GASP = Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (der EU), PESCO = Permanent Structured Cooperation (bezieht sich primär auf gemeinsame militärische Projekte der EU).[12] Vgl. Leinen, Jo/Bummel, Andreas (2017): Das demokratische Weltparlament. J.H.W. Dietz-Verlag: Bonn.
[13] Vgl. Becker, Ralf/ Maaß, Stefan/Schneider-Harpprecht, Christoph (Hrsg) (2019): Sicherheit neu denken. Von der militärischen zur zivilen Sicherheitspolitik – Ein Szenario bis zum Jahr 2040. In: https://www.sicherheitneudenken.de/media/download/variant/183983 , o.D., 30.4.2021, 33 ff.
[14] Ebenda
[15] Ausführlicher hierzu: Roithner, Thomas (2020): Verglühtes Europa? Alternativen zur Militär- und Rüstungsunion. Vorschläge aktiver Friedenspolitik. Wien: myMorawa.
4.1 Den Tiger zähmen: Die globale Ökonomie im Sinne von Nachhaltigkeit und Friedenssicherung transformieren.
Der Kapitalismus hat keine Zukunft mehr. Kern des Kapitalismus sind das Privateigentum an den Produktionsmitteln und der immer wiederkehrende Versuch, aus den Ergebnissen der Warenproduktion und Vermarktung Mehrwert abzuschöpfen zulasten arbeitender Menschen und zulasten der Natur.
Marx/Engels sahen in einer kommunistischen Gesellschaft, die sich über den Umweg einer sozialistischen Entwicklungsphase entfaltet, die Utopie einer vollkommen entwickelten Gesellschaft.
An die Stelle einer gespaltenen Gesellschaft „tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“. [1] Dies ist sicherlich eine positive Vision. Doch wie wird sie konkret aussehen? Eine Form der im marxistischen Sozialismus-Konzept vorgesehenen Diktatur des Proletariats kann dies sicherlich nicht sein. Eine Diktatur bietet niemals einen gesellschaftlichen Rahmen „für die freie Entwicklung aller“. Über Unterdrückung kann keine Freiheit entstehen.
Aber – auf der anderen Seite stellt sich die Frage: Wie kann eine demokratische und friedliche Entwicklung in einer Welt der Rücksichtslosigkeit und herrschenden Gewalt etabliert werden? Eine grundlegende Antwort ist diese: Eine solche Umgestaltung – so notwendig sie auch ist – kann nur in einem friedlichen und radikalen Umbruch Wirklichkeit werden, denn die Gefahren, die von technischen Prozessen der Naturbearbeitung sowie von Natur und Zivilisation zerstörenden Produkten in der High-Tech-Gesellschaft ausgehen und die mit einem unkritischen ökonomischen Wachstumsdenken verbunden sind, müssen unter Kontrolle bleiben bzw. überwunden werden. [2]
Welche Form der Marktwirtschaft ist gemeint?
Die historische Entwicklung der sogenannten ‚realsozialistischen‘ Staaten in ihren unterschiedlichen Varianten hat gezeigt, dass dieser Versuch, ‚den Tiger zu zähmen‘, nicht geeignet war, in eine freie Gesellschaft in sozialer und ökologischer Verantwortlichkeit einzutreten. Die Natur wurde dort, genauso wie in den kapitalistischen Staaten, extrahistisch ausgeplündert. Zudem funktionierte die Ökonomie nicht zum Wohle aller sondern allenfalls zur luxuriösen Versorgung einer korrupten Elite.
Die zentralstaatliche Verplanung ökonomischer Prozesse, bis in die Feinheiten von Allokation, Akkumulation, Produktion und Konsumtion hinein, ist weder leistbar noch sinnvoll. Sie vernichtet produktive Freiräume und Entscheidungsspielräume für Menschen, die für ein funktionierendes Wirtschaftssystem notwendig sind. Menschliche Bedürfnisse lassen sich nur in einem begrenzten Ausmaß lenken, verplanen und über zentrale Entscheidungen befriedigen. Auch wird das motivierende Potenzial einer in einem sozialökologischen Rahmen eingebetteten marktwirtschaftlichen Ökonomie nicht genutzt, bei der der Einzelne oder einzelne Gemeinschaften auf dezentralen Märkten (und nun auch digital) selbstwirksam produzieren und verkaufen können. Hier bekommen sie motivierend den Erfolg ihrer ökonomischen Leistung spürbar rückgemeldet.
Daher stellt sich die Frage, wie neue Gesellschaften auf lokaler, regionaler und globaler Ebene entstehen können, die einerseits die positiven Anteile von (verantwortungsvollen) Marktmechanismen ermöglichen und gleichzeitig große Wirtschafts- und Finanzkonzentrationen und damit die entsprechende politische Machtkonzentration verhindern können.
Es darf einerseits nicht sein, dass die durchaus konstruktiven Antriebe von Menschen, in ihren lokalen und regionalen Kontexten zu produzieren, zu bewerben, zu handeln und zu verkaufen, unterdrückt werden – der Fehler des Realsozialismus sowjetischer Prägung. Andererseits ist die Marktmacht von Monopolen oder monopolähnlichen Strukturen zu verhindern, die ja gerade die dezentralen Wettbewerbs- und Marktstrukturen zerstören – der Systemfehler der westlichen, kapitalistisch geprägten Gesellschaftsformen.
Formen solidarischer Ökonomie in einer nicht-fossilen Gesellschaft
Der Politologe Elmar Altvater kommt dem hier vertretenen Ansatz bereits sehr nahe, wenn er die neuen Ordnungselemente in einer nicht-fossilen Gesellschaft gekoppelt mit neuen solidarischen und ökologischen Produktionsweisen, dezentralen Aneignungsprozessen und veränderten Konsummustern sieht – einer Entwicklung, die Zeit benötige:
„Das geht nur langfristig, und wenn der Übergang denn gelingt, ist dies der Übergang zu einem Ufer, an dem nicht mehr ‚Kapitalismus‘ steht, sondern irgendetwas anderes. Wir haben keinen einfachen Namen dafür, nachdem der Sozialismus des 20. Jahrhunderts gescheitert ist. Sozialismus des 21. Jahrhunderts? Vielleicht ist es sinnvoller, das Projekt als solare (weil nachhaltige) und solidarische (weil auf die Ressourcen bauende) Gesellschaft zu bezeichnen.
Überzeugende Alternativen gibt es also. Die Fortsetzung des Kapitalismus, wie wir ihn kennen, endet im Desaster. Ein ‚Imperium der Barbarei‘ droht, wenn es nicht bereits entstanden ist. Ein Regime erneuerbarer Ressourcen mit den dazu passenden sozialen Formen und einer solidarisch gestalteten Ökonomie ist das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen. Neue soziale Formen können entwickelt werden. Die Geschichte ist nicht am Ende, sie ist offen und geht weiter.“
(Altvater 2006, 21)
Anstelle einer auf soziale Spaltung und ökonomische Vorteilsnahme setzenden kapitalistischen Gesellschaft ist in allen Weltregionen, ansetzend am gesellschaftlichen Ist-Zustand, Schritt für Schritt eine Gesellschaft zu entwickeln, bei der die Ökonomie für die Gesellschaft da ist und nicht umgekehrt. Altvaters Bezeichnung einer derartigen Gesellschaft als solar-solidarische Gesellschaftsform trifft dies bereits gut.
Steuernder Ansatz zu einer nachhaltigen Produktionsweise
Hierzu gehört natürlich auch eine Orientierung industrieller und landwirtschaftlicher Produktion an dem Gedanken der Nachhaltigkeit. Dies ließe sich über ein effektiveres System international zu vergebender Umweltzertifikate, über eine ökologisch orientierte Besteuerung und eine entsprechende Preispolitik gewährleisten. Auch sind zeitnahe Grenzen festzusetzen, ab denen es nicht mehr erlaubt ist, Öl und Kohle für die Verbrennung zur Energiegewinnung aus der Erde zu holen.
Neben einem wirksameren Handel mit Emissionszertifikaten gibt es eine weitere internationale ökonomische Strategie mit Staaten umzugehen, die sich den aus der Klimakrise entstehenden Verpflichtungen zu entziehen versuchen.
Der US-amerikanische Träger des Nobelpreises für Wirtschaft des Jahres 2015, William Nordhaus, wendet sich zunächst dagegen, dass internationale Klimakonventionen grundsätzlich wirkungslos seien –so Nordhaus (2020):
„In light of the failure of past agreements, it is easy to conclude that international cooperation on climate change is doomed to fail. This is the wrong conclusion. Past climate treaties have failed because of poor architecture. The key to an effective climate treaty is to change the architecture, from a voluntary agreement to one with strong incentives to participate.“
Kernpunkt einer derartigen verbindlichen Architektur eines Klimavertrags ist die Bildung von zwischenstaatlichen Kooperationspartnern (‚Climate Clubs‘), die sich auf gemeinsame Standards und Regeln sowie auf Preise für CO2-Emissionen verständigen. Wenn sich nun andere Staaten außerhalb dieses ‚Climate Club‘ nicht an dessen klimaschonende Standards und Regeln halten, müssen sie für ihre Exportprodukte einen wirksamen Steueraufschlag zahlen. In diesem Fall lohnt es sich für diese Staaten nicht mehr, als ‚free riding nations‘ umweltfeindlich zu produzieren. Die Verständigung der Club-Staaten auf gemeinsame ökologische Schutzzölle hätte somit einen erheblichen auf die Bekämpfung der Klimakrise bezogenen systemischen Hebeleffekt. Dies sei – so Nordhaus (2020) einer von mehreren effektiven Wegen zu einer verbindlichen Vertragsarchitektur zu kommen:
„There are many steps necessary to slow global warming effectively. One central part of a productive strategy is to ensure that actions are global and not just national or local. The best hope for effective coordination is a Climate Club – a coalition of nations that commit to strong steps to reduce emissions and mechanisms to penalize countries that do not participate. Although this is a radical proposal that breaks with the approach of past climate negotiations, no other blueprint on the public agenda holds the promise of strong and coordinated international action.“
Natürlich können mit Strafzöllen belegte Staaten mit Gegenzöllen reagieren, doch wenn mehrere größere Staaten und auch transnationale Zusammenschlüsse, wie z.B. die EU, zu diesen gemeinsamen Absprachen finden, dann dürfte es einem einzelnen Staat schwerfallen, sich gegen eine derartige Wirtschaftsmacht zu stellen. Auch müsste möglicherweise über Ausgleichszahlungen an ärmere Länder für eine Übergangszeit nachgedacht werden, damit dies auch klimagerecht vorgenommen wird (vgl. auch Schieritz 2021).
Gemeinwohlökonomien stärken
Kommunitäre Formen solidarischer Ökonomie stellen die radikalste Form einer Systemtransformation auf lokaler Ebene dar. Hier leben und arbeiten Menschen gemeinschaftlich, ohne diese Ebenen voneinander zu trennen. Die hier lebenden und arbeitenden Menschen erwirtschaften einen Wert, an dem sie zu gleichen Teilen beteiligt sind. Oftmals sind sie auch dem Gedanken kommunitärer Demokratie und ökologischer Nachhaltigkeit in ihrem Handeln verpflichtet. Die Bewegung kommunitärer Formen solidarischer Ökonomie beginnt sich zunehmend auch international zu vernetzen. [3]
Der Ansatz der maßgeblich von Christian Felber entwickelten Gemeinwohl-Ökonomie kann in diesem Zusammenhang ebenfalls eine Alternative anbieten und ihm ist eine weitere Verbreitung zu wünschen. Kurz zusammengefasst geht es hierbei darum, so zu produzieren bzw. Dienstleistungen zu erstellen, dass in den Bereichen ökologischer Nachhaltigkeit, sozialer Gerechtigkeit, Menschenwürde, Solidaritätund demokratischer Mitbestimmung/Transparenz positive Leistungen erzielt werden. Gemeinwohlorientierte Unternehmen sollten dann auch Steuervorteile erhalten. Auch das Bankenwesen sollte Vorteile bei der Kreditvergabe für gemeinwohlorientierte Unternehmen einräumen, bzw. es sind spezielle Banken für zertifizierte gemeinwohlorientierte Unternehmen oder entsprechende Unternehmensgründungen einzurichten. Hierdurch wird sich eine friedliche und schrittweise Transformation des Kapitalismus von einer ökonomischen Ausbeutungsgesellschaft hin zu einer sich weltweit ausbreitenden Gesellschaftsform versprochen, die nicht der Profitrate weniger Reicher sondern dem Gemeinwohl aller Menschen dient – so Felber im Rahmen des Konzepts der Gemeinwohlökonomie (2018, 8):
„Die Wirtschaft muss menschlicher, sozialer, verteilungsgerechter, nachhaltiger, demokratischer – rundum ethischer werden: gemeinwohlorientierter.“
Die Weltökonomie und die Friedensthematik sind in einem Zusammenhang zu sehen. Wenn die soziale Schere weltweit aufgrund der dem Gemeinwohl entgegen gerichteten Aktivitäten multinationaler Konzerne und spekulierender Hedgefonds sowie einer dies unterstützenden neoliberal orientierten Wirtschaftspolitik immer weiter auseinandergeht, kann es keinen Frieden in den verschiedenen Regionen geben. Die gewaltigen sozialen Unterschiede, die aus den verschiedenen Positionen im Produktions-. und Dienstleistungsprozess resultieren, sind in dieser Größenordnung äußerst ungerecht, führen zu sozialen Spannungen, begünstigen durch Armut induzierte Kriminalität, führen zu Massenmigration und liefern gerade auch in den ärmeren Weltregionen dem Terrorismus eine förderliche Grundlage.
Human Development Index (HDI) anstelle des Bruttoinlandsprodukts (BIP)
Das Bruttoinlandsprodukt und ebenso das Bruttoweltprodukt sind kein sich verselbstständigender ökonomischer Maßstab mehr, da hiermit ein unreflektiertes Wirtschaftswachstum zum Bezugspunkt der volkswirtschaftlichen Leistung wird. Sogar Umweltzerstörung, wie z.B. die Havarie eines Öltankers, geht über zu bepreisende Versuche zu deren Beseitigung positiv in die Bilanz ein. Externe Effekte, wie z.B. die Zunahme von Klimagasen in der Atmosphäre, werden hingegen nicht berücksichtigt. Bei zunehmender sozialer Ungleichheit kann zudem das Bruttoinlandsprodukt bzw. das Bruttoweltprodukt wachsen und gleichzeitig kann es der Mehrheit der Bevölkerung immer schlechter gehen.
Joseph Stiglitz schlägt daher vor, an die Stelle des Bruttoinlandsprodukts den HDI (Human Development Index) des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen als volkswirtschaftliche Messgröße zu verwenden, da hier im Unterschied zum BIP auch Gesundheit, Bildung und die Einkommensverteilung Berücksichtigung finden:
„Ziel der volkswirtschaftlichen Produktion ist es, das Wohlergehen der Mitglieder einer Gesellschaft zu steigern, wie auch immer dieses definiert wird. Nicht ein Maß allein kann die Komplexität der Vorgänge in einer modernen Gesellschaft erfassen, doch die Kenngröße BIP versagt in einer ganz entscheidenden Weise. Wir brauchen Messgrößen, die das individuelle Wohlfahrtsniveau erfassen (Maße des medianen Einkommen sind viel aussagekräftiger als Maße des Durchschnittseinkommens), Kennziffern der Nachhaltigkeit (die zum Beispiel die Erschöpfung von Ressourcen und die Verschlechterung der Umwelt sowie die Erhöhung von Schulden erfassen) sowie zur Situation in Sachen Gesundheit und Bildung.“
(Stiglitz 2010, 356)
Dies bedeutet eine Loslösung vom einseitigen Interessen dienenden Wachstumsdenken hin zu einem Verständnis weltwirtschaftlicher Entwicklung, welche die Verantwortlichkeit für die Biosphäre und das Wohlergehen der darin Lebenden zum prioritären Ziel erklärt.
Es wird sogar notwendig sein, Nullwachstum und sogar Negativwachstum anzustreben, wenn gleichzeitig darauf Wert gelegt wird, die Grundbedürfnisse aller Menschen zu befriedigen, Ressourcenverbrauch abzubauen und die Produktion sinnloser und nicht notwendiger Produkte zu vermeiden.
Kennzeichen einer Postwachstumsökonomie
Hierbei sind wesentliche Elemente der beispielsweise u.a. vom Nachhaltigkeitsforscher Nico Paech (2018) angedachten Postwachstumsökonomie zu berücksichtigen, wie z.B. der Rückbau eines größeren Teils ökologisch belastende und unsinnige Produkte herstellender industrieller Fertigungsanlagen, die Regionalisierung von Produktion und Konsumtion bei gleichzeitiger Verkürzung der Transportwege, eine lokale Subsistenzwirtschaft zur Selbstversorgung u.a. in kommunitärer Form, Energieeinsparung und Dezentralisierung der Energieversorgung, aufgrund der digitalisierten Produktion eine deutliche Reduktion der Lohnarbeitszeit bei gleichzeitiger Erhöhung der in die Eigenwirtschaft eingebrachten Arbeitszeit sowie die Befreiung von unnötigem Konsumballast durch partiellen Konsumverzicht. [4]
Schaut man genauer hin, müssten im Rahmen einer Postwachstumsökonomie manche Bereiche weiterwachsen, andere deutlich verringert werden, insgesamt aber eine Umkehrung des Wachstumstrends erzielt werden – so die Soziologin Silke van Dyk (2017):
„Soziale Dienstleistungen und Sorgetätigkeiten sollten weiterwachsen, hier haben wir nicht zu viel, sondern zu wenig. In der fossilen Energieproduktion ist es besonders wichtig, dass wir schrumpfen. Die Frage ist, wo kann es gelingen, aus den Wachstumszwängen des Kapitalismus auszusteigen. Er ist ein System, das allein, um stabil zu bleiben, auf permanente Steigerung angelegt ist. Hier liegt das Problem: Alles Wirtschaften schließt Stoff- und Energietransformationen ein – das kann in einer Welt mit begrenzten Ressourcen nicht unbegrenzt funktionieren. Und die Effizienzversprechen eines grünen Kapitalismus sind vollkommen illusorisch.“
Da die ökonomischen Strukturen sich längst neoliberal globalisiert haben, muss auch auf der globalen Ebene auf ökonomische Ungleichgewichte reagiert werden: Marktwirtschaft und Handel müssen möglich sein, aber nach strengen Regeln und einem sozialverantwortlichen und ökologisch vertretbaren Ordnungsrahmen funktionieren. Finanzspekulationen, wie Wetten auf die Entwicklung von Zinssätzen oder Aktienkursen, werden verboten. Im Übrigen sind Finanzspekulationen mit wirksamen Finanztransaktionssteuern zu belegen, damit die finanziellen Ressourcen von Banken und Fonds wieder in die Realwirtschaft fließen.
Die Akteure, Institutionen, Gruppen und Initiativen, die diesen radikalen Wandel anstreben, haben die Verantwortung, sich an gewaltfreie Mittel des Wandels zu halten, um sicherzustellen, dass ihre Ziele einer nachhaltigen und gerechten Zukunftsgesellschaft nicht durch gewalttätige Aktionen und Entwicklungen gefährdet werden, die zu einem Kontrollverlust und zur gesellschaftlichen Barbarei führen können.
Die Akteure haben dann die größten Erfolgsaussichten, wenn sich Wissenschaftler und Lohnabhängige sowie Menschen, die insbesondere auf das Gemeinwohl angewiesen sind, beteiligen, da sie die Notwendigkeit der Veränderung am intensivsten erfahren.
Die Rolle der Vereinten Nationen im Zuge der ökonomischen Neuordnung
Große Wirtschaftskonzentrationen und -verflechtungen müssen unter Leitung der entsprechenden UN-Sonderorganisationen entflochten und gezähmt werden. Internationale Konzerne sind transnational zu enteignen und zu verstaatlichen, d.h. unter die Aufsicht und Leitung der entsprechenden Fachorganisationen der UN zu stellen, wenn sie gegen die Prinzipien der UN, z.B. die an Nachhaltigkeitskriterien orientierte Produktion und Distribution oder gegen das Verbot von Waffenexporten in Spannungsgebiete, verstoßen.
Auch die Rechte der Arbeitnehmer_innen in den Unternehmen sind weltweit durchzusetzen. Dazu gehören die Freiheit zur gewerkschaftlichen Betätigung und die Einrichtung von Betriebsräten – Errungenschaften, die nur in manchen Weltregionen und auch dort nur z.T. in Ansätzen vorhanden sind.
Weltweit sind über die Koordination des Wirtschafts- und Finanzrats der Vereinten Nationen Steuerkorridore einzurichten, deren Varianz an der Bedürftigkeit der jeweiligen Region orientiert ist und eine festgelegte Schwankungsbreite hat. Hierdurch werden die globalen Steuerschlupflöcher geschlossen und Gewinne und Gehälter werden gerechter versteuert. Dies schließt ebenfalls eine Mindeststeuer von z.B. 20% oder 25% für multinationale Konzerne ein, um das Steuerdumping von Staaten und die indirekte Steuerhinterziehung der Konzerne zu vermeiden.
Nationale Zölle sind nur auf Antrag an den Wirtschafts- und Sozialrat der UN bzw. dessen dafür vorgesehene Sonderorganisationen für den Fall zu genehmigen, dass ein Land einen ökonomischen Entwicklungsnachteil auszugleichen hat und dessen Produktion über Schutzzölle zu begünstigen ist. Strafzölle im nationalen Alleingang sind zu verbieten, sind nur durch demokratische Beschlüsse der Vereinten Nationen im Falle fortgesetzter Regelverletzung eines Staates weltpolizeilich zu verhängen.
Währungsspekulationen, die ganze Regionen in einen gesellschaftlichen Abwärtsstrudel reißen können, werden unmöglich, indem – in längerfristiger Perspektive – eine von den Vereinten Nationen herausgegebene und kontrollierte Weltwährung eingeführt wird. Krypto-Währungen sind durch die Vereinten Nationen zu verbieten, da sie intransparent und spekulativ sind.
Der neoliberalen Globalisierung ist ein Konzept nachhaltiger und gemeinwohlorientierter Entwicklung gegenüberzustellen, das für die Versorgungssicherheit für alle mit den Allmende-Gütern Wasser, Luft, Boden und Nahrung sorgt – so Peter/Moegling (2005, 27):
„Während der Neoliberalisierungsprozess enteignet, eignet der Prozess nachhaltiger Entwicklung an. So lautet die politische Forderung der Nachhaltigkeit noch immer: Sozialisierung und Demokratisierung derjenigen Schlüsselbereiche und gemeinnützigen Güter, die Grundlage für das Leben der Völker sind: primäre Ressourcen wie Wasser, Boden, Luft, Nahrungsmittel und sekundäre Ressourcen wie z.B. Gesundheitsangebote und Bildung. Insbesondere der Bildung kommt hierbei eine zentrale Rolle zu: Prozesse der Nachhaltigkeit sind auf ein hohes Bildungspotenzial seiner Träger angewiesen.“
Bereits existierende Formen solidarischer Ökonomie [5] und die Verbreiterung und Vernetzung dieser Bewegung könnten die Keimzellen einer neuen Gesellschaft werden, die sich mit gewerkschaftlichen Organisationen, mit auf Demokratisierung drängenden NGO’s, mit Umweltinitiativen sowie der internationalen Friedensbewegung verbinden. Eine neue Gesellschaft kommt nicht wie zufällig daher, sondern baut sich bereits in der alten Gesellschaft auf. Wenn die Unzufriedenheit der Menschen im Zuge von Wirtschafts- und Finanzkrisen, brutaler kapitalistischer Ausbeutung und ungerechter Vermögensverteilung im globalen Maßstab ansteigen wird, dann werden überall, in allen Regionen und Orten der Erde Initiativen solidarischer und ökologischer Ökonomie und die Wiederaneignung von Land, Produktion und Wertschöpfung in eine für sie günstige Zeit eintreten.
Hiermit wird auch der gesellschaftliche Druck auf die Institutionen der Politik – auch über veränderte Wahlergebnisse – steigen, sich gegen den Widerstand der Hedge-Fonds, der internationalen Konzerne, der Großbanken sowie der Superreichen durchzusetzen und sich für alternative Politikkonzepte zu öffnen.
Transformation der Rüstungsindustrien
Zentral für die ökonomischen Grundlagen des Friedens wird die Rüstungskonversion sein, d.h. die Umwandlung des größten Teils der nationalen Rüstungsproduktion in Friedensproduktion. Waffen und technische Sicherungssysteme sind nur für weltpolizeiliche Einrichtungen und Maßnahmen unter der Kontrolle der UN zu produzieren. Die nukleare Bewaffnung erlebt ihr Ende; alle Atomwaffen werden verboten, abgebaut und entsorgt.
Hierzu gehört, dass einer ausufernden privatwirtschaftlich organisierten Rüstungsindustrie Schritt für Schritt die finanzielle Grundlage entzogen wird. Dies geschieht im Zuge der Entmilitarisierung der einzelnen Nationen und Regionen dadurch, dass die öffentlichen Abnehmer, die Nationalstaaten, wegbrechen. Die von den UN kontrollierten Bereiche der internationalen Rüstungsindustrie, die für die notwendige Ausrüstung der UN-Polizeiorgane und des UN-Militärs weiterhin erforderlich sind, werden hinsichtlich der notwendigen Finanzierungskosten nur noch einen Bruchteil des bisherigen nationalstaatlichen Finanzierungsaufwandes benötigen. Hierdurch entsteht eine enorme Friedensdividende, die Investitionsprogramme für gemeinwohlorientierte, ökonomische Projekte, für soziale und ökologische Zielsetzungen finanzierbar werden lässt.
Aber auch Banken müssen dazu bewegt und möglicherweise gezwungen werden – und sei es durch den massenhaften Druck ihrer Kunden – aus der Finanzierung militärischer Rüstungsprojekte auszusteigen. So sind beispielsweise norwegische und niederländische Pensionsfonds bereits jetzt aus der Finanzierung der militärisch genutzten Atomtechnologie ausgestiegen. In den USA und in Deutschland beispielsweise – so ICAN – finanziert eine Vielzahl von Banken noch immer Projekte atomarer Rüstungspolitik. [6]
Überwindung der Rüstungsexportbestimmungen durch die Rüstungskonzerne
Weltweit wird derzeit gegen die internationalen und nationalen Selbstverpflichtungen gegen Waffenexporte in Spannungsgebiete verstoßen. Staaten der Europäischen Union und dort insbesondere Deutschland bilden hier keine Ausnahme – im Gegenteil: Sie sind führende Waffenexporteure und schrecken auch nachweisbar nicht vor der Waffenlieferung in Spannungsgebiete zurück.
Eine Greenpeace-Studie z.B. zur deutschen Rüstungsexportpolitik bringt die Verfassungswidrigkeit eines solchen Regierungsverhaltens für Deutschland auf den Punkt:
„Trotz des prinzipiellen Friedensgebots im Grundgesetz in Artikel 26 Abs. 1 exportiert Deutschland Kriegswaffen und Rüstungsgüter an umstrittene Drittstaaten. Rüstungsexporte an Drittstaaten aus Deutschland sind zum Regelfall geworden – in den vergangenen zehn Jahren gingen wiederholt bis zu 60 Prozent deutscher Kriegswaffen und Rüstungsgüter an Drittstaaten.“ [7]
Hierüber hinaus werden verschiedene Strategien von Seiten der Rüstungsindustrie eingesetzt, um vorhandene Exportbeschränkungen zu umgehen:
· Lobbytätigkeit, formale Beantragung des Waffenexports und Versuch hierdurch eine Genehmigung durch das Bundeswirtschaftsministerium bzw. im Bundessicherheitsrat zu erhalten;
Bei einem Misserfolg im offiziellen Genehmigungsverfahren:
· Auslagerung der Produktion in Staaten, die gelockerte Exportrichtlinien haben;
· Umgehung der Exportauflagen über eine Lieferung in andere Länder der EU, der NATO oder in die der NATO-Mitgliedschaft gleichgestellte Staaten, die dann in das Spannungsgebiet liefern;
· Aufbau von Waffenfabriken direkt im Spannungsgebiet als Joint-Ventures, um Waffenexportbeschränkungen zu umgehen;
· Auslieferung von einzelnen Teilen, die im Zielland zusammengesetzt werden,
· Lieferung von dual einsetzbaren Gütern in Spannungsgebiete, z.B. Lieferung von Militär- LKW’s, auf die dann Lafetten mit Maschinengewehren zur Aufstandsbekämpfung montiert werden oder von Schnellbooten, die dann vor Ort mit MGs ausgerüstet werden, um Hafenembargos durchzusetzen.
Die Greenpeace-Studie bestätigt noch einmal zusammenfassend die Internationalisierungs-strategie der Rüstungsindustrie am Beispiel des internationalen Rüstungskonzerns Rheinmetall mit dem Blick auf die Bedeutung der Produktion und Lieferung von Munition:
„Munition spielt aber nicht nur für die Funktionsfähigkeit von Klein- und Leichtwaffen eine Rolle, sondern auch als ein breites Spektrum für Land-, See- und Luftstreitkräfte beispielsweise in Form von Munition für Panzer, Haubitzen, Artilleriewaffen oder als Schiffsgeschütze. Gerade am Thema der Munitionsproduktion lässt sich ein weiteres Muster deutscher Rüstungsexportpolitik erkennen, nämlich die Inkaufnahme eines Trends zur Internationalisierung deutscher Rüstungsunternehmen. Joint-Ventures wie das der Firma Rheinmetall in Südafrika, die mit der Übernahme von Denel einen neuen Standort gründete, zielen auch darauf ab, die konflikt- und spannungsträchtigen Länder der MENA-Region, Lateinamerikas und Süd(ost)asiens mit Munition zu versorgen.“ [8]
Forderungen zur Kontrolle der Rüstungsexporte
Resultierend aus der hier vorgenommenen Analyse der Rüstungsexporte ist Folgendes zu fordern, will man sich tatsächlich an die normativen Ansprüche der internationalen und nationalen Regelungen für Waffenexporte halten:
1. Beendigung aller Waffenexporte in Spannungsgebiete: Hierfür müssen der Àrms Trade Treaty‘ der UN (ATT), der ‚Gemeinsame Beschluss des Rats der EU‘ sowie die nationalen Bestimmungen um verbindliche Kontrollmechanismen und empfindliche Sanktionsmöglichkeiten ergänzt werden. Einschränkungen und Ausnahmen, die Waffenexporte in Spannungsgebiete ermöglichen, sind zu beseitigen. Die diesen Prozess überwachenden Expertengruppen müssen von parlamentarischen Kommissionen kontrolliert werden, die der gesamten UN-Generalversammlung über ihre Arbeit und Ergebnisse Bericht erstatten müssen.
2. Auf europäischer Ebene ist zu fordern, dass ein Sonderbeauftragter mit ausreichend personellen und finanziellen Ressourcen ausgestattet die Waffenexporte aus der EU genauestens beobachtet und kontrolliert und ein Veto-Recht sowohl für Waffenexporte als auch für Technologieexporte sowie für Joint-Ventures in Spannungsgebiete besitzt.
3. Für die Bundesrepublik Deutschland ist ein strenges Waffenkontrollgesetz zu fordern, das die gegenwärtigen unterschiedlichen und z.T. unübersichtlichen rechtlichen Regelungen stringent zusammenfügt und zu einem transparenten und verbindlichen Gesetz entwickelt.
4. Es ist die Möglichkeit von Postshipment-Kontrollen mit dem Überprüfungsrecht für das Ausfuhrland und dies als europäischer Standard einzurichten.
5. Es ist die rechtliche und vertragliche Grundlage zu schaffen, dass auch bereits erteilte Genehmigungen von Rüstungsexporten zurückzuziehen sind, wenn sich die Situation im Empfängerland zum Negativen verändert.
6. Es dürfen keine Bankkredite und keine staatlichen Hermes-Bürgschaften für Rüstungsexporte in Spannungsgebiete gewährt werden.
Auf der Ebene der UN ist eine Stärkung der Kontrollfunktion vorzusehen, wenn nationalstaatliche und regionale Kontrollen versagen. In diesem Zusammenhang sind dann auch Wirtschaftssanktionen und weitere Maßnahmen gegen Staaten vorzusehen, wenn aus ihnen Waffen in Spannungsgebiete transportiert werden.
Um dies zu erreichen ist jedoch eine Demokratisierung der Vereinten Nationen erforderlich, die u.a. mit einer Reform des UN-Sicherheitsrats sowie einer Einrichtung eines demokratisch gewählten UN-Parlaments verbunden sein müsste. Ansonsten würden die Kontrollen und Sanktionen von denjenigen Staaten blockiert, die wiederum selbst die größten globalen Waffenexporteure sind.
Wichtig wäre in den verschiedenen Nationalstaaten auch eine Erhöhung des zivilgesellschaftlichen Drucks, indem gerichtsfeste, von Initiativen und NGOs, wie z.B. Greenpeace oder Transparency International, unterstützte Klagen gegen Waffenexporte in Spannungsgebiete vorgenommen werden, die sich auf den ATT, auf den Gemeinsamen Europäischen Standpunkt oder auf nationale Verfassungen wie z.B. dem deutschen Grundgesetz beziehen. Im deutschen Grundgesetzartikel 26 (1) u. (2) heißt es beispielsweise – neben der Genehmigungspflichtigkeit von Waffenexporten – dass „Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören (…) unter Strafe zu stellen“ sind (Art. 26 (1)). Und: Deutsches Grundgesetz Artikel 20 (4): "Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht auf Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist."
Eine derartige gerichtliche Klage kann sich sowohl gegen spezielle Rüstungskonzerne und Waffenhändler als auch gegen Waffenexporte in Spannungsgebiete genehmigende Regierungsmitglieder richten. Neben der Öffentlichkeitswirkung einer solchen Klage in den Medien könnte auch bereits die Durchführung eines derartigen Prozesses und die Notwendigkeit der eigenen Beteiligung der verantwortlichen Akteure für diese eine abschreckende Wirkung haben.
Waffenexporte generell verbieten?
In einem weiteren Schritt ist zu fragen, ob nicht Waffenexporte grundsätzlich verboten werden sollten. Dies würde existierende und zukünftige militärische Auseinandersetzungen austrocknen und den friedenschaffenden Aktivitäten der Vereinten Nationen ein größeres Gewicht geben.
In diesem Zusammenhang hört man sogleich das Argument: Wenn wir den Waffenexport stoppen, springen sofort andere Staaten und Rüstungskonzerne ein.
Mit dem gleichen Argument könnte man allerdings auch den Drogenanbau bzw. die chemische Herstellung synthetischer Drogen und den Drogenhandel in Deutschland erlauben. Auch hier handelt es sich um eine Ökonomie des Todes. Beide Ökonomien – Drogenhandel und Handel mit Waffen –sind besonders profitträchtig.
Dann wird häufig argumentiert: Beispielsweise ein Land wie Deutschland habe nur einen Anteil von 6% der weltweiten Rüstungsexporte und daher wäre ein Verzicht auf Waffenexporte nur unbedeutend.
Hiergegen ließe sich argumentieren: Wenn Deutschland ein Signal setzen würde, hätte dies eine Wirkung mit Ausstrahlungskraft und deutsche Forderungen nach dem Stopp von Waffenexporten wären glaubhaft.
Auch wird immer wieder argumentiert, es würden Arbeitsplätze durch die Beschädigung der Rüstungsindustrie vernichtet.
Hier ist zunächst noch einmal zu betonen, dass nicht alles produziert werden darf, was produziert werden kann, zumal wenn es gesellschaftlich und auch ökologisch schädlich ist. Außerdem gibt es eine Reihe von Möglichkeiten der Rüstungskonversion, die bereits konzeptionell entwickelt sind und mit denen sich die Rüstungsindustrie, auch in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften, endlich einmal ernsthaft beschäftigen müsste. Es geht hierbei um die Umstellung der Produktion auf gesellschaftlich nützliche und sozialökologisch verantwortliche Güter.
Die Umstellung der Rüstungsproduktion auf zivile, friedliche Güter einerseits und die Umlenkung staatlicher Gelder in die Förderung helfender und unterstützender Berufe, z.B. im Pflegebereich oder zur Beseitigung militärbedingter ökologischer Schäden[9], sind gute Beispiele für eine Konversion einer Kriegsbranche in eine Friedensindustrie sowie der vernünftigen Verwendung öffentlicher Ressourcen. Hierüber hinaus werden hier mehr Arbeitsplätze entstehen können, als diese im Bereich der Rüstungsindustrie erhalten bleiben.
Europäische Lösungen
Ein erster Zwischenschritt und eine strategische Forderung könnten darin liegen, Waffenexporte grundsätzlich nur noch in die EU und nicht mehr von der EU nach außen vorzunehmen. Damit würde auch die Frage nach den Waffenexporten in Spannungsgebiete weitgehend entfallen.
Solange eine internationale Abrüstung noch nicht auf den Weg gebracht werden kann, könnte in deutlicher Abwendung zu den kostensteigernden Vorgaben der ‚Permanent Structured Cooperation‘ (PESCO) zumindest auf europäischer Ebene eine nationalstaatliche Abrüstung erfolgen, indem die Verteidigungsbemühungen auf der EU-Ebene gebündelt und damit ein deutlich verringerter Einsatz von Ressourcen zu planen ist. Dies würde eine bewusste Abkehr von der 2%-BIP-Doktrin der NATO bedeuten. Hierbei könnte eine in ihrer Bedeutungszuschreibung deutlich veränderte ‚European Defensive Agency‘ (EDA) eine führende Rolle spielen.
Die EDA ist eine zwischenstaatliche Agentur, die dem Rat der Europäischen Union untergeordnet ist. Sie könnte im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) mit dem erklärten Ziel der Reduktion der europäischen Verteidigungskosten ausgebaut werden – gegenüber der bisher weitgehend isolierten und sehr teuren nationalstaatlichen Technologieentwicklung. Die GSVP müsste parallel dazu weiterentwickelt werden, um eine gemeinsame Verteidigungspolitik zulasten nationalstaatlicher Aufrüstung und Verteidigungsbereitschaft zu erreichen. Hieraus könnte eine europäische Friedensdividende gekoppelt mit einer Intensivierung auf Diplomatie beruhender EU-Außenpolitik resultieren, die auf dem Abbau von Feindbildern, z.B. gegenüber Russland und China, beruht. Allerdings muss hierbei über entsprechende Beschlüsse, z.B. des EU-Parlaments, gewährleistet sein, dass die GSVP nicht für eine weitere Aufrüstung genutzt wird, sondern im Sinne einer verbesserten friedensorientierten Politik definiert wird, um ein internationales System der Beilegung von Konflikten auf der Basis gegenseitiger Verhandlungen und Vereinbarungen zu etablieren. Dies bedeutet dann eine politisch gewollte Abwendung ebenfalls von den Vorstellungen der PESCO zur mittelfristigen Steigerung der Verteidigungsausgaben von 20% für alle beteiligten EU-Staaten. [10] Es würde hingegen priorisiert, eine internationale Friedensordnung zu schaffen, die die Sicherheitsinteressen aller Staaten, egal wie mächtig sie sind, respektiert.
Abschließend zur Frage der Umsteuerung in der Rüstungspolitik sollte der damals um die Beendigung des Korea-Kriegs bemühte US-Präsident Dwight Eisenhower in einer Rede am 16.4.1953 zu Wort kommen:
„Every gun that is made, every warship launched, every rocket fired signifies, in the final sense, a theft from those who hunger and are not fed, those who are cold and are not clothed.
This world in arms is not spending money alone.
It is spending the sweat of its laborers, the genius of its scientists, the hopes of its children.
The cost of one modern heavy bomber is this: a modern brick school in more than 30 cities.
It is two electric power plants, each serving a town of 60,000 population. It is two fine, fully equipped hospitals.
It is some fifty miles of concrete pavement.
We pay for a single fighter plane with a half million bushels of wheat.
We pay for a single destroyer with new homes that could have housed more than 8,000 people. (…) This is not a way of life at all, in any true sense. Under the cloud of threatening war, it is humanity hanging from a cross of iron.“ [11]
Es ist daher für die gegenwärtige politische Auseinandersetzung im Rahmen eines Gesellschaftssystems mit demokratischem Selbstanspruch für die jeweils anstehenden Wahlen notwendig, dass überprüft wird, ob sich Parteien entschieden gegen Waffenexporte in Spannungsgebiete positionieren und glaubhaft eine konsequente Friedenspolitik vertreten. Demokratische Parteien, die grundsätzlich für die Abschaffung aller Waffenexporte aus der EU und auch für die Reduktion der nationalen Rüstungsausgaben eintreten, wären dementsprechend dann von den an Kriegsprävention und Friedenssicherung interessierten Wählerinnen und Wähler besonders zu unterstützen.
Der Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 zeigt jedoch, dass es eine Ausnahme für Waffenexporte in Spannungsgebiete geben sollte: Wird ein Staat von einem anderen Staat angegriffen und muss er sich gegen den Aggressor verteidigen, so liegt hier eine Notsituation vor, die im Sinne der UN-Charta auch Waffenlieferungen zulässt. Versagen alle diplomatischen und auf Verhandlung basierenden Schritte, ist der Widerstandskampf des angegriffenen Staates mit Waffenlieferungen mit Augenmaß zu unterstützen. Besser wäre es allerdings, wenn eine funktionsfähige UN hier weltpolizeilich einschreiten könnte. Auf jeden Fall dürfen weder die UN noch transnationale Organisationen wie die EU dabei untätig zusehen, wie ein anderer Staat vernichtet und eine Bevölkerung von einem militärischen Aggressor abgeschlachtet wird. Hier muss diesem Staat durch die Weltgemeinschaft auch militärische Hilfe geleistet werden – wohl wissend, dass hierin die Gefahr einer militärischen Eskalation besteht. Daher muss die militärische Stärkung des angegriffenen Staates auch immer intensiv und wirkungsvoll von glaubhaften Verhandlungsangeboten begleitet werden, die im Falle eines Friedensschlusses die Rücknahme von Sanktionen und von Waffenlieferungen sowie Regelungen zu Reparationszahlungen und Maßnahmen internationaler Gerichtsbarkeit für die Verfolgung von Kriegsverbrechen vorsehen.
Wie fragwürdig ist es hingegen von Seiten weltweit rechtspopulistisch argumentierender Politiker, sich über die Anzahl der Flüchtlinge im eigenen Land zu ereifern, aber mit dem Argument der zu erhaltenden Arbeitsplätze in der Rüstungsindustrie für Waffenexporte in Spannungsgebiete einzutreten. Hierdurch wird dazu beigetragen, dass immer mehr Menschen aus den Spannungsgebieten fliehen müssen - insbesondere in die Regionen des reichen Nordens, aus der die ihre Heimat destabilisierenden Waffen stammen.
Mayors for Peace
Eine weitere friedenspolitische Initiative, die zur Beendigung der Nuklearwirtschaft und der Produktion, Lagerung und Stationierung von Atomwaffen aufruft, wurde 1982 eingeleitet, als der damalige Bürgermeister von Hiroshima die Bürgermeister und die Städte der Welt aufrief, die nationalstaatlichen Grenzen zu überschreiten, sich zusammenzuschließen und Druck auf die Atomwaffenindustrie und auf Staaten mit Atomwaffen auszuüben. Aus diesem Aufruf und verschiedenen Kooperationsvorhaben und Konferenzen von Bürgermeistern im internationalen Maßstab ging 2001 die NGO ‚Mayors for Peace‘ hervor. Sie beschreibt ihre weitgehende Mission wie folgt:
„The purposes of the ‘Mayors for Peace‘ are to contribute to the attainment of lasting world peace by arousing concern among citizens of the world for the total abolition of nuclear weapons through close solidarity among member cities as well as by striving to solve vital problems for the human race such as starvation and poverty, the plight of refugees, human rights abuses, and environmental degradation.“ [12]
Bis zum Februar 2021 haben sich inzwischen 8021 Bürgermeister aus 165 Staaten den ‚Mayors for Peace‘ angeschlossen. [13] Dies ist ein wichtiges friedenspolitisches Signal von gewählten und hierfür legitimierten Persönlichkeiten aus Städten der verschiedensten Weltregionen. Es ist des Weiteren ein Ausdruck der Diskussionen in einer Stadt und in den städtischen Gremien. Diese Bewegung gilt es auszubauen und von dieser dezentralen Ebene aus in Verbindung zu den zentralen Aktionen der gesamten NGO den Druck auf die Nuklearindustrie und die Regierungen der Atomstaaten zu erhöhen. Dementsprechend ist es auch die Aufgabe des friedenspolitisch engagierten Teils der Stadtbevölkerung, in ihrem kommunalen Kontext Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit zu leisten, mit lokalen Initiativen für den Frieden und den Schutz der Umwelt zusammenzuarbeiten, Gespräche mit ihren Stadtverantwortlichen und den zuständigen Gremien zu führen sowie Beschlüsse zu initiieren, den ‚Mayors for Peace‘ beizutreten und ihre Stadt in eine internationale städtische Friedensbewegung einzugliedern.
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Ziele der internationalen NGO ‚Mayors for Peace‘:
1. „Immediately de-alert all nuclear weapons. Even today, thousands of nuclear weapons around the world stand ready to launch on warning. This level of alert is madness, and stepping down is the quickest, easiest way to prevent an accidental nuclear holocaust.
2. Immediately start substantive negotiations toward a universal nuclear weapons convention. After repeated promises at NPT Review Conferences and other occasions by the nuclear-weapon states to eliminate their nuclear arsenals, we call on national governments to start substantive negotiations now to achieve a nuclear weapons convention.
3. Conclusion of a nuclear weapons convention. We call on national governments and other institutions to work toward the conclusion of a nuclear weapons convention that comprehensively prohibits the development, production, testing, stockpiling, or use of nuclear weapons and provides for their elimination.
4. Physical destruction of all nuclear weapons by 2020. The weapons can be destroyed. Fissile materials can be rendered unusable. Strict international control is technically feasible. A nuclear-weapon-free world is possible. [14]
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Des Weiteren ist durch nationale und internationale Gesetzgebung die Entwaffnung von privaten Organisationen und von Privatpersonen, die Kleinwaffen besitzen, ebenfalls Schritt für Schritt vorzunehmen. Hierbei müssen zunächst die Bestimmungen für den Waffenerwerb in internationaler Abstimmung verschärft werden. Letztendlich sind nach einer Übergangsphase alle Waffen in Privatbesitz abzugeben und zu vernichten bzw. als Rohstoffe für Friedensprodukte zu recyceln. Das Ausdrucken von Waffen über 3D-Drucker ist unter strenge Strafe zu stellen. Die Entwicklung von Killer-Robotern mit künstlicher Intelligenz ist weltweit zu verbieten. Universitäten dürfen keine Rüstungsaufträge annehmen (verbindliche Zivilklauseln). Private Militärfirmen, die Söldner vermieten, sind zu schließen. Wissenschaftler und Unternehmer, die chemische und biologische Waffen erfinden, sind anzuklagen und zu verurteilen. Der Schutz der Menschen hat Priorität vor den Profitinteressen der Waffenindustrie.
Zusammenfassung: Es wurde im Rahmen des vorliegenden Kapitels das Gegenmodell eines neoliberalen Raubtierkapitalismus entwickelt, das an den ethischen Prinzipien der Solidarität, ökologischer Nachhaltigkeit sowie Demokratie und Gerechtigkeit orientiert ist. Die Ökonomie muss dem Menschen dienen und nicht umgekehrt. Sie muss mit den planetaren Ressourcengrenzen kompatibel und an ökologischer Nachhaltigkeit orientiert sein. Eine sozialökologische Marktwirtschaft unter dem Primat einer derart verstandenen Gemeinwohlorientierung stellt einen deutlichen Systemwechsel dar. Wenn sich eine derartig sozialökologisch ausgerichtete und solidarisch gestaltete Marktwirtschaft auf der ökonomischen Ebene mit einer weiterentwickelten Demokratie auf der politischen Ebene verbindet, liegt eine schrittweise und friedliche Transformation des Kapitalismus auf der Systemebene vor. Diese eher lokalen, nationalen oder regionalen Prozesse sind durch eine Veränderung der weltwirtschaftlichen Strukturen, der Einrichtung von Steuerkorridoren, einer Entflechtung und Eindämmung der großen Konzerne sowie der Verhinderung unverantwortlicher Finanzspekulation von Seiten der entsprechenden Institutionen einer gestärkten und demokratisierten UN zu begleiten und zu kontrollieren.
Die Rüstungsindustrie wird streng kontrolliert und arbeitet im Rahmen der hier vorliegenden Vision [15] einer umfassenden Reform der UN ausschließlich und im wesentlich geringeren Produktionsumfang für die weltpolizeiliche Funktion der Vereinten Nationen. Hierdurch wird eine jährlich Billionen Dollar umfassende Friedensdividende frei, die für den Aufbau einer solidarischen Weltwirtschaft, für soziale Maßnahmen und für den Kampf gegen die ökonomisch verursachte Klimakrise genutzt werden kann.
Der hier angestrebte geordnete Systemwechsel unterscheidet sich deutlich von den Vorstellungen eines „Great Reset“, wie dies 2020 vom ‚World Economic Forum‘ (WEF) vorgeschlagen wurde. Die Covid-19-Krise müsse zu einem großen Umbruch genutzt werden, der zu einer Umsteuerung in ökologischer, wirtschaftlicher und politischer Hinsicht führen müsse, indem in der Unternehmenskultur an die Stelle des Shareholder-values das Stakeholder-value trete, so dass hier weitergehende Interessen berücksichtigt werden könnten. [16] Beim „Great Reset“ handelt es sich daher eher um eine notdürftige Reparatur des Kapitalismus, ohne dessen Grundprinzipien anzugreifen. WEF-Leiter Klaus Schwab selbst relativiert den systemverändernden Ansatz des „Great Reset“ und betont im Interview:
„Nein, der Kapitalismus ist nicht das Problem. Ich bin davon überzeugt, dass die unternehmerische Kraft jedes Einzelnen die Triebfeder für echten Fortschritt ist – und nicht der Staat. … Ich plädiere nicht für eine Systemänderung. Ich plädiere für eine Systemverbesserung.“ [17]
Hier werden also weder die Fragen nach der Begrenzung privatwirtschaftlichen Eigentums und der Auflösung bzw. Vergesellschaftung multinationaler Konzerne, noch nach dem zerstörenden Charakter kapitalistischen Profitstrebens und auch nicht die Frage nach einer entschieden gerechteren Verteilung gesellschaftlichen Reichtums gestellt. Aber gerade die Lösung dieser Fragestellungen ist entscheidend für die Lösung von globalen Problemen, wie der Zerstörung der natürlichen Mitwelt, der Erodierung demokratischer Systeme, dem Verlust der Lebensgrundlage für viele Menschen und der Flucht aus ihren angestammten Regionen sowie für die Zerstörung von Weltregionen durch Militär und Krieg.
Das strukturelle Grundproblem der kapitalistischen Wirtschaft und Gesellschaft ist die Kombination aus Privatbesitz, Mehrwertabschöpfung, Wettbewerb und Egoismus im Kampf um Vorteile auf Kosten der Konkurrenten. Dies ist ein strukturelles Hindernis auf dem Weg zu Kooperation, Solidarität, Verteilungsgerechtigkeit und ökologischem Verhalten, die die eigentliche Grundlage einer solar-solidarischen Gesellschaft (Altvater) und dafür sind, einen Weg zur Überwindung der zukünftigen Bedrohungen zu finden.
[1] Marx/Engels (1848/1983, 47).
[2] An dem Kapitel 4 hat u.a. Bernhard Trautvetter korrigierend und beratend mitgearbeitet. Seine englischsprachigen Übersetzungsvorschläge und weiterführenden inhaltlichen Überlegungen waren unentbehrlich für die Überarbeitung dieses Kapitels.
[3] Vgl. Kap. 3.2.
[4] Vgl. u.a. Paech (2012, 2018) und u.a. die Webseiten https://www.degrowth.info/de/sowie das Netzwerk Wachstumswende auf https://wachstumswende.de/, beide o.D., 1.12.2019.
[5] Vgl. zur Konzeption und Begründung solidarischer Ökonomie Altvater (2006, 203ff.), Felber (2018), Burkhart/Schmelzer/Treu, Konzeptwerk Neue Ökonomie (2017), Brand/Wissen 2017 u. 2021) und auch Kap. 3.2 im vorliegenden Buch.
[6] Vgl. die ICAN-Studie unter http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/atomwaffen-banken-investieren-milliarden-in-atomwaffen-produzenten-1.3894464,7.3.2018, 16.3.2018.
[7] Greenpeace (Hrsg.), 2020, a.a.O., 30.
[8] Greenpeace, 2020: a.a.O., 31f.
[9] Vgl. zur Rüstungskonversion u.a. Brandt, Götz/Peil, Karl-Heinz, 2010, Militär und sozial-ökologische Transformation. In: http://xn--umwelt-militr-mfb.info/userfiles/downloads/2020/2020-07_BzU32_Militaer-Konversion.pdf, Juli 2020, 74. [10] Vgl. zu den Gefahren einer anders gelagerten und Ausgaben steigernden europäischen Rüstungsstrategie Roithner (2020, 197ff. sowie kritisch über die Ausgabensteigerungen im Zuge der ‚Permanent Structured Cooperation (PESCO) bei Ruf (2020, 82ff.).
[11] Eisenhower, Dwight D., 1953, The Chance for Peace
http://www.edchange.org/multicultural/speeches/ike_chance_for_peace.html, Washington, D.C. vom April 16, 1953, 14.7.2021.
[12] http://www.mayorsforpeace.org/english/aboutus/index.html, 3/2019, 12.2.21
[13] Vgl. Ebenda
[14] http://www.mayorsforpeace.org/english/vision/index.html, o.D., 12.2.21
[15] Vgl. zur Reform der UN Kap. 5.
[16] Vgl. zusammenfassend zum ‚Great Reset‘ Loos (2020), Schwab (2020) und ausführlicher Schwab/ Malleret (2020)
[17] Schwab (2020)
Artikel zur notwendigen Rolle der UNO im Krieg in der Ukraine
(Der folgende Beitrag ist in einer früheren Version in der Zeitschrift ‚Telepolis‘ erschienen und stellt eine weiterentwickelte und aktualisierte Fassung dar.
Quelle: https://www.heise.de/tp/features/UNO-und-Ukraine-Totalversagen-oder-Erfolg-der-kleinen-Schritte-7273618.html, 25.9.2022, entnommen am 30.9.2022.)
Welchen Einfluss kann die UNO noch auf den Krieg in der Ukraine nehmen?
von Klaus Moegling
2.10.2022
Wann wollen die Vereinten Nationen endlich eingreifen? Der Krieg in der Ukraine eskaliert täglich. Völkerrechtswidrige Annexionen, Angriffe auf die kritische Infrastruktur, eine große Zahl ziviler Tote und die wachsende Gefahr eines nuklearen Desasters droht (Angriffe auf AKWs, Einsatz von Nuklearwaffen). Will oder kann die UNO nicht eingreifen?
Jetzt wäre es höchste Zeit, vielleicht noch die letzte Möglichkeit, im Krieg in der Ukraine einen entscheidenden Vermittlungsversuch durch den UN-Generalsekretär, unterstützt von einflussreichen Kräften, u.a. der VR China, vorzunehmen. Das Ziel müsste zunächst ein Waffenstillstand, die Einrichtung einer entmilitarisierten Zone entlang eines zu vereinbarenden ukrainischen Gebiets und schließlich ein von beiden Seiten akzeptierter massiver Einsatz von UN-Polizeitruppen unterschiedlicher Staaten in diesem Grenzgebiet sein. Hiernach könnte unter Vermittlung des Generalsekretärs der UN und der OSZE ein Friedensvertrag innerhalb einer europäischen Sicherheitsarchitektur geschlossen werden. [1]
Doch warum handelt die UNO nicht erkennbar? Oder ist sie doch im Zuge einer Hintertür- und Brückendiplomatie wirkungsvoll tätig?
Das Dilemma der UNO
Als der Vertreter Russlands bzw. der Russischen Föderation im UNO-Sicherheitsrat, Wassili Nebensja, am 25.2.2022 sein Veto gegen eine Resolution einlegte, die sich gegen den russischen Angriff in der Ukraine richtete, wurde die Reformbedürftigkeit der Vereinten Nationen erneut sehr deutlich. Wie kann einem angreifenden Staat, der ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der UNO ist, erlaubt werden, die Verurteilung und Maßnahmen in Bezug auf seine eigene militärische Aggression mit einem Veto zu blockieren? Eine solche Vorgehensweise ist absurd. Diese Möglichkeit zum Veto der Russischen Föderation widerspricht moralisch fundierten Gerechtigkeitsnormen und ist Ausdruck der inzwischen historisch überholten Machtverhältnisse zum Ende des 2. Weltkrieges.
Wie wichtig wäre hier zumindest eine Reform des Abstimmungsmodus im Sicherheitsrat, der gerade dies verhindern könnte. Im Falle einer militärischen Aggression eines Veto-berechtigten Sicherheitsratsmitglieds, seien es nun Russland, die USA oder beispielsweise China, müsste dieser Staat auf Antrag des UNO-Generalsekretärs oder eines Mitgliedsstaates des Sicherheitsrats von der ihn betreffenden Abstimmung ausgeschlossen werden.
Auf der Vollversammlung der Vereinten Nationen forderte der ukrainische Präsident Selenskyj dementsprechend eine Bestrafung Russlands für dessen Angriff, die u.a. auf die Wegnahme auch der russischen Sonderrechte in den UN abzielte – so Selenskyj am 21.2.2022:
"Nehmt das Stimmrecht weg! Entzieht den Delegationen ihre Privilegien! Hebt das Vetorecht auf, wenn es sich um ein Mitglied des UN-Sicherheitsrats handelt!" [2]
Zwar gab es Anfang März 2022 bereits eine spätere Verurteilung der russischen Aggression in der damaligen als Dringlichkeitssitzung einberufenen UN-Vollversammlung, bei der keine Blockade durch ein Veto eines Mitgliedsstaats möglich ist. 141 Mitgliedsstaaten verurteilten den russischen Angriff auf die Ukraine und forderten die Russische Föderation auf, den Angriff zu stoppen und die Truppen zurückzuziehen. Die fünf Gegenstimmen kamen von Russland, Belarus, Eritrea, Nordkorea und Syrien. China, Indien und der Iran zählten zu den 35 Staaten, die sich enthielten. [3] Die Mehrheit in der UNO-Generalversammlung kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Beschlüsse nur einen Empfehlungscharakter haben und völkerrechtlich nicht verbindlich sind. [4]
Einschneidende Reformen der Vereinten Nationen
Wenn die UNO demokratisch strukturiert sein und die UN-Vollversammlung das zentrale Organ sein sollte, dann müssten, fasst man entsprechende Reformvorschläge zusammen[5], insbesondere fünf Reformmaßnahmen ergriffen werden:
1. Die UNO-Vollversammlung dürfte – langfristig gesehen - nicht mehr aus delegierten Vertretern und Vertreterinnen der einzelnen Regierungen bestehen, sondern die Mitglieder müssten in globalen, demokratischen Wahlen ermittelt werden.
2. Eine demokratisch gewählte UNO-Vollversammlung, also ein UN-Parlament, müsste mit unterschiedlichen, qualifizierten Mehrheiten verbindliche Entscheidungen fällen können, welche die Haupt-, Neben- und Sonderorganisationen – also auch der UNO-Sicherheitsrat – auszuführen haben. Hierbei käme dem UN-Generalsekretariat und dem/r Generalsekretär/in eine koordinierende und kontrollierende Rolle hinsichtlich der verschiedenen exekutiven Institutionen zu.
3. Alle UNO-Sicherheitsratsmitglieder werden von der UN-Vollversammlung gewählt, ohne dass es ständige Mitglieder und ein Veto-Recht für diese Mitglieder gibt. Die Befugnisse des UNO-Sicherheitsrats werden dann zukünftig nur noch im Bereich der Beratung und der Vorbereitung einer exekutiven Umsetzung der von der Vollversammlung gefällten Entscheidungen liegen.
4. Alle UNO-Mitglieder – auch Staaten wie die USA, Russland oder China – haben sich der UNO-Gerichtsbarkeit zu unterwerfen.
5. Die weltpolizeiliche Funktionen und Möglichkeiten der UN-Polizeikräfte und der UN-Blauhelme sind im Rahmen einer globalen Sicherheitsarchitektur zu stärken. [6]
Derartige Reformen bedürfen nach geltendem Recht einer Veränderung der UN-Charta. So wäre für die Reform des UN-Sicherheitsrats, z.B. für die Veränderung oder gar die Abschaffung des Veto-Rechts, eine Zweidrittelmehrheit in der UNO-Vollversammlung notwendig. Anschließend müsste die beabsichtigte Änderung der UN-Charta von zwei Dritteln der Mitgliedsstaaten einschließlich der fünf ständigen Mitglieder entsprechend deren nationaler Bestimmungen ratifiziert werden. [7]
Hier ließe sich leicht (und auch vorschnell) argumentieren, dass keine der Veto-berechtigten Staaten bereit wäre, ihren privilegierten Einfluss zu verlieren. Doch die Gefährlichkeit bereits eingetretener und drohender globaler Krisen könnte hier zu einem Einlenken und zur Reformbereitschaft führen. Auch die ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats sind von Kriegen, Pandemien und Umweltkatastrophen betroffen.
So schwierig eine derart radikale Reform der UNO derzeit erscheint, darf sie daher nicht im Zuge eines verkürzten politischen Realismus im Vorhinein verworfen werden. Nur wenn konsequente Reformvorstellungen entwickelt werden, können die ersten umsetzbaren Schritte systematisch in diese Richtung vorgenommen werden. Maßgebliche UN-Vertreter, wie z.B. der UN-Generalsekretär António Guterres [8], und zahlreiche Parlamentarier sowie transnationale Parlamente, wie z.B. das EU-Parlament, [9] denken bereits in diese Richtung und fordern erste Schritte einer einschneidenden Reform der Vereinten Nationen ein. Auch der ukrainische Präsident Selenskyj fordert über die Umstrukturierung des Sicherheitsrats hinaus gravierende Veränderungen der Vereinten Nationen auf der strukturellen Ebene, die auf einer zukünftig in Kiew stattfindenden internationalen Konferenz entwickelt werden sollten – so Selenskyj im Rahmen der Generaldebatte der 77. UN-Vollversammlung: "Wir müssen alles tun, was in unserer Macht steht, um der nächsten Generation eine effektive UN zu übergeben." [10]
Doch unabhängig von der Diskussion über notwendige Reformen der Vereinten Nationen: Wie handlungsfähig ist die UNO im Rahmen der bereits vorhandenen Strukturen, wenn eine weltpolitische Katastrophe, wie der russische Überfall auf die Ukraine, eintritt? Sind sie völlig machtlos bei einem Krieg, der von einem ständigen Mitglied ihres Sicherheitsrates begonnen wird? Haben sie hinsichtlich des Kriegs in der Ukraine bisher nichts oder nur wenig erreichen können?
Zur Wirksamkeit der UNO-Interventionen im Krieg in der Ukraine
Die Maßnahmen und begrenzten Möglichkeiten im UN-Sicherheitsrat - Blockade durch das Veto-Recht - und für die UNO-Vollversammlung – keine völkerrechtlich verbindliche Relevanz sicherheitspolitischer Beschlüsse - wurden bereits skizziert.
Daher sollen insbesondere die Vermittlungsbemühungen des UNO-Generalsekretariats genauer analysiert und eingeordnet werden.
Hierzu äußerte der UN-Generalsekretär António Guterres während eines im zeitlichen Kontext der 77. UN-Vollversammlung durchgeführten Interviews seine eindeutige Einschätzung des russischen Angriffskriegs, sprach aber gleichzeitig auch die begrenzten Möglichkeiten der UN an:
„Die russische Invasion war eine Verletzung der Charta der Vereinten Nationen und des internationalen Rechts, und wir haben klar zum Ausdruck gebracht, dass diese Tatsache dramatische Konsequenzen hat. Zugleich organisieren wir die humanitäre Hilfe für die Ukraine und umliegende Staaten. Und wir sind fest entschlossen, eine Lösung für die Ernährungskrise zu finden. Leider sind wir nicht in der Lage, diesen Krieg zu stoppen.“ [11]
Hinsichtlich einzelner Maßnahmen des UN-Generalsekretariats sind also zunächst die Getreideexporte aus der Ukraine zu nennen. Russland und die Ukraine haben im Juli 2022 über die Vermittlung des UN-Generalsekretärs in der Türkei ein Abkommen unterzeichnet, das die Auslieferung von Millionen Tonnen Getreide aus den drei Häfen Odessa, Tschornomorsk und Juschne zukünftig ermöglichen sollte. Die Ukraine verpflichtete sich, den Seeweg von Minen zu räumen und Russland sagte u.a. zu, Transportschiffe mit landwirtschaftlichen Produkten aus der Ukraine, wie z.B. Getreidetransporte, nicht anzugreifen. Im Gegenzug unterzeichnete Guterres ein Memorandum, bei dem sich die UN verpflichtet, sich für den Export russischer landwirtschaftlicher Produkte sowie von Düngemitteln einzusetzen. [12] Auch wenn diese Maßnahmen recht zögerlich begannen [13] und auch Russland bereits schon wieder über die Blockade der Getreidelieferungen Andeutungen gemacht hat, zeigte sich hier, dass der UNO ein Verhandlungserfolg gelungen ist, der nicht nur für die Ukraine sondern auch für andere von Hunger betroffene Weltregionen eine große Bedeutung hat.
Die UNO will des Weiteren in diesem Zusammenhang ein Koordinationszentrum einrichten, um die Umsetzung der vertraglichen Vereinbarungen zu überwachen. [14]
Ein weiteres Vermittlungsprojekt der Vereinten Nationen in der Ukraine bezieht sich auf das ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja, das bereits mehrfach mit schwerer Artillerie und Raketen beschossen wurde. Um eine nukleare Katastrophe zu vermeiden wurde das seit März von der russischen Armee besetzte AKW immer wieder abgeschaltet. Der russische Vertreter im UN-Sicherheitsrat, Wassili Nebensja, warf während einer Sitzung des UN-Sicherheitsrats vom 23.8.2022 der Ukraine vor, das AKW fast täglich zu beschießen und eine nukleare Katastrophe in Kauf zu nehmen. [15] Die Ukraine hingegen beschuldigte das russische Militär, für den Beschuss verantwortlich zu sein.
Die Untergeneralsekretärin der Vereinten Nationen, Rosemary DiCarlo, rief beide Staaten auf, jegliche militärische Aktivität um das Kernkraftwerk einzustellen und einer Expertengruppe der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) die Inspektion des AKWs zu ermöglichen. Inzwischen hat bekanntlich die IAEA-Expertengruppe das größte Atomkraftwerk Europas besucht und einen umfassenden Bericht vorgelegt. Dieser Bericht verweist auf die gefährliche Situation in Saporischschja. Der Generaldirektor der IAEA, Rafael Grossi, warnte im Juli 2022 vor dem UN-Sicherheitsrat, als er dort die Einschätzung des IAEA-Experten-Teams vortrug:
"Wir spielen mit dem Feuer und etwas sehr, sehr Katastrophales könnte passieren." [16]
Grossi forderte eine entmilitarisierte Schutzzone um das AKW herum. Guterres betonte, dass sich russische und ukrainische Streitkräfte verpflichten müssten, weder vom Werksgelände aus noch in Richtung des Werksgeländes militärische Aktivitäten zu entwickeln.
Inzwischen fand allerdings erneuter Beschuss des AKW-Geländes statt, für den sich wiederum beide Seiten verantwortlich machten.
Die russische Regierung zeigte zunächst ihr Desinteresse hinsichtlich weiterer Vermittlungsangebote der UN. So verweigerte Putin wochenlang dem UN-Generalsekretär eine Begegnung. Nicht einmal telefonieren wollte er mit ihm. Erst im April fand eine Begegnung im Kreml statt, wo die russische Regierung Guterres deutlich machte, dass sie nicht an Friedensverhandlungen oder einem Friedensplan interessiert seien. Man könne aber über humanitäre Angelegenheiten sprechen. Im Zuge dieser Gespräche erreichte Guterres den Abzug der letzten ukrainischen Kämpfer aus dem Stahlwerk Asow in Mariopol, was allerdings dann auch den Russen die vollständige Kontrolle über die Stadt ermöglichte. [17]
Guterres setzte ein weiteres Zeichen und forderte des Weiteren zu Beginn der Generaldebatte der 77. UN-Vollversammlung, dass den Ölunternehmen, die während des Kriegs in der Ukraine zusätzliche Gewinne erzielt hätten, eine Übergewinnsteuer abgezogen werden sollte.
Auch dies wäre m.E. sicherlich eine sinnvolle Maßnahme, würde allerdings ebenfalls nicht den Krieg in der Ukraine eindämmen helfen. [18]
Eine weitere Maßnahme der Vereinten Nationen – neben verschiedenen humanitären Maßnahmen in der Ukraine und benachbarten Staaten – ist die Untersuchung einer UN-Menschenrechtskommission, die vereinzelte Verbrechen ukrainischer Soldaten und deutlich massivere Verstöße russischer Soldaten, u.a. Vergewaltigungen, Anwendung von Folter und Erschießungen sowie systematischer Bombardierungen ziviler Objekte mit zahlreichen Toten, ermittelte. [19] Diese Untersuchung ist ein weiterer Hinweis auf das moralisch illegitime Vorgehen insbesondere der Russischen Föderation, das durch keine der von ihr vorgebrachten Legitimationen der „militärischen Spezialoperation“ gedeckt ist.
Der Krieg in der Ukraine tobt – trotz der UNO-Vermittlungsbemühungen – weiter, Menschen werden getötet, Infrastruktur zerstört und die Umwelt massiv belastet. Eine weitere Eskalation ist möglich. Ein nuklear ausgetragener Krieg ist nicht ausgeschlossen. Der Welt fehlt immer noch ein handlungsfähiges friedenspolitisches Organ, das diese Destruktion beenden könnte.
Die UN ist bisher nur erfolgreich im Rahmen ihrer beschränkten Möglichkeiten
Die UNO ist noch immer ein Ort, an dem über Verletzungen des Völkerrechts, wie dem russischen Überfall auf die Ukraine, öffentlich diskutiert werden kann. Hierdurch wird durch die Behandlung der militärischen Aggression im UN-Sicherheitsrat und in der UN-Vollversammlung eine kritische Weltöffentlichkeit hergestellt. Möglicherweise ist diese symbolische Handlung im Kontext einer Weltöffentlichkeit derzeit noch die wichtigste Funktion der Vereinten Nationen zumindest aus der Sicht des Westens in Bezug auf den Krieg in der Ukraine. Allerdings machte die UN-Generaldebatte auch deutlich, dass den afrikanischen oder lateinamerikanischen Staaten der Krieg in der Ukraine nicht prioritär ist und für sie andere Probleme, wie z.B. die mangelnde Unterstützung durch westliche Staaten sowie die Klimakrise, eher von Interesse sind. [20]
Das UN-Generalsekretariat hat im Zuge seiner Hintertür-Diplomatie und offizieller Vermittlungsangebote hinsichtlich verschiedener durch den russischen Krieg in der Ukraine ausgelösten Gefahren zumindest Teilerfolge erzielt. Daher kann man nicht von einem Totalversagen der UN im Krieg in der Ukraine sprechen. Der UN gelingt das weitgehend, was mit großem Einsatz im Rahmen ihrer bisherigen Strukturen möglich ist.
Guterres erste singuläre Erfolge als Brückenbauer für die UNO und erste Vermittlungserfolge im Krieg in der Ukraine – so wichtig sie sind – täuschen daher nicht darüber hinweg, dass die UNO nicht mächtig und handlungsfähig genug ist, einen derartigen Konflikt präventiv zu verhindern oder im Falle des Kriegsausbruchs einzudämmen und zu beenden.
Diese strukturelle Unzulänglichkeit der UN zeigt sich – hierauf soll deutlich hingewiesen werden – nicht zum ersten Mal. Auch UN-Vermittlungsversuche gegen die militärischen Aggressionen und Angriffskriege der USA, wie z.B. in Vietnam oder im zweiten Irak-Krieg, scheiterten. Die UNO konnte keine Resolution gegen den US-amerikanischen Krieg in Vietnam durchsetzen, obwohl die völkerrechtliche Schuldfrage eindeutig zulasten der USA zu beantworten war. [21] Der zweite Irak-Krieg (2003) wurde federführend durch die USA ohne eine dies eindeutig legitimierende Resolution der Vereinten Nationen begonnen. Im Gegenteil: Der Angriff gegen den Irak in 2003 wurde vom damaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan als illegal und somit völkerrechtswidrig eingestuft. [22] In beiden historischen Beispielen waren die UN letztlich handlungsunfähig, der US-Aggression vorzubeugen bzw. diese einzudämmen oder sogar zu verhindern.
Ohne einschneidende strukturelle Reformen werden daher die Vereinten Nationen ihre weltpolitische Rolle hinsichtlich ihrer 17 Nachhaltigkeitsziele nicht einnehmen können. Es gilt die UN zu demokratisieren und sie gleichzeitig zu stärken. Der erste Schritt wäre die Abschaffung des Veto-Rechts für angreifende ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrats. Doch hierbei dürfen die Reformmaßnahmen nicht stehenbleiben. Erste Signale für eine Reform der Vereinten Nationen waren auf der 77. Vollversammlung der UN wahrzunehmen. Diese Impulse gilt es aufzugreifen. Die UNO wird andernfalls ein erheblich blockierter internationaler Akteur bleiben, und wird die notwendigen Maßnahmen nicht ergreifen können, die global zur Beseitigung schwerwiegender Krisen notwendig sind. Dies bezieht sich u.a. auf die Bekämpfung der Klimakrise, auf die Beseitigung des Welthungers sowie auf die Beendigung von Kriegen – alles für die Menschheit existenzielle Anlässe, über eine neue Rolle der UNO und über radikale Reformen der UN-Charta ernsthaft nachzudenken und zu verhandeln.
UN-Initiativen im letzten Moment?
Und dennoch: Die berechtigte Forderung nach strukturellen Reformen der UN, um welche die globale Gemeinschaft nicht herum kommen wird, darf nicht davon ablenken, dass jetzt (!) Lösungen gefragt sind. In dieser Entwicklungsphase des Kriegs in der Ukraine, die in kurzer Zeit zu einem nuklear ausgetragenen Krieg eskalieren kann, ist der unmittelbare Einsatz der UN gefragt, um den eskalierenden Krieg in einem ersten Schritt zunächst einzufrieren. [23]
Der Vorschlag des mexikanischen Außenministers, Marcelo Ebrard Casaubon, vorgebracht auf der 77. UN-Vollversammlung, enthält eine Chance, diesen Krieg zu beenden. Casaubon schlug vor, dass UN-Generalsekretär António Guterres aufgrund der Lähmung des UN-Sicherheitsrats zusammen mit hochrangigen internationalen Persönlichkeiten, wie z.B. dem indischen Premierminister Narendra Modi und Papst Franziskus, eine Kommission bildet, die mit den Regierungsspitzen der Ukraine und der Russischen Föderation verhandelt. Mexiko sei bereit, einen diplomatischen Kanal zu den Konfliktparteien zu öffnen, um diese Verhandlungen zu ermöglichen. [24]
Dem mexikanischen Vorschlag wäre aus meiner Sicht hinzuzufügen, dass in diese Verhandlungskommission dringend auch ein hochrangiger Vertreter der VR China hineingehört. Dies müsste der chinesische Staatspräsident Xi Jinping oder der chinesische Außenminister sein, um zu gewährleisten, dass die russische Führung die Folgen einer weiteren Eskalation auch für das Verhältnis zu China mit bedenkt. Das Verhandlungsgewicht der VR China dürfte für einen Erfolg der Kommission entscheidend sein.
Des Weiteren ist m.E. die Generalsekretärin der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) Helga Maria Schmid (Österreich) in die Verhandlungskommission aufzunehmen, die 57 Mitgliedsstaaten und 11 Partnerstaaten repräsentiert und eine hohe Legitimation für eine Interessenabwägung zwischen den Kriegsparteien hat.
Inzwischen ist der Krieg in der Ukraine in eine weitere Eskalationsstufe eingetreten. Russland hat vier eingenommene ostukrainische Gebiete in die russische Föderation eingegliedert, also völkerrechtswidrig annektiert. Gleichzeitig erklärte Putin, dass diese annektierten Gebiete bei zukünftigen ukrainischen Angriffen nun unter dem atomaren Schutzschirm Russlands stünden (Putin: „Dies ist kein Bluff!“). [25] Das Damokles-Schwert eines Nuklearkriegs schwebt über Europa: Was wird passieren, wenn das ukrainische Militär die russischen Streitkräfte auf den vier annektierten ostukrainischen Provinzen angreift? Auch Angriffe auf die kritische Infrastruktur nehmen zu. Die Sprengung der beiden Nordstream-Pipelines ist ein Ausdruck hiervon. Der mehrfache Beschuss des größten europäischen Kernkraftwerks gehört ebenfalls hierzu. Ein Super-GAU im AKW Saporischschja würde Tschernobyl in seiner destruktiven Wirkung deutlich übertreffen. Umso wichtiger wäre ein solcher Vorstoß im Sinne des mexikanischen Vorschlags unter Führung des UN-Generalsekretärs, den Krieg in der Ukraine zunächst zu deeskalieren und anschließend im anfangs beschriebenen Sinne zu beenden.
(Der Beitrag ist in einer früheren Version in der Zeitschrift ‚Telepolis‘ erschienen und stellt eine weiterentwickelte und aktualisierte Fassung dar. Quelle: https://www.heise.de/tp/features/UNO-und-Ukraine-Totalversagen-oder-Erfolg-der-kleinen-Schritte-7273618.html, 25.9.2022, entnommen am 30.9.2022.)
Anmerkungen:
[1] Dies entspricht zusammen gefasst den Schritten des italienischen Friedensplans vom Frühjahr. Vgl. ausführlicher zu den verschiedenen Stufen des italienischen Friedensplans bei Moegling, Klaus (2022): Russlands Krieg gegen die Ukraine: Vier Schritte nur zum Frieden? In: Telepolis, https://www.heise.de/tp/features/Russlands-Krieg-gegen-die-Ukraine-Vier-Schritte-nur-zum-Frieden-7132665.html?seite=2, 6.6.2022, 6.6.2022.
[2] https://www.sueddeutsche.de/politik/international-krieg-gegen-die-ukraine-so-ist-die-lage-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-220922-99-853202, 22.9.2022, 2.10.2022.
[3] https://unric.org/de/generalversammlung-verurteilt-russlands-ueberfall-mit-grosser-mehrheit-nur-fuenf-gegenstimmen/, 2.3.2022, 14.9.2022.
[4] Dies gilt auch für eine Dringlichkeitssitzung der UNO-Generalversammlung im Sinne des ‚Uniting for Peace‘, deren Beschlüsse einen durchaus symbolischen Wert, aber letztlich auch nur einen Empfehlungscharakter haben.
[5] Vgl. zur weitergehenden Vorstellung und Diskussion von UN-Reformmaßnahmen z.B. John Trent/Laura Schnurr (2021): Renaissance der Vereinten Nationen. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich; vgl. insbesondere zur Forderung nach einem demokratisch gewählten UN-Parlament mit umfassenderen Vollmachten sowie der Reform des UN-Sicherheitsrats Leinen, Jo/ Bummel, Andreas (2017): Das demokratische Weltparlament. Bonn: Dietz-Verlag. Zumach, Andreas (2021): Reform oder Blockade. Welche Zukunft hat die UNO? Zürich: Rotpunktverlag und Moegling, Klaus (2020): Neuordnung. Eine friedliche und nachhaltig entwickelte Welt ist (noch) möglich. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich. Auf Englisch die internationale Ausgabe (2022, frei lesbar): https://www.klaus-moegling.de/international-edition/
[6] Vgl. zur Konzeption einer UN-Weltpolizei bei ‚Sicherheit neu denken‘: Turning the Perspective. Overcoming Helplessness. Rethinking Security Report 2022. https://www.sicherheitneudenken.de/media/download/variant/269297/rethinking-security-report-2022-turning-the-perspective.pdf, 18.2.2022, 14.9.2022.
[7] Vgl. https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/internationale-organisationen/uno/05-reform-sicherheitsrat/205630, 14.1.2022, 14.9.2022.
[8] Vgl. https://unric.org/de/070222-guterres/, 7.2.2022, 14.9.2022.
[9] Vgl. die internationale Kampagne für ein demokratische UN-Parlament: https://www.unpacampaign.org/de/, o.D., 14.9.2022.
[10] https://www.sueddeutsche.de/politik/selenskyj-un-sicherheitsrat-ukraine-1.5561576, 5.4.2022, 21.9.2022.
[11] https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-09/antonio-guterres-uno-ukraine-russland/komplettansicht, 19.9.2022, 21.9.2022.
[12] Vgl. https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-07/ukraine-russland-und-un-vereinbaren-ausfuhr-ukrainischen-getreides, 22.7.2022, 14.9.2022.
[13] https://www.n-tv.de/politik/UN-Generalsekretaer-Guterres-Getreide-Export-nur-Teil-der-Loesung-russischer-Duenger-entscheidend-article23537746.html, 22.8.2022, 14.9.2022.
[14] Vgl. https://unric.org/de/ukraine22072022/
[15] Vgl. https://www.stern.de/news/russland-und-die-ukraine-machen-sich-erneut-gegenseitig-fuer-akw-beschuss-verantwortlich-32659302.html, 24.8.2022, 14.9.2022.
[16] https://www.sueddeutsche.de/politik/ukraine-atomkraftwerk-saporischschja-iaea-bericht-1.5652334, 6.9.2022, 14.9.2022.
[17] Vgl. hierzu auch den Aufsatz von Fredy Gsteiger (2022), der zu einer ähnlichen Situationsbeschreibung und Einschätzung kommt: https://www.srf.ch/news/international/vermittlung-im-krieg-versagt-die-uno-in-der-ukraine, 25.7.2022, 14.9.2022.
[18] https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/un-vollversammlung-161.html, 20.9.2022, 20.9.2022.
[19] Vgl. Kliver, Christian (2022): Russlands Krieg in der Ukraine. UN sehen Kriegsverbrechen bestätigt – auch ohne Gerichtsurteil. In: Telepolis, https://www.heise.de/tp/features/Russlands-Krieg-in-der-Ukraine-UN-sehen-Kriegsverbrechen-bestaetigt-auch-ohne-Gerichtsurteil-7275551.html, 26.9.2022, 26.9.2022.[20] Vgl. hierzu den Artikel von Andreas Zumach in: https://www.infosperber.ch/politik/welt/uno-cassis-und-scholz-hinterlassen-wenig-glaubhaften-eindruck/, 22.9.2022, 22.9.2022.
[21] Vgl. Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen (Hrsg): Vereinte Nationen, Heft 5/1966, 159ff., in: https://zeitschrift-vereinte-nationen.de/publications/PDFs/Zeitschrift_VN/VN_1966/Heft_5_1966/05_Beitrag_5-1966.pdf, 1.10.1966, 28.9.2022.
[22] Vgl. https://www.faz.net/aktuell/politik/vereinte-nationen-kofi-annan-nennt-irak-krieg-illegal-1176615.html, 16.9.2004, 28.9.2022.
[23] Die Forderung nach einem ‚Einfrieren‘ des Kriegs in der Ukraine vertritt insbesondere der Politikwissenschaftler Johannes Varwick (Universität Halle-Wittenberg), der hierbei auch der Auffassung ist, obwohl völkerrechtlich die Lage eindeutig sei, müsse man zunächst einige Tatsachen des Status Quo akzeptieren, um eine nukleare Eskalation zu verhindern. Zumal man nicht mit Maximalforderungen an Russland, wie z.B. die Rückgabe der Krim, einen Verhandlungserfolg erzielen kann. Anderes wäre dann nachzuverhandeln. Vgl. u.a. Varwick, Johannes (im Interview mit Alexander Graf Lambsdorff) (2022): Sollte Deutschland auch die Rückeroberung der Krim unterstützen?, Interviewer: Jochen Bitter und Martin Macowecz, in: Die Zeit, 29.9.2022, 12.
[24] Vgl. zum mexikanischen Vermittlungsvorschlag: https://www.msn.com/de-de/nachrichten/politik/mexiko-schl%C3%A4gt-die-einrichtung-einer-hochrangigen-diplomatischen-delegation-vor-die-zwischen-russland-und-der-ukraine-vermitteln-soll/ar-AA1294kT , 25.9.2022, 26.9.2022.
[25] Vgl. zur Drohung Putins, Atomwaffen einzusetzen: https://www.fr.de/politik/drohung-usa-ukraine-krieg-putin-russland-atomwaffen-atombombe-nuklear-zr-91817393.html, 30.9.2022, 30.9.2022.
Video zur Diskussion mit Herfried Münkler, Hannah Birkenkötter und Klaus Moegling über die Zukunft der UNO und der multilateralen Zusammenarbeit
Entspannungspolitik konkret:
Auf dem Weg zu einer neuen Sicherheitsarchitektur: Wie ein Spannungsabbau zwischen Russland und der NATO gelingen kann.
Von Klaus Moegling
(zuletzt aktualisiert: 18.12.2021)
(Dieser Beitrag wurde ca. fünf Wochen vor dem Beginn der russischen Invasion geschrieben. Er hatte die Funktion - angesichts der zu erwartenden russischen Aggression zu verstärkten diplomatischen Bemühungen aufzurufen - leider vergebens, aber m.E. für die Zukunft immer noch relevant.)
Die kürzlich stattgefundenen Gespräche zwischen Joe Biden und Wladimir Putin sollten um Gespräche mit der EU und Xi Jinping erweitert werden. Diese Gespräche könnten der Beginn einer neuen Entwicklung hin zu Entspannung und Sicherheit sein. Erforderlich ist eine neue Sicherheitsarchitektur, die durch multilaterale Partnerschaft und durch den Abbau medial erzeugter Feindbilder gekennzeichnet ist. Die gegenwärtig eskalierende Situation an der russischen Westgrenze verweist auf die dringende Notwendigkeit, dass ernsthaft miteinander gesprochen und verhandelt wird.
Die Konstruktion von Feindbildern
Die Entwicklung gegenseitiger Feindbilder stellt die sozialpsychologische Voraussetzung für die Durchführung von Kriegen dar. Auf russischer Seite wird das Feindbild einer imperialistischen NATO bemüht, die primär das Interesse von US-Konzernen international durchzusetzen habe. Auf westlicher Seite wird das Feindbild eines militaristischen und aggressiven russischen Autokraten entwickelt. Russland wird als Staat dämonisiert. Ähnliches entwickelt sich zwischen den USA und China.
Die gegenseitige Feindbildkonstruktion, die häufig durch dementsprechende Berichterstattung in den Medien intensiviert wird, hat verschiedene Funktionen. Sie lenkt von innenpolitischen Schwierigkeiten ab, erhält militärische Strukturen, unterstützt die Existenz des militärisch-ökonomischen Komplexes, erhöht die Kampfbereitschaft in der Bevölkerung und schafft die Voraussetzung für militärische Interventionen mit einem geostrategischen bzw. machtpolitischen Hintergrund.
Wie könnte man also der gegenseitigen Feindbildkonstruktion die Voraussetzungen entziehen?
Zur Rolle von politischen Visionen
Kurzfristige Realpolitik in den internationalen Beziehungen ist häufig nicht genügend an längerfristigen politischen Zielsetzungen orientiert. Doch politische Visionen, also langfristige Entwürfe einer sinnvollen zukünftigen politischen Neuordnung [1], sollten in einem positiven Sinne die Normen gegenwärtigen politischen Handelns in der internationalen Politik bestimmen. Immanuel Kant hätte in seinen Überlegungen ‘Zum ewigen Frieden‘ [ 2] ohne eine positive Vision gesellschaftlicher Entwicklung nicht die ideellen Grundlagen der Vereinten Nationen entwickeln können.
Eine auf der Kritik realer Verhältnisse und auf ethischen Idealen einer gemeinsamen, demokratischen, gerechten, friedlichen und ökologisch vertretbaren Entwicklung basierende Vision gesellschaftlicher Neuordnung stellt die Voraussetzung dafür dar, dass die gegenwärtigen politischen Schritte nicht orientierungslos ausfallen, den interessierten Machteliten bzw. den herrschenden Mächten überlassen bleiben.
Hierbei kann man einer politischen Vision nicht vorwerfen, sie sei visionär und nicht sofort umsetzbar. Das Visionäre ist ja der Kern einer Vision. Sie stellt – im positiven Sinne - eine in die Zukunft gedachte vernünftige politische Entwicklungsabsicht dar. Die an einer derartigen Vision ausgerichteten ersten Schritte müssen allerdings realistisch am Ist-Zustand ausgerichtet sein. Hierbei sollte eine eher optimistische Grundhaltung das bestimmende Moment sein, ohne die keine Motivation für konkrete Schritte in eine sinnvolle friedenspolitische Richtung entstehen kann. Ein pessimistisch ausgerichteter realpolitischer Habitus stellt hingegen ein Hemmnis für eine friedliche Entwicklung dar, da er den Völkern keine gemeinsame Entwicklungschance zutraut.
Die friedenspolitische Initiative ‚Sicherheit neu denken‘ bzw. ‚Rethinking Security‘ entwickelt daher ein Positivszenario friedenspolitischer Entwicklung, das von folgenden Prämissen ausgeht:
„Nachhaltige zivile Sicherheitspolitik beruht auf einer Friedensethik, in der sich die Gedanken und Handlungen nicht nur auf die eigenen nationalen Interessen beziehen, sondern zugleich reflektieren, welche Folgen diese für die Menschen in anderen Ländern haben. Sicherheit besteht in dieser Perspektive (nur) als gemeinsame Sicherheit aller Beteiligten. Das gilt sowohl für den Einzelnen in seinem privaten Alltag als auch für die Akteure in Wirtschaft, Politik, Kultur, Erziehung und Wissenschaft. In diesem Szenario entwickelt die Gesellschaft als Ganze eine Orientierung gemeinsamer Sicherheit als Weg und Ziel, um der Kultur der Gewalt entgegentreten und eine Kultur des Friedens entwickeln zu können.“ [ 3]
Die NATO und Russland
Die NATO rückt immer näher an die Westgrenze Russlands bzw. der Russischen Föderation heran. Dies ist unbestreitbar. Ehemalige Staaten des Warschauer Pakts wurden zu NATO-Staaten. Militärische NATO-Strukturen wurden in diesen Staaten aufgebaut. Umfassende Militärmanöver einer hinsichtlich konventioneller Waffen vielfach überlegenen NATO fanden an der russischen Westgrenze statt. Es ist daher nachvollziehbar, dass Russland sich bedroht fühlt, nachdem es im vergangenen Jahrhundert zwei Mal in Weltkriege mit schrecklichem Blutzoll verwickelt wurde. Genauso fühlen sich hingegen die osteuropäischen Staaten durch russische Truppenkonzentrationen und Militärübungen bedroht, da sie die russischen Interventionen in der Krim und der Ostukraine vor Augen haben.
Abrüstungsverträge, wie z.B. der „Intermediate Range Nuclear Forces Treaty“ (INF-Vertrag), wurden aufgekündigt. Beide Seiten rüsten wieder rücksichtslos auf – auch im Bereich der Nuklearwaffen. Maßnahmen zur militärpolitischen Transparenz wurden abgeschafft. So erfolgte 2020 bzw. 2021 der Austritt der USA und Russlands aus dem 1992 beschlossenen ‚Treaty on Open Skies‘, der die gegenseitige Kontrolle von Rüstungsmaßnahmen und Truppenbewegungen erleichtern sollte.
Einerseits hat sich die NATO entgegen der 1990 zunächst geäußerten, aber nie vertraglich geregelten Absichten, in Richtung Osteuropa bis an die Grenzen der Russischen Föderation ausgebreitet. Dies wird von russischer Seite als Wortbruch und als Gefährdung ihrer Sicherheit empfunden. Andererseits gilt auch das in der UN-Charta verankerte Selbstbestimmungsrecht der Völker. Einem Staat kann daher auf der Grundlage des geltenden Völkerrechts nicht vorgeschrieben werden, welchem Bündnis er beizutreten hat.
Die Waffenlieferungen in die Ukraine und deren Bestrebungen, in die NATO einzutreten, und die dadurch von Russland empfundene Bedrohung führten nun zur aktuellen Truppenkonzentration an der russischen Westgrenze. Die NATO-Staaten und die EU drohen hingegen mit massiven Sanktionen, falls Russland militärisch in der Ukraine intervenieren wird.
Wie kann man nun dieses gegenseitige Bedrohungspotenzial reduzieren und zu gemeinsamen Verhandlungen sowie wieder zu einer gemeinsamen Sicherheitsarchitektur gelangen?
Die NATO sollte der Russischen Föderation ein Angebot unterbreiten
In der „Charta von Paris“ von 1990 [4] wurde eine neue Sicherheitsarchitektur Europas unter Einschluss Russlands entworfen:
„In Übereinstimmung mit unseren Verpflichtungen gemäß der Charta der Vereinten Nationen und der Schlussakte von Helsinki erneuern wir unser feierliches Versprechen, uns jeder gegen die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit eines Staates gerichteten Androhung oder Anwendung von Gewalt oder jeder sonstigen mit den Grundsätzen oder Zielen dieser Dokumente unvereinbaren Handlung zu enthalten. Wir erinnern daran, dass die Nichterfüllung der in der Charta der Vereinten Nationen enthaltenen Verpflichtungen einen Verstoß gegen das Völkerrecht darstellt.
Wir bekräftigen unser Bekenntnis zur friedlichen Beilegung von Streitfällen. Wir beschließen, Mechanismen zur Verhütung und Lösung von Konflikten zwischen den Teilnehmerstaaten zu entwickeln.“
So war die russische Seite in diesem Sinne noch Anfang des 21. Jahrhunderts nicht abgeneigt, über eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur und eine Annäherung an die NATO zu verhandeln. Wladimir Putins Rede am 21.9.2001 vor dem Deutschen Bundestag enthielt friedenspolitische Angebote, die in diese Richtung zielten:
„Niemand bezweifelt den großen Wert der Beziehungen Europas zu den Vereinigten Staaten. Aber ich bin der Meinung, dass Europa seinen Ruf als mächtiger und selbstständiger Mittelpunkt der Weltpolitik langfristig nur festigen wird, wenn es seine eigenen Möglichkeiten mit den russischen menschlichen, territorialen und Naturressourcen sowie mit den Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungspotenzialen Russlands vereinigen wird.“ [5]
Doch die von russischer Seite ausgestreckte Hand wurde aufgrund verschiedener westlicher Interessenslagen nicht angenommen und ignoriert. Die westliche Ablehnung Putins, der Ausbau der NATO einerseits und die unter menschenrechtlichen und demokratischen Perspektiven zu kritisierende Entwicklung in Russland andererseits sind daher in einem Zusammenhang zu sehen. Wie hätte sich wohl Russland entwickelt, wäre es zu einem gemeinsamen Sicherheitsbündnis und einer verstärkten politischen und ökonomischen Kooperation gekommen?
Diese damals angelegte Entwicklung gilt es nun aber wieder aufzugreifen, ehe es zu spät ist.
Hierbei geht es um die politische Vision einer internationalen Zusammenarbeit in Europa unter Einbezug Russlands und um die wieder herzustellende und zu erweiternde Vernetzung der NATO mit Russland bzw. der Russischen Föderation. [6]
Der Russischen Föderation ist in einem ersten Schritt von Seiten der NATO ein Angebot einer Annäherung an die NATO mit dem mittelfristigen Ziel einer gemeinsamen tragfähigen Sicherheitsarchitektur zu unterbreiten. Dies kann im Rahmen der 1990 in der ‚Charta von Paris‘ festgelegten friedenspolitischen Normen unter der zu leistenden Vermittlung der EU und der OSZE erfolgen - so in der ‚Charta von Paris':
„Sicherheit ist unteilbar, und die Sicherheit jedes Teilnehmerstaates ist untrennbar mit der aller anderen verbunden. Wir verpflichten uns daher, bei der Festigung von Vertrauen und Sicherheit untereinander sowie bei der Förderung der Rüstungskontrolle und Abrüstung zusammenzuarbeiten.“ [7]
Hierbei kann auf bereits früher existierende Strukturen zurückgegriffen werden, wie sie unter dem Dach der ehemaligen KSZE (heute OSZE) vorgenommen wurden. Wieder herzustellen wäre auch Russlands Status bei der NATO im Rahmen des NATO-Russland-Rats, der durch die gemeinsame Unterzeichnung der „Erklärung von Rom“ (2002) festgelegt wurde. Hierfür müsste zunächst die Ausweisung russischer Vertreter bei der NATO rückgängig gemacht werden. Genauso sind das Zurückziehen aller russischen Vertreter aus der NATO sowie der Entzug der diplomatischen Akkreditierung der NATO-Vertreter in Moskau zu revidieren.
In einem nächsten Schritt sind die Neuverhandlung der aufgekündigten Abrüstungsverträge unter Vermittlung der OSZE vorzunehmen und weitere Abrüstungsschritte einzuleiten. Hierüber hinaus sind die Verabredung gemeinsamer Sicherheitsstrategien sowie technologischer Zusammenarbeit im Rahmen der Absprachen im wieder zu aktivierenden NATO-Russland-Rat sinnvoll. Insbesondere gilt es die Transparenz über die gemeinsame Kooperation zu erhöhen, z.B. den „Treaty on Open Skies“ wieder zu aktivieren, und regelmäßige Treffen und Gespräche institutionalisiert aufzunehmen.
Die aktuellen russischen Forderungen, dass die NATO ihre Truppen auf die Positionen hinter 1997 – also vor der Osterweiterung der NATO um Staaten wie z.B. Polen, Ungarn oder Bulgarien – zurückziehen solle und dass die NATO eine Mitgliedschaft für die Zukunft ausschließen solle, scheinen für die NATO nicht akzeptabel zu sein. [8] Dennoch liegt hierin zumindest ein Verhandlungsansatz begründet, über den miteinander gesprochen werden könnte.
Es wäre z.B. möglich, z.B. über die Aktivierung des Normandie-Formats, mit oberster Priorität kurzfristig die 400 km lange und im Vertrag von Minsk II 2015 festgelegte militärische Pufferzone durchzusetzen und dort für die notwendige Entspannung einer aktuell eskalierenden Situation zu sorgen. Truppen und schweres militärisches Gerät müssen auf beiden Seiten aus der Nähe des ostukrainischen Krisengebiets zurückgezogen werden. Zudem müsste mittelfristig zwischen allen beteiligten staatlichen und transnationalen Akteuren ein militärfreier Sicherheitskorridor zwischen den osteuropäischen NATO-Staaten und der angrenzenden Russischen Föderation insgesamt verabredet werden, um den gemeinsamen Sicherheitsinteressen zu entsprechen.
In einem dritten Schritt sind weitere wichtige Akteure, wie die UNO sowie die chinesische Regierung in die Gespräche über eine zu erweiternde internationale Sicherheitsarchitektur einzubeziehen, u.a. mit dem Ziel eines bedeutenden und vertraglich abgesicherten Beitrags für die Abrüstung im konventionellen und nuklearen Bereich der existierenden Waffenarsenale.
Hierbei ist diese Sicherheitsarchitektur über die UN-Generalversammlung und den UN-Sicherheitsrat zu legitimieren und zu institutionalisieren.
Angesichts der derzeit eintretenden militärischen Bedrohungsszenarien an der osteuropäischen Grenze erscheinen derartige sicherheitspolitische Schritte ausschließlich realpolitisch ausgerichteten Skeptikern wahrscheinlich abwegig. Doch gerade angesichts der aktuellen Kriegsgefahr ist ein Umlenken dringend erforderlich. Ein Krieg zwischen der NATO und der Russischen Föderation wird nur Verlierer kennen. Sowohl im Falle eines mit konventionellen Mitteln als auch nuklear ausgetragenen militärischen Konflikts werden wieder Millionen Menschenleben als Opfer zu beklagen sein, wird möglicherweise eine militärische Eskalation verursacht, die nicht mehr zu stoppen ist und welche die Grundlagen menschlicher Zivilisation zerstören wird. Hierbei kann die massive Überlegenheit der NATO im konventionellen Waffenbereich [9] dazu führen, dass Russland im Falle militärischer Unterlegenheit Nuklearwaffen einsetzt.
Ist es angesichts dieses durchaus realistischen Zukunftsszenarios nicht wert, über eine konsequente Neuordnung der internationalen Strukturen nachzudenken?
Vorteile einer neuen Sicherheitsstruktur
Die sicherheitspolitische Neuordnung der internationalen Beziehungen müsste von den ebenfalls zu reformierenden Vereinten Nationen [10] im UN-Sicherheitsrat und der UN-Generalversammlung begleitet und legitimiert werden. Der dann zu vollendende Prozess einer Annäherung und die wieder zu beginnende Kooperation der Russischen Föderation mit der NATO müsste mit einer Umstrukturierung der NATO zu einem echten Verteidigungsbündnis unter Verzicht von Angriffswaffen und u.a. mit einem Angebot an die VR China für eine umfassende Sicherheitspartnerschaft zwischen NATO, EU, Russischer Föderation und der VR China verbunden sein, damit sich diese nicht durch ein neues Sicherheitsbündnis der NATO und der russischen Föderation militärisch bedroht fühlt.
Durch eine derartige Sicherheitsarchitektur von New York, über Brüssel, Moskau bis nach Peking würde die Notwendigkeit, sich mit der manipulativen Konstruktion gegenseitiger Feindbilder gegenseitig zu bedrohen, wegfallen. Der Feind würde abhandenkommen und zu einem Partner im Rahmen einer gemeinsamen Sicherheitspartnerschaft werden. Das kurzfristige Ziel wäre eine sicherheitspolitische Partnerschaft. Doch das mittelfristige Ziel wäre eine gute Nachbarschaft befreundeter Staaten im Kontext einer zu reformierenden UN.
Ein weiterer Vorteil würde in der Umlenkung gesellschaftlicher Ressourcen in eine konstruktive Richtung liegen. Zunächst würde das neue Sicherheitsbündnis über gemeinsame Verhandlungen die Rüstungsinvestitionen einfrieren, um die Rüstungsspirale zu stoppen. In einem nächsten Schritt gilt es dann, die Investitionen in Waffensysteme bis auf das notwendige Minimum im Rahmen der durch die UN kontrollierten weltpolizeilichen Maßnahmen [11] zu reduzieren, so dass gewaltige Finanzmittel für das globale Engagement gegen die Klimakrise, gegen den Welthunger und für die notwendigen Investitionen in soziale Absicherung frei werden. Es geht hierbei um einen umzulenkenden gigantischen Betrag von ca. 20 Billionen US Dollar in den nächsten 10 Jahren.
Letztlich werden alle Beteiligten – bis auf die Rüstungsindustrien – Gewinner der Einlösung dieser politischen Vision sein. Doch auch die Rüstungsindustrien könnten zum ökonomischen Gewinner dieser sicherheitspolitischen Umorientierung werden, wenn sie ihre Rüstungskonversion und die damit verbundene Stärkung ihrer zivilen Produktionszweige ernsthaft vornehmen würden. [12]
Fazit
Hiermit ist ein umfassender Vorschlag für die Gestaltung einer zukünftigen Sicherheitsarchitektur skizziert, der nicht ignoriert werden sollte. Über die Kooperation auf allen wichtigen Ebenen werden Vertrauen und damit Sicherheit aufgebaut. Es gilt nun, den hier vorgelegten Vorschlag in den entsprechenden Institutionen und Gremien zu diskutieren, auch parteipolitisch aufzugreifen, weiter auszudifferenzieren und dann Schritt für Schritt umzusetzen.
Hierbei seien sowohl die EU, die Russische Föderation und die NATO an Putins Worte im Rahmen seiner 2001 im Deutschen Bundestag vorgetragene Rede erinnert:
„Die Welt befindet sich in einer neuen Etappe ihrer Entwicklung. Wir verstehen: Ohne eine moderne, dauerhafte und standfeste internationale Sicherheitsarchitektur schaffen wir auf diesem Kontinent nie ein Vertrauensklima und ohne dieses Vertrauensklima ist kein einheitliches Großeuropa möglich. Heute sind wir verpflichtet, zu sagen, dass wir uns von unseren Stereotypen und Ambitionen trennen sollten, um die Sicherheit der Bevölkerung Europas und die der ganzen Welt zusammen zu gewährleisten.“ [13]
Das gegenwärtige Bedrohungsszenario und die gegenseitigen Drohgebärden im Zusammenhang mit der russischen Truppenkonzentration an der Grenze zur Ostukraine und den entsprechenden militärischen Maßnahmen der NATO und der ukrainischen Regierung sind hingegen äußerst kontraproduktiv. Hier sollten die NATO und die EU an die Charta von Paris (1990) und die Russische Föderation an Putins Rede vor dem Deutschen Bundestag (2001) erinnert werden. Darin sind die Normen und Werte sowie die sicherheitspolitischen Strategien und Verhaltensweisen enthalten, die für eine Deeskalation der gegenwärtigen Bedrohungslage notwendig sind. Hören Sie auf, sich zu bedrohen, reden Sie endlich wie erwachsene, reife Menschen miteinander!
Die Welt kann sich keine weitere Vergeudung gesellschaftlicher Ressourcen leisten. Die gemeinsamen Kräfte müssen global gebündelt werden, um die gegenwärtigen Bedrohungen, wie die Klimakrise, militärische Konflikte, Pandemien oder wachsende soziale Unterschiede, zu bekämpfen. Der NATO, der Russischen Föderation, der VR China, der EU und der OSZE sowie vor allem der UNO kommen hier die entscheidenden Aufgabenstellungen in Zusammenarbeit aller Staaten und transnationalen Regionen zu, um einen dritten Weltkrieg zu vermeiden und auch den nächsten Generationen einen lebenswerten Planeten zu hinterlassen.
Zum Autor:
Prof. Dr. Klaus Moegling, Universität Kassel, i.R., Politikwissenschaftler und Soziologe, Autor von ‚Realignment. A peaceful and sustainably developed world is (still) possible.‘, u.a. publiziert im open access: https://www.klaus-moegling.de/international-edition/
(Der Autor bedankt sich für alle hilfreichen Kommentierungen, insbesondere aus der Friedensbewegung, die zu einer Weiterentwicklung des Beitrags geführt haben.)
[1] Vgl. Moegling, Klaus (2021): Realignment. A peaceful and sustainably developed world is (still) possible., u.a. publiziert im open access: https://www.klaus-moegling.de/international-edition/, 14.12.2021.
[2] Vgl. Kant, Immanuel (1796): Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. Königsberg.[3] Becker, Ralf/Maaß, Stefan/Schneider-Harpprecht, Christof (Hrsg.) (2021): Sicherheit neu denken. Karlsruhe. https://www.sicherheitneudenken.de/media/download/variant/248631/d---kurzfassung_2021_web.pdf, 15.12.2021. Siehe auch entsprechende Ansätze in der englischsprachigen Ausgabe ‚Rethinking Security‘: https://www.sicherheitneudenken.de/media/download/variant/186330/rethinking_security_abridged_version2019.pdf , 15.12.2021.
[4] Text der ‚Charta von Paris‘: https://www.kas.de/de/statische-inhalte-detail/-/content/charta-von-paris-fuer-ein-neues-europa-vom-21.-11.-1990, 14.12.2021.
[5] Zitat aus der Rede Wladimir Putins vor dem Deutschen Bundestag am 25.9.2001, Quelle: https://www.bundestag.de/parlament/geschichte/gastredner/putin/putin_wort-244966, 14.12.2021.
[6] Russland bezeichnet sich selbst als Russische Föderation mit u.a. 22 teilautonomen Republiken.
[7] Charta von Paris (1990): a.a.O.
[8] Vgl. https://www.tagesschau.de/ausland/ukraine-konflikt-russland-ende-nato-osterweiterung-101.html, 17.12.2021, 18.12.2021 und https://www.t-online.de/nachrichten/ausland/krisen/id_91342572/ukraine-konflikt-nato-bietet-russland-vertrauensbildenden-dialog-an.html, 17.12.2021, 18.12.2021; die Links zu den beiden russischen Offerten finden sich unter:
https://mid.ru/ru/foreign_policy/rso/nato/1790818/?lang=en
https://mid.ru/ru/foreign_policy/rso/nato/1790803/?lang=en&clear_cache=Y, 17.12.2021, 23.12.2021.
[9] Allein das NATO-Mitglied USA hat 2020 insgesamt 778 Milliarden US-Dollar in Rüstung investiert, wogegen Russland mit 61,7 Milliarden US Dollar nicht einmal ein Zehntel dessen für Rüstungsgüter und -dienstleistungen aufgebracht hat (vgl. SIPRI (2021):
Trends in world military ependiture, 2020. In: https://www.sipri.org/sites/default/files/2021-04/fs_2104_milex_0.pdf, 4/2021, 30.4.21).
[10] Vgl. zur Reform der UN u.a. Leinen, Jo/Bummel, Andreas (2018): A World Parliament: Governance and Democracy in the 21st Century. Bonn: J.H.W. Dietz-Verlag. Moegling (2021): a.a.O., Zumach, Andreas (2021): Reform oder Blockade. Welche Zukunft hat die UNO? Zürich: Rotpunktverlag.
[11] Vgl. Vgl. das Zusammenspiel zwischen zivilen Konfliktpräventionsmaßnahmen und weltpolizeilichen Maßnahmen in: https://www.sicherheitneudenken.de/sicherheit-neu-denken-unsere-vision/downloads/, 14.12.2021.
[12] Zur Rüstungskonversion vgl. u.a. Rieger, Anne (2021): Rüstungskonversion: das Gebot der Stunde. In: Henken, Lühr (Hrsg.) (2021): Weltkriegsgefahren entgegentreten. Wandel zum Frieden einleiten. Kassel: Verlag Winfried Jenior, S. 40-58. Vgl. auch https://ruestungskonversion.de/, 14.12.2021.
[13] Zitat aus Putin (2001): a.a.O.
Der gleiche Artikel wurde in 'Telepolis' mit ca. 280 Kommentierungen veröffentlicht:
Klaus Moegling:
Welcher Weg führt zu einer neuen Sicherheitsarchitektur?
Vorschläge für einen Spannungsabbau zwischen Russland und der Nato.
https://www.heise.de/tp/features/Welcher-Weg-fuehrt-zu-einer-neuen-Sicherheitsarchitektur-6304349.html
(22.12.2021)
6 Erste Schritte auf einem langen Weg gesellschaftlicher Pazifizierung
Strategien, Engagement und Ziele müssen von den gleichen Werten getragen sein
Unter gesellschaftlicher Pazifizierung soll hier sowohl der Frieden in der sozialen Welt als auch der Frieden mit der Biosphäre gemeint sein. Hierbei ist im Sinne von Johan Galtung (1998) unter Frieden nicht nur die Abwesenheit von Krieg (negativer Frieden), sondern ein umfassender Frieden, ein positiver Frieden, gemeint. Positiver Frieden bezieht sich auf die Fähigkeit von Menschen, Gruppen, Institutionen und Gesellschaften, Konflikte ohne den Einsatz von physischer, kultureller oder struktureller Gewalt empathisch und kreativ lösen zu können. Gesellschaftliche Pazifizierung im Sinne eines positiven Friedens bezieht sich auf Gerechtigkeit und die Einhaltung von Menschenrechten in einer Gesellschaft sowie zwischen Gesellschaften. Hier soll des Weiteren unter positivem Frieden auch ein schonender und am Prinzip der Nachhaltigkeit orientierter Umgang mit der Natur gemeint sein. Die Zerstörung von Umwelten oder die Beschädigung der gesamten Biosphäre entziehen dem Leben auf diesem Planeten seine existenzielle Grundlage und führen, wie bereits ausgeführt, ebenfalls zunächst zu Verdrängungskonflikten und gewalttätigen Auseinandersetzungen.
Gesellschaftliche Pazifizierung lebt vom zivilgesellschaftlichen Engagement in einer Qualität, die ohne Gewalt gegen Menschen, Natur und Sachen auskommt. Das Anstoßen einschneidender gesellschaftlicher Reformen und die zivilgesellschaftliche Begleitung kann nur unter Ausnutzung aller kreativen und druckvollen Formen gesellschaftlichen Widerstands, Protests, Organisation, über ein verändertes Wählerverhalten und über veränderte Formen des Arbeitens und Zusammenlebens gelingen. Der Druck auf Parteien, Regierungen, Institutionen und Entscheidungsgremien muss über einen Zusammenschluss von maßgeblichen Teilen der Bevölkerung in Verbindung mit Wissenschaftlern, Bildungsarbeitern, Politikern, Ökonomen und Verwaltungsspezialisten gelingen, die friedliche Formen von Engagement, Widerstand und konstruktiven Konfliktverhalten nutzen, um den Einstieg in eine gesellschaftliche Transformation auf allen Ebenen vorzunehmen. Hierzu gehören Massenkundgebungen, Experten-Hearings, medienwirksame Tribunale, Blockaden, Sitzstreiks, Menschenketten, öffentliche Theaterarbeit, Protestkonzerte, Crowdfunding, Publikationstätigkeit und Medienarbeit, Gremien- und Parlamentsarbeit auf allen Ebenen, Parteiarbeit und Engagement in NGOs, aufklärende und emanzipierende Bildungsarbeit, Meditation und Selbstarbeit, Warenboykotts, Rituale und Therapien der Versöhnung, Schul- und Universitätsstreiks bis hin – im äußersten Fall – zu Generalstreiks im Schulterschluss mit dem überwiegenden Teil der Gewerkschaften, der veränderungsbereit ist. Generalstreiks sind das mächtigste Mittel im Einsatz für eine globale Neuordnung. Ebenfalls das Engagement in sozialökologisch ausgerichteten Parteien und der Druck über die Wählerstimme sollten hinsichtlich ihres Spielraums genutzt werden. Auch der Beginn eines alternativen Lebens und Arbeitens sowie die individuelle Umstellung des eigenen Konsumstils entfalten sofort und fortwährend eine Wirkung.
In diesem Zusammenhang sind auch Ansätze und Widerstandsformen im Rahmen einer feministischen Sicherheits- und Außenpolitik zu thematisieren. Insbesondere die Frauen sind es, die in der Vergangenheit an vielen Formen des Protests und der Organisation gegen die vorwiegend männlich dominierten Gewaltstrukturen teilgenommen haben (vgl. Lunz 2022, 53 ff.). Da Frauen oftmals auch Opfer männlicher Gewalt sowohl in Friedens- als auch in Kriegszeiten waren und sind, ist es ihr prioritäres Anliegen sich für eine gesellschaftliche Neuordnung einzusetzen, die patriarchalische Gewaltstrukturen und den männlichen Militarismus überwinden hilft. Die Aktivitäten der NGO ‚Women’s League for Peace and Freedom‘ (WILPF) können als beispielhaft hierfür angesehen werden.
Alle diese vielfältigen Formen des Engagements müssen von den Werten einer neuen Ordnung geprägt sein, damit sie auch das angestrebte gesellschaftliche Ziel erreichen können und nicht in einen Widerspruch dazu geraten – es sind die Werte, die sich um folgende Begriffe zentrieren: Friedfertigkeit, Demokratie und Mündigkeit, Um(Mit)weltbewusstsein, Freiheit in Verantwortung, Gerechtigkeit und Solidarität. Mit Gewalttätigkeit und undemokratischen Mitteln ist keine Neuordnung im angestrebten Sinne zu erreichen. Hier würden die gewalttätigen Kräfte auch in veränderten gesellschaftlichen Konstellationen wieder zum Träger von Gewalt werden und für eine Gewalt ausübende gesellschaftliche Ordnung sorgen.
Ausgenommen vom unbedingten Gewaltverzicht sind explizit die demokratisch gewählten Organe einer neuen Ordnung im globalen Kontext im Sinne weltpolizeilichen Einsatzes, wenn es um die Bekämpfung von Kriminalität, massiver Umweltzerstörung, kriegerischer Aggression oder von Verstößen gegen die Menschenrechte geht. Es ist also zwischen einer Entwicklungsphase zu unterscheiden, in der zivilgesellschaftlicher Druck mit friedlichen, aber druckvollen Mitteln ausgeübt wird und den Notwendigkeiten eines Gewaltmonopols einer mit diesen Mitteln errichteten neuen sozialökologischen Gesellschaftsordnung internationaler Demokratie, um diese Ordnung im Sinne einer ‚wehrhaften globalen Demokratie‘ aufrechterhalten zu können.
Strategien mit unterschiedlichen zeitlichen Perspektiven und Prioritäten
Im Bewusstsein der hier entwickelten langfristigen Vision für eine Neuordnung der Welt gilt es nun, strategisch erste Schritte zu skizzieren, die am jetzigen Zustand der globalen Gesellschaft und der Biosphäre anknüpfen. Was sind Ziele und Maßnahmen, die bereits zeitnah umgesetzt werden könnten? Hierbei soll eine Prioritätenliste für die meisten Sektoren gesellschaftlicher Transformation entwickelt werden. Kriterien für die vorderen Ränge auf dieser Liste sind die Relevanz hinsichtlich der Dringlichkeit, der Wirksamkeit, ihrer Legitimität sowie des Schwierigkeitsgrads hinsichtlich der gesellschaftlichen Durchsetzbarkeit. Am Anfang der verschiedenen Themengebiete kommen also zunächst Maßnahmen (prioritäre Maßnahmen: sofort oder innerhalb von 1-5 Jahren [1]), die meines Erachtens und gestützt auf gesellschaftliche und ökologische Daten äußerst dringend, sehr wirksam, ausgesprochen legitim und relativ leicht umsetzbar sind. Dann folgen notwendige Entwicklungsschritte hin zu einer Neuordnung, die mittelfristig vorzunehmen sind (mittelfristige Maßnahmen: innerhalb von 5-10 Jahren). Dies bedeutet dann nicht, dass die zuletzt genannten Maßnahmen (längerfristige Maßnahmen: innerhalb von 10-15 Jahren) im Rahmen dieser Prioritätenliste zu vernachlässigen sind, sondern bezieht sich insbesondere auf die zeitliche Perspektive und Komplexität der notwendigen Entwicklung. Alle hier aufgeführten Maßnahmen müssten ergriffen werden, wenn entscheidende Schritte hin zu einer gesellschaftlichen und ökologischen Neuordnung im globalen Maßstab – und damit verbunden – auf allen anderen Systemebenen vorgenommen werden sollen.
Es liegt für viele Menschen nahe, sich zunächst auf der örtlichen und wohnortnahen Ebene zu engagieren, in Klimabündnissen, projektbezogenen Initiativen, im Rahmen von Kommunalpolitik und lebensweltlichen Veränderungen. Über das lokale Engagement hinaus sollte daher auch versucht werden sich regional und überregional zu vernetzen, voneinander zu lernen, sich zu organisieren und miteinander international zu kommunizieren. Ein respektvoller Umgang in den sozialen Netzwerken und in eigenen kritischen Medien ist hierbei eine günstige Voraussetzung der Verbindung des Lokalen mit dem Globalen. Jeder, der sich lokal engagiert, sollte auch Mitglied in einer überregionalen bzw. internationalen Initiative bzw. Organisation sein. Dadurch ist im Sinne holistischen Denkens eine systemische Rückkoppelungswirkung und Wirkungserhöhung von lokalen, regionalen, überregionalen und globalen strategischen Maßnahmen möglich.
Die hier über einen Zeitraum von 1-15 Jahren vorzustellenden Maßnahmen stellen dann auch den Beginn einer systemischen Neuordnung in noch längerfristiger Perspektive dar. Der derzeit im globalen Kontext entfesselte Kapitalismus ist mit diesen Maßnahmen und weiteren Entwicklungsschritten soweit einzuhegen und zu zähmen, dass durch diese systemische Transformation Schritt für Schritt eine neue Ordnung weltweit entsteht, die nicht mehr durch Profitstreben, Ausbeutung und Gier, sondern zunehmend durch gemeinwohlorientiertes Wirtschaften, Gerechtigkeitsstreben, Demokratisierung, tragfähige multilaterale Diplomatie und ökologische Verantwortungsübernahme gesteuert wird.
Diese sozialökologische, ökonomische und demokratische Neuordnung kann dann wohl nicht mehr ‚Kapitalismus‘ genannt werden.
Ökonomische Entwicklungsschritte
Um ökonomische Entwicklungsschritte in Verantwortung für die Erde als Ganzes voranzutreiben, ist eine Neuausrichtung der UN-Sonderorganisationen im Auftrag der demokratisch zu wählenden UN-Institutionen notwendig. Weltbank, IWF und WTO müssen zu einer Transformation Ihrer Förder-, Sanktions- und Investitionspolitik bewegt werden.
Um globale Wirtschafts- und Finanzkrisen zu vermeiden und erste Systemänderungen einzuleiten, sind zunächst folgende Schritte international von Seiten der UN und ihrer Sonderorganisationen, von transnationalen Staatenverbünden und nationalen Regierungen unterstützt durch internationalen, nationalen und regionalen zivilgesellschaftlichen Druck zu initiieren:
Prioritäre Maßnahmen (sofort oder innerhalb von 1-5 Jahren):
· Staaten und transnationale Institutionen müssen sich zu einer verantwortlichen öffentlichen Investitionspolitik verpflichten. Insbesondere in Zeiten konjunkturellen Abschwungs sind im keynesianischen Sinne die Investitionen der öffentlichen Hand zu erhöhen. Hierbei sollte dies insbesondere über die Erhöhung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Bevölkerung über die Erhöhung von Mindestlöhnen, Rentenzuschüssen und Zuschüssen zu sozialen Versicherungsleistungen geschehen. Auch ein effektiver Mietendeckel, der bezahlbaren Wohnraum eröffnet, wird hier notwendig sein.
· Zur Finanzierung der notwendigen Reformmaßnahmen sind u.a. die Einkommens- und Vermögensteuer für Reiche sowie die Erbschaftssteuer bei großen Vermögen deutlich und in einem progressiven Sinne zu erhöhen.
· Hypothekenverbriefung und hochspekulative Geschäfte mit Derivaten sind zu verbieten. Auf beispielsweise den Niedergang von Währungen oder auf eintretende Umweltkatastrophen zu wetten ist zukünftig nicht mehr erlaubt und strafbar. Auf Finanzspekulationen sind international abgestimmte und wirksame Finanztransaktionssteuern sowohl für Aktien, Devisen, Anleihen als auch für den Teil der noch erlaubten Derivate zu erheben. Dies kann zeitnah mit den hierzu bereiten Staaten bzw. Regionen beginnen und ist längerfristig auszuweiten.
· Privatwirtschaftlich organisierte Kryptowährungen sind international zu verbieten. Die öffentliche Hand muss die Kontrolle über die Währungen behalten.
· Zinsen dürfen nur innerhalb eines genehmigten Spielraums gewährt bzw. genommen werden, um die Sicherheit des Kreditnehmers zu gewährleisten bzw. vergleichbare Bedingungen für Kreditgeber zu ermöglichen.
· Multinationale Unternehmen müssen dort Steuern zahlen, wo sie auch Gewinne erwirtschaften. Umschichtungen von Gewinnen zu Steueroasen bzw. von Verlusten zu Hochsteuerländern werden im Rahmen internationaler Kooperation unterbunden. Konzernentflechtungen und z.T. auch staatliche Übernahmen bei schädigendem Verhalten sind zu prüfen und zu entscheiden.
· Es ist ein strenges Lieferkettengesetz weltweit zu verabschieden, das Konzerne bei inhumanen und umweltfeindlichen Produktionsbedingungen ihrer Zulieferfirmen in strafrechtliche Haftung nimmt.
· Die Verletzung der Menschenrechte und die Verursachung von Umweltschäden durch ökonomische Aktivitäten sind international unter Strafe zu stellen. Die Externalisierung dieser Verbrechen zugunsten der Anteilseigner von Konzernen und zulasten der Betroffenen und der Allgemeinheit wird hierdurch verhindert.
· Es sind international gültige Mindeststeuern für multinationale Unternehmungen einzuführen (20-25%), um Steuerdumping und Erpressung von Staaten durch Konzerne zu verhindern.
· Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist als Bezugspunkt volkswirtschaftlicher Berechnung der ökonomischen Leistungsfähigkeit von Gesellschaften im Sinne des Wirtschaftswachstumsdenkens zugunsten eines Index abzulösen, der die Versorgung der Menschen mit Grundnahrungsmitteln, die Einhaltung der Menschenrechte in Arbeitszusammenhängen; Bildungsstrukturen, Gesundheitsversorgung sowie den Ertrag einer ökologisch schonenden Wirtschaftsweise fokussiert.
Mittelfristige Maßnahmen (innerhalb von 5-10 Jahren):
· Weltweit sind in den Betrieben gewerkschaftliche Interessensvertretungen und Betriebsräte einzurichten. Belegschaften sind an den Unternehmensgewinnen mit kreativen Modellen maßgeblich zu beteiligen.
· Es sind von allen Banken relevante Sicherungsfonds für Spareinlagen zu finanzieren und einzurichten, um internationalen Finanzkrisen vorzubeugen. Vorhandene Einlagensicherungsgrenzen sollten nicht über das Niveau von 20% des Einlagenkapitals abgebaut werden. Einlagen- und Investmentbanking müssen voneinander organisatorisch getrennt werden.
· Das Recht auf Bargeld muss erhalten bleiben, damit das individuelle Kaufverhalten außerhalb staatlicher oder sonstiger digitaler Kontrolle bleibt.
· Betriebe solidarischer Ökonomie (Non-Profitorientierung, Nachhaltigkeit, demokratische Entscheidungsstrukturen, Gemeinwohlorientierung) sind mit speziellen öffentlichen Programmen besonders zu fördern, die wiederum aus den Einnahmen aus der Finanztransaktionssteuer zu finanzieren sind.
· Es sind international und in allen Staaten und Regionen ein Sammel- und ein Verbandsklagerecht gegen Konzerne einzuräumen. Dieser Anforderung zuwider laufende Regelungen internationaler Verträge sind zu beseitigen bzw. zu widerrufen.
· Das Phänomen des ‚ungleichen Tauschs‘ ist Schritt für Schritt zu revidieren. Welthandelspreise müssen den realen Wert spiegeln, der durch die Arbeitskraft der Menschen und die eingesetzten natürlichen Ressourcen entstanden ist. Es sind erste Schritte zu einem weltweiten Mindestlohn anzubahnen.
· Waffenhersteller, wie z.B. die Produzenten von Tellerminen, müssen für die Entsorgungskosten haften.
Längerfristige Maßnahmen (innerhalb von 10-15 Jahren):
· Ärmeren Staaten bzw. transnationalen Regionen soll es im Kontext UN-gesteuerter internationaler Absprachen erlaubt sein, für einen zu definierenden Zeitraum moderate Schutzzölle zugunsten ihrer volkswirtschaftlichen Entwicklung erheben zu dürfen, ohne dass hier Gegenmaßnahmen getroffen werden.
· Während es reicheren Staaten bzw. Regionen nicht erlaubt sein darf, ökonomische Produkte bzw. Dienstleistungen mit öffentlichen Mitteln zu subventionieren, kann dies wiederum im Kontext internationaler Absprachen, ärmeren Volkswirtschaften über einen zu definierenden Zeitraum genehmigt werden.
· Es sind Schritte zur Anbahnung einer einzigen Weltwährung vorzunehmen, um Spekulationen mit nationalen und regionalen Devisen zu verhindern.
· Wirksame Finanztransaktionssteuern sind auf alle Finanzprodukte und alle Staaten bzw. Regionen auszuweiten.
· Die Konzernstrukturen sind weiterhin zu entflechten, marktbeherrschende multinationale Unternehmen zu enteignen, zu verkleinern, im Falle gesellschaftlich unverantwortlichen Verhaltens zu verstaatlichen und zu demokratisieren sowie kleinere sowie mittelständige Betriebe besonders zu fördern.
· Es sind nationale bzw. regionale Steuerkorridore international einzurichten, welche die staatlichen Grenzen insbesondere der Unternehmensbesteuerung definieren. Hierdurch wird nationales Steuerdumping verhindert sowie eine anhand der volkswirtschaftlichen Bedürftigkeit eines Staates bzw. einer Region abgestimmte Besteuerung ermöglicht. Hierdurch wird die Existenz von asozialen Steueroasen verhindert.
· Es ist ein Refinanzierungsmodell zu entwickeln, wie die Rüstungsindustrie längerfristig an den bereits entstandenen gesellschaftlichen und ökologischen Kosten von Kriegen beteiligt wird. Die Rüstungsindustrie und die Waffenlieferanten sind an den Wiederaufbaukosten in Kriegen zerstörter Städte angemessen zu beteiligen.
Demokratische Entwicklungsschritte
Prioritäre Maßnahmen (sofort oder innerhalb von 1-5 Jahren):
· Eine international zusammengesetzte Kommission auf der Ebene der UN entwickelt ein Daten basiertes Gutachten, in dem kriteriengeleitet analysiert wird, welche Staaten als demokratisch eingestuft werden können. Hiermit sind Vorschläge und Maßnahmen verbunden, wie eine Redemokratisierung autoritativer Staaten sowie eine Demokratisierung von Diktaturen durch positive Anreize aber auch Sanktionen auf der staatlich-institutionellen sowie auf der gesellschaftlichen Ebene gelingen können.
· Es müssen weitere Schritte zur Demokratisierung der Vereinten Nationen vorgenommen werden. Hierzu müssten sich u.a. die UNPA-Kampagne mit der Interparliamentary Union verständigen und im Sinne von synergetischen Anstrengungen versuchen, zunächst ein demokratisches Weltparlament als UN-Nebenorgan einrichten zu lassen, dessen Kompetenzen dann Schritt für Schritt erweitert werden können.
· Hierzu müsste ein entsprechender Antrag zur Einrichtung eines demokratischen Weltparlaments von beiden internationalen Vernetzungen gemeinsam in die UN-Vollversammlung eingebracht werden. Anschließend bietet sich die Möglichkeit, im Sinne des Art. 22 der UNO-Charta zunächst eine parallel tagende United Nations Parliamentary Assembly (UNPA) einzurichten, die aus demokratischen Wahlen in den Staaten hervorgeht, die den entsprechenden Vertrag unterstützen.
· Um eine sinnvolle Balance von Formen direkter und indirekter Demokratie auf allen Ebenen zu erzielen, sollte kurzfristig über einen Beschluss der UN-Vollversammlung die Möglichkeit zu einer UN-Weltbürgerinitiative (UNWCI) eingerichtet werden. Globale weltbürgerliche Begehren und Befragungen, die digital zu organisieren sind, könnten in Beschlüsse des UN-Parlaments einfließen, wenn deren Sitzungsperiode stattfindet.
· Andreas Zumach (2021) unterbreitet einen Vorschlag zur zukünftigen Finanzierung der Vereinten Nationen: Um aber eine Reform und eine Steigerung der Wirksamkeit der derzeit geschwächten Vereinten Nationen z.B. bei der Bekämpfung von Hungersnöten oder der Klimakrise oder zum Schutz bedrohter Menschengruppen zu bewirken, müsse die strukturell bedingte chronische Finanznot der UNO überwunden werden. Während die UN-Mitgliedsstaaten 2019 knapp zwei Billionen US-Dollar für Rüstung und militärisches Personal ausgäben, hätten sie nur noch 53 Milliarden Dollar (= 0,065% des globalen BIP) vorwiegend in Form freiwilliger Beiträge übrig. Zumach (2021, 35) berechnet dies Missverhältnis mit 248 Dollar pro Erdenbewohner für Militärausgaben und nur weniger als 7 Dollar für die Finanzierung der UNO. Zumach (2021, 40) unterbreitet einen durchgerechneten Finanzierungsvorschlag für die Vereinten Nationen: "Eine Möglichkeit wäre es, die UNO-Beiträge nach einem festen Prozentsatz des weltweiten Bruttoinlandsprodukts (BIP) zu bestimmen. 0,06 des globalen BIP im Jahr 2019 von 87,55 Billionen US-Dollar, aufgebracht durch verbindliche Pflichtzahlungen der Mitgliedsländer von 0,06 ihres jeweiligen nationalen BIP, hätten verlässliche Finanzmittel für das UNO-System von 52,5 Milliarden erbracht statt der unverbindlichen budgetierten, zu 80 Prozent in Form freiwilliger Beiträge zugesagten 53 Milliarden."
Mittelfristige Maßnahmen (innerhalb von 5 -10 Jahren):
· Nationalstaaten und Regionen sind ressourciell mit Expertise und finanzieller Förderung von Seiten der UN zu unterstützen, die sich entschließen, eine Redemokratisierung vorzunehmen bzw. erstmals eine demokratische Ordnung anzunehmen. Resistente Diktaturen sind zu sanktionieren, z.B. Vorteile im internationalen Handelssystem zu entziehen.
· Alle Nationalstaaten unterstellen sich der internationalen Gerichtsbarkeit der verschiedenen Kammern des Internationalen Gerichtshofs in Fällen, die internationale Belange betreffen und einer überstaatlichen Gerichtsbarkeit bedürfen. Die internationale Gerichtsbarkeit steht dann über der nationalen und örtlichen Justiz.
· Die weltpolizeiliche Zusammenarbeit ist zu stärken. Hierfür wird eine zentrale weltpolizeiliche Koordinierungsstelle eingerichtet, die bei den Vereinten Nationen positioniert ist.
· Es ist in diesem institutionellen Kontext auch eine zentrale umweltpolizeiliche Abteilung bei den UN zu gründen, die mit Exekutivrechten ausgestattet, bei einer entsprechenden Beschlusslage des UN-Parlaments bzw. des internationalen Gerichtshofs vermittelt über den/die UN-Generalsekretär/in bzw. dann über den/die UN-Präsidenten_in initiativ werden kann.
· Der rechtliche Status des Weltbürgertums ist über einen Weltbürgerpass einzuführen, der digital bei der zuständigen UN-Behörde beantragt werden kann. Dieser international gültige Pass ersetzt Schritt für Schritt die nationalen Passdokumente.
Längerfristige Maßnahmen (innerhalb von 10-15 Jahren):
· Die Vereinten Nationen sollten auch langfristig ihre Verantwortung gegenüber einer Stärkung der Demokratie und demokratischer Parlamente in den internationalen Auseinandersetzungen um die Vernichtung bzw. das Zurückdrängen der Demokratie, um den Ausgleich sozialer Ungerechtigkeit, die Friedenssicherung, dem Ausbruch von Pandemien sowie der Umweltzerstörung in verschiedenen Weltregionen intensiver wahrnehmen. Des Weiteren ist langfristig die Übertragung von nationalstaatlichen Hoheitsrechten an die UN einzurichten, wo globale Belange berührt sind bzw. Probleme nur global geregelt werden können. Die Vereinten Nationen sind hierfür mit den entsprechenden Institutionen und den notwendigen Ressourcen auszustatten.
· Ist ein souveränes demokratisches Weltparlament mit den entsprechenden Hoheitsrechten erreicht, das aus der UNPA-Initiative Schritt für Schritt hervorgeht, so sind Entscheidungskompetenzen des UN-Sicherheitsrats an das UN-Parlament zu übertragen. Der UN-Sicherheitsrat wird von dem demokratischen Weltparlament gewählt. Alle seine Mitglieder haben das gleiche Stimmrecht. Das Veto-Recht privilegierter Staaten wird abgeschafft. Es werden Maßnahmen zur Wahl einer von dem/der UN-Präsidenten_in geleiteten Weltregierung von Seiten der UN-Vollversammlung angebahnt und kontrolliert. Eine derartige Weltregierung, die ebenfalls das UN-Generalsekretariat integriert, ist strikt und verfassungsrechtlich einklagbar dem Subsidiaritätsprinzip verpflichtet.
Ökologische Entwicklungsschritte
Prioritäre Maßnahmen (sofort oder innerhalb von 1-5 Jahren):
· Die bereits eintretende Klimaerwärmung der Biosphäre bedroht die Lebensgrundlagen der Menschheit. Hier muss es möglichst kurzfristig auf der Ebene der Vereinigten Nationen eine Nulltoleranz-Politik gegenüber Nationen und Konzernen geben, die das internationale umweltpolitische Vertragswerk, z.B. die Pariser Klimaverträge, im Kampf gegen die Klimaerwärmung und die Überschreitung des 1,5-Grad-Ziels boykottieren. Es müssen alle Sanktionsmittel ausgenutzt werden, die eine entsprechend zu verändernde Charta der Vereinten Nationen bietet, um eine Erwärmung der Erdatmosphäre um zwei Grad bis zum Ende des 21. Jahrhunderts noch deutlich zu unterschreiten. In diesem Zusammenhang müssen die UN auch ein Mandat erhalten, bei massiven Eingriffen eines Nationalstaates in Klima relevante Naturbestände mit abgestuften Sanktionen intervenieren zu können. So kann es beispielsweise Brasilien nicht mehr gestattet werden, seinen Regenwald, die Lunge der Erde, für Soja-Anbau, Rinderzucht, Goldgräberei und Bodenspekulation massiv abzuholzen bzw. abzubrennen. Hierfür ist eine mit Exekutivmacht ausgestattete zentrale Umweltschutzorganisation der Vereinten Nationen zu gründen, die in Zusammenarbeit mit regionalen und lokalen Umweltschutzbehörden die Einhaltung der Umweltstandards überwacht und entsprechende Sanktionen kontrolliert. Das Umweltprogramm UNEP, der Weltklimarat IPCC und die UN-Umwelt-Versammlung (UNEA) reichen hierfür als Institutionalisierung auf der globalen Ebene nicht aus.
· Es sind die Konzeptionen eines wirkungsvolleren Handels mit Emissionszertifikaten umzusetzen sowie das Verhängen von Strafzöllen auf klimafeindlich und umweltschädlich produzierte Waren zu erheben, so dass sich für Volkswirtschaften eine derartige Produktion nicht mehr lohnt.
· Parallel zum Ausbau einer solaren Energieversorgungsinfrastruktur werden Maßnahmen getroffen, die Verstromung von Braun- und Steinkohle zu beenden (siehe auch mittel- sowie längerfristige Maßnahmen). Übergangsweise kann die Versorgung mit Wärme und Strom auch über die Verbrennung von Klärschlamm in den ehemals auf fossiler Basis arbeitenden Kraftwerken gewährleistet werden. Modernisierte Gaskraftwerke können in der Anfangsphase der sozialökologischen Transformation die Versorgungssicherheit gewährleisten.
· Atomkraftwerke stellen aufgrund ihrer Gefährlichkeit (siehe Tschernobyl, Harrisburg, Fukushima) sowie der nicht vorhandenen Entsorgungs- bzw. Transmutationsmöglichkeit des radioaktiven Materials keine energiewirtschaftliche Alternative dar. Atomstrom ist zudem mit Abstand die teuerste Stromquelle, wenn man die staatlichen Subventionen, die notwendigerweise zu entwickelnden Entsorgungsleistungen über Tausende von Jahren und den durchaus wahrscheinlichen Fall weiterer nuklearer Katastrophe berücksichtigt. Atomkraftwerke behindern die konsequente Transformation in eine solare Energieversorgungsinfrastruktur und sind zügig abzuschalten. Versuche des 'Greenwashing' von Atomkraft sind öffentlich zu tabuisieren, stellen einen Bezugspunkt zivilgesellschaftlichen Widerstands dar und sollten parlamentarisch abgelehnt werden (zum Versuch des 'Greenwashing' durch die EU-Kommission vgl. Moegling 2022).
· Es ist ein internationaler sofortiger Boykott aller Erträge sogenannter ‚unkonventioneller Methoden‘ der Energiegewinnung (Fracking, Erdöl aus Teersand sowie Kohletagebau durch Bergsprengung) durchzuführen. Aber auch der ‚normale‘ Abbau von Kohle und die konventionelle Gewinnung von Öl und Gas ist Schritt für Schritt in den nächsten Jahren mit der Zunahme regenerativer Energieerzeugung und intelligenter Stromnetze und Speicherungsmöglichkeiten zu stoppen.
· Das Flugbenzin ist zu besteuern. Die Umwelt mit NOx verschmutzende Diesel-Fahrzeuge und Benziner mit überdurchschnittlichem CO2-Verbrauch sind höher zu besteuern. Das steuerbegünstigte Dienstwagenprinzip ist abzuschaffen bzw. sollte nur bei ökologisch verträglichen Fahrzeugen angewandt werden. 40.000 vorwiegend mit extrem umweltschädigendem Schweröl betriebene Handelsschiffe und 300 Kreuzfahrtschiffe sind mit massiven CO2-Steuern zu belegen, so dass eine kurzfristige Stilllegung oder eine mittelfristige Umstellung in den Antriebstechniken erforderlich wird. Dies ist durch die entsprechenden UN-Institutionen international zu koordinieren, so dass es hier keine Ausnahmen geben kann. Neben der Absenkung der Treibhausgasemissionen durch den teurer werdenden und dadurch sich z.T. nicht mehr lohnenden internationalen Transport werden hierdurch einerseits die umweltfreundliche Umstellung der Antriebstechniken und andererseits die regionale Produktion sowie die Konsumtion regionaler Produkte gefördert.
· Die Entsorgung von Plastikmüll im Meer ist unmittelbar zu stoppen. Die Produzenten z.B. von Plastikverpackungen und Plastiktüten sind an der Beseitigung der Plastikvermüllung im Meer finanziell maßgeblich zu beteiligen. Die Externalisierung der Umweltkosten durch die Plastikmüllproduzenten kann hierdurch gestoppt werden.
· Recyclingketten müssen durchgehend organisiert werden, um die Wiederverwertung von anfallenden Abfallstoffen zu ermöglichen. Kontrollen müssen die effektive Mülltrennung gewährleisten. In diesem Zusammenhang muss auch der Müllexport in andere, vor allem südliche Länder gestoppt werden. Der Müll muss dort entsorgt bzw. recycelt werden, wo er verwendet wird.
· Staaten und Regionen, die noch keine Geschwindigkeitsbegrenzungen auf ihren Autobahnen eingeführt haben, können dies nach den entsprechenden parlamentarischen Entscheidungen kurzfristig gesetzlich regulieren, ohne dass größere Kosten entstehen. Geschwindigkeitsbegrenzungen, z.B. bei 110 km/h oder 65 Meilen, sorgen für weniger Benzinverbrauch, geringeren Reifenabrieb und damit für eine abnehmende Feinstaubbelastung sowie eine größere Sicherheit auf den Autostraßen.
· Die Umstellung auf energiesparende und regenerative Heizsysteme sowie die Wärmedämmung von Häusern ist von den einzelnen Nationalstaaten mit Hilfe von zu erhöhenden Subventionen und zu steigernden steuerlichen Anreizen zu fördern. Dies ist über eine wirksame CO2-Steuer für Unternehmen zu finanzieren.
· Die Vergiftung des Bodens, des Grundwassers sowie der Luft aufgrund von Emissionen, Überdüngung über Gülleentsorgung, Einsatz von Pestiziden und unkontrollierte Abfallentsorgung ist weltweit und ohne Ausnahme entweder unter Strafe zu stellen oder umweltsteuerlich so hoch zu belasten, dass es sich für die Nutzer dieser Mittel nicht mehr als wirtschaftlich darstellt. Zunächst sind Aufzeichnungspflichten und genaue Rechenschaftslegung über die ausgebrachte Düngermenge an zu verschärfende Regulierungen zu binden, um den kurzfristigen Schutz des Bodens und des Wassers zu gewährleisten.
· Das Konsumentenverhalten muss sich kurzfristig global radikal verändern. Nicht billige Fleischprodukte sollten im Fokus von Kaufentscheidungen stehen, sondern mehr pflanzliche Produkte, die regional und ökologisch angebaut worden sind. Entsprechende von den Nationalstaaten zu erhebende Fleischsteuern belasten den Fleischverbrauch und werden zielgerichtet für den ökologischen Anbau von Getreide, Reis, Obst, Gemüse etc. im Sinne steuerlicher Anreizsysteme verwendet. Entweder stellen sich landwirtschaftliche Betriebe mit Hilfe steuerlicher Anreizsysteme im Sinne biologischen Anbaus um oder sie werden über die staatlich verordnete Internalisierung der Kosten keine Rentabilität mehr erzielen können.
· Auf lokaler Ebene sind von den kommunalen Entscheidungsgremien die notwendigen Klimabeschlüsse zu fällen, die auf eine mittel- bis längerfristige Klimaneutralität ausgerichtet sind (möglichst in 5 bis 10 Jahren erreicht). Es sind ergänzend hierzu kommunale Klimaräte und zugeordnete Themengruppen, die sich aus Klimaexperten und -wissenschaftlern sowie engagierten Bürgern zusammensetzen, einzurichten, die die Durchsetzung der Klimabeschlüsse der örtlichen kommunalen Entscheidungsgremien anregen und auch über ihre Expertise und Rückmeldung an die Öffentlichkeit kontrollieren. Als erste Maßnahme ist der öffentliche Nahverkehr unentgeltlich zu gestalten und erste Weichenstellungen zu einer autofreien Innenstadt vorzunehmen (Verringerung und Verteuerung der Parkflächen, Sperrung weiter Teile der Innenstadt für den PKW-Regelverkehr, kurzfristige Einrichtung von durchgehenden Fahrradwegen zu Lasten des PKW-Verkehrs, Ausbau von Parkplätzen an den Stadträndern in Verbindung mit dem öffentlichen Nahverkehr).
· Die gefährdeten Meere sind zu schützen: Ausweisung von Meeresschutzgebieten auf der Grundlage eines weltweiten Ozeanvertrags unter Federführung der Vereinten Nationen. Für die restlichen Meeresgebiete sind ebenfalls ökologische Maßnahmen (hinsichtlich der Fangverbote gefährdeter Arten, dem Ende der Müllverklappung, der verschärften Transportrichtlinien und Sicherheitsbestimmungen etc.) zu ergreifen und über Sanktionen und Kontrolle zu sichern.
· Zum Ausgleich der historischen Klimaschulden der reichen Weltregionen ist von diesen zum einen mit der Finanzierung der Reparatur von Klimaschäden zu beginnen, wie z.B. die Errichtung von Deichen, der von Bau Bewässerungsanlagen oder das Pflanzen von Wäldern. Parallel hierzu sind die ärmeren Regionen der Welt mit der Implementierung einer auf regenerativer Energieerzeugung basierenden Infrastruktur zu unterstützen. Auch diese Maßnahmen sind aufgrund des überproportionalen Anteils an den CO2-Emissionen durch den reicheren Teil der Welt von diesen Regionen maßgeblich im Sinne globaler Gerechtigkeit zu finanzieren. Dies ist durch die zuständigen Institutionen der UN zu koordinieren und zu kontrollieren.
Dies sind sicherlich Maßnahmen zur Beseitigung der ökologischen Gerechtigkeitslücke, die auch noch in den nächsten zehn Jahren durchzuführen sind, aber bereits in den ersten fünf Jahren unmittelbar wirksam einsetzen müssen.
Mittelfristige Maßnahmen (innerhalb von 5-10 Jahren):
· Es wird zurecht von Greta Thunberg (2019, 103) – orientiert an den Zahlen des IPCC – gefordert, dass für einen mittelfristigen Zeitraum das CO2-Budget zu berechnen ist, das noch für globale Emissionen zur Verfügung steht, wenn das Ziel einer Begrenzung der Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius noch gelingen soll. Um eine Chance von 67% für das 1,5-Grad-Klimaziel zu haben, könnten nur noch 350 Gigatonnen CO2 weltweit emittiert werden, wenn man den Level der Emissionen von 2019 zugrunde legt. In 8,5 Jahren, ab 2019 berechnet, sei dieses CO2-Budget ausgeschöpft [2]. Dies sind in der Tat die Zahlen, an denen sich orientiert werden muss. Hierbei ist die CO2-Reduktion im globalen Vergleich klimagerecht zu gestalten, so dass reichere Regionen stärker CO2 einsparen müssen als ärmere Regionen. Eine ähnliche Rechnung ist ebenfalls für die Emission anderer Klimagase, wie z.B. Methan, zu entwickeln.
· Die Durchsetzung einer solaren Energieversorgungsstruktur in Verbindung mit einer energiepolitischen Effizienzsteigerung verhindert zum einen das hegemoniale Bedürfnis zur Sicherung bzw. Ausbeutung von Öl- und Gasvorkommen als Ursache militärischer Konflikte. Zum anderen werden insbesondere die ärmeren Länder des globalen Südens unabhängig von Öl- und Gasimporten und können sich aufgrund der reichhaltig vorhandenen Solarenergie autonom versorgen. Entsprechende Solarprojekte, sei es auf der Basis von Fotovoltaik, Wärmethermen oder Windkraft sind im globalen Süden – sowohl zentral als auch dezentral – von den Nationalstaaten, den regionalen und transnationalen Institutionen und den Vereinten Nationen aus den Erträgen der CO2-Steuern zu fördern.
· Der als kurzfristige Maßnahme begonnene Ausbau des öffentlichen und unentgeltlichen Nahverkehrs und das Fahrradwegenetz in den Städten sowie im stadtnahen ländlichen Raum sind mit Hilfe eines gesteigerten Einsatzes von finanziellen Ressourcen unter Beratung der örtlichen Bürgerschaft weiter auszubauen, so dass die Innenstädte innerhalb von fünf bis zehn Jahren weitgehend autofrei und als lebenswerter öffentlicher Raum seinen Bürgern_innen wieder zurück gegeben werden können.
· Es wird ein effektiverer von der UNO organisierter Handel mit Umweltzertifikaten entwickelt. Dies wird ein Anreizsystem, das an Nachhaltigkeit orientiertes Handeln deutlicher als bisher belohnt bzw. im Falle nicht-nachhaltigen Handelns zur empfindlichen finanziellen Beeinträchtigung für entsprechende Unternehmen und Nationen führt. Andererseits wird eine ökologische Wirtschaftsweise über einen wirksameren Zertifikatehandel in seiner Funktion als positives Anreizsystem belohnt.
· Internationale Handelsabkommen, die u.a. den Konzernen ein Klagerecht einräumen, wenn ihre ökonomischen Aktivitäten durch Umweltstandards oder menschenrechtliche Regelungen beeinträchtigt werden, sind weltweit mit der Unterstützung der UN rückgängig zu machen. Hier müssen rechtliche Möglichkeiten einer vertraglichen Aufkündigung aufgrund des derzeit global eingetretenen ökologischen Notfalls der Klimakrise, den Folgen der pandemischen Notsituation und den ungeheuren Kosten des notwendigen Wiederaufbaus militärisch zerstörter Gebiete eingeräumt werden.
· Die Privatisierung von Trinkwasserquellen und der Verkauf portionierten Trinkwassers im privatwirtschaftlichen Rahmen sind rückgängig zu machen. Internationale Wasserkonzerne sind über Einnahmen aus den verschiedenen Umweltsteuern mit dem Blick auf ihre realen Kosten, nicht in Bezug auf die gegenwärtig und zukünftig zu erzielenden Renditen, angemessen für die Förder- und Leitungssysteme zu entschädigen.
· Es wird ein international gültiges Verbot der Massentierhaltung erlassen, einer Massentierhaltung, im Rahmen derer Tierquälerei derzeit die Regel ist. Es sollten empfindliche Strafen für diejenigen Landwirte vorgesehen sein, die Tiere ohne Bewegungsmöglichkeit in Käfigen fixieren und mit Hormonen zu schnellerem Fleischwachstum hochzüchten. Der gewollte Rückgang des globalen Fleischkonsums ermöglicht eine artgerechte Haltung von Nutztieren. Hierbei muss eine Umstellung der Subventionspolitik der Staaten bzw. Regionen, wie z.B. der EU, erfolgen. Mittelfristig dürfen nur noch nach strengen biologisch-ökologischen Prinzipien produzierende und verarbeitende landwirtschaftliche Betriebe gefördert werden. Dadurch wird die Umstellung auf eine ökologische Landwirtschaft attraktiv.
· ‚Urban Gardening‘ ist kurz- und mittelfristig zu fördern, anstatt dies administrativ zu behindern. Insbesondere in großen Städten sind geeignete brachliegende Flächen, im Sinne der Gemeinwohlökonomie, gemeinschaftlich und nach ökologischen Prinzipien zu bewirtschaften. Auch städtische Flachdächer sind, insbesondere im Sinne von Hydrokulturen, mit Gartenanlagen zu nutzen.
· Die eigene an ökologischen Prinzipien orientierte Subsistenzwirtschaft ist nicht nur über das ‚Urban Gardening‘ wieder im größeren Umfang aufzunehmen. Hierfür müssen gesetzliche Rahmenbedingungen geschaffen werden, um die entschiedene Bekämpfung und Revision des ‚Land Grabbings‘ besonders in den südlichen Ländern der Hemisphäre zu ermöglichen. Die Kleinbauern müssen wieder die Chance erhalten, auf ihren Grund und Boden zurückzukehren. Landflächen und landwirtschaftliche Subventionen für biologischen Anbau müssen diesen Prozess unterstützen und flankieren. Die Slums der globalen Großstädte müssen in diesem Sinne Schritt für Schritt wieder beseitigt werden.
Längerfristige Maßnahmen (innerhalb von 10-15 Jahren):
· Längerfristige Maßnahmen müssen bis zum Jahr 2035 einen deutlichen Schritt zur globalen Klimaneutralität in einer intersektionalen und international gesteuerten Vorgehensweise erreichen, um die Klimaerwärmung noch eindämmen zu können. Es ist die Frage, ob die vom IPCC für 2040 bis 2050 geforderte vollständige globale CO2-Neutralität nicht schon früher erreicht werden müsste, um eine unkontrollierbare Klimaentwicklung über das 1,5 Grad-Ziel hinaus noch zu verhindern. In neueren Untersuchungen stellt selbst der IPPC eine gefährlichere Klimasituation fest, die für den Erhalt des 1,5 Grad Celsius-Ziels nur noch ein globales Restbudget von 300 Giga Tonnen CO2 zulässt (IPPC 2021, 38).
· Die schrittweise Abschaffung von Verbrennungsmotoren auf Öl-Basis ist ein weiteres wichtiges Ziel, das mit der Einführung von innovativen Antriebstechniken verbunden sein muss (‚Exnovation‘). Hierbei ist insbesondere die Entwicklung von auf Wasserstofftechnologie bzw. Brennstoffzellen basierender Antriebstechnik zu betreiben, da die E-Mobilität mit großen Lithium-Ionen-Akkus mit einem extremen Umweltverschleiß in einem wenig nachhaltigen Sinne verbunden ist. Natürlich sollte der beim Einsatz von Wasserstofftechnologie notwendige Strom zur Erzeugung von Wasserstoff aus erneuerbaren Energiequellen stammen. Auch muss die Brennstoffzellen gestützte E-Mobilität in eine Gesamtkonzeption hinsichtlich der Verringerung des Individualverkehrs mit Kraftfahrzeugen und des bereits mittelfristig zu erfolgenden Ausbaus des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs sowie des auszubauenden Radwegenetzes eingebunden sein.
· Die Energiewende, das Erzielen der Klimaneutralität über den beschleunigten Abbau der Emissionen von menschenverursachten Klimagasen, muss u.a. über die Beendigung der Verbrennung fossiler Energien zugunsten moderner auf regenerativer Energieerzeugung basierender Technologien und Kraftwerken erreicht werden. Dies muss in Verbindung mit einem intelligenten Management der nationalen, regionalen und globalen Energienetze erreicht werden. Das Verhältnis von Energieproduktion, Ausgleichskraftwerken und Energiespeicherung ist auf der Grundlage ingenieurwissenschaftlicher Konzeptionen zu optimieren. Die Verbrennung von Kohle und Öl zur Energiegewinnung sollte spätestens 2030 weltweit beendet sein.
· Es müssen geeignete und international koordinierte Maßnahmen zu einer massiven Wiederaufforstung von Wäldern im globalen Maßstab getroffen werden, um hier die Biodiversität sowie CO2-Senken und Sauerstoffproduktion zu fördern. Dies muss zwar unmittelbar beginnen und längerfristig fortgesetzt werden, kann sich aufgrund der Wachstumsdauer der Pflanzen aber erst längerfristig auswirken.
· Die Bemühungen um die Ausweisung von einem Drittel der Meere als Meeresschutzgebiete müssen abgeschlossen werden, um die Renaturierung verschmutzter Meeresgebiete und um den Schutz gefährdeter Meereslebewesen zu ermöglichen.
· Internationale Abrüstungsmaßnahmen mit einem hiermit koordinierten Ausbau des UN-Gewaltmonopols führen zu einer Abnahme militärischer Aktivitäten sowohl im Rahmen von Manövern und militärischem Alltag als auch im Zuge von militärischen Konflikten. Dies führt dann langfristig zu einer deutlichen Abnahme von durch das Militär massiv verursachten Umweltschäden, insbesondere der militärisch verursachten Klimaschädigung.
Friedenspolitische Entwicklungsschritte
Prioritäre Maßnahmen (sofort oder innerhalb von 1-5 Jahren):
· Die zurzeit stockenden OSZE-Verhandlungen sind wieder wirksam aufzunehmen mit dem Ziel einer doppelten Abrüstungsstrategie – gleichzeitig Schritt für Schritt atomare Waffen und konventionelle Waffen abzurüsten. Im Sinne der früheren durchaus erfolgreichen KSZE-Verhandlungen sind zeitlich befristete Zielvereinbarungen über Abrüstungsmaßnahmen zu unterzeichnen und gleichzeitig umfassende internationale Kontrollen durch Institutionen der UN sowie deutliche Sanktionen für den Fall der Nichteinhaltung festzulegen.
· In diesem Kontext ist endlich ein Friedensvertrag zwischen der EU und Russland sowie der USA und Russland zu schließen, sind die NATO-Truppen von der russischen Grenze abzuziehen und Russland bedrohende Mittelstreckenraketen abzubauen. Parallel hierzu zieht sich Russland aus der Ostukraine und der Krim zurück. In beiden Gebieten findet eine international kontrollierte Abstimmung zur nationalen Zugehörigkeit statt. Eine neue Periode der Entspannung ist über die Koordination und Begleitung der UN einzuleiten. Ähnliche vertragliche Regelungen sind unter der Kontrolle der UN zwischenstaatlich auch in anderen Regionen abzuschließen und Raketenstellungen, Panzer, Truppen und Schiffe zurückzuziehen.
· Die internationale Entwicklungszusammenarbeit ist in einem ersten Schritt auf die geforderten 0,7% des Bruttoinlandsprodukts für die bisher ungenügend einzahlenden Nationen anzuheben, damit die Umsetzung der Sustainable Goals (SDG) – auch im Bereich der Friedenspolitik – zumindest in ersten Ansätzen beginnen kann. Entwicklungszusammenarbeit muss weltweit projektbezogen und kontinuierlich im Sinne von ‚Hilfe für Selbsthilfe‘ vorgenommen sowie streng und transparent evaluiert werden, damit das Geld nicht auf den Konten korrupter Politiker versickert bzw. nicht in das Ausland transferiert wird.
· Es ist nicht länger hinnehmbar, dass Krankenhäuser, Hilfstransporte und Schulen Zielobjekt militärischer Attacken sind. Hier muss die Weltgemeinschaft ein deutliches Zeichen setzen und derartige Übergriffe resolut und mit robusten Mitteln derart drastisch verfolgen, dass diese Möglichkeit für jeden Kriegsgegner, Warlord oder fanatischen Staat zur nicht wählbaren Option wird. Die Unterzeichnung z.B. der „Safe Schools Declaration“[3] ist hier ein erster Schritt; aber eine solche Unterzeichnung muss rechtlich bindend für einen Staat sein. Schulen, Universitäten, Kindergärten, Krankenhäuser und ähnliche Institutionen sind in Krisenregionen wirkungsvoll zu bewachen und zu schützen. Auch sind die Einrichtung von Beobachtungsmaßnahmen und das Verhängen strengster Sanktionen von Seiten des durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die Bildungsorganisation der UN (UNESCO) hier zu unterstützenden Internationalen Gerichtshofs zu gewährleisten.
· Jegliche Produktion von Land- und Wasserminen ist zu untersagen. Diejenigen, die derartige Minen gelegt und auch diejenigen, die diese Waffen produziert haben, werden verpflichtet, auf eigene Kosten diese Minen zu beseitigen.
· Die Forschung für den Einsatz künstlicher Intelligenz hinsichtlich der militärischen Nutzung von Robotern ist zu beenden. Wissenschaftler_innen und Unternehmen, die hiermit befasst sind, müssen aus ethischen Gründen die Forschungsarbeiten hieran einstellen.[4]
· Die Forschung an biologischen Waffen – auch getarnt als Abwehrwaffen – ist sofort zu beenden. Dies ist strengstens zu kontrollieren und zu überwachen, damit keine Pandemie aus einem Forschungslabor entspringen kann.
Mittelfristige Maßnahmen (innerhalb von 5-10 Jahren):
· Das Missverhältnis – 0,7% des BIP für internationale Entwicklungszusammenarbeit zu 2,0% Nato-Forderung nach militärischer Aufrüstung – ist zu beseitigen. Es muss zukünftig mehr Investitionen in zivile Entwicklungskooperation als in militärische Aufrüstungsprogramme geben. Das bisher bestehende inhumane Missverhältnis ist mittel- und langfristig Schritt für Schritt zu verändern. Eine wirksame Koordination und Kontrolle auf UN-Ebene zwischen den verschiedenen Maßnahmen von Weltbank, IWF, WTO, UN-Wirtschafts- und Sozialrat, Fonds und Programmen müsste eine speziell für Entwicklungsförderung zuständige UN-Spitzenbehörde übernehmen, die eng mit der UN-Vollversammlung und dem UN-Generalsekretariat bzw. dann später mit dem/der UN-Präsidenten_in zusammenarbeitet.
· Die Vereinten Nationen werden über eine Veränderung der Charta der Vereinten Nationen berechtigt, über eine Initiative des UN-Generalsekretariats bzw. der Weltregierung, des UN-Parlaments oder des UN-Sicherheitsrats mit einer qualifizierten Mehrheit von drei Vierteln der Stimmen im UN-Parlament bei massiven Menschenrechtsverletzungen einer Regierung in die Souveränität eines Landes einzugreifen und die entsprechende Bevölkerungsgruppe zu schützen. Täter – auch hierfür verantwortliche Regierungsvertreter_innen – sind festzunehmen und dem Internationalen Gerichtshof zu überstellen.
· Jeder UN-Staat hat sich der internationalen Gerichtsbarkeit auch hinsichtlich Menschenrechtsverletzungen und Verstößen gegen die Genfer Konventionen im Kriegsfall zu unterstellen. Es ist keine Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen mit einer Nichtanerkennung der internationalen Gerichtsbarkeit vereinbar.
· Auf Pazifizierung und Bewahrung der Menschenrechte ausgerichtete NGO’s, wie z.B. ‘Peace Brigades International’ (PBI) [5], „association pour la taxation des transactions financières et pour l'action citoyenne“ (ATTAC)[ 6] oder ‘International Campaign to Abolish Nuclear Weapons’ (ICAN)[7], sind mit Engagement und finanziellen Ressourcen zu unterstützen und achtungsvoll in Prozesse des ‚Global Governance‘ einzubeziehen. Auch die internationale Gewerkschaftsbewegung sowie die Gremien der International Labor Organization (ILO) der UN sind im Rahmen dieses Politikkonzepts stärker als bisher an Entscheidungen zu beteiligen.
Längerfristige Maßnahmen (innerhalb von 10-15 Jahren):
· Die Nationalstaaten und Weltregionen sind Schritt für Schritt zu entwaffnen zugunsten einer weltpolizeilichen und von der UN geleiteten und kontrollierten Struktur. Das Gewaltmonopol geht von den Nationalstaaten über zu den demokratisch gewählten Institutionen der UN als strukturelle Voraussetzung für die Bewahrung des Weltfriedens.
· Die weltpolizeiliche Arbeit unter Leitung der UN und ihrer transnationalen, nationalen und örtlichen Behörden entwickelt eine Sicherheitskultur, die lokale zivilgesellschaftliche Kräfte und Initiativen vermittelnd einbezieht. Erst nach dem Ausschöpfen zivilgesellschaftlich durchzuführender Mediations- und Vermittlungsverfahren sind Formen weltpolizeilichen Gewalteinsatzes notwendig.
· Die privatwirtschaftlich organisierten nationalstaatlichen oder regionalen Vielfachstrukturen hinsichtlich der Waffenproduktion und Rüstung werden aufgelöst zugunsten von Produktionsstätten für die Ausrüstung der weltpolizeilichen Funktionen. Dies bedeutet eine Rückführung der Waffenindustrie auf ungefähr 10% ihres jetzigen Niveaus, um für die Ausrüstung der weltpolizeilichen Kräfte zu sorgen.
· Die Rüstungskonversion der überflüssig gewordenen Waffenindustrie ist abzuschließen. Öffentlich geförderte Fort- und Weiterbildungsprogramme ermöglichen eine Umstellung auf Friedensindustrien und einen Ausbau im Dienstleistungssektor, z.B. für Kranken- und Pflegeberufe.
· Es erfolgt in diesem Zusammenhang auch eine vollständige nukleare Abrüstung und Vernichtung der Atomwaffenarsenale.
· Die globale Abrüstung und damit das Schrumpfen der nationalen Wehretats hat eine entschiedene Friedensdividende zur Folge: Freiwerdende finanzielle Ressourcen in der Höhe von Billionen Dollar, die insbesondere zur Bewältigung der Klimakrise, zu friedensstiftenden Maßnahmen, für den Katastrophenschutz sowie für den sozialen Ausgleich im globalen Maßstab verwendet werden können.
Sozialpolitische Maßnahmen
Prioritäre Maßnahmen (sofort oder innerhalb von 1-5 Jahren):
· Es müssen, auch um Verteilungs- und Verdrängungskämpfe zu vermeiden, auf verschiedenen Ebenen Anstrengungen unternommen werden, die lebensnotwendigen Ressourcen für alle auf diesem Planeten lebenden Menschen zu sichern, wie z.B. sauberes Wasser, gesunde und bezahlbare Nahrungsmittel, regenerativ erzeugte Energie, kriegsfreie Lebensräume, bezahlbare Transportmöglichkeiten, Bildung und medizinische Grundversorgung sowie erschwinglichen Wohnraum. Hierzu sind erste Schritte zu einer Vergesellschaftung der nationalen und internationalen Schlüsselindustrien zu unternehmen bzw. Privatisierungen z.B. in den Bereichen der Bahn, der Wasserversorgung, der Bildung, des Gesundheitssystems, der Wohnungsbaugesellschaften und der Post rückgängig zu machen, um einen prioritär profitorientierten Umgang mit den lebensnotwendigen Ressourcen und Lebenschancen zu verhindern. Dies beginnt mit Preiskontrollen und Entflechtungsmaßnahmen in Bezug auf Konzernstrukturen im Rahmen des zu verschärfenden internationalen Kartellrechts. Initiatoren dieser Maßnahmen müssten die internationale Gewerkschaftsbewegung, die Internationale Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen (ILO) in Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Nichtregierungsinitiativen, widerständigen lokalen und überregionalen Bürgerbewegungen sowie den Parteien und Parlamenten sein, die sich einem demokratischen Engagement und dem Gemeinwohl verpflichtet sehen. Über eine Restrukturierung bzw. die Weiterentwicklung der nationalen und transnationalen Demokratien sind entsprechende demokratische Mehrheiten für einen derartigen gesellschaftlichen Umwälzungsprozess zu gewinnen.
· Es sind erste wirksame Schritte zu unternehmen, für alle Menschen einen Mindestlohn, eine Grundrente und Versicherungsleistungen zu gewähren, die ein Leben in Würde ermöglichen. Dies ist aus der ‚Friedensdividende‘, der Schließung der Steueroasen, der globalen Mindeststeuer für multinationale Konzerne und den dadurch wachsendenden Steuermitteln, der zu erhebenden Roboter-Steuer sowie der Reduktion von Konzerngewinnen über die Internalisierung der von ihnen verursachten externen Kosten zu finanzieren.
· Die durch religiöse Überzeugungen, z.B. im orthodoxen Katholizismus, dem ultraorthodoxen Judentum oder eines rückständigen Islams, insbesondere in Kombination mit fehlender Bildung begünstigte Vermehrung der Weltbevölkerung über die ressourciellen Möglichkeiten des Planeten hinaus ist mit ersten Schritten, insbesondere über Aufklärung, kostenlosen und subventionierten Verhütungsmitteln und finanziellen Anreizmaßnahmen zu begegnen. Insbesondere die bereits eintretende Verbindung von Aufklärung, Emanzipation, Bildung und Wohlstand zeigt, dass die Geburtenzahl sich auf ein sinnvolles Maß einpendeln kann.
Mittelfristige Maßnahmen (innerhalb von 5-10 Jahren):
· Die Forderung zur Sicherung der für eine lebenswerte Existenz notwendigen Ressourcen gilt vor allem für die Regionen des globalen Südens. Gerade mit der demokratischen Protestbewegung in Regionen des globalen Südens ist Kontakt aufzunehmen und über internationale Vernetzung politischer Druck in die Richtung der skizzierten Entwicklung für alle globalen Regionen gemeinsam zu organisieren. Hierbei müssen von den Vereinten Nationen über die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds Schritte hin zu einem globalen Strukturausgleich vorgenommen werden, der zu einer Absenkung des Reichtums der Spitzenverdiener der nördlichen Regionen sowie der gleichen Bevölkerungsgruppe im globalen Süden über erhöhte Spitzensteuersätze, zusätzliche Maschinensteuern für Industrieroboter, über einen effizienteren Zertifikatehandel, die Vernichtung von Steueroasen und die erhöhte Erbschaftssteuer zugunsten der armen Bevölkerungsschichten insbesondere in den Gebieten des globalen Südens vorgenommen werden.
· Hierbei sind weitere Schritte zur Einführung eines regionalen Mindestlohns, zur Grundrente und zur Sozialversicherung für alle Menschen mit dem Ziel durchzuführen, diesen Prozess in den nächsten Jahren abzuschließen.
· Die Vertreibung der Landbevölkerung im globalen Süden aufgrund des ‚Land Grabbing‘ ist rückgängig zu machen. Unter der Aufsicht der zuständigen Institutionen der UN sind mit Hilfe von UN-Anwälten den Kleinbauern die Ländereien zurückzugeben, die ihnen vor Jahren oder sogar Jahrzehnten zu Unrecht abgenommen wurden. Ihnen sind des Weiteren Aufbauhilfen und Existenzgründerzuschüsse zu gewährleisten.
Längerfristige Maßnahmen (innerhalb von 10-15 Jahren):
· Über u.a. Aufklärungsmaßnahmen, kostenfreie Verhütungsmittel und eine entsprechende Kindergeldpolitik muss natürlich möglichst zeitnah versucht werden, die Geburtenrate weltweit abzusenken. Das Plädoyer des Club of Rome „Die Erde ist voll.“ muss ernst genommen werden. Die Erdbevölkerung hat sich innerhalb von zwei Generationen fast verdreifacht. Eine ähnliche oder noch gesteigerte Dynamik der die Erde verbrauchenden Bevölkerungsentwicklung ist insbesondere auch mit längerfristigen Maßnahmen im Interesse der kommenden Generationen zu verhindern. Verstärkte Migrationsbewegungen und massenhafte Flucht, verschärfte Verteilungskämpfe sowie die Überforderung der Erde hinsichtlich des Ressourcenverbrauchs und der überlasteten Senken wären die Folge einer in der Zukunft weiterhin ungehemmten Bevölkerungsvermehrung. Die finanzielle Unterstützung von Familien, die zukünftig mehr als zwei Kindern bekommen ist im Sinne einer Degression deutlich zu verringern.
· Es ist eine längerfristige Konzeption der Berechnung der Kolonialisierungsgewinne und der durch die Kolonialländer verursachten Schäden zu entwickeln, die mit entsprechenden Rückzahlungspflichten an die ausgebeuteten Länder und Weltregionen verbunden werden. Dies ist vor einem von den UN einzurichtenden Sondertribunal ‚Kolonialisierungsschäden‘ zu verhandeln und gerichtsfest zu beschließen.
Die weiteren am gesellschaftlichen Ist-Zustand in einer globalen Perspektive ansetzenden Maßnahmen sollen nun nicht weiter nach ihrer zeitlichen Perspektive differenziert werden, da sie in der Regel so früh wie möglich, also zeitnah, einsetzen müssten.
Schritte zur Beherrschung der digitalen Entwicklung in demokratischen Gesellschaften
· Lebenswichtige bzw. lebensgefährdende Einrichtungen und Technologien sind vom WWW zu nehmen und zu isolieren, um Hackerangriffe zu vermeiden bzw. Cyber-Kriege zu verhindern.
· Digitale Transparenz in der Demokratie ist zu begrenzen, damit die notwendige Privatsphäre geschützt bleibt. Die Einrichtung von Staatstrojanern und eingebauten Sicherheitslücken in digitale Technologien ist zurückzunehmen und zu sanktionieren.
· Die Entwicklung und der Einsatz von Spionagesoftware ist international zu verbieten.
· Die Entwicklung künstlicher Intelligenz sowie der Aufenthalt in virtuellen Realitäten sind ethisch und in ihrer technologischen Entwicklung zu kontrollieren.
· Es muss eine weltweite und von den Vereinten Nationen unterstützte Debatte über die ethischen Konsequenzen der ‚digitalen Revolution‘ geführt werden, um die Transformation des Humanen und die Vernichtung demokratischer Handlungsspielräume zu verhindern.
· Durch die Digitalisierung wegfallende Arbeitsplätze und die dadurch steigende Gewinne sind über eine Digitalsteuer und die damit verbundene Finanzierung von Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen für die ‚substituierten‘ Arbeitnehmer_innen zu kompensieren.
Schritte zum kulturellen Transfer, zur Bildungsgerechtigkeit, zum Einbezug wissenschaftlicher Erkenntnisse und zum Erhalt der demokratischen Medienöffentlichkeit
· Koordiniert über die UNESCO und mit einem robusten finanziellen Budget ausgestattet müssen alle Anstrengungen unternommen werden, dass Bildung als ein menschliches Grundrecht insbesondere für alle Kinder und Jugendlichen ermöglicht wird. Hierbei sollte viel Wert auf den interkulturellen und intrakulturellen Transfer gelegt werden, so dass die Jugend der Welt sowohl von den Leistungen der eigenen Kultur als auch den Errungenschaften anderer Kulturen lernen kann. Bildung muss an dem Postulat der Aufklärung orientiert sein, junge Menschen zum selbstständigen Denken, zum mündigen Bürger, zur Demokratiefähigkeit zu fördern. Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) sollte ein an Nachhaltigkeit orientiertes Verhalten initiieren können.
· Im Sinne eines globalen Strukturausgleichs sind arme Staaten bzw. Regionen mit internationalen Subventionen für gezielte und kontrollierte Bildungsinvestitionen zu unterstützen. Staaten, welche ihre nachkommenden Generationen nur ein eingeschränktes Bildungsangebot ermöglichen bzw. sie von Bildung fernhalten, sind international mit Wirtschaftssanktionen zu belegen.
· Es muss eine kritische Weltöffentlichkeit erhalten bleiben bzw. nationale oder regionale Behinderungen von Wissenschaft und Publizistik verhindert werden. Demokratie ohne Pressefreiheit, ohne den Einbezug von wissenschaftlichen Erkenntnissen und eine kritische Medienöffentlichkeit ist undenkbar. Wenn in der Türkei Kritiker an der wirtschaftlichen Entwicklung vom eigenen Staatspräsidenten als ‚Wirtschaftsterroristen‘ bezeichnet werden, wenn in den USA vom ehemaligen US-Präsidenten Medien, die seinen politischen Kurs kritisierten, als ‚Fake-News-Medien‘ und als Feinde des Volkes bezeichnet wurden, wenn in Russland, in der Slowakei, auf den Philippinen, im Irak oder in Malta unabhängige und kritische Journalisten umgebracht werden und in China Regierungskritiker inhaftiert und von der notwendigen Gesundheitsversorgung ferngehalten werden, wird die Aktualität dieser Forderung deutlich. Verstöße gegen das Recht unabhängiger, wissenschaftsbasierter und kritischer Medien und gegen deren Journalisten sind unnachgiebig von den Institutionen der internationalen Exekutive und Judikative im Auftrag der UN zu untersuchen und zu bekämpfen.
Bildungsmaßnahmen gegen die Konstruktion von Feindbildern
Die manipulative Erzeugung von zwischenstaatlichen Feindbildern ist aus ethischen und auf dem Völkerrecht basierenden Gründen abzulehnen. Natürlich muss eine Kritik des staatlichen Gegenübers erlaubt sein, wenn sie Fakten gestützt ist, d.h. mit transparenten und nachprüfbaren Tatsachen belegt ist. Allerdings führt die hier dargelegte Generierung von Feindbildern zu keiner diplomatischen Lösung von militärischen Konflikten, sondern zu deren Zuspitzung. Die Erzeugung von manipulativen Feindbildern ist ein kriegsvorbereitender und kriegstreibender Akt, den es sowohl in den Medien als auch in institutionellen Bildungsprozessen zu vermeiden bzw. aufzudecken gilt.
Insbesondere in der historischen und politischen Bildung ist die kritiklose Übernahme von Feindbildern zu verhindern. Bildung kann natürlich nicht allein die Welt verändern. Hier sind vor allem die Zivilgesellschaft, die Medien, die von ihnen gewählten Politiker sowie die regionalen, nationalen und transnationalen Politikinstitutionen verantwortlich, keine Feindbilder aufkommen zu lassen und diese präventiv in ihrer ideologischen Funktion zu entlarven. Dennoch sollte auch der Bildungssektor seinen ihm möglichen Beitrag zur Friedenssicherung beisteuern, indem die Konstruktion von ‚Feindbildern‘ als ideologische und kriegsvorbereitende Maßnahme erkannt wird. Folgende Möglichkeiten bieten sich u.a. im schulischen und außerschulischen Rahmen politischer Bildung an:
- Sich selbst als Lehrende und als Lernende fragen, welche eigenen Feindbilder vorhanden sind, und diese auf darin enthaltene Vorurteile und pauschale Abwertungen untersuchen;
- Kritische politisch-historische Bildungsarbeit an Beispielen von Feindbildkonstruktionen als kriegsvorbereitende Maßnahmen;
- Das Thema ‚Feindbilder‘ zum Gegenstand von Ideologiekritik und sozialpsychologischen Studien machen; hierbei sollte gefragt und mit historischen Beispielen versehen werden, wie eine Versöhnungskultur auszusehen hat;
- Politische Bildung kontrovers anlegen: Mainstream-Medien und alternative Quellen vergleichend analysieren, um Feindbilder zu analysieren;
- Bildliche Darstellungen des ‚homo hostilis‘ untersuchen und die ästhetischen Mittel auf ihre manipulative Wirkung hin untersuchen;
- Mit Zeitzeugen über die historische Konstruktion von Feindbildern und deren Auswirkung diskutieren;
- Kontakte in Austauschprojekten und humanitäre Unterstützung aufbauen und pflegen;
- Eigene Medienaktivitäten, wie z.B. Podcasts, Blogs, Schülerzeitungsartikel oder Radiobeiträge, zum Thema ‚Feindbilder‘ fördern.
Hierbei ist darauf zu achten, dass die Lernenden in den sich mit dem Phänomen des Feindbildes beschäftigenden Projekten wiederum nicht manipuliert oder überwältigt werden. Dies kann über Methoden selbstständigen Lernens und Forschens an kontrovers angelegtem und mehrperspektivischem Quellenmaterial sowie der Begegnung mit unterschiedlich denkenden Menschen gelingen. [8]
Nachbemerkung zu diesem Kapitel: Der Einzelne als Teil eines Ganzen ist gefragt
Diese verschiedenen, sicherlich noch zu ergänzenden Maßnahmen, sind erste durchaus umsetzbare Schritte in die Richtung einer positiven Vision einer Neuordnung der Welt, wie sie hier konzeptionell entwickelt wurde. Auf allen notwendigen Ebenen wurden hier Ansatzpunkte einer positiven Vision dargestellt, für die es sich lohnt zu leben und sich gesellschaftlich zu engagieren.
So mancher wird sich fragen, ob denn das eigene Engagement überhaupt wirkungsvoll ist („Man kann ja doch nichts ändern.“). Demjenigen sei gesagt: Wenn weltweit viele Menschen kleine Schritte in die richtige Richtung gehen, in den unterschiedlichsten organisatorischen und lebensweltlichen Zusammenhängen und auch im eigenen Lebensstilverhalten versuchen sich an einer positiven Vision globaler Entwicklung zu orientieren, ist der summierte Einfluss gewaltig und wird – mit dem notwendigen langen Atem – auch zu systemischen und strukturellen Änderungen führen. Eine friedliche und nachhaltig entwickelte Welt ist (noch) möglich, wenn sich die Menschen für den Erhalt und die Gestaltung ihres Planeten kollektiv und noch wirkungsvoller zu engagieren beginnen.
Allerdings wäre es naiv zu glauben, dass keine ökonomischen und politischen Gegenkräfte existieren würden. Die Fossilindustrie, die Rüstungsindustrie, Teile der Finanzwirtschaft, übermächtige multinationale Konzerne, interessierte Milliardäre, extremistische politische Gruppierungen, Diktatoren und ihr Gefolge sowie diesen Kräften und Interessen verpflichtete Politiker und Staatsorgane in autoritären Gesellschaften versuchen Strukturen zu festigen und zu verteidigen, die eine Neuordnung im Sinne von mehr Frieden, Demokratie und Nachhaltigkeit verhindern. Diese restaurativen Kräfte sind ebenfalls organisiert sowie im eigenen Interesse ökonomischen Profitierens und politischen Machterhalts aktiv.
Und doch: Die Zeit drängt angesichts der eintretenden und zu erwartenden Probleme. Der Rückzug ins Private erscheint nicht mehr als Option. Keiner wird von den bereits eintretenden und drohenden Entwicklungen verschont werden. Jede/r sollte sich fragen, welchen möglichst wirksamen Beitrag er/sie für eine Neuordnung leisten kann. Hierfür ist eine Transformation des privaten und egoistischen Selbstbildes hin zu einem humanen Selbstverständnis erforderlich, dessen positiver Lebenssinn sich aus der Balance der Erfüllung eigener Bedürfnisse und der Orientierung am gesellschaftlichen und ökologischen Ganzen ergibt.
Anmerkungen
[1] Der 5-Jahreszeitraum ist ein ungefährer Zeitraum, daher erklärt sich auch die Einteilung der Intervalle in sich mathematisch überschneidende Zeiträume 5-10, 10-15 u. 15-20 Jahren.
[2] Vgl. Thunberg (2919), 103.
[3] Vgl. hierzu https://www.worldvision.de/pressemitteilungen/2018/05/22/safe-schools-declaration, 22.5.2018, 23.5.2018.
[4] So will wohl Google ab 2020 aufgrund der Proteste von Mitarbeitern_innen seine Kooperation mit dem US-Verteidigungsministerium im Bereich künstlicher Intelligenz beenden, https://gizmodo.com/google-is-helping-the-pentagon-build-ai-for-drones-1823464533, 3.6.2018, 4.6.2018.
[5] https://www.peacebrigades.org/, o.D., 11.6.2018.
[6] https://www.attac.org/de/attac-europa, o.D., 11.6.2018.
[7] http://www.icanw.org/, o.D., 11.6.2018.
[8] Die notwendigen Schritte im Rahmen von Prozessen historischer und politischer Bildung wurden in Anlehnung an Moegling (2019d) entwickelt.
Das Abschlusskapitel der deutschen Ausgabe
(3. aktualisierte und erweiterte Print-Ausgabe, Verlag Barbara Budrich, 2020, mit Zusätzen aus der wiederum aktualisierten englischsprachigen 4. Auflage im Online-Format (2021/2022))
Kapitel 8
Zusammenfassung und Epilog: Eine neue Ordnung für die Welt
Der ganzheitliche Ansatz
Dem Buch liegt ein holistischer bzw. ganzheitlicher Ansatz zugrunde. Dieser Ansatz ist vor allem durch acht systemtheoretische Annahmen begründet:
1. Alles steht in einer Verbindung zueinander: Die Teile untereinander und die Teile wiederum zum Ganzen. Weit entfernte Ereignisse können daher in der Nähe eine große Wirkung zeigen.
2. Politische Aktivität kann in dieser Ordnung eine Wirkung entfalten, die zu einer Veränderung der Teilbeziehungen untereinander und damit zu einem Einfluss auf das gesellschaftliche Ganze führt.
3. Systemstrukturen geben dem Ganzen Festigkeit gegenüber der Eigendynamik der Teile. Allerdings wirken in bestehenden Strukturen Personen und Gruppen, die wiederum strukturbildende Regeln verändern können.
4. Es gibt verschiedene Systemebenen. Die Organisationsmuster auf den verschiedenen Systemebenen sind weniger hierarchisch, sondern in der Regel weisen Systeme multivariate Organisationsmuster auf. Informationen und Einflüsse verlaufen in alle Richtungen, abwärts, aufwärts auf der horizontalen Ebene.
5. Im Unterschied zu einer einfachen Maschine funktionieren Ganzheiten im Sinne lebendiger Systeme nicht in einem linear-kausalen Sinne, sondern Veränderungen ergeben sich durch zyklische Informationsmuster mit vielfältigen Rückkoppelungsschleifen.
6. Lebende Systeme sind durch die Prinzipien der Selbstorganisation und der Selbsterneuerung (Autopoiesis) gekennzeichnet. Dies bedeutet, dass ein funktionsfähiges System in der Lage ist, relativ selbstständig seine Ordnung zu definieren, zu verändern und lernend neu zu organisieren.
7. Eine Neuordnung des Ganzen entsteht, wenn die verschiedenen teilhaften Aktivitäten vieler Einzelner und einzelner Gruppen intensiv genug und systemisch passend zur beginnenden strukturellen Veränderung zusammenarbeiten.
8. Wenn Teilbereiche systemisch stimmig zusammenwirken, entwickeln sie eine systemverändernde Dynamik. Dann kann es – auch in einem disruptiven Sinne – zu qualitativen Veränderungen mit hoher Geschwindigkeit, also zu gesellschaftlichen Kipppunkten hin zu einer globalen Neuordnung, kommen.
Oftmals voneinander getrennte Bereiche, wie Körper, Geist, Psyche und Gesellschaft, wie Umwelt, Wirtschaft und Gesundheit oder Identität, Religion und Krieg werden als miteinander zusammenhängende Bereiche verstanden. Das Ganze ist auch hier mehr als die Summe seiner Teile. Teilbereiche wirken systemisch zusammen und können eine dynamische und weltumspannende Wirkung zeigen. So zeigt uns die Verbreitung des Coronavirus, wie der gesellschaftliche Umgang mit einem Virus zu Ansteckungsängsten in den Menschen, zu einem veränderten zwischenmenschlichen Verhalten, zu wirtschaftlichen Krisen, wie dem Umsatzeinbruch von Unternehmen und Massenentlassungen, sowie politischen Krisen führen kann. Genauso kann die Corona-Krise zeigen, dass ein neoliberales Wirtschaftsregime, im Zuge dessen die Privatisierung und Kommerzialisierung des Gesundheitswesens vorgenommen wird, nicht geeignet ist, eine Pandemie erfolgreich zu bekämpfen. Der schreckliche Preis sind Unmengen von Schwererkrankten und Toten.
Nicht zu verstehen, wie alles zusammenhängt, kann daher höchst gefährlich sein. Auch die Wirkungen alltäglichen Verhaltens, also auf der Mikroebene, zu unterschätzen, kann äußerst gefährlich sein. Zu unterschätzen, was das alltägliche mediale Betrachten von Morden und zwischenmenschlicher Quälerei und das virtuelle Mitwirken in diesem Geschehen im jungen Menschen anrichten kann, bedeutet die psychische Anfälligkeit von Menschen zu übersehen. Massenschießereien in Schulen und todbringende Anschläge, aber auch die Bereitschaft, im Krieg zu töten, sind Ausdruck dieser Ignoranz.
Hingegen können auf demokratischer Grundlage eintretende und an Nachhaltigkeit orientierte Bildungsprozesse nicht hoch genug für ihre Bedeutung für das Ganze eingeschätzt werden. Auch das friedliche Meditieren, die zwischenmenschliche Liebe und das gegenseitige Helfen können Prozesse mit globaler Ausstrahlungskraft bedeuten, wenn Empathie und Hilfsbereitschaft zur Grundlage einer kollektiven Solidarität werden.
Der Zusammenhang wird ebenfalls deutlich, wenn wir uns die Verbrennung von Braun- oder Steinkohle zur Beheizung aber auch zur industriellen Energieproduktion in ihrer Verbindung zur Freisetzung weiterer Klimagase betrachten. Die u.a. durch die CO2-Emissionen entstehende Klimaaufheizung führt zu vielfältigen Auswirkungen von der Veränderung der Meeresströmungen, über die Entstehung von Wüsten, dem vermehrten Auftreten heftiger Stürme, dem Abschmelzen der Gletscher, dem Anstieg des Meeresspiegels bis hin zum Auftauen des Permafrostbodens und der entsprechenden Freisetzung wiederum Klima relevanten Methans. Die klimatischen und ökologischen Verschiebungen und Verwerfungen führen zu Massenfluchten und Völkerwanderungen, die wiederum nicht bereitwillig von den Einheimischen hingenommen werden und zu gewalttätigen Auseinandersetzungen sowie zur Verschiebung der politischen Kräfteverhältnisse führen.
Diesen Zusammenhängen und den Möglichkeiten, einen ethisch vertretbaren politischen Einfluss im Ganzen zu haben, ist das vorliegende Buch gewidmet.
Einer Vision kann man nicht vorwerfen, visionär zu sein.
Das Buch beginnt mit einer kritischen Analyse des gesellschaftlichen Ist-Zustands in einem globalen Kontext. Hierbei werden die zentralen gesellschaftlichen Bereiche analysiert und auf ihre Verbindungen hin durchdacht: Ökonomie, Politik, Ökologie und Kultur.
Es wird hierbei ein Fokus auf globale Strukturen der Gier gelegt, die im Kolonialismus ihren historischen Ausdruck fanden, aber auch in postkolonialen Zeiten ihre Verlängerung und systemische Modifizierung erfuhren.
Ein Schwerpunkt liegt anschließend jeweils auch auf der Rekonstruktion und Einordnung der internationalen Widerstandsbewegungen, die sich gegen die herrschende Ökonomie, soziale Ungerechtigkeit, die Zerstörung des Klimas und gegen die Militarisierung der Welt wehren.
In einem zweiten Schritt werden Negativszenarien für diese Bereiche entwickelt. Hier wird danach gefragt, wie die Zukunft der Weltgesellschaft aussehen wird, wenn es nicht gelingt, die Gefahr einer weltweiten militärischen Katastrophe einzudämmen, die Klimakatastrophe zu verhindern, den Tendenzen der Entdemokratisierung entgegen zu wirken, die soziale Ungleichheit zu beseitigen und die digitale Transformation des Humanen im Rahmen einer menschenfeindlichen Kultur zu verhindern.
Die Skizzierung derartiger Negativszenarien, die im Sinne der Heuristik aus einer Kombination von Fakten, theoretischen Einschätzungen, Vermutungen und Hypothesen konstruiert werden, ist neben der kritischen Ist-Analyse die Basis für die Forderung nach einer radikalen Neuordnung der Weltgesellschaft, damit eine derartige Entwicklung verhindert werden kann.
In einem dritten Schritt wird dann die positive Vision einer (noch) möglichen globalen Entwicklung beschrieben, die eintreten kann, wenn die richtigen Maßnahmen ergriffen und die hierfür notwendigen Entscheidungen über zivilgesellschaftlichen Widerstand, Demokratisierung und internationale Vernetzung durchgesetzt werden können. Diese Vision ist an den ökologischen Notwendigkeiten, den Kriterien der Demokratie, des friedlichen Zusammenlebens, der Wahrung der Menschenrechte, einer menschengerechten Ökonomie, sozialer Gerechtigkeit, einer aufgeklärten Kultur, also am Prinzip einer damit gemeinten mehrdimensional zu begreifenden Nachhaltigkeit orientiert. Allerdings besteht hinsichtlich der verschiedenen Dimensionen der Nachhaltigkeit aufgrund der gegenwärtigen und zukünftigen klimatischen Bedrohungslage das Primat der ökologischen Dimension, an der sich jede Maßnahme und Strategie zu messen hat.
Es werden dann hierauf folgend auf der Grundlage der kritischen Analyse, der Negativszenarien und der auf verschiedenen Ebenen entwickelten positiven Vision planetarer Entwicklung erste konkrete Schritte entwickelt, die am gegenwärtigen Zustand globaler Politik, neoliberal geprägter Ökonomie, globaler Ökologie sowie diversifizierter kultureller Lebensweisen ansetzen können.
Wie bereits einleitend gesagt: Es kann eine derartige Vision nicht mit dem festlegenden und einengenden Blick auf die Unzulänglichkeiten und Beschränkungen der Gegenwart entwickelt werden. Der beständige Vorwurf eines ungenügenden Realismus‘ verfehlt die Intention des visionären Vorhabens. Daher kann man einer Vision nicht vorwerfen, visionär zu sein. Nur die ersten Schritte in Richtung auf die langfristige Annäherung an eine Vision müssen an dem Vorfindbaren anknüpfen. Hier ist es dann auch legitim zu fragen, inwieweit die ersten Schritte realistisch gewählt sind.
Die positive Vision einer Neuordnung hingegen ist Ausdruck des idealiter Gewünschten und Gewollten und findet seine Einlösung möglicherweise erst in mehreren Generationen – wenn der Menschheit tatsächlich noch bis dahin Zeit gegeben werden wird.
Zur zeitlichen Dimension einer Neuordnung
Die im vorliegenden Buch vertretene positive Zukunftsvorstellung einer Neuordnung ist vor dem Hintergrund der Ist-Analyse und negativer Szenarien, aber auch wünschenswerter Entwicklungen entstanden, um die Möglichkeiten eines Überlebens der menschlichen Gattungsart zu ermöglichen. Hierfür ist das Erkennen der eigenen Verantwortlichkeit der derzeit lebenden Generationen dringend notwendig, damit der Zeitpunkt der Umkehr und Neuordnung nicht verpasst wird – so noch einmal Hans Jonas (1979/2015, 8f.):
„Im Zeichen der Technologie aber hat es die Ethik mit Handlungen zu tun (…), die eine beispielslose kausale Reichweite in die Zukunft haben, begleitet von einem Vorwissen, das ebenfalls, wie immer unvollständig, über alles ehemalige weit hinausgeht. Dazu die schiere Größenordnung der Fernwirkungen und oft auch ihre Unumkehrbarkeit. All dies rückt Verantwortung ins Zentrum der Ethik, und zwar mit Zeit- und Raumhorizonten, die denen der Taten entsprechen.“
Wer in diesem Zusammenhang argumentiert, dass der Mensch von Grund aus bösartig, der Mensch dem Menschen ein Wolf sei und daher eine positive Vision menschlicher Entwicklung naiv und unrealistisch sei, dem sei noch einmal entgegengehalten, dass es genügend weltweite Beispiele von positiver menschlicher Humanität, von zivilgesellschaftlichem Mut, Engagement gegen Unterdrückung, Hilfsbereitschaft und Empathie in der neueren Geschichte der Menschheit gegeben hat – von Bertha v. Suttner, über Emmeline Pankhurst, Martin Luther King, Mahatma Gandhi, Nelson Mandela bis zu Malala Yousafzei und Greta Thunberg.
Auch die vielen Unterstützungsleistungen und Hilfen, die sich Menschen gegenseitig in Familien, Freundeskreisen, politischen Aktionen oder Arbeitsverhältnissen geben, sprechen eine positive Sprache hinsichtlich der Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen. Auch ist entgegenzuhalten, dass wir erst eine ontologisch und phylogenetisch sehr geringe Entwicklungsphase der Menschheit hinter uns haben. Möglicherweise sind erst die ersten Zentimeter eines Tausende Kilometer langen Weges begangen worden. Visionen menschlicher Entwicklung müssen daher nicht nur über ein paar Jahrzehnte hinweg sondern auch mit einer Reichweite von vielen Generationen in die Zukunft gerichtet sein – so Wilhelm Reich in seiner Rede an den ‚kleinen Mann‘:
„Du denkst immer zu kurz, kleiner Mann, nur vom Frühstück bis zum Mittagessen. Du musst es lernen, in Jahrhunderten zurück und in Jahrtausenden vorwärts zu denken. Du mußt es lernen, in den Begriffen des lebendigen Lebens, deiner Entwicklung vom ersten Protoplasmaflöckchen bis zum aufrecht gehenden, aber noch krumm denkenden Menschentier zu denken. Du hast kein Gedächtnis für Dinge, die vor zehn oder 20 Jahren vorgefallen sind, und daher wiederholst du die Dummheiten, die du schon vor tausend Jahren sagtest. Mehr, du haftest an deinen Dummheiten, der ‚Rasse‘, der ‚Klasse‘, der ‚Nation‘, des religiösen Zwanges und des Liebesverbots, wie eine Laus im Pelz. Du wagst es nicht wahrzunehmen, wie tief im Elendspfuhl du steckst. Gelegentlich erhebst du deinen Kopf aus dem Pfuhl und rufst Eja-eja-ejaja! Das Quaken eines Frosches im Sumpf ist näher am Lebendigen.“ [1]
Lebenssinn und Persönlichkeitsentwicklung
Menschen müssen sich im Klaren werden, warum sie auf dieser Erde leben wollen, welche Werte und welchen Lebenssinn sie verfolgen möchten. Sie müssen für sich klären, welche soziale Ordnung sie anstreben und sich in diesem Sinne für eine Neuordnung einsetzen, wenn die bisherige Ordnung der Welt nicht ihren Vorstellungen eines ‚guten Lebens in Verantwortung‘ entspricht.
Entsprechend müssen sie sich auf der Persönlichkeitsebene und in ihren sozialen Beziehungen entwickeln, reifen, wachsen und für sich und miteinander Durchbrüche schaffen. Menschen – egal aus welcher Kultur und aus welcher Region – können für sich Wege finden, wie sie sich im Kontext von ähnlich Gesinnten über veränderte Politikformen, neue Lebenszusammenhänge, Formen solidarischen Wirtschaftens, über Bildungsprozesse, therapeutische Interventionen oder Meditationspraktiken weiterentwickeln möchten.
Die Voraussetzung hierfür auf der Persönlichkeitsebene ist u.a. die Entwicklung von Achtsamkeit, d.h. der Fähigkeit, sich aufmerksam bezüglich des eigenen Denkens, Fühlens und Handelns wahrzunehmen und zu reflektieren. Dies erfordert oftmals ein Innehalten, ein Verweilen und eine Entschleunigung des eigenen Lebens. Menschen, die in diesem Sinne auf sich aufmerksam werden – so wurde argumentiert – lassen sich nicht so leicht manipulieren, verlieren sich nicht in virtuellen Welten oder anderen Süchten, sind angstfreier, identifizieren sich nicht mit ihrer Entfremdung, entwickeln Eigenart und Zivilcourage. Die Verbindung von Achtsamkeit, Persönlichkeitsreife und Demokratiefähigkeit über Bildungsprozesse unterschiedlicher Art wird als eine gute Grundlage dafür angesehen, einen positiven Einfluss auf ökonomische, ökologische, soziale und politische Strukturen zu nehmen.
Determinanten einer Neuordnung
Insbesondere die drohende ökologische Verwüstung, die zunehmende soziale Ungerechtigkeit, das militärische Vernichtungsszenario, die zunehmende Entdemokratisierung, die Enthumanisierung im Zuge digitaler Transformation sowie das verstärkte Auftreten von Pandemien stellen Gefährdungen der Überlebensbedingungen der Menschheit dar, für die entschiedene Gegenmaßnahmen im globalen Maßstab unter der Perspektive der Nachhaltigkeit ohne eine weitere zeitliche Verzögerung wirksam einsetzen müssen. Nachhaltige Entwicklung bezieht sich hierbei mehrdimensional auf ökologische, ökonomische, politische und kulturelle Aspekte globaler Entwicklung unter dem Primat des Ökologischen und meint nicht nur die Erhaltung der Lebensgrundlagen für die zukünftigen Generationen, sondern auch die Heilung des Zerstörten. Eine derartige Entwicklung kann aufgrund ihrer Globalität nicht nur nationalstaatlich eingeleitet werden, sondern muss dringend transnational unter Einbezug einer reformierten UN koordiniert werden.
Im Zuge der Konstruktion einer positiven Vision gesellschaftlicher Veränderung werden des Weiteren die sozioökonomischen Voraussetzungen friedlichen und ökologischen Zusammenlebens im Sinne einer Postwachstumsgesellschaft und alternativer Ökonomien mit deutlicher Gemeinwohlorientierung beschrieben. Die Ökonomie muss prioritär dem Menschen dienen und nicht primär den Rentabilitätsinteressen ihrer Shareholder. Verschiedene Widerstandsbewegungen gegen die neoliberalisierte Ökonomie und für eine gemeinwohlorientierte Ökonomie werden skizziert und analysiert. Schritte aus dem Griff einer gierigen Ökonomie, auch Enteignungs- bzw. Wiederaneignungsprozesse, werden beschrieben und mit Beispielen einer menschenfreundlichen und ökologisch orientierten Ökonomie versehen.
Die vorliegende positive Vision gesellschaftlicher Entwicklungsmöglichkeiten hat auch auf der Ebene internationaler Politik Vorschläge unterbreitet, die hier noch einmal kurz zusammengefasst werden sollen. Die Vorschläge lassen sich auf verschiedenen Ebenen skizzieren und sind äußerst aktuell aufgrund der weltpolitischen Entwicklung, wie der russische Überfall auf die Ukraine, die Kriege im Jemen und in Syrien dramatisch zeigen:
1. Die konsequente Demokratisierung der Vereinten Nationen durch ein demokratisch gewähltes Weltparlament, der Umstrukturierung des UN-Sicherheitsrats und einer gewählten und streng kontrollierten Weltregierung;
2. Hiermit verbunden die schrittweise sich entwickelnde Entnationalisierung politischer Herrschaft zugunsten einer sinnvoll abgestuften Regionalisierung im Sinne des Subsidiaritätsprinzips;
3. Eine Aufwertung und Neustrukturierung der internationalen Gerichtsbarkeit, der sich kein UN-Staat mehr entziehen kann;
4. Eine internationale Abrüstung und Entwaffnung von Staaten, Armeen und illegitimen Organisationen zugunsten eines demokratisch kontrollierten Gewaltmonopols der Vereinten Nationen;
5. Die Verwendung der Abrüstungsgewinne, also der Friedensdividende, für die drängenden und global relevanten Aufgaben nachhaltiger Entwicklung – vor allem zunächst für den Klimaschutz, die Friedenssicherung, die Gesundheitssysteme und für die Beseitigung des Welthungers.
Natürlich sind wir weit von einer Entmilitarisierung, einer Entnationalisierung und einer Durchsetzung des Universalismus und einer Einrichtung kosmopolitischer Ordnungsstrukturen entfernt. Der russische Angriff auf die Ukraine in 2022 und die Unfähigkeit der Vereinten Nationen, hier präventiv zu handeln und auch in der militärischen Eskalation wirkungsvoll zu reagieren, zeigt dies auf eine gefährliche Weise.
Dennoch ist in Maßnahmen zur Erreichung dieses Zustands einer internationalen Neuordnung ein wichtiger Schlüssel zur globalen Befriedung und für die Freisetzung von Ressourcen insbesondere für den ärmeren Teil der Welt gegeben. Wenn durch die drastische Verringerung von Rüstungsausgaben im Zuge der Entwaffnung der Nationalstaaten die für die Entwicklung der ärmeren Weltregionen notwendigen Ressourcen in Billionenhöhe eingesetzt werden können, werden auch ökonomische Gründe für die Massenmigration und die damit verbundenen Konflikte und Probleme zumindest erheblich gemindert.
Auch mit dem nach bedeutenden Investitionen verlangenden, zeitnahen Gegensteuern gegen den ökologischen Klimakollaps werden zumindest mittelfristig aufgrund der durch die Klimaträgheit bedingten Zeitverzögerung die ökologischen Gründe zukünftiger Massenfluchten vermindert werden.
Der Politikwissenschaftler Farsan Ghassim ermittelte in einer empirischen Studie, dass die Idee einer globalen Demokratie und einer demokratischen globalen Weltregierung durchaus Anklang in der Bevölkerung einer Reihe einflussreicher Staaten findet - so Ghassim (2021):
"In allen befragten Ländern unterstützen klare Mehrheiten die Idee einer globalen Demokratie. Im internationalen Durchschnitt sind es 65 Prozent. Die Spanne reicht von 57 Prozent in England und 61 Prozent in den USA über 68 Prozent in Brasilien bis hin zu 74 Prozent in Japan. Deutschland liegt mit 64 Prozent in der Mitte dieser fünf Länder."
Es sollte uns nicht suggeriert werden, dass niemand die globale Demokratie wolle. Die Umfrageergebnisse von Ghassim machen deutlich: Es ist nicht aussichtslos, sich für die Veränderung globaler Herrschaftsstrukturen einzusetzen. Dies trifft auf eine große Resonanz bei vielen Menschen. Es sind mehr Menschen an globaler Demokratie interessiert, als national ausgerichtete Politiker_innen uns einreden wollen.
Die Biosphäre antwortet auf den menschlichen Zugriff
Der Raubbau an der Natur bleibt nicht unbeantwortet. Noch aber kann eine Katastrophe verhindert werden.
Der Weltklimabericht des IPCC der Vereinten Nationen macht deutlich, dass zwischen dem – ebenfalls problematischen – 1.5-Grad-Ziel und dem 2.0-Grad-Ziel bis zum Ende des 21. Jahrhunderts ein erheblicher Unterschied für die globale Klimasituation insbesondere für bereits benachteiligte Regionen und Bevölkerungsgruppen festzustellen ist:
„Zu den Bevölkerungsgruppen, die einem überproportional hohen Risiko nachteiliger Konsequenzen einer globalen Erwärmung um 1,5°C und mehr ausgesetzt sind, zählen benachteiligte und verwundbare Bevölkerungsgruppen, manche indigene Völker sowie lokale, von landwirtschaftlichen oder küstengeprägten Lebensgrundlagen abhängige Gemeinschaften (hohes Vertrauen). Zu den überproportional gefährdeten Regionen gehören arktische Ökosysteme, Trockengebiete, kleine Inselentwicklungsländer und die am wenigsten entwickelten Länder (hohes Vertrauen). Armut und Benachteiligung werden in manchen Bevölkerungsgruppen mit zunehmender Erwärmung voraussichtlich zunehmen; eine Begrenzung der Erwärmung auf 1,5°C könnte im Vergleich zu 2°C die Anzahl der Menschen, die sowohl klimabedingten Risiken ausgesetzt als auch armutsgefährdet sind, bis zum Jahr 2050 um mehrere hundert Millionen senken (mittleres Vertrauen).“ [2]
Das Erreichen des 1.5 °C Grad-Ziels sei (noch) möglich. Die hierfür erforderlichen Maßnahmen müssten allerdings unverzüglich eingeleitet werden und müssten zeitlich deutlich über der durch den IPCC gegenüber 2010 bis 2030 globalen CO2-Absenkung um 45% und der bis 2050 geforderten vollständigen CO2-Neutralität hinausgehen. [3] Bis 2050 wird man sich für die Maßnahmen zur Klimaneutralität angesichts der sich derzeit beschleunigenden Klimaerwärmung, der Existenz von nicht kontrollierbaren Kipppunkten, dem Wirken von klimatischen Rückkoppelungseffekten, aber auch den Millionen Hungertoten sowie den Bedrohungen des Weltfriedens aufgrund der Klimaentwicklung nicht mehr Zeit lassen können.
Der IPPC (2023, 12) stellt in seinem im März 2023 verabschiedeten Synthese-Bericht, für den über 9000 Studien analysiert wurden, fest, dass die Grenze von 1,5 Grad sehr bald erreicht sein wird, aber dass dennoch Hoffnung auf ein Zurückdrängen der Klimaerwärmung bestehe, wenn drastische Maßnahmen kurzfristig ergriffen würden:
"Continued greenhouse gas emissions will lead to increasing global warming, with the best estimate of reaching 1.5°C in the near term in considered scenarios and modelled pathways. Every increment of global warming will intensify multiple and concurrent hazards (high confidence). Deep, rapid, and sustained reductions in greenhouse gas emissions would lead to a discernible slowdown in global warming within around two decades, and also to discernible changes in atmospheric composition within a few years (high confidence).
‚Climate Justice‘ im weitergehenden Sinne aber bedeutet auch, dass die reicheren Regionen der Welt, die ökologischen Schutz- und Präventionsmaßnahmen für den ärmeren Teil der Welt und hierbei dort ebenfalls die notwendige Umstellung auf eine das Klima schonende regenerative Energieerzeugung weitgehend zu finanzieren haben. Hiermit können Jahrhunderte der kolonialen und postkolonialen Ausbeutung ganzer Weltregionen Schritt für Schritt zumindest partiell finanziell ausgeglichen werden.
Im Rahmen des vorliegenden Buches werden daher die notwendigen Maßnahmenpakete zeitlich abgestuft innerhalb von 15 Jahren skizziert. Bis dahin müssten alle wichtigen Entscheidungen gefallen und die notwendigen Maßnahmen eingeleitet sein, um den globalen Entwicklungsprozess noch rechtzeitig umsteuern zu können.
Zum Verhältnis von nationalstaatlicher Abrüstung und dem Aufbau eines UN-Gewaltmonopols
Des Weiteren gilt es, angesichts der wachsenden Bedrohung ohne weitere Zeitverzögerung die ersten sinnvoll abgestimmten Schritte hinsichtlich der globalen Abrüstung zu gehen:
Die Technologie von Nuklearwaffen wird aktuell von allen Atommächten mit großem Aufwand modernisiert und weiter entwickelt. Es wird zunehmend versucht, künstliche Intelligenz und Cyberkriminalität in der Kriegsführung einzusetzen. Privatarmeen gekaufter Söldner, nuklear bestückte Hyperschallraketen, der Einsatz von autonom entscheidenden Killerrobotern sowie die Militarisierung des Weltraums drohen. Der Rüstungswahnsinn kennt keine ethisch bestimmten Grenzen mehr.
In der gegenwärtigen Situation befinden wir uns noch eindeutig in einer Welt wachsender multipolarer Bedrohung. Sowohl einzelne Nationalstaaten, Machtblöcke und Allianzen mit der Unterstützung der internationalen Rüstungsindustrie als auch Terrormilizen und klandestine Organisationen bedrohen den Weltfrieden in einer Weise, wie es seit der scheinbaren Beendigung des ‚Kalten Krieges‘ nicht mehr der Fall gewesen ist. Auch die Demokratien befinden sich zurzeit in der Defensive bzw. im Rückzug. Autokratien, bis an die Zähne bewaffnet, versuchen im Zuge hybrider, teils versteckter, teils offener Kriegsführung, hegemoniale Interessen in ihren Weltregionen durchzusetzen. Der russische Krieg in der Ukraine ist nur der negative Höhepunkt dieser Entwicklung hin zu innerer und äußerer Repression. Der russische Überfall in der Ukraine ließ nun auch für Europa die Bedrohung erfahrbar werden.
Dies alles bedeutet, dass die nationalstaatliche Entwaffnung der Welt zwingend notwendig ist, es aber Ausdruck einer gefährlichen Naivität wäre, wenn insbesondere die Staaten und Allianzen mit demokratischem Selbstanspruch und zumindest in ernstzunehmenden Ansätzen entwickelten demokratischen Strukturen als erste beginnen würden, sich radikal zu entwaffnen und einseitig abzurüsten. Die Folge wäre eine Wehrlosigkeit, die durch autoritäre und politisch unreife Regime sowie terroristische und politisch extremistische Organisationen ausgenutzt werden würde. Die Naziherrschaft und die aggressive Militärtechnologie der Nazis hätten sich nicht mit gutem Zureden, Liedersingen und Klangketten stoppen lassen.
Anlass zur Hoffnung hinsichtlich der Vernichtung von Nuklearwaffen gibt die weltweite Bewegung der ‚Mayors for Peace‘ mit über 8000 beteiligten Städten aus 165 Staaten, die sich für die sofortige Abschaltung der einsatzbereiten Atomwaffen und den Abbau und die Zerstörung aller Atomwaffen einsetzen.
Natürlich ist auch das im Rahmen der Vereinten Nationen und von der internationalen NGO ICAN initiierte und am 22.1.21 in Kraft getretene Atomwaffenverbot Anlass zu Hoffnung. Dieses Verbot gilt zwar rechtlich nur für die ratifizierenden Nationen, setzt aber neue internationale ethische Maßstäbe, auf die sich die internationale Friedensbewegung beziehen kann. Nun ist erstmals im Völkerrecht neben dem Atomwaffensperrvertrag auch ein Verbotsvertrag verankert, mit dem sich die Nuklearstaaten konfrontiert sehen.
Eine Entwaffnung im nuklearen und im konventionellen Bereich kann in den ersten Schritten nur über internationale Abrüstungsverhandlungen, gestützt von einer transnationalen Allianz der demokratischen Staaten und Regionen, im Kontext der Vereinten Nationen erfolgen.
Diese internationale Entwaffnung kann nur stattfinden, wenn sie von einer globalen zivilgesellschaftlichen Bewegung getragen wird, die den notwendigen Anstoß und die druckvolle Begleitung dieses Prozesses leistet. Der Erfolg der Friedensbewegung in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts hat dies nachweisen können. Die Bewegung der ‚Mayors for Peace‘ und die zivilgesellschaftlichen Aktivitäten von ICAN weisen hier in die richtige Richtung.
Gleichzeitig bzw. eher in den einzelnen Schritten jeweils zeitlich vorlaufend zu diesen genau abzustimmenden Abrüstungsmaßnahmen sind die UN-Blauhelm-Truppen mit einem erweiterten Mandat und die UN-Weltpolizei als Gegengewicht und Korrektiv aufzubauen. Ohne die zeitliche Abgestimmtheit von internationaler Abrüstung der Nationalstaaten und dem Aufbau einer funktionsfähigen, überregional, regional und lokal gegliederten und gut ausgerüsteten Exekutive würde ein unverantwortliches Machtvakuum entstehen.
Entsprechend demokratisch gefasste Abrüstungsbeschlüsse müssten dazu führen, dass die Entwaffnung in einem transparenten Verfahren und in parallel vorgenommenen und kontrollierten Abrüstungsmaßnahmen aller Staaten erfolgt. Staaten, die sich weigern, sind mit wirtschaftlichen und politischen Sanktionen zu belegen, die so dosiert sind, dass sie vor allem die dort herrschenden und sich verweigernden Eliten treffen. Illegale Organisationen sind auf nationaler und überregionaler Ebene weltpolizeilich zu verfolgen, zu sanktionieren und aufzulösen.
Die Vereinbarungen zur Vernichtung der Atomwaffen auf UN-Ebene, die 122 Staaten unterzeichnet haben, stellen einen ersten Schritt dar. Sie gilt es auszuweiten und parallel hierzu mit dem Abbau der nationalen Waffenarsenale hinsichtlich nuklearer, biologischer, chemischer und konventioneller Waffengattungen über einen verbindlichen UN-Beschluss zu beginnen. Der Krieg Russlands in der Ukraine zeigt noch einmal sehr deutlich, dass ein weltpolizeilicher Einsatz bzw. der Einsatz von UN geführten Truppen erst dann Sinn macht, wenn einer der militärischen Aggression beschuldigter Staat nicht mit dem Einsatz von Atomwaffen drohen kann.
Parallel hierzu sind demokratische Strukturen jenseits der Nationalstaaten auf regionaler und auf UN-Ebene Schritt für Schritt auf- und auszubauen. Hierbei haben mutiges zivilgesellschaftliches Engagement und die demokratische Organisation der notwendigen gesellschaftlichen Veränderung auf der globalen Ebene eine wichtige und unverzichtbare Funktion. Zur Durchsetzung einer demokratischen und sozialökologischen Neuordnung sind alle bisher erfolgreichen Widerstandsformen einzusetzen, von Massenprotesten, über Warenboykotts bis hin zu Massenstreiks. Natürlich spielt ein entsprechendes Wählerverhalten und das Engagement in sozialökologisch orientierten und friedenspolitisch engagierten Institutionen, Parteien und Gewerkschaften ebenfalls eine wichtige Rolle.
Es beginnen Entwicklungen, die Hoffnung geben.
Auch wenn sich die Klimapolitik noch nicht wirkungsvoll genug entwickelt, auch wenn der Welthunger immer noch nicht beseitigt ist, auch wenn das internationale Sicherheitssystem mit der russischen Invasion in der Ukraine eine große Niederlage erlitten hat, sollten dennoch vorhandene positive weltpolitische Entwicklungen nicht übersehen werden. An vielen Orten der Welt gibt es aktuell Protest- und Widerstandsbewegungen, die sich für eine friedlichere und nachhaltiger entwickelte Welt im Sinne einer Neuordnung engagieren.
Zur Frage nach der gesellschaftlichen Umgestaltung entwickelte Friedrich Engels bereits 1895 Überlegungen, die aus meiner Sicht bis heute noch gültig sind - so Engels:
"Die Zeit der Überrumpelungen, der von kleinen bewußten Minoritäten an der Spitze bewußtloser Massen durchgeführten Revolutionen ist vorbei. Wo es sich um eine vollständige Umgestaltung der gesellschaftlichen Ordnung handelt, da müssen die Massen selbst mit dabei sein, selbst schon begriffen haben, worum es sich handelt, für was sie mit Leib und Leben eintreten. Das hat uns die Geschichte der letzten fünfzig Jahre gelehrt. Damit die Massen aber verstehen, was zu tun ist, dazu bedarf es langer, ausdauernder Arbeit, und diese Arbeit ist es gerade, die wir jetzt betreiben, und das mit Erfolg, der die Gegner zur Verzweiflung bringt." (Engels 1895)
Eine gesellschaftliche Umgestaltung und Neuordnung wird also nicht über einen einzigen globalen disruptiven Ausbruch erfolgen sondern besteht aus sehr vielen Bewegungen und politischen Maßnahmen, die mit einer langfristigen Perspektive ausdauernd ergriffen werden.
Es lassen sich derzeit nicht nur weltweit Massenproteste von Erwachsenen beobachten, sondern insbesondere die Jugend ist es, die sich gegen Gewalt und Klimazerstörung zur Wehr setzt. Die US-amerikanischen Schüler_innen forderten beispielsweise im März 2018 beim „March for Our Lives“ sehr deutlich und lautstark eine gesellschaftliche Transformation im Bereich der Waffenindustrie und der sie kontrollierenden Gesetze, gegen die Interessen der Waffenlobby und der damit verbundenen Politik. Anlässlich der Serie von Massenmorden in US-amerikanischen Schulen solidarisierten sich ca. 800.000 Schüler_innen und Erwachsene zu einer eindrucksvollen Demonstration, die von Überlebenden des Massakers an der Marjory Stoneman Douglas High School in Parkland (Florida) mit dem Ziel organisiert wurde, eine längerfristige politische Bewegung gegen die Aktivitäten der US-Waffenlobby, insbesondere der NRA, der entsprechenden Waffenindustrie und der von ihnen bezahlten Politiker aufzubauen. [4]
Ebenfalls stellt der weltweit vorfindbare Widerstand indigener Völker und ihrer Unterstützergruppen gegen die Zerstörung ihrer lebensweltlichen und natürlichen Grundlagen durch die Fossilindustrie eine weitere nicht zu unterschätzende Gegenbewegung gegen den Raubbau an der Natur und der Klimazerstörung dar. Das Volk der Ogoni in Nigeria, die Sioux in Nord-Dakota, indigene Bewohner des Regenwaldes in Brasilien oder die Cree Nation im Norden Albertas führen einen Kampf mit Öffentlichkeitsarbeit, Blockaden, rechtlichen Auseinandersetzungen und Protestcamps gegen die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen. Sie politisieren sich im Laufe dieser Auseinandersetzungen und erkennen den Zusammenhang zwischen Kapitalismus, staatlicher Repression und der Vernichtung natürlicher Lebensräume. Junge Menschen arbeiten hier im Widerstand gegen die Fossilindustrie mit den älteren Generationen zusammen.
Auch dass z.B. im März 2019 weltweit Schülerproteste in Verbindung mit Schulstreiks gegen die Zerstörung des Klimas und für effektiven und zeitnahen Klimaschutz in ca. 2000 Städten in 120 Ländern stattfanden[5], ist ein Zeichen dafür, dass sich in der Schülergeneration engagierter zivilgesellschaftlicher Widerstand formiert. Allein in Berlin waren 25.000 Schülerinnen und Schüler am Streik beteiligt. [6] Ein halbes Jahr später waren es z.B. in Berlin bereits 240.000 Personen und weltweit mehrere Millionen Jugendliche, die den Klimastreik unterstützten. Insbesondere die Tatsache, dass hier auch mit dem Druck der institutionellen Verweigerung im Rahmen eines Schulstreiks gearbeitet wird, lässt aufhorchen. Die von von der 16-jährigen schwedischen Klimaaktivistin Greta Thunberg initiierte Bewegung ‚Fridays for Future‘ (F4F) zeigt, dass Jugendliche zunehmend bereit sind, auch zu radikaleren zivilgesellschaftlichen Mitteln zu greifen. Sie haben verstanden, dass es um das Ganze geht („Wir sind hier, wir sind laut, da ihr uns die Zukunft klaut.“, „Es gibt keinen Planeten B“). Es wird hochinteressant sein, welche Wirkung diese Massenproteste der F4F-Bewegung haben werden. Dies hängt davon ab, inwieweit sie sich stabilisieren, vernetzen und auf andere Aktionsfelder ausweiten sowie auch die älteren Generationen einbeziehen können. Auch stellt sich die Frage, ob der Zusammenhang zwischen international wirkenden Strukturmerkmalen kapitalistischer Ökonomie, des politischen Systems und der Zerstörung der Biosphäre hergestellt wird. Auch das eigene Konsumverhalten, z.B. im Rahmen des Boykotts klimaschädlich hergestellter bzw. betriebener Produkte, wird hier eine wichtige Rolle spielen.
Möglicherweise ist dies der Anfang einer weiteren kulturellen Revolution – nach den Brüchen mit der etablierten Kultur durch die 68er-Generation – die nun aber aufgrund der massiven Bedrohungslage wesentlich breitere Teile der Weltbevölkerung mit einer globalen Reichweite erfassen könnte.
Ungefähr 27.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler [7] aus der Schweiz, Österreich und Deutschland (‚Scientists for Future‘) haben zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine Erklärung unterzeichnet, welche die Klimaproteste der Jugendlichen unterstützt. In anderen Ländern entwickeln sich vergleichbare Aktivitäten. So ist eine internationale Unterstützung von derzeit ca. 15.000 Wissenschaftler_innen der ‚Alliance of World Scientists‘ aus 182 Ländern im Entstehen. Diese Wissenschaftler sagen: „Die Schüler haben recht. Die wissenschaftlichen Ergebnisse stützen eindeutig ihr klimapolitisches Engagement.“ Parallel hierzu gebildete Vernetzungen von Eltern (‚Parents for Future‘) und Lehrern (‚Teachers For Future‘) unterstützen ebenfalls die Schülerproteste und fordern die Schulbehörden auf, auf schulische Ordnungsmaßnahmen im Falle der Streikbeteiligung zu verzichten. Auch an den Hochschulen bilden sich die ‚Students For Future‘ und organisieren Streikaktionen an den Universitäten und ‚Public Climate Schools‘.
Insbesondere das Engagement der jungen Menschen lässt hier hoffen, dass es zu wirksamen und längerfristigen Gegenbewegungen kommen wird und sich eine Generation aus der verdummenden medialen Umarmung durch den militärisch-ökonomischen Komplex, aus der Priorität einseitiger Karriereinteressen und aus der entpolitisierenden und klimaschädlichen Konsumorientierung im Sinne eines radikalen kulturellen Umbruchs lösen wird.
In diesem Zusammenhang könnte die westliche Gesellschaft etwas von dem zurückgeben, das sie über Jahrhunderte hinweg im Zuge der Kolonialisierungsprozesse den unterworfenen Völkern geraubt hatte – so der ehemalige bundesdeutsche Entwicklungsminister Jürgen Todenhöfer:
„Die Geschichte des Westens ist eine Geschichte brutaler Gewalt und großer Heuchelei. Nirgendwo auf der Welt kämpft der Westen für die Werte seiner Zivilisation. Sondern ausschließlich für seine kurzsichtigen Interessen. Um Macht, Märkte und Moneten. Oft mit terroristischen Methoden. Die Leiden anderer Völker und Kulturen interessieren ihn nicht. (…) Der Westen braucht eine gewaltfreie humanistische Revolution. Statt die Werte seiner Zivilisation zur Vergewaltigung anderer Völker und Kulturen zu missbrauchen, sollte er seine jahrhundertealten Versprechen gegenüber der Menschheit einlösen.“ [8]
Dies bedeutet ebenfalls, dass die reichen Weltregionen, wie z.B. die EU oder Nordamerika, mit der Verminderung von klimarelevanten Emissionen vorangehen müssen. Ärmeren Weltregionen muss hierbei noch etwas Zeit gegeben werden, Entwicklungen aufzuholen, die ihnen durch die Kolonialisierung und eine ungerechte Weltwirtschaftsordnung verwehrt wurden. Allerdings ist auch hier Wert auf eine möglichst früh zu erreichende Nachhaltigkeit in der Industrie, im Verkehr, in der Landwirtschaft etc. zu legen.
Eine weitere anregende Initiative stellt die im März 2021 zum internationalen Frauentag von den finnischen 'Women for Peace' vorgestellte Initiative für die Einrichtung eines finnischen Ministeriums für Frieden und nachhaltige Entwicklung dar. Dies von verschiedenen finnischen NGOs unterstütze Initiative kritisiert die Verschwendung und Fehlinvestition gesellschaftlicher Ressourcen für Aufrüstung und Krieg. Die initiierenden Frauen fordern die Einrichtung eines finnischen Ministeriums, das dafür sorgt, dass das bisher für das Militär ausgegebene Geld für den Frieden, für den Abbau von Armut und die Beseitigung des Hungers und eine an den Nachhaltigkeitszielen der UN (SDGs) orientierte ökologische Entwicklung ausgegeben wird. Sie fordern auch andere Staaten auf, derartige Ministerien einzurichten und damit für eine friedlichere, gerechtere und umweltbewahrende Welt einzutreten. Die weitere Entwicklung dieser Initiative gilt es aufmerksam zu verfolgen. [9]
Auch die rassismuskritische Bewegung, aktuell z.B. ‚Black Lives Matter‘, stellt eine für die gesellschaftliche Neuordnung zu beachtende politische Bewegung dar.[10]
‚Black Lives Matter‘ ist eine aus der afroamerikanischen Gesellschaft der USA stammende Protestbewegung, die sich gegen den systemischen Rassismus in der US-amerikanischen Gesellschaft wendet. Sie wurde bereits 2013 angesichts schwerwiegender Fälle von Rassismus aber auch von latenter Alltagskriminalisierung begründet, wurde aber vor allem durch den auf Video aufgenommenen und dokumentierten Mord an George Floyd zu einer Massenprotestbewegung gegen rassistisch bedingte polizeiliche Übergriffe, die sich auch international verbreitete.
„Black Lives Matter‘ hat keine zentralisierte Struktur, sondern ist ein ‚Graswurzelbewegung‘, die dezentral vernetzt ist. BLM führt Demonstrationen, Märsche und Kundgebungen durch. BLM-Slogans wie z.B. „Hands up! Don’t shoot!“, „No justice, no peace!“ oder „Is my son next?“ gingen im Zuge dieser Proteste weltweit durch die Medien.
Ausgehend durch den von einem Polizisten ausgelösten Erstickungstod von George Floyd in Minneapolis organisierten sich Massendemonstrationen in den USA, wo Millionen Menschen auf die Straße gingen. Auch gab es Proteste in Europa. So demonstrierten in Wien im Frühsommer 2020 ca. 50.000 Teilnehmer_innen und in Berlin im Juni 2020 – trotz Corona – 15.000 vorwiegend junge Menschen gegen den gesellschaftlichen Rassismus.
Der ehemalige US-Präsident Trump schätzte hingegen die Demonstranten als ‚terroristische Antifa‘ ein und drohte angesichts von Ausschreitungen weniger, welche die Demonstrationen gewalttätig ausnutzten, der gesamten Bewegung mit dem Einsatz der Nationalgarde: „Irgendeine Schwierigkeit und wir werden die Kontrolle übernehmen, aber wenn die Plünderungen beginnen, beginnt das Schießen.“[11]
So versammelten sich auch im Zuge derartiger Aussagen schwerbewaffnete rechtsorientierte weiße Zivilisten an Denkmälern ehemaliger US-amerikanischer Kolonialherren und rassistischer Politiker und Generälen, um ein Herabstürzen dieser Denkmäler durch Aktivisten mit dem Einsatz ihrer Schusswaffen, z.T. auch Schnellfeuergewehren, zu verhindern.
Die Bewegung hat zumindest bislang in den weiten Teilen USA bereits erreicht, dass es zu einer neuen Diskussion der Rassismusfrage gekommen ist und auch Suspendierungen gewalttätiger Polizisten sowie mit der Einleitung von Strafprozessen begonnen wurde. Auch ist erreicht worden, dass sich wieder aktuell mit Kolonialismus, Sklaverei und Neokolonialismus auseinandergesetzt wird. Selbstkritisch sollte die Bewegung mit Tendenzen von Splittergruppen umgehen, selbst rassistisch zu werden, indem diese weiße Amerikaner pauschal diskriminieren. Auch muss die ausgesprochen berechtigte Protestbewegung zu verhindern versuchen, dass im Schatten der Proteste Plünderungen und Zerstörungen durchgeführt werden. Dies erleichtert dann ihren Gegnern die ‚Black Lives Matter‘-Bewegung als terroristisch einzustufen. Hierbei fällt abermals die leichtfertige Verschiebung der Standards für das Verständnis von ‚Terrorismus‘ auf. In der Türkei werden Demonstranten gegen das Erdogan-Regime ebenfalls von diesem als Terroristen bezeichnet. In Hongkong wird der Protest gegen China nun in Zukunft ebenfalls aufgrund des durchgesetzten Sicherheitsgesetzes auch auf die Stufe mit Terrorismus gesetzt. Nun bezeichnete der ehemalige US-Präsident Trump die amerikanische Antifa als Terroristen. Genauso bezeichnete Putin die ukrainischen Regierungsmitglieder als Faschisten und Terroristen. Autokraten und autoritäre Regime verschieben den Terrorismusbegriff und schaffen dadurch die Voraussetzungen, dass die demokratische Opposition verfolgt und mit Repression bedroht werden kann.
Der inzwischen verstorbene ehemalige französische Widerstandskämpfer und Diplomat Stéphane Hessel forderte dementsprechend insbesondere die Jugend der Welt auf, sich gegen solche Bedeutungsverschiebungen und Ungerechtigkeiten zu empören und sich für eine gerechtere Gestaltung der Welt zu engagieren:
„Es mag ja sein, dass die Gründe für Empörung heute nicht mehr so deutlich zu erkennen sind. Wer befiehlt und wer entscheidet? Wir haben es nicht mehr mit einer kleinen Elite zu tun, deren Machenschaften leicht zu durchschauen sind. Die Welt ist groß, und wir spüren deutlich, wie sehr die Dinge miteinander verschränkt sind. Aber in dieser Welt gibt es Dinge, die unerträglich sind. Wer sie sehen will, muss genau hinsehen. Ich sage den jungen Leuten: Wenn ihr nur ein wenig sucht, werdet ihr solche Dinge finden. Am schlimmsten ist es, wenn man sagt: ‚Damit habe ich nichts zu tun. Das ist mir egal.‘ Wer sich so verhält, verliert eine der wesentlichen und unverzichtbaren Eigenschaften, die den Menschen ausmachen: die Fähigkeit zur Empörung und das Engagement, das daraus erwächst.“ [12]
Zu diesem Engagement sollte zunächst der Erhalt der noch vorhandenen demokratischen Spielräume gehören, die von vorherigen Generationen unter großen Opfern historisch erkämpft wurden. Damit müsste der Einsatz für weltweite demokratische Strukturen unter dem Dach der Vereinten Nationen verbunden sein sowie die sozialökologische Umsteuerung von Gesellschaften im Zuge einer systemischen Transformation des Weltkapitalismus durchgesetzt werden. Der nachstehende Überblick, der auch sicherlich um viele weitere Initiativen zu ergänzen ist, gibt zumindest in Ansätzen einen Einblick in die Vielfalt der NGO’s, Initiativen und Bewegungen, welche u.a. die Initiatoren und Träger einer solchen globalen Neuordnung sein können:
Wer sind die gesellschaftlichen Kräfte einer sozialökologischen Neuordnung?
Alle sozialökologisch, demokratisch und friedenspolitisch engagierten Bürger_innen, Parlamentarier_innen, Parteien, Gewerkschaften, Parlamente und Institutionen in lokalen, nationalen, regionalen und globalen Kontexten sowie weltweit widerständige NGO‘s und Initiativen wie zum Beispiel:
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Transparency International, ATTAC, Netzwerk für gerechten Welthandel, Forum Fairer Handel, food watch, Fridays For Future, Scientists For Future, Amnesty International, Alliance internationale pour la defense des droits et des libertes (AIDL), Extinction Rebellion (XR), Smash Cruiseshit, Seebrücke, Greenpeace, Global Witness, Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW), Ärzte ohne Grenzen, Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs – Ärzte in sozialer Verantwortung (IPNNW), World Future Council (WFC), Women for Peace, Women’s International League for Peace‘ (WILPF), Bundesausschuss Friedensratschlag, Netzwerk Friedenskooperative, Informationsstelle Militarisierung (IMI), Initiative ‘Sicherheit neu denken’, International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN), Peace Brigades International, Democracy without Borders, UNPA-Kampagne, Democracy International, Civicus, Asia Democracy Network (ADN), Asia Forum of Human Rights and Development (Forum-Asia), Asia Democracy Research (ADRN), Asian Network for Free Elections (ANFREL), Democracy for Hongkong (D4HK), Open Russia, Pussy Riot, Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI), Rete Italiana per il Disarmo, Movimento Nonviolento, Sea-Watch, Electronic Frontier Foundation (EFF), digitalcourage, International Commitee for Robot Arms Controll (ICRAC), Campaign to stop Killer Robots, WWF, Safe School Declaration, Save the Children, Global Partnership for the Prevention of Armed Conflicts (GPPAC), Wuppertaler Institut für Klima, Umwelt, Energie, Fraunhofer Gesellschaft, Netzwerk der UNESCO-Schulen, International Rescue Commitee (IRC), The African Centre for Democracy and Human Rights Study (ACDHRS), African Commission for Human and Peoples‘ Rights (ACHPR), Comisión Interamericana de Derechos Humanos (CIDH), Arab Organization for Human Rights (AOHR), Palestinian Center for Human Rights, The Israeli Information Center for Human Rights in the Occupied Territories (B‘Tselem), Human Rights Watch, Black Lives Matter (BLM), Beaver Lake Cree Nation, Athabasca Chipewyan First Nation (ACFN), Netzwerk politischer Kommunen (Kommuja), Tamera, Kommune Niederkaufungen, Service Civil International (SCI), Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg, Ende Gelände, OXFAM, Ehrfurcht vor allem Leben (EVAL), Global Justice Now, World Vision, LobbyControll, The Humanitarian League Advocacy , Pacific Climate Watch , Science for Peace, Nobel Peace Prize Watch, No More Bombs, Ziviler Friedensdienst, Nuclear Age Peace, Socio-ecological union international, Sortir du nucleaire Paris, Swedish Peace Council, The Resistance Center for Peace and Justice, Ukrainian Pacifist Movement, Veterans for Peace, Campaign for International Cooperation and Disarmament (CICD), Peace SOS, World Beyond War, Women’s International League for Peace and Freedom, World BEYOND War, South Africa, Seattle Anti-War Coalition; Office of Peace, Justice, and Ecological Integrity; Friends of the Earth Australia, Independent and Peaceful Australia Network, Scottish Campaign for Nuclear, Basel Peace Office, Cameroon for a World BEYOND War, Campaign Against Arms Trade, Cessez d’alimenter la Guerre, Disarmament and Security Centre, Global Campaign for Peace Education Japan, Global Network Against Weapons & Nuclear Power in Space, Grassroots Global Justice Alliance, Hawaii Peace and Justice, International Physicians for the Prevention of Nuclear War, Movimiento por un mundo sin guerras y sin violencia, Campact, Mighty Earth, Global Ecovillage Network (GEN), Mayors for Peace …
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Eine Weltregierung für den im kosmischen Maßstab kleinen Planeten Erde wird aufgrund der zukünftigen Anforderungen und Problemstellungen ohnehin irgendwann kommen müssen. Es wird allerdings darum gehen, dass es sich hierbei um kein totalitäres Weltregime einer sich bereichernden und Macht anhäufenden klandestinen Weltelite, sondern es sich um eine demokratisch strukturierte Weltgesellschaft auf der Basis der strukturell reformierten Vereinten Nationen in Zusammenarbeit und Subsidiarität mit den verschiedenen globalen Regionen handeln wird. Mit dem internationalen Demokratisierungsprozess müssen des Weiteren Enteignungsprozesse und eine demokratische Inbesitznahme der Produktionsstätten und der Wertschöpfung einhergehen. Insbesondere in dieser Verbindung unterscheidet sich der vorliegende Entwurf von den meisten Vorstellungen einer globalen Neuordnung.
Es gibt keine Alternative
Viele werden derzeit der Auffassung sein, dass die hier entwickelte Vision unrealistisch sei, sich dies niemals zukünftig umsetzen lasse, eine umfassende Gemeinwohlorientierung dem menschlichen Charakter widerspreche. Dieser negativen Anthropologie möchte ich noch einmal entgegensetzen:
Erstens: Wer kann denn jetzt am relativen Beginn der Menschheitsgeschichte schon sagen, welches Entwicklungspotenzial der Mensch als Gattungswesen und die Menschengemeinschaft in der Zukunft haben werden?
Und zweitens möchte ich fragen: Wo ist die Alternative? Ohne einen demokratisch kontrollierten globalen Zusammenschluss und eine einhergehende sozialökologische und demokratische Transformation von Politik und Ökonomie wird die Menschheit die Zukunft der kommenden Generationen nicht sichern können. Der Planet Erde wird im wahrsten Sinne über ökologische und militärische Katastrophen verbrennen. Die ersten Feuer brennen bereits.
Wer ist eigentlich naiv? Derjenige, der die Entwicklungen sieht, hier radikal gegensteuert oder derjenige, der für ein ‚Weiter so‘ plädiert?
Hierbei ist Radikalität etwas völlig anderes als Extremismus. Radikalität im gesellschaftlichen Transformationsprozess meint an der Wurzel („radix“) von Problemen anzusetzen: Es geht um die weltweite und in allen Weltregionen vorzunehmende schrittweise Transformation des Kapitalismus zugunsten eines Verhältnisses von Ökonomie und Politik, das durch Verantwortlichkeit und Gemeinwohlorientierung gekennzeichnet ist. Ökonomie und Politik müssen sich in den Dienst der Versorgung der Menschen stellen und hierbei die Prinzipien von Gerechtigkeit, Demokratie, Friedfertigkeit, Wissenschaftlichkeit und ökologischer Verantwortlichkeit zu ihrem leitenden Paradigma werden lassen. Ein solches sich weltweit durchzusetzendes System kann nicht mehr Kapitalismus genannt werden, sondern sieht eine staatliche Rahmung des Wirtschaftsprozesses im nationalen, regionalen und globalen Kontext vor, der marktwirtschaftliche Prozesse von ihrer Raubtiermentalität befreit, Fragen der Eigentums- und Vermögensverteilung anders regelt, das Spannungsverhältnis von Ökonomie und Ökologie beseitigt, die Technologieentwicklung ethisch kontrolliert und die kreative ökonomische Kraft der Menschen im Sinne der Gemeinwohlorientierung frei setzt. Die entsprechenden transformatorischen Schritte in Richtung auf eine radikale Neuordnung in diesem Sinne wurden im Rahmen des vorliegenden Buches ausführlich beschrieben. [13]
Daher noch einmal abschließend die Forderungen in aktueller Auslegung von Marx/Engels [14]:
Internationalisten und Weltbürger aus der ganzen Welt vereinigt euch! Ihr habt nichts zu verlieren als die Ketten eurer Nationalstaatlichkeit, als die Vernichtung eurer Freiheitsrechte, die Ausbeutung durch multinationale Konzerne und finanzkapitalistische Spekulanten, die Rache der Biosphäre, digitale Fußfesseln, Rüstungsspiralen und Kriege, psychische Programmierungen, fehlgeleitete Investitionen und Wertschöpfung sowie die atomare Verwüstung des Planeten.
Zu gewinnen ist eine friedliche, sozial gerechte, demokratische, ökonomisch sinnvolle und ökologisch verantwortliche Welt!
Allerdings darf das Engagement für eine globale Neuordnung keineswegs gewalttätig, also in einem extremistischen Sinne, erfolgen. Hier soll sich daher von den vermeintlichen Konsequenzen marxistischen Denkens distanziert werden. Gewalttätige Revolutionen in der Geschichte haben nur zu anderen Formen offener oder struktureller Gewalt geführt. Gewalttätige Proteste in der heutigen Zeit führen des Weiteren zur Stigmatisierung und Kriminalisierung dieses Protests. Der Widerstand sollte friedlich und druckvoll sein, indem die geistig-schöpferischen Kräfte, die Kreativität und Intelligenz, die Solidarität und die Zivilcourage der Menschen im Engagement bereits das in Ansätzen zeigen, um was es zukünftig gehen soll: Um eine gesellschaftliche Neuordnung, die Menschen jeder Hautfarbe, jeder Herkunft, jeden Alters, jeden Geschlechts und jeder Region in ihren Grundbedürfnissen nach materieller Versorgung, nach solidarischer Arbeit, hinsichtlich eines Lebens im Einklang mit der Natur, nach demokratischer Selbstbestimmung und nach Freiheit in Verantwortung berücksichtigt, unterstützt und fördert.
Es gibt keinen Grund zu resignieren, der Kampf um das lebenswerte Leben auf der Erde ist noch lange nicht entschieden! Den Vertretern der Fossilindustrie, der Rüstungsindustrie, den Kriegsherren, den Finanzspekulanten, den Milliardären, den Autokraten und Diktatoren stehen weltweit und an zahlreichen Orten viele Menschen im Protest gegen die Zerstörung gegenwärtiger und zukünftiger Lebensbedingungen vereint gegenüber. In der Zusammenarbeit und Vernetzung von gesellschaftlichen Bewegungen, Initiativen, Gewerkschaften, Parlamenten und den an einer Neuordnung orientierten politischen Parteien und Institutionen gilt es nun, klug, friedlich und doch im Veränderungswillen radikal sowie in den Aktionen druckvoll einen wirksamen Beitrag zu einer globalen Neuordnung zu leisten.
Und: Die Veränderung darf aufgrund der enormen Bedrohungslage nicht mehr lange auf sich warten lassen. Die Veränderung muss jetzt auf allen miteinander systemisch zusammenhängenden Ebenen beginnen und fortgesetzt werden. Noch ist eine Umsteuerung möglich. Zivilgesellschaftliche Bewegungen, Organisationen und Initiativen an allen globalen Orten können Synergieeffekte haben und zu einer wirkungsvollen Macht werden, die eine neue Qualität gesellschaftlichen Lebens und eine lebenswerte Zukunft für künftige Generationen hervorbringt.
Anmerkungen zum Kapitel 8
(Vollständiges Literaturverzeichnis siehe zum Schluss der Seite 'international edition')
[1] Reich (1948/2013, 97f.).
[2] IPCC (2018, 13).
[3] Vgl. IPCC (2018, 16).
[4] Vgl. https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-03/march-for-our-lives-washington-demonstration-waffengesetze-parkland, 25.3.2018, 17.3.2019.
[5] In: https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-516131.html, 15.3.2019, 15.3.2019.
[6] Vgl. https://www.tagesspiegel.de/politik/fridays-for-future-im-newsblog-veranstalter-25-000-teilnehmer-bei-demo-fuer-den-klimaschutz-in-berlin/24106530.html, 15.3.19, 15.3.19.
[7] Stand: 9.10.2019, https://www.scientists4future.org/, 15.3.19, 9.10.19.
[8] Todenhöfer 2019, 292f.
[9] Klötzer/ Launokari (2021) (Women for Peace – Finland).
[10] Vgl. hierzu Yann Durand: "Black Lives Matter" - Nur ein Strohfeuer im Kampf gegen den Rassismus? https://www.dw.com/de/kommentar-black-lives-matter-nur-ein-strohfeuer-im-kampf-gegen-den-rassismus/a-53959251, 27.6.2020, 20.3.21; Jiréh Emanuel/ Mariam Aboukerim/ Naomi Lwanyaga: Black-Lives-Matter-Demos:„Wir sind Deutschland“, https://taz.de/Black-Lives-Matter-Demos/!5689380/, 13.6.2020, 20.3.21; UN verurteilen tödliche Polizeigewalt gegen Schwarze. https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-05/usa-polizeigewalt-schwarze-vereinte-nationen-kritik, 28.5.20, 20.3.21.
[11] https://www.sueddeutsche.de/politik/george-floyd-proteste-minneapolis-1.4921880, 29.5.20, 20.3.21.
[12] Hessel (2011).
[13] Vgl. Kapitel 5.7
[14] Vgl. Marx/Engels (1848/1983, 60).