Vollständiges 

deutschsprachiges Manuskript

 des Buches

'Neuordnung. 

Eine friedliche und nachhaltig

 entwickelte Welt ist (noch)

 möglich.'


5. aktualisierte und erweiterte Auflage, 2024


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Zitiermöglichkeit: 
Moegling, Klaus (2024): Neuordnung. Eine friedliche und nachhaltig entwickelte Welt ist (noch) möglich. Kassel, 5. aktualisierte und erweiterte deutschsprachige Auflage, https://www.klaus-moegling.de/aktuelle-auflage-neuordnung/, 5.4.2024.
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aktuelle Auflage 'Neuordnung. Eine friedliche und nachhaltig entwickelte Welt ist (noch) möglich.'

von Klaus Moegling

Kriege, soziale Ungleichheit, Klimaerwärmung, Pandemien. Die Welt steht täglich vor neuen Herausforderungen, die nur durch eine weitreichende Neuordnung bewältigt werden können, die an den Ursachen der verschiedenen globalen Probleme ansetzt.
Die Welt ist in Unordnung geraten: In vielen Weltregionen ist der Frieden zerstört, finden Kriege in unterschiedlicher Form statt. Die aktuellen Kriege in der Ukraine, im Jemen und im Nahen Osten sind erschreckende Beispiele hierfür. Menschen werden gefoltert, erschossen, in die Luft gesprengt oder verhungern. Viele Staaten werden zunehmend autoritär und repressiv nach innen und gefährlich nach außen.
Die Ungerechtigkeit im globalen Maßstab wird immer größer: Wenige Reiche verdienen immer mehr, ein großer Teil der Weltbevölkerung hat keinen Zugang zu Grundnahrungsmitteln und sauberem Trinkwasser. Die Ökonomie dient nicht dem Menschen. Die Digitalisierung fördert ein Leben in Scheinwelten und die Veränderung des Humanen. Der Umgang mit Pandemien ist unzureichend. Die Umwelt wird zunehmend zerstört. Die Fluchtbewegungen nehmen zu und die damit verbundene Migrationsproblematik ist selbst für reiche Gesellschaften schwieriger zu bewältigen. Gleichzeitig erfahren Rechtspopulismus und Rechtsextremismus eine Renaissance. Die Klimaerwärmung wird zu einer dramatischen Verschiebung des ökologischen Gleichgewichts führen. 'Rette sich, wer kann!' oder Nachdenken über einen Neubeginn? 
Die Antwort hierauf ist ein Plädoyer für eine Neuordnung.
Eine friedliche und am Prinzip der Nachhaltigkeit orientierte Welt ist (noch) möglich. Und: Die Neuordnung muss bereits jetzt mit den ersten notwendigen Schritten beginnen. Aber: Die Zeit wird knapp.


 

Das Buch "Neuordnung" wird ausführlich und kontrovers in wechselseitiger Kommunikation mit dem Autor diskutiert unter:

https://www.freitag.de/autoren/profdrklausmoegling1952/sozialoekologische-transformation


Das Buch ist inzwischen in seiner 3. Auflage im Verlag Barbara Budrich vergriffen. Es ist nun auf dieser Webseite  als 5. aktualisierte und erweiterte Auflage frei lesbar veröffentlicht. Die Rechte hierzu wurden vom Verlag erworben.

Vorab soll zunächst das zusammenfassende und Perspektiven bildende letzte Kapitel 8 dem gesamten mehrere hundert Seiten umfassenden Manuskript voran gestellt werden.
Anschließend kann sich anhand des folgenden Inhaltsverzeichnis entschieden werden, in welchen Kapiteln vertiefend nachgelesen werden soll.


Kapitel 8       


Zusammenfassung und Epilog: Eine neue Ordnung für die Welt 


Der ganzheitliche Ansatz 

Nur selten gelingt es politikwissenschaftlichen Ansätzen, über eine teilhafte Spezialisierung ihrer Aussagen oder über eine Fokussierung auf einen einzigen theoretischen Ansatz hinauszugehen. Aus diesem Grunde kann die Komplexität gesellschaftlicher Vorgänge dann nur einseitig und z.T. unterkomplex erfasst werden. Beispielsweise befinden sich neoliberale Theorien ökonomischer Entwicklung in einer Verbindung zu ökonomischen Interessen, formulieren also bewusst einseitig und teilspezialisierend, um alternative Perspektiven auszuschließen und ihre Klientel mit auf individueller Gewinnmaximierung ausgerichteten Handlungsstrategien zu versehen.

Dem Buch liegt daher ein holistischer bzw. ganzheitlicher Ansatz zugrunde, dessen prioritäres Erkenntnisinteresse es ist, gesellschaftliche Perspektiven mehrdimensional aus verschiedenen Blickrichtungen zu analysieren und zu beurteilen, um Anforderungen für eine zukünftige gesellschaftliche Entwicklung zu formulieren, die an universalen Werten und Interessen der Menschheit nach Frieden, Gerechtigkeit und dem Erhalt bzw. der Wiederherstellung einer ausbalancierten Ökologie orientiert ist. Dieser Ansatz ist vor allem durch acht systemtheoretische Annahmen begründet: 


1. Alles steht in einer Verbindung zueinander: Die Teile untereinander und die Teile wiederum zum Ganzen. Weit entfernte Ereignisse können daher in der Nähe eine große Wirkung zeigen. Dies gilt für die räumliche und für die zeitliche Ebene.
2. Politische Aktivität kann in dieser Ordnung eine Wirkung entfalten, die zu einer Veränderung der Teilbeziehungen untereinander und damit zu einem Einfluss auf das gesellschaftliche Ganze führt. 
3. Systemstrukturen geben dem Ganzen Festigkeit gegenüber der Eigendynamik der Teile. Allerdings wirken in bestehenden Strukturen Personen und Gruppen, die wiederum strukturbildende Regeln verändern können. 
4. Es gibt verschiedene Systemebenen. Die Organisationsmuster auf den verschiedenen Systemebenen sind weniger hierarchisch, sondern in der Regel weisen Systeme multivariate Organisationsmuster auf. Informationen und Einflüsse verlaufen in alle Richtungen, abwärts, aufwärts und auf der horizontalen Ebene.
5. Im Unterschied zu einer einfachen Maschine funktionieren Ganzheiten im Sinne lebendiger Systeme nicht in einem linear-kausalen Sinne, sondern Veränderungen ergeben sich durch zyklische Informationsmuster mit vielfältigen Rückkoppelungsschleifen.
6. Lebende Systeme sind durch die Prinzipien der Selbstorganisation und der Selbsterneuerung (Autopoiesis) gekennzeichnet. Dies bedeutet, dass ein funktionsfähiges System in der Lage ist, relativ selbstständig seine Ordnung zu definieren, zu verändern und lernend neu zu organisieren.
7. Eine Neuordnung des Ganzen entsteht, wenn die verschiedenen teilhaften Aktivitäten vieler Einzelner und einzelner Gruppen intensiv genug und systemisch passend zur beginnenden strukturellen Veränderung zusammenarbeiten. 
8. Wenn Teilbereiche systemisch stimmig zusammenwirken, entwickeln sie eine systemverändernde Dynamik. Dann kann es – auch in einem disruptiven Sinne – zu qualitativen Veränderungen mit hoher Geschwindigkeit, also zu gesellschaftlichen Kipppunkten hin zu einer globalen Neuordnung, kommen. 

Oftmals voneinander getrennte Bereiche, wie Körper, Geist, Psyche und Gesellschaft, wie Umwelt, Wirtschaft und Gesundheit oder Identität, Religion und Krieg werden als miteinander zusammenhängende Bereiche verstanden. Das Ganze ist auch hier mehr als die Summe seiner Teile. Teilbereiche wirken systemisch zusammen und können eine dynamische und weltumspannende Wirkung zeigen. So zeigt uns die Verbreitung des Coronavirus, wie der gesellschaftliche Umgang mit einem Virus zu Ansteckungsängsten in den Menschen, zu einem veränderten zwischenmenschlichen Verhalten, zu wirtschaftlichen Krisen, wie dem Umsatzeinbruch von Unternehmen und Massenentlassungen, sowie politischen Krisen führen kann. Genauso kann die Corona-Krise zeigen, dass ein neoliberales Wirtschaftsregime, im Zuge dessen die Privatisierung und Kommerzialisierung des Gesundheitswesens vorgenommen wird, nicht geeignet ist, eine Pandemie erfolgreich zu bekämpfen. Der schreckliche Preis sind Unmengen von Schwererkrankten und Toten. 

Nicht zu verstehen, wie alles zusammenhängt, kann daher höchst gefährlich sein. Auch die Wirkungen alltäglichen Verhaltens, also auf der Mikroebene, zu unterschätzen, kann äußerst gefährlich sein. Zu unterschätzen, was das alltägliche mediale Betrachten von Morden und zwischenmenschlicher Quälerei und das virtuelle Mitwirken in diesem Geschehen im jungen Menschen anrichten kann, bedeutet die psychische Anfälligkeit von Menschen zu übersehen. Massenschießereien in Schulen und todbringende Anschläge, aber auch die Bereitschaft, im Krieg zu töten, sind Ausdruck dieser Ignoranz. 

Hingegen können auf demokratischer Grundlage eintretende und an Nachhaltigkeit orientierte Bildungsprozesse nicht hoch genug für ihre Bedeutung für das Ganze eingeschätzt werden. Auch das friedliche Meditieren, die zwischenmenschliche Liebe und das gegenseitige Helfen können Prozesse mit globaler Ausstrahlungskraft bedeuten, wenn Empathie und Hilfsbereitschaft zur Grundlage einer kollektiven Solidarität werden. 

Der Zusammenhang wird ebenfalls deutlich, wenn wir uns die Verbrennung von Braun- oder Steinkohle zur Beheizung aber auch zur industriellen Energieproduktion in ihrer Verbindung zur Freisetzung weiterer Klimagase betrachten. Die u.a. durch die CO2-Emissionen entstehende Klimaaufheizung führt zu vielfältigen Auswirkungen von der Veränderung der Meeresströmungen, über die Entstehung von Wüsten, dem vermehrten Auftreten heftiger Stürme, dem Abschmelzen der Gletscher, dem Anstieg des Meeresspiegels bis hin zum Auftauen des Permafrostbodens und der entsprechenden Freisetzung wiederum Klima relevanten Methans. Die klimatischen und ökologischen Verschiebungen und Verwerfungen führen zu Massenfluchten und Völkerwanderungen, die wiederum nicht bereitwillig von den Einheimischen hingenommen werden und zu gewalttätigen Auseinandersetzungen sowie zur Verschiebung der politischen Kräfteverhältnisse führen. 
Kriege entstehen, wenn politische Möglichkeiten der beteiligten Akteure, einen Konflikt zu lösen, versagt haben. Erst die historische Kontextualisierung militärisch ausgetragener Konflikte kann zeigen, welche Interessen, Maßnahmen und Verweigerungen der Zusammenarbeit zum Ausbruch eines Krieges geführt haben. Hierbei stehen in der Regel ökonomische Interessen, wie z.B. das Gewinnstreben der Rüstungsindustrie, das Ausbeutungsinteresse an fossilen Brennstoffen oder seltenen Erden, in einer Verbindung zu machtpolitischen bzw. geopolitischen Optionen. Diese unterschiedlichen Interessen sowie die historische Genese eines Krieges müssen in einen Zusammenhang gedacht werden, wenn Überlegungen zur Beendigung eines militärischen Konflikts realistisch und erfolgreich sein sollen. 

Diesen Zusammenhängen und den Möglichkeiten, einen ethisch vertretbaren politischen Einfluss im Ganzen zu haben, ist das vorliegende Buch gewidmet. 


Einer Vision kann man nicht vorwerfen, visionär zu sein. 

Das Buch beginnt mit einer kritischen Analyse des gesellschaftlichen Ist-Zustands in einem globalen Kontext. Hierbei werden die zentralen gesellschaftlichen Bereiche analysiert und auf ihre Verbindungen hin durchdacht: Ökonomie, Politik, Militär, Ökologie und Kultur.  

Es wird hierbei ein Fokus auf globale Strukturen der Gier gelegt, die im Kolonialismus ihren historischen Ausdruck fanden, aber auch in postkolonialen Zeiten ihre Verlängerung und systemische Modifizierung erfuhren. 

Ein Schwerpunkt liegt anschließend jeweils auch auf der Rekonstruktion und Einordnung der internationalen Widerstandsbewegungen, die sich gegen die herrschende Ökonomie, soziale Ungerechtigkeit, die Zerstörung des Klimas und gegen die Militarisierung der Welt wehren. 

In einem zweiten Schritt werden Negativszenarien für diese Bereiche entwickelt. Hier wird danach gefragt, wie die Zukunft der Weltgesellschaft aussehen wird, wenn es nicht gelingt, die Gefahr einer weltweiten militärischen Katastrophe einzudämmen, die Klimakatastrophe zu verhindern, den Tendenzen der Entdemokratisierung entgegen zu wirken, die soziale Ungleichheit zu beseitigen und die digitale Transformation des Humanen im Rahmen einer menschenfeindlichen Kultur zu verhindern. 

Die Skizzierung derartiger Negativszenarien, die im Sinne der Heuristik aus einer Kombination von Fakten, theoretischen Einschätzungen, Vermutungen und Hypothesen konstruiert werden, ist neben der kritischen Ist-Analyse die Basis für die Forderung nach einer radikalen Neuordnung der Weltgesellschaft, damit eine derartige Entwicklung verhindert werden kann. 

In einem dritten Schritt wird dann die positive Vision einer (noch) möglichen globalen Entwicklung beschrieben, die eintreten kann, wenn die richtigen Maßnahmen ergriffen und die hierfür notwendigen Entscheidungen über zivilgesellschaftlichen Widerstand, Demokratisierung und internationale Vernetzung durchgesetzt werden können. Diese Vision ist an den ökologischen Notwendigkeiten, den Kriterien der Demokratie, des friedlichen Zusammenlebens, der Wahrung der Menschenrechte, einer menschengerechten Ökonomie, sozialer Gerechtigkeit, einer aufgeklärten Kultur, also am Prinzip einer damit gemeinten mehrdimensional zu begreifenden Nachhaltigkeit orientiert. Allerdings besteht hinsichtlich der verschiedenen Dimensionen der Nachhaltigkeit aufgrund der gegenwärtigen und zukünftigen klimatischen Bedrohungslage das Primat der ökologischen Dimension, an der sich jede Maßnahme und Strategie zu messen hat. 

Es werden dann hierauf folgend auf der Grundlage der kritischen Analyse, der Negativszenarien und der auf verschiedenen Ebenen entwickelten positiven Vision planetarer Entwicklung erste konkrete Schritte entwickelt, die am gegenwärtigen Zustand globaler Politik, neoliberal geprägter Ökonomie, globaler Ökologie sowie diversifizierter kultureller Lebensweisen ansetzen können. 

Wie bereits einleitend gesagt: Es kann eine derartige Vision nicht mit dem festlegenden und einengenden Blick auf die Unzulänglichkeiten und Beschränkungen der Gegenwart entwickelt werden. Der beständige Vorwurf eines ungenügenden Realismus‘ verfehlt die Intention des visionären Vorhabens. Daher kann man einer Vision nicht vorwerfen, visionär zu sein. Nur die ersten Schritte in Richtung auf die langfristige Annäherung an eine Vision müssen an dem Vorfindbaren anknüpfen. Hier ist es dann auch legitim zu fragen, inwieweit die ersten Schritte realistisch gewählt sind. 

Die positive Vision einer Neuordnung hingegen ist Ausdruck des idealiter Gewünschten und Gewollten und findet seine Einlösung möglicherweise erst in mehreren Generationen – wenn der Menschheit tatsächlich noch bis dahin Zeit gegeben werden wird. 


Zur zeitlichen Dimension einer Neuordnung 

Die im vorliegenden Buch vertretene positive Zukunftsvorstellung einer Neuordnung ist vor dem Hintergrund der Ist-Analyse und negativer Szenarien, aber auch wünschenswerter Entwicklungen entstanden, um die Möglichkeiten eines Überlebens der menschlichen Gattungsart zu ermöglichen. Hierfür ist das Erkennen der eigenen Verantwortlichkeit der derzeit lebenden Generationen dringend notwendig, damit der Zeitpunkt der Umkehr und Neuordnung nicht verpasst wird – so noch einmal Hans Jonas (1979/2015, 8f.): 

„Im Zeichen der Technologie aber hat es die Ethik mit Handlungen zu tun (…), die eine beispielslose kausale Reichweite in die Zukunft haben, begleitet von einem Vorwissen, das ebenfalls, wie immer unvollständig, über alles ehemalige weit hinausgeht. Dazu die schiere Größenordnung der Fernwirkungen und oft auch ihre Unumkehrbarkeit. All dies rückt Verantwortung ins Zentrum der Ethik, und zwar mit Zeit- und Raumhorizonten, die denen der Taten entsprechen.“ 

Wer in diesem Zusammenhang argumentiert, dass der Mensch von Grund aus bösartig, der Mensch dem Menschen ein Wolf sei und daher eine positive Vision menschlicher Entwicklung naiv und unrealistisch sei, dem sei noch einmal entgegengehalten, dass es genügend weltweite Beispiele von positiver menschlicher Humanität, von zivilgesellschaftlichem Mut, Engagement gegen Unterdrückung, Hilfsbereitschaft und Empathie in der neueren Geschichte der Menschheit gegeben hat – von Bertha v. Suttner, über Emmeline Pankhurst, Martin Luther King, Mahatma Gandhi, Nelson Mandela bis zu Malala Yousafzei und Greta Thunberg. 

Auch die vielen Unterstützungsleistungen und Hilfen, die sich Menschen gegenseitig in Familien, Freundeskreisen, politischen Aktionen oder Arbeitsverhältnissen geben, sprechen eine positive Sprache hinsichtlich der Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen. Auch ist entgegenzuhalten, dass wir erst eine ontologisch und phylogenetisch sehr geringe Entwicklungsphase der Menschheit hinter uns haben. Möglicherweise sind erst die ersten Zentimeter eines Tausende Kilometer langen Weges begangen worden. Visionen menschlicher Entwicklung müssen daher nicht nur über ein paar Jahrzehnte hinweg sondern auch mit einer Reichweite von vielen Generationen in die Zukunft gerichtet sein – so Wilhelm Reich in seiner Rede an den ‚kleinen Mann‘: 

„Du denkst immer zu kurz, kleiner Mann, nur vom Frühstück bis zum Mittagessen. Du musst es lernen, in Jahrhunderten zurück und in Jahrtausenden vorwärts zu denken. Du mußt es lernen, in den Begriffen des lebendigen Lebens, deiner Entwicklung vom ersten Protoplasmaflöckchen bis zum aufrecht gehenden, aber noch krumm denkenden Menschentier zu denken. Du hast kein Gedächtnis für Dinge, die vor zehn oder 20 Jahren vorgefallen sind, und daher wiederholst du die Dummheiten, die du schon vor tausend Jahren sagtest. Mehr, du haftest an deinen Dummheiten, der ‚Rasse‘, der ‚Klasse‘, der ‚Nation‘, des religiösen Zwanges und des Liebesverbots, wie eine Laus im Pelz. Du wagst es nicht wahrzunehmen, wie tief im Elendspfuhl du steckst. Gelegentlich erhebst du deinen Kopf aus dem Pfuhl und rufst Eja-eja-ejaja! Das Quaken eines Frosches im Sumpf ist näher am Lebendigen.“ [1] 


Lebenssinn und Persönlichkeitsentwicklung 

Menschen müssen sich im Klaren werden, warum sie auf dieser Erde leben wollen, welche Werte und welchen Lebenssinn sie verfolgen möchten. Sie müssen für sich klären, welche soziale Ordnung sie anstreben und sich in diesem Sinne für eine Neuordnung einsetzen, wenn die bisherige Ordnung der Welt nicht ihren Vorstellungen eines ‚guten Lebens in Verantwortung‘ entspricht. 

Entsprechend müssen sie sich auf der Persönlichkeitsebene und in ihren sozialen Beziehungen entwickeln, reifen, wachsen und für sich und miteinander Durchbrüche schaffen. Menschen – egal aus welcher Kultur und aus welcher Region – können für sich Wege finden, wie sie sich im Kontext von ähnlich Gesinnten über veränderte Politikformen, neue Lebenszusammenhänge, Formen solidarischen Wirtschaftens, über Bildungsprozesse, therapeutische Interventionen oder Meditationspraktiken weiterentwickeln möchten. 

Die Voraussetzung hierfür auf der Persönlichkeitsebene ist u.a. die Entwicklung von Achtsamkeit, d.h. der Fähigkeit, sich aufmerksam bezüglich des eigenen Denkens, Fühlens und Handelns wahrzunehmen und zu reflektieren. Dies erfordert oftmals ein Innehalten, ein Verweilen und eine Entschleunigung des eigenen Lebens. Menschen, die in diesem Sinne auf sich aufmerksam werden – so wurde argumentiert – lassen sich nicht so leicht manipulieren, verlieren sich nicht in virtuellen Welten oder anderen Süchten, sind angstfreier, identifizieren sich nicht mit ihrer Entfremdung, entwickeln Eigenart und Zivilcourage. Die Verbindung von Achtsamkeit, Persönlichkeitsreife und Demokratiefähigkeit über Bildungsprozesse unterschiedlicher Art wird als eine gute Grundlage dafür angesehen, einen positiven Einfluss auf ökonomische, ökologische, soziale und politische Strukturen zu nehmen. 


Determinanten einer Neuordnung 

Insbesondere die drohende ökologische Verwüstung, die zunehmende soziale Ungerechtigkeit, das militärische Vernichtungsszenario, die zunehmende Entdemokratisierung, die Enthumanisierung im Zuge digitaler Transformation sowie das verstärkte Auftreten von Pandemien stellen Gefährdungen der Überlebensbedingungen der Menschheit dar, für die entschiedene Gegenmaßnahmen im globalen Maßstab unter der Perspektive der Nachhaltigkeit ohne eine weitere zeitliche Verzögerung wirksam einsetzen müssen. Nachhaltige Entwicklung bezieht sich hierbei mehrdimensional auf ökologische, ökonomische, politische und kulturelle Aspekte globaler Entwicklung unter dem Primat des Ökologischen und meint nicht nur die Erhaltung der Lebensgrundlagen für die zukünftigen Generationen, sondern auch die Heilung des Zerstörten. Eine derartige Entwicklung kann aufgrund ihrer Globalität nicht nur nationalstaatlich eingeleitet werden, sondern muss dringend transnational unter Einbezug einer reformierten UN koordiniert werden. 

Im Zuge der Konstruktion einer positiven Vision gesellschaftlicher Veränderung werden des Weiteren die sozioökonomischen Voraussetzungen friedlichen und ökologischen Zusammenlebens im Sinne einer Postwachstumsgesellschaft und alternativer Ökonomien mit deutlicher Gemeinwohlorientierung beschrieben. Die Ökonomie muss prioritär dem Menschen dienen und nicht primär den Rentabilitätsinteressen ihrer Shareholder. Verschiedene Widerstandsbewegungen gegen die neoliberalisierte Ökonomie und für eine gemeinwohlorientierte Ökonomie werden skizziert und analysiert. Schritte aus dem Griff einer gierigen Ökonomie, auch Enteignungs- bzw. Wiederaneignungsprozesse, werden beschrieben und mit Beispielen einer menschenfreundlichen und ökologisch orientierten Ökonomie versehen. 

Die vorliegende positive Vision gesellschaftlicher Entwicklungsmöglichkeiten hat auch auf der Ebene internationaler Politik Vorschläge unterbreitet, die hier noch einmal kurz zusammengefasst werden sollen. Die Vorschläge lassen sich auf verschiedenen Ebenen skizzieren und sind äußerst aktuell aufgrund der weltpolitischen Entwicklung, wie der russische Überfall auf die Ukraine, die Kriege im Jemen und in Syrien, im Nahen Osten (Israel/Palästina) sowie dramatisch zeigen:

1.       Die konsequente Demokratisierung der Vereinten Nationen durch ein demokratisch gewähltes Weltparlament, der Umstrukturierung des UN-Sicherheitsrats und einer gewählten und streng kontrollierten Administration in Bezug auf das UN-Generalsekretariat; 

2.       Hiermit verbunden die schrittweise sich entwickelnde Entnationalisierung politischer Herrschaft zugunsten einer sinnvoll abgestuften Regionalisierung im Sinne des Subsidiaritätsprinzips; 

3.       Eine Aufwertung und Neustrukturierung der internationalen Gerichtsbarkeit, der sich kein UN-Staat mehr entziehen kann; 

4.       Eine internationale Abrüstung und Entwaffnung von Staaten, Armeen und illegitimen Organisationen zugunsten eines demokratisch kontrollierten Gewaltmonopols der Vereinten Nationen mit weltpolizeilichen Einsatzmöglichkeiten im Falle massiver Verstöße gegen die UN-Charta; 

5.       Die Verwendung der Abrüstungsgewinne, also der Friedensdividende, für die drängenden und global relevanten Aufgaben nachhaltiger Entwicklung – vor allem zunächst für den Klimaschutz, die Friedenssicherung, die Gesundheitssysteme und für die Beseitigung des Welthungers. 

Natürlich sind wir weit von einer Entmilitarisierung, einer Entnationalisierung und einer Durchsetzung des Universalismus und einer Einrichtung kosmopolitischer Ordnungsstrukturen entfernt. Der russische Angriff auf die Ukraine in 2022 und die Unfähigkeit der Vereinten Nationen, hier präventiv zu handeln und auch in der militärischen Eskalation wirkungsvoll zu reagieren, zeigt dies auf eine gefährliche Weise.
Dennoch ist in Maßnahmen zur Erreichung dieses Zustands einer internationalen Neuordnung ein wichtiger Schlüssel zur globalen Befriedung und für die Freisetzung von Ressourcen insbesondere für den ärmeren Teil der Welt gegeben. Wenn durch die drastische Verringerung von Rüstungsausgaben im Zuge der Entwaffnung der Nationalstaaten die für die Entwicklung der ärmeren Weltregionen notwendigen Ressourcen in Billionenhöhe eingesetzt werden können, werden auch ökonomische Gründe für die Massenmigration und die damit verbundenen Konflikte und Probleme zumindest erheblich gemindert. 

Auch mit dem nach bedeutenden Investitionen verlangenden, zeitnahen Gegensteuern gegen den ökologischen Klimakollaps werden zumindest mittelfristig aufgrund der durch die Klimaträgheit bedingten Zeitverzögerung die ökologischen Gründe zukünftiger Massenfluchten vermindert werden. 
Der Politikwissenschaftler Farsan Ghassim ermittelte in einer empirischen Studie, dass die Idee einer globalen Demokratie und einer demokratischen globalen Weltregierung durchaus Anklang in der Bevölkerung einer Reihe einflussreicher Staaten findet - so Ghassim (2021): 

"In allen befragten Ländern unterstützen klare Mehrheiten die Idee einer globalen Demokratie. Im internationalen Durchschnitt sind es 65 Prozent. Die Spanne reicht von 57 Prozent in England und 61 Prozent in den USA über 68 Prozent in Brasilien bis hin zu 74 Prozent in Japan. Deutschland liegt mit 64 Prozent in der Mitte dieser fünf Länder." 

Es sollte uns nicht suggeriert werden, dass niemand die globale Demokratie wolle. Die Umfrageergebnisse von Ghassim machen deutlich: Es ist nicht aussichtslos, sich für die Veränderung globaler Herrschaftsstrukturen einzusetzen. Dies trifft auf eine große Resonanz bei vielen Menschen. Es sind mehr Menschen an globaler Demokratie interessiert, als national ausgerichtete Politiker_innen uns einreden wollen. 


Die Biosphäre antwortet auf den menschlichen Zugriff 

Der Raubbau an der Natur bleibt nicht unbeantwortet. Der Planet Erde beginnt sich gegen den Menschen zu wehren. Noch aber kann eine Katastrophe im globalen Maßstab verhindert werden. 

Der Weltklimabericht des IPCC der Vereinten Nationen macht deutlich, dass zwischen dem – ebenfalls problematischen – 1.5-Grad-Ziel und dem 2.0-Grad-Ziel bis zum Ende des 21. Jahrhunderts ein erheblicher Unterschied für die globale Klimasituation insbesondere für bereits benachteiligte Regionen und Bevölkerungsgruppen festzustellen ist: 

„Zu den Bevölkerungsgruppen, die einem überproportional hohen Risiko nachteiliger Konsequenzen einer globalen Erwärmung um 1,5°C und mehr ausgesetzt sind, zählen benachteiligte und verwundbare Bevölkerungsgruppen, manche indigene Völker sowie lokale, von landwirtschaftlichen oder küstengeprägten Lebensgrundlagen abhängige Gemeinschaften (hohes Vertrauen). Zu den überproportional gefährdeten Regionen gehören arktische Ökosysteme, Trockengebiete, kleine Inselentwicklungsländer und die am wenigsten entwickelten Länder (hohes Vertrauen). Armut und Benachteiligung werden in manchen Bevölkerungsgruppen mit zunehmender Erwärmung voraussichtlich zunehmen; eine Begrenzung der Erwärmung auf 1,5°C könnte im Vergleich zu 2°C die Anzahl der Menschen, die sowohl klimabedingten Risiken ausgesetzt als auch armutsgefährdet sind, bis zum Jahr 2050 um mehrere hundert Millionen senken (mittleres Vertrauen).“ [2] 

Das Erreichen des 1.5°C-Ziels ist wohl – nun aus der Sicht von 2024 - nicht mehr möglich. Nun gilt es das 2-Grad-Ziel zu fokussieren, das ebenfalls schon wieder gefährdet ist.  Die hierfür erforderlichen Maßnahmen müssten allerdings unverzüglich eingeleitet werden und müssten zeitlich deutlich über der durch den IPCC gegenüber 2010 bis 2030 globalen CO2-Absenkung um 45% und der bis 2050 geforderten vollständigen CO2-Neutralität hinausgehen. [3] Bis 2050 wird man sich für die Maßnahmen zur Klimaneutralität angesichts der sich derzeit beschleunigenden Klimaerwärmung, der Existenz von nicht kontrollierbaren Kipppunkten, dem Wirken von klimatischen Rückkoppelungseffekten, aber auch den Millionen Hungertoten sowie den Bedrohungen des Weltfriedens aufgrund der Klimaentwicklung nicht mehr Zeit lassen können. 
Der IPPC (2023, 12) stellt in seinem im März 2023 verabschiedeten Synthese-Bericht, für den über 9000 Studien analysiert wurden, fest, dass die Grenze von 1,5 Grad sehr bald erreicht sein wird, aber dass dennoch Hoffnung auf ein Zurückdrängen der Klimaerwärmung bestehe, wenn drastische Maßnahmen kurzfristig ergriffen würden:

"Continued greenhouse gas emissions will lead to increasing global warming, with the best estimate of reaching 1.5°C in the near term in considered scenarios and modelled pathways. Every increment of global warming will intensify multiple and concurrent hazards (high confidence). Deep, rapid, and sustained reductions in greenhouse gas emissions would lead to a discernible slowdown in global warming within around two decades, and also to discernible changes in atmospheric composition within a few years (high confidence).

 ‚Climate Justice‘ im weitergehenden Sinne aber bedeutet auch, dass die reicheren Regionen der Welt, die ökologischen Schutz- und Präventionsmaßnahmen für den ärmeren Teil der Welt und hierbei dort ebenfalls die notwendige Umstellung auf eine das Klima schonende regenerative Energieerzeugung weitgehend zu finanzieren haben. Hiermit können Jahrhunderte der kolonialen und postkolonialen Ausbeutung ganzer Weltregionen Schritt für Schritt zumindest partiell finanziell ausgeglichen werden. 

Im Rahmen des vorliegenden Buches werden daher die notwendigen Maßnahmenpakete zeitlich abgestuft innerhalb von 15 Jahren skizziert. Bis dahin müssten alle wichtigen Entscheidungen gefallen und die notwendigen Maßnahmen eingeleitet sein, um den globalen Entwicklungsprozess noch rechtzeitig umsteuern zu können. 
Prioritär hierbei sind – neben einem früheren Erreichen der Emissionsreduktionsziele – vor allem: 

  • Umstellung auf regenerative Energieversorgung im Strom- und im Wärmebereich; 
  • Umlenkung öffentlicher finanzieller Ressourcen weg von der Waffenindustrie hin zur Finanzierung von Klimapräventions- und –schutzmaßnahmen; 
  • Förderung von Effizienz- und Energieeinsparmaßnahmen anstelle technischer Lösungen im Sinne des ‚Carbon Engineering‘; 
  • Entwicklung fiskalischer Anreize zur ökologischen Umsteuerung und eines wirksameren CO2-Emissions-Zertifikatemarkt. 
  • Besondere finanzielle Unterstützung der Weltregionen, die von den Klimafolgen besonders betroffen sind. 

Das Wissen für die sozialökologische Transformation ist vorhanden; der politische Wille der Verantwortlichen muss sich hingegen weiterentwickeln, so dass diese Maßnahmen tatsächlich möglichst zeitnah umgesetzt werden. 


Zum Verhältnis von nationalstaatlicher Abrüstung und dem Aufbau eines UN-Gewaltmonopols 

Des Weiteren gilt es, angesichts der wachsenden Bedrohung ohne weitere Zeitverzögerung die ersten sinnvoll abgestimmten Schritte hinsichtlich der globalen Abrüstung zu gehen: 

Die Technologie von Nuklearwaffen wird aktuell von allen Atommächten mit großem Aufwand modernisiert und weiter entwickelt. Es wird zunehmend versucht, künstliche Intelligenz und Cyberkriminalität in der Kriegsführung einzusetzen. Privatarmeen gekaufter Söldner, nuklear bestückte Hyperschallraketen, der Einsatz von autonom entscheidenden Killerrobotern sowie die Militarisierung des Weltraums drohen. Der Rüstungswahnsinn kennt keine ethisch bestimmten Grenzen mehr. 
Aber auch die Gefahr einer unbeabsichtigten Einmischung sich verselbstständigender Programme besteht. Insbesondere die unkontrollierte Weiterentwicklung Künstlicher Intelligenz zu einer ‚Superintelligenz‘, die dem Menschen in Bezug auf ihre technologische Intelligenz überlegen ist, droht. Hierbei besteht die Gefahr, dass eine derartige ‚Superintelligenz‘ die Kontrolle über das Internet übernimmt und hierbei sich in die kritische zivile Infrastruktur destruktiv einmischt. Dies kann zu erheblichen sozialen Verwerfungen bis hin zu bürgerkriegsähnlichen Situationen führen, wenn die medizinische Versorgung in Krankenhäusern zusammenbricht, Ampelanlagen an Kreuzungen nicht mehr funktionieren, die Stromversorgung ausfällt oder Renten nicht mehr ausgezahlt werden können. Auch ein ‚Atomkrieg aus Versehen‘ ist über das Eindringen der Künstlichen Intelligenz bzw. über das Versagen von KI in Waffensystemen durchaus denkbar und leider nicht unrealistisch. Renommierte internationale KI-Forscher warnen hiervor.

In der gegenwärtigen Situation befinden wir uns noch eindeutig in einer Welt wachsender multipolarer Bedrohung. Sowohl einzelne Nationalstaaten, Machtblöcke und Allianzen mit der Unterstützung der internationalen Rüstungsindustrie als auch Terrormilizen und klandestine Organisationen bedrohen den Weltfrieden in einer Weise, wie es seit der scheinbaren Beendigung des ‚Kalten Krieges‘ nicht mehr der Fall gewesen ist. Auch die Demokratien befinden sich zurzeit in der Defensive bzw. im Rückzug. Autokratien, bis an die Zähne bewaffnet, versuchen im Zuge hybrider, teils versteckter, teils offener Kriegsführung, hegemoniale Interessen in ihren Weltregionen durchzusetzen. Der russische Krieg in der Ukraine ist nur der negative Höhepunkt dieser Entwicklung hin zu innerer und äußerer Repression. Der russische Überfall in der Ukraine ließ nun auch für Europa die Bedrohung erfahrbar werden. Der 2024 noch andauernde Krieg im Nahen Osten, der im brutalen Überfall der Hamas auf Israel und der unverhältnismäßigen Vergeltung im Gaza-Streifen mit 10.000den Toten, insbesondere palästinensische Zivilbevölkerung, zeigt, wie nicht gelöste Konflikte und eine fehlende effektive transnationale Struktur immer wieder zu dramatischen historischen Ereignissen führen. 

Dies alles bedeutet, dass die nationalstaatliche Entwaffnung der Welt zwingend notwendig ist, es aber Ausdruck einer gefährlichen Naivität wäre, wenn insbesondere die Staaten und Allianzen mit demokratischem Selbstanspruch und zumindest in ernstzunehmenden Ansätzen entwickelten demokratischen Strukturen als erste beginnen würden, sich radikal zu entwaffnen und einseitig abzurüsten. Die Folge wäre eine Wehrlosigkeit, die durch autoritäre und politisch unreife Regime sowie terroristische und politisch extremistische Organisationen ausgenutzt werden würde. Die Naziherrschaft und die aggressive Militärtechnologie der Nazis hätten sich nicht mit gutem Zureden, Liedersingen und Klangketten stoppen lassen. 
Anlass zur Hoffnung hinsichtlich der Vernichtung von Nuklearwaffen gibt die weltweite Bewegung der ‚Mayors for Peace‘ mit über 8000 beteiligten Städten aus 165 Staaten, die sich für die sofortige Abschaltung der einsatzbereiten Atomwaffen und den Abbau und die Zerstörung aller Atomwaffen einsetzen. 

Natürlich ist auch das im Rahmen der Vereinten Nationen und von der internationalen NGO ICAN initiierte und am 22.1.21 in Kraft getretene Atomwaffenverbot Anlass zu Hoffnung. Dieses Verbot gilt zwar rechtlich nur für die ratifizierenden Nationen, setzt aber neue internationale ethische Maßstäbe, auf die sich die internationale Friedensbewegung beziehen kann. Nun ist erstmals im Völkerrecht neben dem Atomwaffensperrvertrag auch ein Verbotsvertrag verankert, mit dem sich die Nuklearstaaten konfrontiert sehen. 

Eine Entwaffnung im nuklearen und im konventionellen Bereich kann in den ersten Schritten nur über internationale Abrüstungsverhandlungen, gestützt von einer transnationalen Allianz der demokratischen Staaten und Regionen, im Kontext der Vereinten Nationen erfolgen. 

Diese internationale Entwaffnung kann nur stattfinden, wenn sie von einer globalen zivilgesellschaftlichen Bewegung getragen wird, die den notwendigen Anstoß und die druckvolle Begleitung dieses Prozesses leistet. Der Erfolg der Friedensbewegung in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts hat dies nachweisen können.  Die Bewegung z.B. der ‚Mayors for Peace‘, die zivilgesellschaftlichen Aktivitäten von ICAN oder die Aktivitäten der ‚Women’s International League for Peace‘ (WILPF) weisen hier in die richtige Richtung. 

Gleichzeitig bzw. eher in den einzelnen Schritten jeweils zeitlich vorlaufend zu diesen genau abzustimmenden Abrüstungsmaßnahmen sind die UN-Blauhelm-Truppen mit einem erweiterten Mandat und die UN-Weltpolizei als Gegengewicht und Korrektiv aufzubauen. Ohne die zeitliche Abgestimmtheit von internationaler Abrüstung der Nationalstaaten und dem Aufbau einer funktionsfähigen, überregional, regional und lokal gegliederten und gut ausgerüsteten Exekutive würde ein unverantwortliches Machtvakuum entstehen. 

Ein alternativer Weg könnte über die Erweiterung der Nato beschritten werden. Auch wenn dies auf den ersten Blick absurd erscheint: Man sollte darüber zumindest nachdenken, ob nicht eine erweiterte und in sich veränderte NATO die weltpolizeiliche Funktion im Rahmen der Vereinten Nationen übernehmen könnte. Zunächst könnten eher westlich orientierte Staaten, wie z.B. Südkorea, Australien, Brasilien oder Japan, an die Nato angenähert und dann Schritt für Schritt in das Sicherheitsbündnis integriert werden. Doch auch Staaten, die derzeit noch in Gegnerschaft zueinander stehen, könnte längerfristig eine Nato-Perspektive eröffnet werden. Voraussetzung hierfür wäre die an genau definierte Bedingungen - u.a. einem Friedensvertrag und die nachvollziehbare Initiierung demokratisch rechtsstaatlicher Strukturen - geknüpfte Annäherung sowohl der Ukraine als auch der Russischen Föderation an die NATO und in den nächsten Schritten die Integration der VR China und weiterer Staaten insbesondere aus dem globalen Süden. In diesem Sinne würde die erweiterte und dann auch mittelfristig technisch umgerüstete NATO die für die UNO notwendige weltpolizeiliche Sicherheitsstruktur bieten – unter der Voraussetzung, die UNO würde demokratisch reformiert. Die mit Transformationsbedingungen verbundene Integration der Ukraine und der Russischen Föderation in die NATO beispielsweise wäre das Angebot, um den Krieg in der Ukraine zu beenden. Auch die Aufhebung der westlichen Sanktionen für den Fall eines Friedensvertrags, im Rahmen dessen eine dem Völkerrecht entsprechende Regelung der annektierten ukrainischen Gebiete vorgenommen würde, könnte Russland angeboten werden. Insgesamt eine Win-win-Situation. Sicherlich müssten die Risiken und auch die Widerstände bedacht werden, wenn man eine derart unkonventionelle Lösung vieler Probleme erörtert (vgl. ausführlicher Kap. 5.6 und den dazu gehörenden Exkurs). 
Eine riesige Friedensdividende wäre der Welt jedenfalls gewiss.
Aber auch in einem anderen Szenario: An der globalen Abrüstung wird die Welt nicht vorbei kommen, wenn sie die notwendigen Ressourcen für die Bewältigung der weltweiten Probleme und Krisen aufbringen will.
Entsprechend demokratisch gefasste Abrüstungsbeschlüsse müssten dazu führen, dass die nationalstaatliche Entwaffnung in einem transparenten Verfahren und in parallel vorgenommenen und kontrollierten Abrüstungsmaßnahmen aller Staaten erfolgt. Staaten, die sich weigern, sind mit wirtschaftlichen und politischen Sanktionen zu belegen, die so dosiert sind, dass sie vor allem die dort herrschenden und sich verweigernden Eliten treffen. Illegale Organisationen sind auf nationaler und überregionaler Ebene weltpolizeilich zu verfolgen, zu sanktionieren und aufzulösen. 

Die Vereinbarungen zur Vernichtung der Atomwaffen auf UN-Ebene, die 122 Staaten unterzeichnet haben, stellen einen ersten Schritt dar. Sie gilt es auszuweiten und parallel hierzu mit dem Abbau der nationalen Waffenarsenale hinsichtlich nuklearer, biologischer, chemischer und konventioneller Waffengattungen über einen verbindlichen UN-Beschluss zu beginnen. Der Krieg Russlands in der Ukraine zeigt noch einmal sehr deutlich, dass ein weltpolizeilicher Einsatz bzw. der Einsatz von UN geführten Truppen erst dann Sinn macht, wenn einer der militärischen Aggression beschuldigter Staat nicht mit dem Einsatz von Atomwaffen drohen kann.

Parallel hierzu und z.T. vorab sind demokratische Strukturen jenseits der Nationalstaaten auf regionaler und auf UN-Ebene Schritt für Schritt auf- und auszubauen. Hierbei haben mutiges zivilgesellschaftliches Engagement und die demokratische Organisation der notwendigen gesellschaftlichen Veränderung auf der globalen Ebene eine wichtige und unverzichtbare Funktion. Zur Durchsetzung einer demokratischen und sozialökologischen Neuordnung sind alle bisher erfolgreichen Widerstandsformen einzusetzen, von Massenprotesten, über Warenboykotts bis hin zu Massenstreiks. Natürlich spielt ein entsprechendes Wählerverhalten und das Engagement in sozialökologisch orientierten und friedenspolitisch engagierten Institutionen, Parteien und Gewerkschaften ebenfalls eine wichtige Rolle. 


Es beginnen Entwicklungen, die Hoffnung geben. 

Auch wenn sich die Klimapolitik noch nicht wirkungsvoll genug entwickelt, auch wenn der Welthunger immer noch nicht beseitigt ist, ökologische Katastrophen drohen bzw. schon eintreten, auch wenn das internationale Sicherheitssystem u.a. mit der russischen Invasion in der Ukraine eine große Niederlage erlitten hat, sollten dennoch vorhandene positive weltpolitische Entwicklungen nicht übersehen werden. An vielen Orten der Welt gibt es aktuell Protest- und Widerstandsbewegungen, die sich für eine friedlichere und nachhaltiger entwickelte Welt im Sinne einer Neuordnung engagieren.
Zur Frage nach der gesellschaftlichen Umgestaltung entwickelte Friedrich Engels bereits 1895 Überlegungen, die aus meiner Sicht bis heute noch gültig sind - so Engels:

"Die Zeit der Überrumpelungen, der von kleinen bewußten Minoritäten an der Spitze bewußtloser Massen durchgeführten Revolutionen ist vorbei. Wo es sich um eine vollständige Umgestaltung der gesellschaftlichen Ordnung handelt, da müssen die Massen selbst mit dabei sein, selbst schon begriffen haben, worum es sich handelt, für was sie mit Leib und Leben eintreten. Das hat uns die Geschichte der letzten fünfzig Jahre gelehrt. Damit die Massen aber verstehen, was zu tun ist, dazu bedarf es langer, ausdauernder Arbeit, und diese Arbeit ist es gerade, die wir jetzt betreiben, und das mit Erfolg, der die Gegner zur Verzweiflung bringt." (Engels 1895)

Eine gesellschaftliche Umgestaltung und Neuordnung wird also nicht über einen einzigen globalen disruptiven Ausbruch erfolgen sondern besteht aus sehr vielen Bewegungen und politischen Maßnahmen, die mit einer langfristigen Perspektive ausdauernd ergriffen werden. Ein derartiges Engagement mit 'langem Atem' an vielen Orten und auf unterschiedlichen Ebenen von vielen Bewegungen und Organisationen in und außerhalb von Institutionen kann dann tatsächlich zum globalen gesellschaftlichen Kipppunkt führen, der nicht mehr von den restaurativen Kräften aufgehalten werden kann.
Es lassen sich derzeit nicht nur weltweit Massenproteste von Erwachsenen beobachten, sondern insbesondere die Jugend ist es, die sich gegen Gewalt und Klimazerstörung zur Wehr setzt. Die US-amerikanischen Schüler_innen forderten beispielsweise im März 2018 beim „March for Our Lives“ sehr deutlich und lautstark eine gesellschaftliche Transformation im Bereich der Waffenindustrie und der sie kontrollierenden Gesetze, gegen die Interessen der Waffenlobby und der damit verbundenen Politik. Anlässlich der Serie von Massenmorden in US-amerikanischen Schulen solidarisierten sich ca. 800.000 Schüler_innen und Erwachsene zu einer eindrucksvollen Demonstration, die von Überlebenden des Massakers an der Marjory Stoneman Douglas High School in Parkland (Florida) mit dem Ziel organisiert wurde, eine längerfristige politische Bewegung gegen die Aktivitäten der US-Waffenlobby, insbesondere der NRA, der entsprechenden Waffenindustrie und der von ihnen bezahlten Politiker aufzubauen. [4] 

Ebenfalls stellt der weltweit vorfindbare Widerstand indigener Völker und ihrer Unterstützergruppen gegen die Zerstörung ihrer lebensweltlichen und natürlichen Grundlagen durch die Fossilindustrie eine weitere nicht zu unterschätzende Gegenbewegung gegen den Raubbau an der Natur und der Klimazerstörung dar. Das Volk der Ogoni in Nigeria, die Sioux in Nord-Dakota, indigene Bewohner des Regenwaldes in Brasilien oder die Cree Nation im Norden Albertas führen einen Kampf mit Öffentlichkeitsarbeit, Blockaden, rechtlichen Auseinandersetzungen und Protestcamps gegen die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen. Sie politisieren sich im Laufe dieser Auseinandersetzungen und erkennen den Zusammenhang zwischen Kapitalismus, staatlicher Repression und der Vernichtung natürlicher Lebensräume. Junge Menschen arbeiten hier im Widerstand gegen die Fossilindustrie mit den älteren Generationen zusammen. 

Auch dass z.B. im März 2019 weltweit Schülerproteste in Verbindung mit Schulstreiks gegen die Zerstörung des Klimas und für effektiven und zeitnahen Klimaschutz in ca. 2000 Städten in 120 Ländern stattfanden [5], ist ein Zeichen dafür, dass sich in der Schülergeneration engagierter zivilgesellschaftlicher Widerstand formiert. Allein in Berlin waren 25.000 Schülerinnen und Schüler am Streik beteiligt. [6] Ein halbes Jahr später waren es z.B. in Berlin bereits 240.000 Personen und weltweit mehrere Millionen Jugendliche, die den Klimastreik unterstützten. Insbesondere die Tatsache, dass hier auch mit dem Druck der institutionellen Verweigerung im Rahmen eines Schulstreiks gearbeitet wird, lässt aufhorchen. Die von von der 16-jährigen schwedischen Klimaaktivistin Greta Thunberg initiierte Bewegung ‚Fridays for Future‘ (F4F) zeigt, dass Jugendliche zunehmend bereit sind, auch zu radikaleren zivilgesellschaftlichen Mitteln zu greifen. Sie haben verstanden, dass es um das Ganze geht („Wir sind hier, wir sind laut, da ihr uns die Zukunft klaut.“, „Es gibt keinen Planeten B“). Es wird hochinteressant sein, welche Wirkung diese Massenproteste der F4F-Bewegung haben werden. Dies hängt davon ab, inwieweit sie sich stabilisieren, vernetzen und auf andere Aktionsfelder ausweiten sowie auch die älteren Generationen einbeziehen können. Auch stellt sich die Frage, ob der Zusammenhang zwischen international wirkenden Strukturmerkmalen kapitalistischer Ökonomie, des politischen Systems und der Zerstörung der Biosphäre hergestellt wird. Auch das eigene Konsumverhalten, z.B. im Rahmen des Boykotts klimaschädlich hergestellter bzw. betriebener Produkte, wird hier eine wichtige Rolle spielen. 

Möglicherweise ist dies der Anfang einer weiteren kulturellen Revolution – nach den Brüchen mit der etablierten Kultur durch die 68er-Generation – die nun aber aufgrund der massiven Bedrohungslage wesentlich breitere Teile der Weltbevölkerung mit einer globalen Reichweite erfassen könnte. 

Ungefähr 27.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler [7] aus der Schweiz, Österreich und Deutschland (‚Scientists for Future‘) haben zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine Erklärung unterzeichnet, welche die Klimaproteste der Jugendlichen unterstützt. In anderen Ländern entwickeln sich vergleichbare Aktivitäten. So ist eine internationale Unterstützung von derzeit ca. 15.000 Wissenschaftler_innen der ‚Alliance of World Scientists‘ aus 182 Ländern im Entstehen. Diese Wissenschaftler sagen: „Die Schüler haben recht. Die wissenschaftlichen Ergebnisse stützen eindeutig ihr klimapolitisches Engagement.“ Parallel hierzu gebildete Vernetzungen von z.B. Eltern (‚Parents for Future‘) und Lehrer_innen (‚Teachers For Future‘) unterstützen ebenfalls die Schülerproteste und fordern die Schulbehörden auf, auf schulische Ordnungsmaßnahmen im Falle der Streikbeteiligung zu verzichten. Auch an den Hochschulen bilden sich die ‚Students For Future‘ und organisieren Streikaktionen an den Universitäten und ‚Public Climate Schools‘. 

Insbesondere das Engagement der jungen Menschen lässt hier hoffen, dass es zu wirksamen und längerfristigen Gegenbewegungen kommen wird und sich eine Generation aus der verdummenden medialen Umarmung durch den militärisch-ökonomischen Komplex, aus der Priorität einseitiger Karriereinteressen und aus der entpolitisierenden und klimaschädlichen Konsumorientierung im Sinne eines radikalen kulturellen Umbruchs lösen wird. 

In diesem Zusammenhang könnte die westliche Gesellschaft etwas von dem zurückgeben, das sie über Jahrhunderte hinweg im Zuge der Kolonialisierungsprozesse den unterworfenen Völkern geraubt hatte – so der ehemalige bundesdeutsche Entwicklungsminister Jürgen Todenhöfer: 

„Die Geschichte des Westens ist eine Geschichte brutaler Gewalt und großer Heuchelei. Nirgendwo auf der Welt kämpft der Westen für die Werte seiner Zivilisation. Sondern ausschließlich für seine kurzsichtigen Interessen. Um Macht, Märkte und Moneten. Oft mit terroristischen Methoden. Die Leiden anderer Völker und Kulturen interessieren ihn nicht. (…) Der Westen braucht eine gewaltfreie humanistische Revolution. Statt die Werte seiner Zivilisation zur Vergewaltigung anderer Völker und Kulturen zu missbrauchen, sollte er seine jahrhundertealten Versprechen gegenüber der Menschheit einlösen.“ [8] 

Dies bedeutet ebenfalls, dass die reichen Weltregionen, wie z.B. die EU oder Nordamerika, mit der Verminderung von klimarelevanten Emissionen vorangehen müssen. Ärmeren Weltregionen muss hierbei noch etwas Zeit gegeben werden, Entwicklungen aufzuholen, die ihnen durch die Kolonialisierung und eine ungerechte Weltwirtschaftsordnung verwehrt wurden. Allerdings ist auch hier Wert auf eine möglichst früh zu erreichende Nachhaltigkeit in der Industrie, im Verkehr, in der Landwirtschaft etc. zu legen.
Eine weitere anregende Initiative stellt die im März 2021 zum internationalen Frauentag von den finnischen 'Women for Peace' vorgestellte Initiative für die Einrichtung eines finnischen Ministeriums für Frieden und nachhaltige Entwicklung dar. Dies von verschiedenen finnischen NGOs unterstütze Initiative kritisiert die Verschwendung und Fehlinvestition gesellschaftlicher Ressourcen für Aufrüstung und Krieg. Die initiierenden Frauen fordern die Einrichtung eines finnischen Ministeriums, das dafür sorgt, dass das bisher für das Militär ausgegebene Geld für den Frieden, für den Abbau von Armut und die Beseitigung des Hungers und eine an den Nachhaltigkeitszielen der UN (SDGs) orientierte ökologische Entwicklung ausgegeben wird. Sie fordern auch andere Staaten auf, derartige Ministerien einzurichten und damit für eine friedlichere, gerechtere und umweltbewahrende Welt einzutreten. Die weitere Entwicklung dieser  Initiative gilt es aufmerksam zu verfolgen. [9] 

Auch die rassismuskritische Bewegung, aktuell z.B. ‚Black Lives Matter‘, stellt eine für die gesellschaftliche Neuordnung zu beachtende politische Bewegung dar.[10]

‚Black Lives Matter‘ ist eine aus der afroamerikanischen Gesellschaft der USA stammende Protestbewegung, die sich gegen den systemischen Rassismus in der US-amerikanischen Gesellschaft wendet. Sie wurde bereits 2013 angesichts schwerwiegender Fälle von Rassismus aber auch von latenter Alltagskriminalisierung begründet, wurde aber vor allem durch den auf Video aufgenommenen und dokumentierten Mord an George Floyd zu einer Massenprotestbewegung gegen rassistisch bedingte polizeiliche Übergriffe, die sich auch international verbreitete. 

„Black Lives Matter‘ hat keine zentralisierte Struktur, sondern ist ein ‚Graswurzelbewegung‘, die dezentral vernetzt ist. BLM führt Demonstrationen, Märsche und Kundgebungen durch. BLM-Slogans wie z.B. „Hands up! Don’t shoot!“, „No justice, no peace!“ oder „Is my son next?“ gingen im Zuge dieser Proteste weltweit durch die Medien. 

Ausgehend durch den von einem Polizisten ausgelösten Erstickungstod von George Floyd in Minneapolis organisierten sich Massendemonstrationen in den USA, wo Millionen Menschen auf die Straße gingen. Auch gab es Proteste in Europa. So demonstrierten in Wien im Frühsommer 2020 ca. 50.000 Teilnehmer_innen und in Berlin im Juni 2020 – trotz Corona – 15.000 vorwiegend junge Menschen gegen den gesellschaftlichen Rassismus. 

Der ehemalige US-Präsident Trump schätzte hingegen die Demonstranten als ‚terroristische Antifa‘ ein und drohte angesichts von Ausschreitungen weniger, welche die Demonstrationen gewalttätig ausnutzten, der gesamten Bewegung mit dem Einsatz der Nationalgarde: „Irgendeine Schwierigkeit und wir werden die Kontrolle übernehmen, aber wenn die Plünderungen beginnen, beginnt das Schießen.“ [11]

So versammelten sich auch im Zuge derartiger Aussagen schwerbewaffnete rechtsorientierte weiße Zivilisten an Denkmälern ehemaliger US-amerikanischer Kolonialherren und rassistischer Politiker und Generälen, um ein Herabstürzen dieser Denkmäler durch Aktivisten mit dem Einsatz ihrer Schusswaffen, z.T. auch Schnellfeuergewehren, zu verhindern. 

Die Bewegung hat zumindest bislang in den weiten Teilen USA bereits erreicht, dass es zu einer neuen Diskussion der Rassismusfrage gekommen ist und auch Suspendierungen gewalttätiger Polizisten sowie mit der Einleitung von Strafprozessen begonnen wurde. Auch ist erreicht worden, dass sich wieder aktuell mit Kolonialismus, Sklaverei und Neokolonialismus auseinandergesetzt wird. Selbstkritisch sollte die Bewegung mit Tendenzen von Splittergruppen umgehen, selbst rassistisch zu werden, indem diese weiße Amerikaner pauschal diskriminieren. Auch muss die ausgesprochen berechtigte Protestbewegung zu verhindern versuchen, dass im Schatten der Proteste Plünderungen und Zerstörungen durchgeführt werden. Dies erleichtert dann ihren Gegnern die ‚Black Lives Matter‘-Bewegung als terroristisch einzustufen. Hierbei fällt abermals die leichtfertige Verschiebung der Standards für das Verständnis von ‚Terrorismus‘ auf. In der Türkei werden Demonstranten gegen das Erdogan-Regime ebenfalls von diesem als Terroristen bezeichnet. In Hongkong wird der Protest gegen China nun in Zukunft ebenfalls aufgrund des durchgesetzten Sicherheitsgesetzes auf die Stufe mit Terrorismus gesetzt. Nun bezeichnete der ehemalige US-Präsident Trump die amerikanische Antifa als Terroristen. Genauso bezeichnete Putin die ukrainischen Regierungsmitglieder als Faschisten und Terroristen. Autokraten und autoritäre Regime verschieben den Terrorismusbegriff und schaffen dadurch die Voraussetzungen, dass die demokratische Opposition verfolgt und mit Repression bedroht werden kann.
Rechtsextreme und rechtspopulistische politische Parteien verzeichnen weltweit Wahlerfolge und treten wieder offensiver auf. Gleichzeitig formiert sich dagegen – hoffentlich noch rechtzeitig – der Widerstand in der Bevölkerung der betroffenen Staaten. So haben zu Beginn des Jahres 2024 mehrere Millionen deutscher Bürger_innen gegen die extreme Rechte protestiert. Anlass war das konspirative Treffen nationalchauvinistischer Politiker – u.a. der Alternative für Deutschland (AfD) – in einer Potsdamer Villa. Dort wurde über die Deportation von Millionen Bürgern mit Migrationshintergrund und ihrer Unterstützer verhandelt. Dies führte zu einem Aufschrei in der deutschen Öffentlichkeit und einer über Monate hinweg andauernden Demonstrationsbewegung in allen deutschen Regionen. Auch dies macht Hoffnung. [12] 

Der inzwischen verstorbene ehemalige französische Widerstandskämpfer und Diplomat Stéphane Hessel forderte dementsprechend insbesondere die Jugend der Welt auf, sich gegen solche Bedeutungsverschiebungen, gegen die Entdemokratisierung und Ungerechtigkeiten zu empören und sich für eine gerechtere Gestaltung der Welt zu engagieren: 

„Es mag ja sein, dass die Gründe für Empörung heute nicht mehr so deutlich zu erkennen sind. Wer befiehlt und wer entscheidet? Wir haben es nicht mehr mit einer kleinen Elite zu tun, deren Machenschaften leicht zu durchschauen sind. Die Welt ist groß, und wir spüren deutlich, wie sehr die Dinge miteinander verschränkt sind. Aber in dieser Welt gibt es Dinge, die unerträglich sind. Wer sie sehen will, muss genau hinsehen. Ich sage den jungen Leuten: Wenn ihr nur ein wenig sucht, werdet ihr solche Dinge finden. Am schlimmsten ist es, wenn man sagt: ‚Damit habe ich nichts zu tun. Das ist mir egal.‘ Wer sich so verhält, verliert eine der wesentlichen und unverzichtbaren Eigenschaften, die den Menschen ausmachen: die Fähigkeit zur Empörung und das Engagement, das daraus erwächst.“ [13] 

Zu diesem Engagement sollte zunächst der Erhalt der noch vorhandenen demokratischen Spielräume gehören, die von vorherigen Generationen unter großen Opfern historisch erkämpft wurden. Damit müsste der Einsatz für weltweite demokratische Strukturen unter dem Dach der Vereinten Nationen verbunden sein sowie die sozialökologische Umsteuerung von Gesellschaften im Zuge einer systemischen Transformation des Weltkapitalismus durchgesetzt werden. Der nachstehende Überblick, der auch sicherlich um viele weitere Initiativen zu ergänzen ist, gibt zumindest in Ansätzen einen Einblick in die Vielfalt der NGO’s, Initiativen und Bewegungen, welche u.a. die Initiatoren und Träger einer solchen globalen Neuordnung sein können: 


Wer sind die gesellschaftlichen Kräfte einer sozialökologischen Neuordnung? 

Alle sozialökologisch, demokratisch und friedenspolitisch engagierten Bürger_innen, Parlamentarier_innen, Parteien, Gewerkschaften, Parlamente und Institutionen in lokalen, nationalen, regionalen und globalen Kontexten sowie weltweit widerständige NGO‘s und Initiativen wie zum Beispiel: 
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Transparency International, ATTAC, Netzwerk für gerechten Welthandel, Forum Fairer Handel, food watch, Fridays For Future, Scientists For Future, Amnesty International, Alliance internationale pour la defense des droits et des libertes (AIDL), Extinction Rebellion (XR), Smash Cruiseshit, Seebrücke, Greenpeace, Global Witness, Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW), Ärzte ohne Grenzen, Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs – Ärzte in sozialer Verantwortung (IPNNW), World Future Council (WFC), Women for Peace, Women’s International League for Peace‘ (WILPF), Bundesausschuss Friedensratschlag, Netzwerk Friedenskooperative, Informationsstelle Militarisierung (IMI), Initiative ‘Sicherheit neu denken’, International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN), Peace Brigades International, Democracy without Borders, UNPA-Kampagne, Democracy International, Civicus, Asia Democracy Network (ADN), Asia Forum of Human Rights and Development (Forum-Asia), Asia Democracy Research (ADRN), Asian Network for Free Elections (ANFREL), Democracy for Hongkong (D4HK), Open Russia, Pussy Riot, Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI), Rete Italiana per il Disarmo, Movimento Nonviolento, Sea-Watch, Electronic Frontier Foundation (EFF), digitalcourage, International Commitee for Robot Arms Controll (ICRAC), Campaign to stop Killer Robots, WWF, Safe School Declaration, Save the Children, Global Partnership for the Prevention of Armed Conflicts (GPPAC), Wuppertaler Institut für Klima, Umwelt, Energie, Fraunhofer Gesellschaft, Netzwerk der UNESCO-Schulen, International Rescue Commitee (IRC), The African Centre for Democracy and Human Rights Study (ACDHRS), African Commission for Human and Peoples‘ Rights (ACHPR), Comisión Interamericana de Derechos Humanos (CIDH), Arab Organization for Human Rights (AOHR), Palestinian Center for Human Rights, The Israeli Information Center for Human Rights in the Occupied Territories (B‘Tselem), Human Rights Watch, Black Lives Matter (BLM), Beaver Lake Cree Nation, Athabasca Chipewyan First Nation (ACFN), Netzwerk politischer Kommunen (Kommuja), Tamera, Kommune Niederkaufungen, Service Civil International (SCI), Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg, Ende Gelände, OXFAM, Ehrfurcht vor allem Leben (EVAL), Global Justice Now, World Vision, LobbyControll, The Humanitarian League Advocacy , Pacific Climate Watch , Science for Peace, Nobel Peace Prize Watch, No More Bombs, Ziviler Friedensdienst, Nuclear Age Peace, Socio-ecological union international, Sortir du nucleaire Paris, Swedish Peace Council, The Resistance Center for Peace and Justice, Ukrainian Pacifist Movement, Veterans for Peace, Campaign for International Cooperation and Disarmament (CICD), Peace SOS, World Beyond War, Women’s International League for Peace and Freedom, World BEYOND War, South Africa, Seattle Anti-War Coalition; Office of Peace, Justice, and Ecological Integrity; Friends of the Earth Australia, Independent and Peaceful Australia Network, Scottish Campaign for Nuclear, Basel Peace Office, Cameroon for a World BEYOND War, Campaign Against Arms Trade, Cessez d’alimenter la Guerre, Disarmament and Security Centre, Global Campaign for Peace Education Japan, Global Network Against Weapons & Nuclear Power in Space, Grassroots Global Justice Alliance, Hawaii Peace and Justice, International Physicians for the Prevention of Nuclear War, Movimiento por un mundo sin guerras y sin violencia, Campact, Mighty Earth, Global Ecovillage Network (GEN), Mayors for Peace …
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Eine übergeordnete Struktur für den im kosmischen Maßstab kleinen Planeten Erde wird aufgrund der zukünftigen Anforderungen und Problemstellungen ohnehin irgendwann kommen müssen. Es wird allerdings darum gehen, dass es sich hierbei um kein totalitäres Weltregime einer sich bereichernden und Macht anhäufenden klandestinen Weltelite, sondern es sich um eine demokratisch strukturierte Weltgesellschaft auf der Basis der strukturell reformierten Vereinten Nationen in Zusammenarbeit und Subsidiarität mit den verschiedenen globalen Regionen handeln wird. Mit dem internationalen Demokratisierungsprozess müssen des Weiteren Enteignungsprozesse und eine demokratische Inbesitznahme der Produktionsstätten und der Wertschöpfung einhergehen. Insbesondere in dieser Verbindung unterscheidet sich der vorliegende Entwurf von den meisten Vorstellungen einer globalen Neuordnung. 


Es gibt keine Alternative 

Viele werden derzeit der Auffassung sein, dass die hier entwickelte Vision unrealistisch sei, sich dies niemals zukünftig umsetzen lasse, zum Beispiel eine umfassende Gemeinwohlorientierung dem menschlichen Charakter widerspreche. Dieser negativen Anthropologie möchte ich noch einmal entgegensetzen: 

Erstens: Wer kann denn jetzt am relativen Beginn der Menschheitsgeschichte schon sagen, welches Entwicklungspotenzial der Mensch als Gattungswesen und die Menschengemeinschaft in der Zukunft haben werden? 

Und zweitens möchte ich fragen: Wo ist die Alternative? Ohne einen demokratisch kontrollierten globalen Zusammenschluss und eine einhergehende sozialökologische und demokratische Transformation von Politik und Ökonomie wird die Menschheit die Zukunft der kommenden Generationen nicht sichern können. Der Planet Erde wird im wahrsten Sinne über ökologische und militärische Katastrophen verbrennen. Die ersten Feuer brennen bereits. 

Wer ist eigentlich naiv? Derjenige, der die Entwicklungen sieht, hier radikal gegensteuert oder derjenige, der für ein ‚Weiter so‘ plädiert? 

Hierbei ist Radikalität etwas völlig anderes als Extremismus. Radikalität im gesellschaftlichen Transformationsprozess meint an der Wurzel („radix“) von Problemen anzusetzen: Es geht um die weltweite und in allen Weltregionen vorzunehmende schrittweise Transformation des Kapitalismus zugunsten eines Verhältnisses von Ökonomie und Politik, das durch Verantwortlichkeit und Gemeinwohlorientierung gekennzeichnet ist. Ökonomie und Politik müssen sich in den Dienst der Versorgung der Menschen stellen und hierbei die Prinzipien von Gerechtigkeit, Demokratie, Friedfertigkeit, Wissenschaftlichkeit und ökologischer Verantwortlichkeit zu ihrem leitenden Paradigma werden lassen. Ein solches sich weltweit durchzusetzendes System kann nicht mehr Kapitalismus genannt werden, sondern sieht eine staatliche Rahmung des Wirtschaftsprozesses im nationalen, regionalen und globalen Kontext vor, der marktwirtschaftliche Prozesse von ihrer Raubtiermentalität befreit, Fragen der Eigentums- und Vermögensverteilung anders regelt, das Spannungsverhältnis von Ökonomie und Ökologie beseitigt, die Technologieentwicklung ethisch kontrolliert und die kreative ökonomische Kraft der Menschen im Sinne der Gemeinwohlorientierung frei setzt. Die entsprechenden transformatorischen Schritte in Richtung auf eine radikale Neuordnung in diesem Sinne wurden im Rahmen des vorliegenden Buches ausführlich beschrieben. [14] 

Daher noch einmal abschließend die Forderungen in aktueller Auslegung von Marx/Engels [15]

Internationalisten und Weltbürger aus der ganzen Welt vereinigt euch! Ihr habt nichts zu verlieren als die Ketten eurer Nationalstaatlichkeit, als die Vernichtung eurer Freiheitsrechte, die Ausbeutung durch multinationale Konzerne und finanzkapitalistische Spekulanten, die Rache der Biosphäre, digitale Fußfesseln, Rüstungsspiralen und Kriege, psychische Programmierungen, fehlgeleitete Investitionen und Wertschöpfung sowie die atomare Verwüstung des Planeten. 

Zu gewinnen ist eine friedliche, sozial gerechte, demokratische, ökonomisch sinnvolle und ökologisch verantwortliche Welt! 

Allerdings darf das Engagement für eine globale Neuordnung keineswegs gewalttätig, also in einem extremistischen Sinne, erfolgen. Hier soll sich daher von den vermeintlichen Konsequenzen marxistischen Denkens distanziert werden. Gewalttätige Revolutionen in der Geschichte haben nur zu anderen Formen offener oder struktureller Gewalt geführt. Gewalttätige Proteste in der heutigen Zeit führen des Weiteren zur Stigmatisierung und Kriminalisierung dieses Protests. Der Widerstand sollte friedlich und druckvoll sein, indem die geistig-schöpferischen Kräfte, die Kreativität und Intelligenz, die Solidarität und die Zivilcourage der Menschen im Engagement bereits das in Ansätzen zeigen, um was es zukünftig gehen soll: Um eine gesellschaftliche Neuordnung, die Menschen jeder Hautfarbe, jeder Herkunft, jeden Alters, jeden Geschlechts und jeder Region in ihren Grundbedürfnissen nach materieller Versorgung, nach solidarischer Arbeit, hinsichtlich eines Lebens im Einklang mit der Natur, nach demokratischer Selbstbestimmung und nach Freiheit in Verantwortung berücksichtigt, unterstützt und fördert. 

Es gibt keinen Grund zu resignieren, der Kampf um das lebenswerte Leben auf der Erde ist noch lange nicht entschieden! Den Vertretern der Fossilindustrie, der Rüstungsindustrie, den Kriegsherren, den Finanzspekulanten, den Milliardären, den Autokraten und Diktatoren stehen weltweit und an zahlreichen Orten viele Menschen im Protest gegen die Zerstörung gegenwärtiger und zukünftiger Lebensbedingungen vereint gegenüber. In der Zusammenarbeit und Vernetzung von gesellschaftlichen Bewegungen, Initiativen, Gewerkschaften, Parlamenten und den an einer Neuordnung orientierten politischen Parteien und Institutionen gilt es nun, klug, friedlich und doch im Veränderungswillen radikal sowie in den Aktionen druckvoll einen wirksamen Beitrag zu einer globalen Neuordnung zu leisten. 

Und: Die Veränderung darf aufgrund der enormen Bedrohungslage nicht mehr lange auf sich warten lassen. Die Veränderung muss jetzt auf allen miteinander systemisch zusammenhängenden Ebenen beginnen und fortgesetzt werden. Noch ist eine Umsteuerung möglich. Zivilgesellschaftliche Bewegungen, Organisationen und Initiativen an allen globalen Orten können Synergieeffekte haben und zu einer wirkungsvollen Macht werden, die eine neue Qualität gesellschaftlichen Lebens und eine lebenswerte Zukunft für künftige Generationen hervorbringt. 



Anmerkungen zum Kapitel 8

[1] Reich (1948/2013, 97f.).
[2] IPCC (2018, 13).
[3] Vgl. IPCC (2018, 16).
[4] Vgl. https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-03/march-for-our-lives-washington-demonstration-waffengesetze-parkland, 25.3.2018, 17.3.2019.
[5] In: https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-516131.html, 15.3.2019, 15.3.2019.
[6] Vgl. https://www.tagesspiegel.de/politik/fridays-for-future-im-newsblog-veranstalter-25-000-teilnehmer-bei-demo-fuer-den-klimaschutz-in-berlin/24106530.html, 15.3.19, 15.3.19.
[7] Stand: 9.10.2019, https://www.scientists4future.org/, 15.3.19, 9.10.19.
[8] Todenhöfer 2019, 292f.
[9]  Klötzer/ Launokari (2021) (Women for Peace – Finland). 

[10] Vgl. hierzu Yann Durand: "Black Lives Matter" - Nur ein Strohfeuer im Kampf gegen den Rassismus? https://www.dw.com/de/kommentar-black-lives-matter-nur-ein-strohfeuer-im-kampf-gegen-den-rassismus/a-53959251, 27.6.2020, 20.3.21; Jiréh Emanuel/ Mariam Aboukerim/ Naomi Lwanyaga: Black-Lives-Matter-Demos:„Wir sind Deutschland“, https://taz.de/Black-Lives-Matter-Demos/!5689380/, 13.6.2020, 20.3.21; UN verurteilen tödliche Polizeigewalt gegen Schwarze. https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-05/usa-polizeigewalt-schwarze-vereinte-nationen-kritik, 28.5.20, 20.3.21.
[11] https://www.sueddeutsche.de/politik/george-floyd-proteste-minneapolis-1.4921880, 29.5.20, 20.3.21.
[12] Vgl. u.a. Moegling, Klaus (2024): Stärken die Anti-AfD-Proteste die Demokratie?

In: Telepolis,  https://www.telepolis.de/features/Staerken-die-Anti-AfD-Proteste-die-Demokratie-9626421.html,  13.2.2024, 16.2.2024. 

[13] Hessel (2011).
[14] Vgl. Kapitel 5.7
[15] Vgl. Marx/Engels (1848/1983, 60).


Inhaltsverzeichnis

 

|   | Vorwort zur fünften Auflage: 
Eine Neuordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse wird drängender.

|   | Vorwort zur vierten Auflage:
Eine Verhandlungslösung ist möglich.

 |   | Vorwort zur dritten Auflage: 
Der Widerstand wächst, 
eine neue Ordnung scheint hindurch.
|   | Vorwort zur zweiten Auflage: 

Was uns Mut machen kann.
|   | Vorwort zur ersten Auflage: 

Ordnung - Unordnung - Neuordnung 

  | 1 | Analyse gegenwärtiger globaler Krisen – Ordnungen lösen sich auf

 | 1.1 | Ökonomische Krisen
 | 1.1.1 | Globale Strukturen der Gier
 | 1.1.2 | Widerstand gegen den neoliberalen Marktradikalismus
 | 1.1.2.1 | Die WTO-Proteste in Seattle
 | 1.1.2.2 | Occupy Wall Street
 | 1.1.2.3 | G20-Proteste in Hamburg
 | 1.2 | Politische Krisen: Krise der UN, Rückzug der Demokratien und Wiederkehr autoritärer 
 Herrschaftsformen
 | 1.2.1 | Demonstrationen und Proteste gegen die extreme Rechte in westlichen Demokratien 
  | 1.3 | Versuche der Weltbeherrschung und hegemonial verursachter internationaler Krisen

 | 1.4 | Militärische Krisen und Rüstungspolitik
 | 1.4.1 | Das Wachstum des militärischen Gewaltpotenzials
 | 1.4.1.1 | Der militärisch-ökonomische Komplex
 | 1.4.1.2 | Die Wiederkehr der Rüstungsspirale
 | 1.4.1.3 | Umwelt, Militär und Krieg
 | 1.4.1.4 | Asymmetrische Kriegsformen und die Neuen Kriege
 | 1.4.1.5 | Die mediale Konstruktion von Feindbildern
 | 1.4.2 | Friedensproteste und Friedensbewegung
 | 1.4.2.1 | Ostermarschbewegung, Proteste gegen den Vietnam-Krieg und den Nato-Doppelbeschluss
 | 1.4.2.2 | „Kein Blut für Öl!“ – Proteste gegen die 
 Golf-Kriege
 | 1.4.2.3 | Aktuelle Proteste gegen die Militarisierung der Welt: International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN), Global Partnership for the 
 Prevention of Armed Conflicts (GPPAC), Peace 
 Brigades (PB), Friedensappelle zum Krieg in der Ukraine
 | 1.5 | Ökologische Krisen
 | 1.5.1 | Die geschundene Biosphäre wendet sich 
 gegen den Menschen
 | 1.5.2 | Widerstand und Proteste gegen die ökologische Zerstörung
 | 1.5.2.1 | Der Widerstand der indigenen Völker
 | 1.5.2.2 | Fridays for Future (F4F)
 | 1.5.2.3 | Extinction Rebellion (XR)
 | 1.5.2.4 | Professionalisierte Umwelt-NGO’s: Greenpeace und Mighty Earth
| 1.5.2.5 |  Die Letzte Generation

 | 1.6 | Kulturelle Krisen
 | 1.6.1 | Kultur und Kunst im Kapitalismus 
 | 1.6.2 | Zur kulturellen Problematik von Kirchen und Religionen 
 | 1.6.3 | Kulturelle Umbrüche 
 | 1.7 | Psychische Krisen: Durchsetzung instrumenteller Vernunft und Massenneurose
 | 1.8 | Die Krise der Männlichkeit

 | 2 | Drohende globale Szenarien – Unordnung als Ordnungsprinzip

 | 2.1 | Das militärische Vernichtungsszenario
 | 2.2 | Das ökologische Verwüstungsszenario
 | 2.3 | ‚Failed States‘ und die Hilflosigkeit der 
 internationalen Gemeinschaft
 | 2.4 | Religiöser Fanatismus und Terrorismus
 | 2.5 | Zusammenbruch der Weltwirtschaft, Überbevölkerung und Hungerkatastrophen
 | 2.6 | Cyber-Kriege
 | 2.7 | Digitale Imperien und die mediale Transformation des Humanen
 | 2.8 | Massenhafte Sinnkrisen, psychische Verwerfungen und Fluchten
 | 2.9 | Externe planetare Bedrohungen der Zukunft

 | 3 | Die Grundlage einer Neuordnung der internationalen Beziehungen liegt auch in der psychosozialen Bildung des Einzelnen

 | 3.1 | Innere Welten, Sozialität und internationale Beziehungen: Wer in seinem Verhältnis zu sich selbst nicht klar ist, verfügt auch über keine 
 Klarheit in seinen Beziehungen
 | 3.2 | Bildung und die Arbeit am sozialen Selbst: Über empathische Gemeinschaftserfahrungen zum 
 gebildeten Selbst
 | 3.3 | Humanistische Psychologie und Therapieverfahren
 | 3.4 | Meditation als Selbst- und Welterfahrung
 | 3.5 | Demokratiebildung auf dem Weg zu einem neuen Politiker_innen-Typus als Gegenentwurf zu Trump, Putin, Erdogan und Co.

 | 4 | Sozioökonomische, institutionelle und sozialökologische Grundlagen nachhaltiger Entwicklung und wirksamer Friedenspolitik

 | 4.1 | Den Tiger zähmen: Die globale Ökonomie im 
 Sinne von Nachhaltigkeit und Friedenssicherung
 transformieren
 | 4.2 | Demokratische Erneuerung von Gesellschaften, 
 Institutionen und Lebensweisen
 | 4.3 | Soziale Gerechtigkeit in einer internationalen Perspektive als Grundlage sozialen Friedens
 | 4.4 | Die ökologischen Voraussetzungen des Friedens
 | 4.5 | Der digitalen Weltbeherrschung Grenzen setzen

 | 5 | Neuordnung des Systems internationaler Beziehungen

 | 5.1 | Entnationalisierung und Stärkung demokratischer Strukturen auf regionaler Ebene
 | 5.2 | Weiterentwicklung von Global Governance
 | 5.3 | Stärkung und gleichzeitige Demokratisierung der Vereinten Nationen
 | 5.4 | Die zentrale Rolle Europas bei Abrüstung und Rüstungskontrolle
 | 5.5 | Entwaffnung der Nationalstaaten, klandestiner sowie terroristischer Organisationen und bewaffneter Einzelpersonen
 | 5.6 | Aufbau einer demokratisch kontrollierten 
 Weltpolizei und eines Gewaltmonopols der UN
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Exkurs zu Kap. 5.6:

Sollte die NATO der Ukraine, Belarus und Russischer 
Föderation ein Beitrittsangebot unterbreiten? Eine utopische Skizze. 
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 | 5.7 | Der UN-Zukunftspakt

 | 6 | Erste Schritte auf einem langen Weg 
 gesellschaftlicher Pazifizierung

 | 7 | Einordnung des vorliegenden Ansatzes in die Theorien internationaler Beziehungen

 | 8 | Zusammenfassung und Epilog: Eine neue Ordnung für die Welt

 Literaturverzeichnis

 

 Vorwort zur fünften Auflage: 

Eine Neuordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse wird drängender 

Eine neue, fünfte Auflage der ‚Neuordnung‘ ist notwendig geworden [1], da der gesellschaftliche Wandel sich konflikthaft beschleunigt. Der Krieg in der Ukraine spitzt sich zu und erfordert inzwischen Hunderttausende Todesopfer und Schwerverletzte auf beiden Seiten. Neuere und immer gefährlichere Waffentechnologien werden eingesetzt, die beiden Lager stehen sich zunehmend unversöhnlicher gegenüber. Wann wird endlich wieder direkt miteinander verhandelt werden? Wie viele Menschen müssen noch sterben, für ihr Leben schwer beschädigt werden, wie viel zivile Infrastruktur und Ökologie müssen noch zerstört werden, bis die Machthabenden eine Einsicht haben und sich an den Verhandlungstisch setzen? 
Im vorliegenden Buch, z.B. im Kap. 5.6 und dem dazu gehörenden Exkurs, werden Antworten gegeben, wie die Konfrontation zwischen den Nato-Staaten und der Ukraine einerseits und der Russischen Föderation und auch Belarus andererseits überwunden werden kann. Dies verlangt allerdings nach dem Überschreiten der Grenzen konventionellen sicherheitspolitischen Denkens.

Anfang Oktober 2023 überfielen ca. 3000 Mitglieder der Hamas den Staat Israel und richteten an seiner Grenze ein Blutbad an, nahmen Geiseln. Die Reaktion Israels war ebenso grausam. Zehntausende Menschen, vor allem Kinder und Frauen, wurden im Gaza-Streifen getötet und ein Großteil der zivilen Infrastruktur zerstört. Die israelische Regierung und die Hamas stehen sich unversöhnlicher und verfeindeter denn je gegenüber. Wie kann diese Entwicklung wieder umgekehrt werden? Werden sich die besonnenen Kräfte auf beiden Seiten irgendwann durchsetzen können? 
Parallel hierzu eskalieren militärische Konflikte zwischen den von dem Iran unterstützten Huthis, den Hisbollah mit den USA und Großbritannien. Im Sudan kämpft die u.a. von der russischen Wagner-Gruppe unterstützte Miliz RSF gegen die sudanesischen Regierungstruppen (SAF). UN-Sicherheitsratsbeschlüsse werden von beiden Seiten missachtet. Leidtragende sind Millionen Menschen, die sich im Sudan auf der Flucht befinden.
Gleichzeitig entstehen problematische militärische Partnerschaften zwischen der Russischen Föderation, Nordkorea und dem Iran. Hier kommt es zunehmend zum Austausch von Rüstungsgütern und Waffentechnologien sowie geostrategischer Zusammenarbeit. 
Die Rolle der Volksrepublik China hierbei ist derzeit noch indifferent. Einer punktuellen Zusammenarbeit, z.B. mit der Russischen Föderation, einzelnen Provokationen im Südchinesischem Meer sowie im Zusammenhang mit Taiwan steht das Interesse an ökonomischer Kooperation mit den westlichen Staaten gegenüber. Es ist zu hoffen, dass die auf Kooperation bedachten Kräfte in der VR China den maßgeblichen Einfluss behalten bzw. bekommen werden.
Die ökologische Krise spitzt sich unterdessen weiter zu, wobei die notwendigen Maßnahmen zur Bekämpfung und der Prävention der Klima- und der Umweltzerstörung durch die vorhandenen militärischen Konflikte und die zunehmenden Investitionen in Waffentechnologien und Aufrüstung massiv behindert werden. Besonders besorgniserregend sind die bisher transnational kaum kontrollierten Investitionen in die technologische Entwicklung von Künstlicher Intelligenz (KI) im Zusammenhang mit Waffensystemen. 

Noch verweigern sich die im UN-Sicherheitsrat vertretenen Großmächte einer einschneidenden Reform der Vereinten Nationen. Dennoch wird immer deutlicher, dass die globalen Probleme nur über eine Demokratisierung und eine Stärkung der Vereinten Nationen zu lösen sind. Hier ist auf vorhandene Reformtendenzen innerhalb der UN und die auf transnationale Verständigung ausgerichtete Arbeit maßgeblicher NGOs zu setzen, die mit langem Atem dabei sind, Schritt für Schritt Reformvorschläge zu entwickeln und zu realisieren. Doch müssten erste Erfolge in der Transformation der internationalen Kooperation wesentlich schneller und wirkungsvoller eintreten als dies angesichts der vorhandenen Probleme derzeit der der Fall ist. 
Hoffnung machen die zivilgesellschaftlichen Widerstandsbewegungen, wie z.B. gegen den Rechtsextremismus bzw. gegen das Erstarken rechtsextremer Parteien, sowie die Verbreiterung der auf Verhandlungen und Diplomatie drängenden Friedensbewegung.
Positiv sind ebenfalls die Ablösungen rechtspopulistischer Regierungen zugunsten demokratischer Parteien zu sehen, wie z.B. in Brasilien oder in Polen. Gleichzeitig drohen mit der Neuwahl der US-Regierung Ende 2024 eine Wiederkehr einer von Trump angeführten US-Regierung und damit verbunden wiederum neue internationale Verwerfungen. 
Gesellschaften dividieren sich immer weiter auseinander, soziale Spannungen verschärfen sich bei einer gleichzeitigen Zunahme des Reichtums einer kleinen Gesellschaftsschicht.  
Hoffnung machen daher alle gesellschaftlichen Bewegungen, die auf Zusammenarbeit, Solidarität, ökologische Nachhaltigkeit und auf einen Zugewinn gesellschaftlicher Gerechtigkeit ausgerichtet sind. Dies sind die Keimzellen einer gesellschaftlichen Neuordnung.
Ich denke, dass wir selbst bzw. unsere Generation viele notwendige Veränderungen leider nicht mehr miterleben dürfen. Hierzu ist unsere Lebenszeit zu begrenzt und manche Veränderungen werden eventuell erst in der nächsten oder übernächsten Generation eintreten.
Eine besondere Rolle werden die Vereinten Nationen in der Zukunft spielen müssen. Ohne dass die Vereinten Nationen zu ihrer eigentlichen Bestimmung finden und sich entsprechend verändern, wird es kein erfolgreiches Engagement gegen globale Krisen geben können. Entweder die Menschheit versteht dies und sorgt auch für die Veränderung oder sie wird keiner guten Zukunft entgegen gehen können.

Die Auseinandersetzung um die Struktur, die Prozesse und Ziele der Vereinten Nationen ist derzeit voll im Gange und es steht keineswegs fest, wer sich hier durchsetzen wird. Pessimismus hingegen schwächt die Kräfte derjenigen, die sich mit ihrer Lebenskraft für eine Demokratisierung und Stärkung der UN einsetzen.

Ich habe selbst in meinem politischen Leben mehrfach erfahren können, wie wir Erfolge erzielt haben, die viele Personen vorher für unwahrscheinlich gehalten haben. Wenn sich entschiedene und positiv gestimmte Menschen zusammentun, sich vernetzen, organisieren und politisch zusammenarbeiten, können sie eine Menge bewegen - lokal, regional, national und transnational.

 
 
Klaus Moegling
im April 2024

[1] Die Aktualisierung und Erweiterung der 5. Auflage der 'Neuordnung' ist nun am 5.4.24 weitgehend abgeschlossen worden. Es werden nur noch ab und an kleinere Aktualisierungen vorgenommen, wo dies notwendig erscheint.



Vorwort zur vierten Auflage: 

Eine Verhandlungslösung ist möglich.

Die vierte Auflage fällt in die Zeit eines dramatischen gesellschaftlichen Umbruchs 

Waren bisher Erwartungen in der westlichen Welt an eine länger fortdauernde europäische Friedensperiode vorhanden, hat sich dies mit dem russischen Überfall auf die Ukraine deutlich verändert. 

Die militärische Invasion der russischen Föderation in die Ukraine ist eine Katastrophe und durch nichts zu rechtfertigen. Selbst, wenn im Vorfeld des Krieges die diplomatischen Möglichkeiten nicht genügend wahrgenommen wurden, Russlands Sicherheitsbedenken ignoriert wurden sowie auch in der Ukraine z.T. problematische politische und militärische Kräfte sich durchzusetzen versuchten, stellt dies alles keine Legitimation für die russische Invasion, die Bombardierung von Wohnvierteln und Infrastruktur sowie für die Zerstörung der natürlichen Mitwelt dar. Erschießungen, massenweise Folterungen, Vergewaltigungen und Kinderentführungen durch russische Soldaten lassen sich erst recht nicht durch vorgebrachte russische Argumente für die „militärische Spezialoperation“ legitimieren. Der Angriff und die damit verbundene Invasion russischer Truppen stellen eine eklatante Verletzung des Völkerrechts und der Menschenrechte dar und bedeuten eine aggressive Zerstörung der europäischen Sicherheitsordnung und einen Bruch mit der UN-Charta.

Wo wird dies enden?
Werden wir den 3. Weltkrieg erleben?
Der Krieg in der Ukraine eskaliert ständig weiter.
Es wird daher versucht im Rahmen dieses Vorworts Perspektiven zu entwickeln, einen Ausweg aus dieser Situation zu finden, ohne sich Illusionen hinzugeben. 

Waren Verhandlungsangebote ein Fehler? 

Häufig hört man nun den Vorwurf, dass die Verhandlungsangebote an Russland naiv gewesen wären. Man hätte rechtzeitig die umfangreichere militärische Aufrüstung des Westens – und auch der Ukraine – betreiben müssen. Letztlich seien auch die westliche Friedensbewegung und ein verbreiteter friedenspolitischer Habitus daran schuld, dass der politisch-militärisch-industrielle Komplex mit Putin an der Spitze diesen Angriff gewagt habe. Hätten an der Stelle von Diplomatie konsequentere Maßnahmen militärischer Abschreckung einen größeren Erfolg haben können? 

Hiergegen ist zu fragen: Was wäre denn die Alternative gewesen? Hätte man sich von der Vorahnung einer russischen Aggression in eine noch extremere Rüstungsspirale zwingen lassen sollen, welche die notwendigen Zukunftsinvestitionen zur Bekämpfung der Klimakrise, des Welthungers und zur Prävention vor Pandemien verhindern würden? 

Hätte man nicht dennoch auf Verhandlungen im Rahmen der vorhandenen Institutionen setzen sollen? Wenn man die zwischen den Völkern geschaffenen Institutionen und Gesprächsformate im Rahmen der internationalen Sicherheitsarchitektur selbst nicht ernst- und wahrnimmt, dann gibt es letztlich keine Hoffnung auf eine globale friedliche Entwicklung. Dann regiert nur die Macht der Waffen.
Natürlich musste man versuchen über die UN, die OSZE, das Normandie-Format, den NATO-Russland-Rat oder bilaterale Gespräche, die russische Regierung zum Einlenken und zu vertretbaren Kompromissen zu bewegen. Dies wurde nicht ohne Rückendeckung durch die Androhung von massiven Sanktionen vorgenommen. Man musste es riskieren, auf die Rationalität Putins und der mit ihm verbundenen Politiker und Industriezweige zu setzen. Eine massivere Aufrüstung verbunden mit einer noch umfangreicheren Truppenverlegung der NATO an ihre Ostflanke sowie einer Aufnahme der Ukraine in die NATO hätte unmittelbar zu einer militärischen Auseinandersetzung geführt. 

Wie reagieren die Vereinten Nationen? 

Die UN hält sich bisher auffällig zurück. Zwar gab es u.a. Sondersitzungen des UN-Sicherheitsrats und eine Verurteilung der russischen Aggression durch den UN-Generalsekretär, dennoch zeigen sich auch in dieser gefährlichen weltpolitischen Situation die strukturellen Probleme der Vereinten Nationen. Ein Staat überfällt – mit offensichtlich vorgeschobenen Gründen – einen Nachbarstaat und verletzt hiermit völkerrechtswidrig u.a. alle wesentlichen Normen der UN-Charta. Dies wäre ein klassischer Fall für „Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen“, die im Kapitel VII der UN-Charta festgelegt worden sind. Im Falle eines die Souveränität eines Staates verletzenden Angriffskrieges kann der UN-Sicherheitsrat nach der Erfolglosigkeit aller diplomatischen Maßnahmen und von Sanktionen, weltpolizeiliche und auch militärische Einsätze beschließen.[1] Doch man glaubt doch nicht im Ernst, dass die Russische Föderation nicht von ihrem Veto-Recht Gebrauch machen würde, wenn ein entsprechender Antrag im Sicherheitsrat beraten würde. So hat Russland auch am 25.2.2022 eine Resolution des UN-Sicherheitsrats, die eine Verurteilung des russischen Angriffs und die Forderung nach dem  Rückzug der russischen Truppen beinhaltete, mit seinem Veto blockiert. [2] Genau für diese Situation aber ist eine Reform des UN-Sicherheitsrats dringend erforderlich:
Ein Staat, der einen anderen Staat militärisch angreift, muss das Recht verlieren, im UN-Sicherheitsrat zu votieren - insbesondere wenn es sich hier um ein ständiges Mitglied mit Veto-Recht handelt.
 

Natürlich kann auch die UN-Generalversammlung einen Beschluss auf den Weg bringen, der ein Eingreifen im Auftrag der UN im Sinne der UN-Charta verlangen würde. Aber auch die Beschlüsse der UN-Generalversammlung haben für einen solchen Fall nur Empfehlungscharakter. Dies gilt auch für eine Notstandsresolution im Sinne des „Uniting for Peace“. [3]  
Solange es den UN-Sicherheitsrat mit den vorhandenen Befugnissen gibt, ist es daher notwendig, dass
* jedes Veto eines ständigen Mitglieds im UN-Sicherheitsrat zum dort kontrovers zu diskutierenden Gegenstand einer eigens hierfür einzuberufenden UN-Generalversammlung werden muss,
* Ein Veto im UN-Sicherheitsrat mit einer zwei Drittelmehrheit in der UN-Generalversammlung überstimmt und aufgehoben werden kann. Ein nochmaliges Veto in dieser Sache ist dann nicht mehr möglich.

Das russische Veto gegen eine Verurteilung der russischen Invasion zeigt erneut auf gravierende und zahllose Menschenleben fordernde Weise die dringende Notwendigkeit, die Vereinten Nationen strukturell zu reformieren. Die bereits mehrfach international geforderte Abschaffung bzw. Modifizierung des Veto-Rechts der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats sowie dessen veränderte Zusammensetzung und die Aufwertung parlamentarischer Versammlungen im Rahmen der Vereinten Nationen dürfen nicht mehr mit fadenscheinigen Begründungen aufgehalten werden. [4] Die Wiederherstellung und die Einhaltung des Weltfriedens bedürfen anderer internationaler Politikstrukturen und dürfen nicht einzelnen Nationalstaaten oder Militärblöcken überlassen bleiben. Der aktuelle Überfall Russlands auf die Ukraine zeigt dies eindringlich. 

Weltpolizeiliche Maßnahmen in Form von robusten UN-Blauhelmeinsätzen 

Was müsste ab diesen Zeitpunkt – und natürlich zu spät aber dennoch dringend erforderlich – international eingeleitet werden? 

Unausweichlich müssen auch die NATO-Staaten sich militärisch vergewissern und entsprechende Sicherungsmaßnahmen treffen, ob sie einer weiteren Eskalation des Krieges über die Grenzen der Ukraine hinaus erfolgreich begegnen können. Wenn der Artikel 5 [5] des NATO-Vertrags aktiviert wird, müssen die entsprechenden Verteidigungsmaßnahmen im Angriffsfall auf einen NATO-Staat auch durch die NATO militärisch und später - im Auftrag der UN - weltpolizeilich erfolgreich durchführbar sein. Allerdings ist die Sicherung der Verteidigungsfähigkeit nur im Rahmen einer Doppelstrategie friedenspolitisch vertretbar, deren prioritäres Ziel die Schaffung von politischen Friedensstrukturen im Rahmen einer internationalen Sicherheitsarchitektur ist. Hierbei ist zu kritisieren, dass sowohl die NATO als auch die EU - angesichts des Kriegs in der Ukraine - primär die militärische Strategie verfolgen und den diplomatischen Weg vernachlässigen. Doch  genau umgekehrt müsste das Verhältnis von Militär und Diplomatie sein.

Ob westliche Staaten, immer mehr Waffen in die Ukraine liefern sollten, ist schwierig zu entscheiden. Dagegen spricht die dann zu erwartende militärische Eskalationsdramatik, die zu einer weiteren Vernichtung von Menschenleben, Umwelt und Infrastruktur führen wird. Wenn Angriffswaffen mit größerer Reichweite in die Ukraine geliefert werden, besteht die Gefahr von militärischen Gegenangriffen von Seiten der Ukraine auf russisches Gebiet, was die Eskalationsdynamik noch weiter beschleunigen würde. Auch besteht die Gefahr des Einsatzes einer taktischen Atombombe von Seiten der Russischen Föderation im Falle eigenen militärischen Scheiterns mit einem unkalkulierbaren Risiko für die weitere Eskalation. Dies zu verdrängen wäre verantwortungslos. Zumindest für eine Unterstützung der Ukraine mit Waffen, die primär der Verteidigung dienen, wie z.B. Abwehrsysteme gegen Kampfflugzeuge und Drohnen sowie Panzerfäuste, spricht, dass es um die militärische Unterstützung eines sich verteidigenden Staates ginge, der sich gegen den Überfall einer despotischen staatlichen Macht zur Wehr setzt. 

Auf jeden Fall müssen Wirtschaftssanktionen, welche die Wirtschaft der russischen Föderation tiefgreifend treffen, nun mit langem Atem und im Bewusstsein, dass es hier nicht nur Einschränkungen und ökonomische Verluste auf der russischen Seite geben wird, gut durchdacht werden. Die frühere Sanktionspolitik, z.B. im Irak, hat gezeigt, dass diese oftmals falsch und schädlich für die Zivilbevölkerung angelegt wurde. Wenn beispielsweise medizinische Hilfsgüter nicht mehr in ein boykottiertes Land gelangen können, sind letztendlich Kranke, alte Menschen und Kinder die Leidtragenden und Opfer dieser Sanktionspolitik. Daher sind insbesondere Maßnahmen zur Einfrierung von Konten geeignet und wären Enteignungen der russischen Villen und Immobilien, z.B. in der Südküste Frankreichs sowie in den teuren Straßenzügen Londons, die den in Russland herrschenden und das ‚System Putin‘ unterstützenden Finanzoligarchien gehören, wichtig. Die Sperrung erreichbarer Geldreserven des russischen Staates sowie das Abschneiden Russlands von einem Technologietransfer, der für dessen Rüstungsindustrie relevant ist, treffen diesen und seine ‚Eliten‘ empfindlich. Auch war es richtig, den vorübergehenden Ausschluss Russlands aus dem internationalen Zahlungssystem SWIFT zumindest für die größten Banken – eventuell sogar für das gesamte russische Bankensystem –  vorzunehmen. Hierdurch kann es bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten in Russland und dem dadurch anwachsenden Druck auf die russische Regierung – auch z.T. aus Unterstützerkreisen von Putin – dazu kommen, dass die russische Regierung einlenken und an den Verhandlungstisch zurückkehren muss. Dies muss das erklärte Ziel aller Maßnahmen sein. Die OSZE, die UN, das Normandie-Format oder der NATO-Russland-Rat sind institutionelle Kontexte, die für die notwendigen Verhandlungen einen geeigneten Rahmen abgeben. 
Aber nicht nur die Russische Föderation muss an den Verhandlungstisch zurückkehren sondern auch die ukrainische Regierung muss sich von ihrer militärischen Option zugunsten von Verhandlungen lösen.
Des Weiteren sind parallel hierzu und auch danach u.a. die Politik- und Geschichts-wissenschaften, die verantwortlichen Politiker_innen und die mediale Öffentlichkeit aufgefordert, sich unvoreingenommen und mehrperspektivisch mit der Vorgeschichte dieses Krieges zu befassen und zu analysieren, inwieweit auch diplomatische Fehler, aber ebenfalls Interessen westlicher Staaten, Konzerne und Institutionen für das Ausbrechen Russlands aus der internationalen Sicherheitsarchitektur mitverantwortlich waren. 
Wer sind die ökonomischen und geopolitischen Gewinner dieses Krieges? Welche Akteure welcher verschiedenen Machtkonstellationen auf der russischen, der ukrainischen, aber auch auf der westlichen Seite hatten ein Interesse daran, den Krieg zu beginnen bzw. zu provozieren? Diese Fragestellungen und Untersuchungsaufträge dürfen keine Relativierung der russischen Kriegsverbrechen und Völkerrechtsverletzungen intendieren, sondern die Aufmerksamkeit und die Handlungsfähigkeit für künftige internationale Krisensituationen verbessern helfen. 

Der ‚Appell für den Frieden‘ 

Der ‚Appell für den Frieden‘ schlägt eine diplomatische Verhandlungsinitiative über das UN-Generalsekretariat vor. [6] Der UN-Generalsekretär ist aufgefordert, endlich die Initiative zu ergreifen und eine hochlegitimierte und hochrangige Verhandlungskommission zu bilden. 

Hochrangig meint, dass hier Persönlichkeiten zumindest auf der Außenministerebene in der Kommission enthalten sein sollten. Besonders wichtig wäre es, dass auch Vertreter_innen Chinas, Indiens und Brasiliens, die insbesondere für die Russische Föderation wirtschaftlich und politisch relevant sind, in dieser Kommission unter Leitung des UN-Generalsekretärs mitarbeiten. Hochlegitimiert meint, dass eine große Mehrheit der UN-Vollversammlung diese Kommission mit Verhandlungsmacht ausstattet. Die Kommission sollte unter Leitung des UN-Generalsekretärs die ukrainische Regierung und die russische Regierung an den Verhandlungstisch bringen, um einen Waffenstillstand als Voraussetzung von Friedensverhandlungen und -lösungen zu erreichen. Nationale und transnationale Regierungen sind dringend aufgefordert, sich für eine derartige Verhandlungsinitiative einzusetzen. Spätestens jetzt, aber schon viel zu spät, ist die Zeit der Diplomatie gekommen. Es besteht die Gefahr, so wie es Jürgen Habermas ebenfalls anspricht, einen 'point of no return' zu erreichen, dessen Eskalationsdynamik von keiner Seite mehr gestoppt werden kann. 

Das Verhandlungsziel müsste dann im Abzug aller russischen Truppen aus der Ukraine verbunden mit Reparationszahlungen an die Ukraine bestehen. Dies müsste so weit wie möglich erreicht werden. Auch muss der Internationale Gerichtshof der Vereinten Nationen den Fall untersuchen und die Verantwortlichen bzw. die russische Regierung zur Rechenschaft ziehen. Die im März 2023 erfolgte Verurteilung des russischen Präsidenten Putin als Kriegsverbrecher durch den Internationalen Strafgerichtshof in Den Hag ist hierfür ein erster wichtiger Schritt. 

Die beiden russisch orientierten Teile der östlichen Provinzen im Donbass, Donezk und Luhansk, müssten einen relativen Autonomie-Status innerhalb der Ukraine, wie dies z.B. für Südtirol in Italien der Fall ist, zugesprochen bekommen. Dieser Prozess müsste durch von durch die UN gesteuerten weltpolizeilichen Maßnahmen abgesichert werden. 

Die Krim könnte hierbei eine Ausnahme bilden, da sie vorwiegend von russischer Bevölkerung bewohnt wird und auch der historische Schenkungs-Akt von Cruschtschow 1954 an die Ukraine völkerrechtlich genauso fragwürdig wie die Übernahme der Krim 2014 durch die Russische Föderation war. Hier könnte vereinbart werden, dass die Krim solange in russischer Verwaltung bleibt, bis nach einem Zeitraum von z.B. 15 Jahren in durch die OSZE oder die UN kontrollierten Abstimmungen neu über die staatliche Zugehörigkeit der Krim entschieden wird. Aber dies ist natürlich eine Entscheidung, die im Rahmen der zukünftigen Verhandlungen zwischen der ukrainischen und der russischen Regierung unter der Leitung der OSZE oder der UN erfolgen müsste. 

Hierbei soll sich niemand der Illusion hingeben, dass dies alles mit der Zustimmung eines ‚System-Putin‘ zu leisten ist. Falls Putin noch im Amt sein sollte, müssen die Verhandlungen wohl mit ihm begonnen werden. Hier muss allerdings mittelfristig auf einen Regierungswechsel in der Russischen Föderation gesetzt werden. Erst eine neue russische Regierung, die sich völkerrechtlich anders verhält, zu demokratischen Prinzipien und der Beachtung der UN-Charta zurückkehrt, wird einem robusten weltpolizeilichen Einsatz an der ukrainisch-russischen Grenze und einer entmilitarisierten Zone zustimmen. Dies wird für die sich derzeit in Russland gegen den Ukraine-Krieg engagierenden Menschen ein gefährlicher Weg sein, da die russische Regierung auf brutale Repression setzt und bereits Tausende Menschen verhaftet hat. [7] 

Eine solche Zustimmung der unmittelbar beteiligten Staaten ist die Voraussetzung für eine Verbindung aus zivilgesellschaftlichen Vermittlungsversuchen und weltpolizeilichen Einsätzen unter dem Schirm der Vereinten Nationen, um die Souveränität der Ukraine über die dann anstehenden Verhandlungen wiederzuerlangen und zu sichern. 

Eine friedliche und nachhaltig entwickelte Welt ist (immer noch) möglich. 

Die Welt und die internationale Gemeinschaft sind aktuell durch den Angriff Russlands auf die Ukraine sowie der damit verbundenen Drohung, bei einem militärischen Eingreifen des Westens auch Atomwaffen einzusetzen, in ihrer Entwicklung weit zurück geworfen worden. Auch die in der Ukraine vorhandenen Atomreaktoren können als Waffe nuklearer Verseuchung im Krieg in der Ukraine eingesetzt werden. Hierfür müssten lediglich die Stromversorgung und die Versorgung mit Kühlwasser lang genug unterbrochen werden. Dies ist ein deutlicher Rückschritt hin zu einer friedlicheren und nachhaltigeren globalen Entwicklung – zumal auch die VR China sich zurückhält, das Vorgehen Russlands zu verurteilen. Es ist nicht nur der Weltfrieden sondern auch der Kampf gegen die Klimakrise gefährdet, der nur vereint und unter Einsatz der notwendigen Ressourcen in Friedenszeiten zu leisten ist. 

Dennoch muss die Entwicklungsperspektive an einem längerfristigen Zeitrahmen orientiert bleiben und die internationale Politik, Institutionen und NGOs, sowie die internationale Zivilgesellschaft dürfen nicht vorschnell resignieren, sondern müssen – gerade angesichts des Leids der ukrainischen Bevölkerung –  neben den angesprochenen Maßnahmen auch die notwendigen Schritte im Ausbau der internationalen Sicherheitsarchitektur noch dringender vollziehen. Entsprechende Perspektiven einer neuen Sicherheitsordnung in Europa hat die NGO ‚Sicherheit neu denken‘ sehr aktuell veröffentlicht. [8] 

Insbesondere sind Anstrengungen zu neuen Abrüstungsvereinbarungen zu unternehmen. Hierbei wäre zunächst die Ratifizierung des durch ICAN initiierten und durch die UN in Kraft gesetzten Atomwaffenverbotsvertrags auch von Seiten der Staaten mit Nuklearwaffen prioritär. Dies wäre die richtige Alternative zu den jetzt überall einsetzenden Aufrüstungsvorhaben. 

Es zeigt sich, dass die Hauptproblematik darin besteht, dass mächtige Mitglieder des UN-Sicherheitsrats sich nicht an die Regeln des Völkerrechts halten, ohne dass die Vereinten Nationen in der Lage sind, hiergegen aufgrund der Militärmacht dieser Mitglieder und der unzulänglichen Struktur der UN vorzugehen. Dies hat sich bei Völkerrechtsverletzungen der USA (z.B. Irak-Krieg), von China (Tibet) oder nun der Russischen Föderation in der Ukraine gezeigt. Es gilt die Vereinten Nationen zu demokratisieren und gleichzeitig zu stärken, so dass sie in Zukunft im Falle militärischer Aggression eines Staates friedenspolitisch handlungsfähiger als bisher werden können. 

Ein zweiter Umbruch trat bereits etwa ein Jahr vor der russischen Aggression ein: Endlich war die US-Präsidentschaft von Donald Trump beendet. 

Es ist immer noch zu hoffen, dass mit der Präsidentschaft von Joe Biden und Kamala Harris die Zeit vorbei ist, in der ein irrational, narzistisch und eigensüchtig handelnder Präsident des militärisch mächtigsten Staates bereits ein unkalkulierbares Sicherheitsrisiko darstellt. 

Sicherlich sind der Teil der gesellschaftlichen ‚Eliten‘ immer noch vorhanden, die Trump an die Macht brachten und ihn (viel zu lange) unterstützten. Auch gibt es noch immer sehr viele unverbesserliche Ignoranten, die durch seine Lügen verblendet wurden oder sich hier opportunistisch anpassten. Dennoch besteht die Hoffnung, dass zumindest eine Rückkehr der USA auf die diplomatische Ebene erfolgen wird. Dies betrifft insbesondere die multilaterale Zusammenarbeit auf der Ebene der Vereinten Nationen. Erste Maßnahmen der US-Regierung zeigen, dass hier eine Fortsetzung der Zusammenarbeit im Bereich des Klimaschutzes, der gesundheitspolitischen Zusammenarbeit und der Friedenssicherung angestrebt wird. Dies betrifft die erneute Vertragsunterzeichnung der Pariser Klimakonvention und die Wiederaufnahme der Zusammenarbeit mit der World Health Organization (WHO) der UN. Die zunächst erfolgte Verlängerung des New-Start-Vertrags in Zusammenarbeit mit Russland wurde allerdings im Zuge des Kriegs in der Ukraine von Russland wieder ausgesetzt und beendet. Es ist zu hoffen, dass dies wieder rückgängig gemacht wird und dass auch China dem New Start-Vertrag zukünftig als weiterer notwendiger Schritt einer internationalen Abrüstung beitreten wird. 

Doch andere Signale machen deutlich, dass auch die gegenwärtige US-Administration am Ziel eines 2%-Anteils der militärischen Ausgaben eines NATO-Staats am Bruttoinlandsprodukt festhalten wird. Der Krieg in der Ukraine dient hierfür als Legitimation. Hier scheint es keine Einsicht zu geben, dass dieses Geld woanders dringend nötiger verwendet werden müsste. Noch immer verhungern täglich Kinder. Noch immer fehlen Gelder für friedenssichernde Einsätze der UN. Die Pandemie und deren Folgen erfordern Billionen US-Dollar, um die entstandenen Schäden auch nur ansatzweise zu beseitigen. Die heran rollende Klimakatastrophe aber und deren Abwehr – soweit dies überhaupt noch vollständig gelingen kann – werden die größten Kosten und unsägliches Leid verursachen. 

Wie ignorant ist es daher, weiter aufzurüsten und eine Politik des Schreckens durchsetzen zu wollen? Auch der Ukraine-Krieg kann daher kein Argument für eine weitere Aufrüstung sein. 

Wenn Biden/ Harris tatsächlich in die Geschichtsbücher als eine bedeutende US-Präsidentschaft eingehen wollen, dann sollten sie innerhalb der aktuellen Legislaturperiode dazu beitragen, dass die Vereinten Nationen eine internationale Friedenskonferenz unter Beteiligung aller UN-Staaten und – in beratender Funktion – geeigneter internationaler NGO’s, wie z.B. ICAN, Greenpeace, Democracy Without Borders, World Beyond Wars oder IPPNW, einberufen. Diese Friedenskonferenz sollte einen Stellenwert wie die Pariser Klimakonferenz einnehmen und weitreichende Abrüstungsregelungen und Beschränkungen von Waffenexporten im konventionellen und nuklearen Bereich zum Ergebnis haben. Hierbei müssten effektive Kontrollmechanismen und Sanktionen bei Regelverstößen in das Vertragswerk eingebaut werden. Des Weiteren könnten Biden/ Harris ebenfalls darauf hinwirken, dass verbindliche Kontrollen und Sanktionen im Übrigen auch für die Pariser Klimakonvention nachgeholt werden. Dies wären entscheidende Maßnahmen auf dem Weg zu einer globalen Neuordnung, die vernunftgeleitet und verantwortungsvoll sind. 

Der Krieg in der Ukraine – und dies wird im Westen oft verdrängt – ist nur ein Krieg unter anderen dutzenden weiteren, aktuellen symmetrischen und asymmetrischen gewalttätigen Konflikten. Insbesondere in Europa gerät dieser Krieg in den Fokus, da er in geografischer Nähe stattfindet und auch ein Krieg unter Weißen mit ähnlichen kulturellen Traditionen ist. Bereits viel länger dauert z.B. der Krieg im Jemen, der bereits wesentlich mehr Opfer, insbesondere auch unter Kindern, gefordert hat. Doch er findet in großer Distanz zu Europa und zwischen fremdkulturellen Ethnien statt. Dies wird als nicht so bedrohlich erlebt, obwohl es völker- und menschenrechtlich ebenso problematisch ist und auch dort Kriegsverbrechen an der Tagesordnung sind. 

Der Ausweg hin zu einer sinnvollen Neuordnung im globalen Kontext kann – dies ist eine zentrale, hier vertretene These – nur in der Stärkung und Demokratisierung der Vereinten Nationen liegen, die weltweit von Demokratie-Initiativen, demokratischen Parlamenten und Parteien, Nicht-Regierungsorganisationen und zivilgesellschaftlichen Protestbewegungen einzufordern ist. Hierzu gibt das vorliegende Buch zahlreiche Anregungen für die Realisierung dieses Vorhabens auf verschiedenen Zeitebenen. 

Die in dem ersten Teil des Buches analysierten gesellschaftlichen Verhältnisse – insbesondere die unangenehmste Variante eines neoliberalisierten Kapitalismus und die in verschiedenen Weltregionen unterschiedlich ausgeprägten Defizite des politischen Systems – machen deutlich, dass es eine grundlegende und systemische Neuordnung geben muss. Die gesellschaftliche Transformation muss Schritt für Schritt in einer geordneten  und international koordinierten Weise erfolgen, um gewalttätige Exzesse und soziale Disruptionen zu vermeiden, die letztendlich zur gesellschaftlichen Destruktion im Sinne zerstörter staatlicher Systeme oder einer wachsenden Anzahl von Diktaturen führen werden. 

Ein sinnvoller Weg zu einer Neuordnung im lokalen, nationalen, regionalen und internationalen Kontext – und insbesondere in der Verbindung dieser Ebenen – kann nur über eine Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche erfolgen. Dies muss friedlich und demokratisch erfolgen, ansonsten wird keine systemische Verbesserung eintreten. 

Das Problem ist, dass wir davon noch weit entfernt sind und zum Teil gegenläufige Tendenzen festzustellen sind: Nationalistische Einstellungen, autokratische Tendenzen, Verweigerung internationaler Zusammenarbeit, ungebremstes Profitdenken, ein zunehmendes Reichtumsgefälle und wachsende soziale Unterschiede, Waffenexporte in Spannungsgebiete, zahlreiche Kriege unterschiedlichster Art und ökologische Ignoranz. Verschärfend kommt hinzu, dass insbesondere die Klimaentwicklung nur noch ein Zeitfenster von 10-15 Jahren für die Menschheit offen lässt, in denen die richtigen Entscheidungen gefällt und ergriffen werden können. 

Dies bedeutet, dass sich derzeit und in naher Zukunft eigentlich niemand mehr zurückhalten kann. Es ist ein gesellschaftliches Engagement auf allen Ebenen gefragt, wenn eine positive Entwicklung in die Richtung auf eine systemische Neuordnung eintreten soll. 

 

Mit den besten Grüßen        Klaus Moegling                                              im Juni 2023                       ( Rückmeldungen an: klaus(at)moegling.de )              



Anmerkungen

[1] Vgl. insbesondere den Artikel 43 der UN-Charta.
[2] "Russia blocks Security Council action on Ukraine", in: https://news.un.org/en/story/2022/02/1112802, 25..2.2022.
[3] Obwohl die UN-Vollversammlung die russische Invasion in der Ukraine mit einer großen Mehrheit von 141 Stimmen (bei 45 Enthaltungen und 5 Gegenstimmen) verurteilt hat, hat die Verabschiedung der Resolution ‚nur‘ eine symbolische Bedeutung und spiegelt die globalen Einschätzung in Bezug auf den Krieg in der Ukraine wider. Vgl. https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-03/un-vollversammlung-verurteilt-russischen-einmarsch-mit-grosser-mehrheit, 3/2/2022.
[4] Vgl. zur Forderung nach einem demokratisch gewählten UN-Parlament mit umfassenderen Vollmachten sowie der Reform des UN-Sicherheitsrats Leinen, Jo/ Bummel, Andreas (2017): Das demokratische Weltparlament. Bonn: Dietz-Verlag. Zumach, Andreas (2021): Reform oder Blockade. Welche Zukunft hat die UNO? Zürich: Rotpunktverlag und das Kapitel 5.3 im vorliegenden Buch.
[5] Artikel 5 des NATO-Vertrags besagt: „Die Parteien vereinbaren, daß ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird; sie vereinbaren daher, daß im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten.“ https://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_17120.htm?selectedLocale=de
[6] Der komplette Text des Friedensappells in deutscher und englischer Sprache sowie die verschiedenen Erstunterzeichner_innenlisten finden sich auf https://www.klaus-moegling.de/peace-appeal/
[7] Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sprach am 26.2.2022 auf seiner Pressekonferenz von Demonstrationen in 58 russischen Städten. Die 'Frankfurter Rundschau' listet ebenfalls die Proteste in Russland gegen den Ukraine Krieg aus der Zivilbevölkerung, von russischen Hilfsorganisationen, Journalisten, Künstlern und Wissenschaftlern auf und verweist auf das Demonstrationsverbot des russischen Staats, auf die brutale Vorgehensweise des russischen Polizeiapparats sowie auf die Anzahl der vorgenommenen Verhaftungen: Vgl.  https://www.fr.de/politik/news-ukraine-konflikt-russland-widerstand-proteste-krieg-wladimir-putin-erschrocken-prominente-opposition-zr-91374943.html, 27.2.2022.
[8] Vgl. Rething Security (2022):Turning the Perspective Overcoming Helplessness. Rethinking Security Report 2022. In: https://www.sicherheitneudenken.de/media/download/variant/269297/rethinking-security-report-2022-turning-the-perspective.pdf, 18.2.2022, 1.3.2022. 


Vorwort zur dritten Auflage 

Das vorliegende Buchprojekt vor dem Hintergrund der politischen Bewegungen

Die dritte Auflage des vorliegenden Buches versucht – ausgehend von einer aktualisierten Kritik der Verhältnisse – die theoretischen und praktischen Grundlagen einer gesellschaftlichen Neuordnung und erste Schritte auf dem Weg dorthin im Zuge einer positiven Vision zu entwerfen sowie gewaltfreie Umsetzungsstrategien zu entwickeln.

Hierbei stellt die literarische Arbeit an den bisherigen drei Auflagen ein mehrjähriges Projekt kollektiver Erfahrungsauswertung und Wissenskonstruktion dar. In jede Auflage gingen verstandenes Wissen und reflektierte Erfahrungen vieler Menschen ein, mit denen ich seit Jahren das Gespräch suche: Experten für verschiedene Gebiete, Kolleg_innen, Studenten_innen sowie die vielen Diskussionsbeiträge im Rahmen von Lesungen, Vorträgen und Internetforen, die ich wiederum seit der zweiten Auflage hierfür verarbeiten konnte. Ich habe versucht dieses Wissen und diese Erfahrungen achtungsvoll zu vernetzen und in die hier vorliegende Problemstellung auf meine Weise einzubringen.

Auch war es mir wichtig, nicht nur aus einer theoretischen Perspektive heraus oder allein über Erfahrungen der anderen zu schreiben. Daher ist dieses Buch in seinen verschiedenen Auflagen auch aus den eigenen politischen Erfahrungen in der Umwelt- und Friedensbewegung, im Bildungsbereich sowie parteipolitischer und gewerkschaftlicher Mitarbeit entstanden. Das vorliegende Buch ist damit ein Teil und Ausdruck der verschiedenen Bewegungen, die zivilgesellschaftlichen Widerstand leisten und hiermit verbunden, aus diesen Bewegungen heraus und diese reflektierend, entstanden.

Die historische Entwicklung kultureller Umbrüche zeigt, dass eine solche gesellschaftliche Veränderung nur für einen längeren Zeitraum erfolgreich sein kann, wenn ihr eine gut durchdachte gesellschaftspolitische Vision zugrundeliegt. Hier soll dafür plädiert werden, dass diese Vision ein gesellschaftspolitisches Modell beinhaltet, das demokratisch, internationalistisch, gemeinwohlorientiert und sozialökologisch ausgerichtet ist und die kulturellen Leistungen der Aufklärung zum Ausgangspunkt einer bisher in Ansätzen stecken gebliebenen Neuordnung werden lässt. Hierbei müssen auch die systemrelevanten Fragen nach der gerechten Eigentums- und Vermögensverteilung und einer anderen Lebens- und Arbeitsqualität gestellt werden.

Vielleicht hat die Aufklärung, meines Erachtens bisher die größte Kulturleistung der Menschheitsgeschichte, bislang nur eine Minderheit der Menschheit erreicht. Noch wird eine erweiterte Aufklärung massiv durch verschiedene dogmatische Religionen, durch fehlendes Bewusstsein sowie einen neoliberal ausgeprägten Raubtierkapitalismus in ihrer Entfaltung blockiert. Auch konnte beispielsweise Immanuel Kant die Ökologie-Problematik und die Anfälligkeit der Instrumentalisierung seiner Gedanken für den damals aufkommenden Kapitalismus noch nicht übersehen. Eine zweite Welle der Aufklärung, die von den blinden Stellen der ersten Aufklärung gelernt hat, und konsequente Maßnahmen zu einer globalen Neuordnung auf der Grundlage einer radikalen sozialökologischen und demokratischen Orientierung sind notwendig, wenn die Menschheit auf einem lebenswerten Niveau überleben möchte.

Die rasante weltweite Verbreitung des Coronavirus zeigt, dass die Welt ein globales Dorf ist. Die Entwicklungen in einer Region können durch die Globalisierung sehr schnell an jedem Ort wirksam werden und alle Menschen betreffen. Dies gilt für einen Virus, für die Klimakrise und für Krieg und Frieden. Daher gilt mehr denn je das Prinzip der Verantwortung eines jeden Menschen für diese Welt, genauso wie die Notwendigkeit existiert, globalen Problemen auch in globaler Verantwortung zu begegnen.

Ich bedanke mich wieder bei allen Leserforen, Gesprächsgruppen, Seminaren, Mitarbeiter_innen und Freunde_innen sowie den Kollegen_innen bei ‚Scientists for Future‘ (S4F) (1) und im ‚Bundesausschuss Friedensratschlag‘ (2), die mir in den Diskussionen wertvolle Hinweise und Impulse zur Realisierung der dritten Auflage gegeben haben. Ohne diesen lebendigen Austausch wäre der vorliegende Entwurf nicht zustande gekommen.

 

Mit den besten und (immer noch) hoffnungsvollen Grüßen

Ihr Klaus Moegling                                    

im April 2020

 

P.S.: Gern erhalte ich weiterhin Ihre Rückmeldungen und Kommentierungen unter (klaus(at)moegling.de)


[1] Vgl. zum Selbstverständnis und zu den Aktionen von ‚Scientists for Future‘: https://de.scientists4future.org/, o.D., 14.12.2022. (Das erste Datum nach dem Link zeigt den Zeitpunkt der Veröffentlichung; das zweite Datum ist das Entnahmedatum, ohne dass dies jeweils durch ‚vom‘ und ‚entnommen‘ gekennzeichnet wird. Bei o.D. ist kein Publikationsdatum angegeben.)
[2] Vgl. zum Selbstverständnis und zu den Aktivitäten des Bundesausschusses Friedensratschlag: http://www.friedensratschlag.de/Wer_wir_sind:Bundesausschuss_Friedensratschlag, o.D. 14.12.2022.

Vorwort zur zweiten Auflage: 

Was uns Mut machen kann

Die zweite, hier vorliegende Auflage des Buches ‚Neuordnung‘ blieb zwar im inhaltlichen Kern des Anliegens unverändert, wurde jedoch noch einmal an einigen Stellen überarbeitet, um zusätzliche Aspekte erweitert und insbesondere um einige wichtige Entwicklungen aktualisiert. Auch wurde weitere inzwischen neu publizierte Literatur einbezogen.

Diese neue Auflage ist des Weiteren Ausdruck und Ergebnis der im vergangenen Jahr über mein Buch stattgefundenen Diskussionen in Seminaren, auf Tagungen, in verschiedenen Gesprächszirkeln und von Leseranregungen, die mir direkt mitgeteilt wurden. Vielen Dank hierfür!

Es liegt Ihnen nun, liebe Leserin, lieber Leser, ein menschenwissenschaftlich orientiertes Buch mit einem gesellschaftspolitischen Schwerpunkt vor, das für wesentliche Problemstellungen unserer Zeit und der zu erwartenden Zukunft kritische Analysen und Lösungsmöglichkeiten anzubieten versucht.

Wir befinden uns in einer globalen Transformationsphase mit einer deutlichen Beschleunigungsdynamik. Die Welt gerät zunehmend in Unordnung. Viele Menschen fühlen sich der Globalisierungsdynamik hilflos ausgeliefert, manche suchen nach einfachen Lösungen, z.B. in fundamentalistisch ausgerichteten Religionen oder bei rechtspopulistischen Gruppierungen.

Was aber Hoffnung machen kann, sind die gegenwärtigen Jugendproteste, die sich weltweit beobachten lassen. Viele Jugendliche haben erkannt, dass die derzeit herrschende Generation der Erwachsenen ihre Chancen für eine lebenswerte Zukunft vernichtet. Sie beginnen sich zur Wehr zu setzen. Ihnen schließen sich erwachsene Persönlichkeiten an, die ähnlich gestimmt sind und welche die herannahenden Katastrophen ebenfalls sehen können. Es wird hierbei deutlich: Eine neue Radikalität im zivilgesellschaftlichen demokratischen Engagement ist notwendig. Ansonsten sind die drohenden Entwicklungen offensichtlich nicht mehr zu verhindern.

Jeder, der sich einer der zunehmenden Protestbewegungen anschließt, sollte sich zumindest vier Fragen stellen:

- Wie möchte ich in Zukunft leben?

- Was verhindert, dass ich in dieser Weise leben kann?

- Wie soll eine Neuordnung der Welt in den wesentlichen Aspekten aussehen, in der diese Qualität des Lebens möglich wird?

- Was muss ich – auch gemeinsam mit anderen – auf allen gesellschaftlichen Ebenen, aber auch für mich persönlich, verändern, so dass diese Neuordnung und dieses Leben in der Zukunft wahrscheinlicher werden?

Das vorliegende Buch versucht für das eigene Suchen nach Antworten hierauf Anregungen zu bieten. 

Ein Umsteuern und eine Neuordnung sind (noch) möglich. Aber die Zeit drängt. Der aktuelle Weltklimabericht des IPCC [1] fordert ein entschiedenes Umsteuern bis 2030. Maßnahmen gegen den Welthunger oder zur Kriegsprävention lassen überhaupt keinen zeitlichen Spielraum mehr. Und: Wie lange können wir uns eine fehlende Demokratisierung auf der Ebene der UN noch leisten?

Gern trete ich auch dieses Mal wieder in ein Gespräch mit Ihnen ein. Für Ihre Rückmeldungen zum vorliegenden Buch bin ich Ihnen sehr dankbar.

 

Mit herzlichen Grüßen

Ihr 

Klaus Moegling                                                                      im März 2019


[1] Aktualisiert: https://report.ipcc.ch/ar6syr/pdf/IPCC_AR6_SYR_SPM.pdf, 20.3.2023, 20.3.2023.

Vorwort zur ersten Auflage: 

Ordnung - Unordnung - Neuordnung

Bevor die zentralen Fragestellungen des Buches entwickelt werden, sollen vorab einige allgemeine Ausführungen zur Bedeutung von Ordnungen vorgenommen werden.

Zur Ambivalenz von Ordnungen
Ordnungen sind ambivalent. Sie können sowohl konstruktiv als auch destruktiv sein. Ordnungen und ihre darin eingefalteten Regeln strukturieren und entlasten zunächst Entscheidungen in konstruktiver Weise. Sie erleichtern damit das Zusammenleben, indem sie helfen, die Komplexität und die damit verbundene Unübersichtlichkeit des Lebens leichter zu bewältigen. Ordnungen im menschlichen Zusammenleben sind daher mehr als ein Ausdruck lästiger Sekundärtugenden, sondern geben Sicherheit, verschaffen Überblick und bieten Orientierungen sowie Identifikationen. Psychische Ordnungen stehen in einer Verbindung zu sozialen Ordnungen. Die emotionale Identifikation mit einer sozialen Ordnung stellt ein hohes Energiepotenzial bereit, sich für die Verteidigung dieser Ordnung einzusetzen.
Menschliche Ordnungen sind Ausdruck von sozialen Auseinandersetzungen und Kämpfen. Der Ausgang dieser sozialen Konflikte verfestigt sich in gesellschaftlichen Ordnungen, in denen sich Macht- und Herrschaftsverhältnisse abbilden.

Allerdings müssen soziale Ordnungen elastisch sein, wenn sie länger Bestand haben wollen, d.h. aus sich heraus ein gewisses Maß an Innovationsbereitschaft enthalten, um sich neuen Anforderungen anpassen zu können. Funktionsfähige Ordnungen bzw. Systeme haben daher die Fähigkeit, sich im Falle von eintretenden dysfunktionalen (Un-)Ordnungen zu erneuern (Homöostase). Dies bedeutet, dass ein System Maßnahmen trifft, um wieder in eine Balance zu geraten und eine funktionsfähige Ordnung herzustellen. [1]

Soziale Ordnungen andererseits, die sich aufgrund von rigiden gesellschaftlichen Beharrungskräften nicht schnell genug erneuern, werden durch andere soziale Ordnungen abgelöst. Dies widerfuhr einem erstarrten Feudalsystem mit seiner Lehensherrschaft, mit einer Stände- und Zunftordnung und deren einengenden Regulierungen zur Einschränkung von Produktion, Preisbildung, Technikentwicklung und Handel. Dies mussten auch die sogenannten realsozialistischen Systeme erfahren, die durch ihre rigiden Planungssysteme, verbunden mit massiver Einschränkung der Individualität und Repression gegenüber dem Einzelnen, nicht mehr in der Lage waren, die Systemkonkurrenz mit den verschiedenen Varianten des Kapitalismus auszuhalten. Die sie konstituierenden Ordnungen wurden beseitigt und durch neue ersetzt.

Von der Notwendigkeit einer Neuordnung

Eine Neuordnung der Welt in ihren unterschiedlichen Dimensionen wird umso dringender, wenn die alte (Un)ordnung mehr und mehr zur Destruktion der humanen Lebensbedingungen auf dem Planeten Erde führt: Massive Versorgungskrisen, Massenfluchten und brutale Verteilungskämpfe um das Verbliebene, ökologische Katastrophen sowie verheerende militärische Auseinandersetzungen könnten für Jahrhunderte eventuell sogar für Jahrtausende die Erde in weiten Teilen unbewohnbar werden lassen.

Für ein solches Vernichtungsszenario kann es dann nur eine Alternative geben, die in der radikalen und rechtzeitigen Neuordnung der Welt zu sehen ist.

Häufig sind bereits Visionen einer Neuordnung der Welt entworfen worden. Insbesondere nach den Weltkriegskatastrophen des 20. Jahrhunderts sowie nach dem Zusammenbruch der Ost-West-Konfrontation kam es zu Entwürfen für die Neuordnung der Welt (‚New World Order‘). Dennoch reichten diese Vorstellungen in der Regel nicht von der mikrosystemischen Perspektive bis hin zur makrosystemischen Blickrichtung, schon gar nicht wurde die Interaktion dieser systemischen Perspektiven für eine Neuordnung in den Blick genommen.

Neuordnung aus einer holistischen Perspektive

Die Neuordnung des globalen und internationalen Systems – so wird im vorliegenden Buch betont – hat aber soziale und psychische Voraussetzungen. Politische, ökonomische, ökologische, zwischenmenschliche und psychische Ordnungen sind in einem holistischen Sinne in einer Verbindung zu denken und zu begreifen. 

Hierbei muss genau geklärt werden, was unter Holismus bzw. Ganzheitlichkeit zu verstehen ist, um Missverständnissen zu begegnen:

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Ordnung, Unordnung und Neuordnung aus einer
ganzheitlichen bzw. holistischen Sicht

Das hier vorliegende Ganzheitlichkeitsverständnis grenzt sich von diffusen und mystischen Holismus-Überzeugungen kritisch ab und weiß auch um den Missbrauch des Ganzheitlichkeitsanliegens in faschistischen politischen Ordnungen, wie z.B. im deutschen Nationalsozialismus. Dennoch soll dieser Begriff hier aufgrund seines enormen erkenntnistheoretischen Werts verwendet werden. Die Voraussetzung hierfür ist eine genaue Definition: Ganzheitlichkeit im hier verstandenen Sinne meint die Berücksichtigung der verschiedenen Ebenen bzw. Dimensionen menschlicher Existenz und führt zu einer Beschreibung, Beurteilung und Entwicklung von Szenarien und Visionen im Verständnis der Zusammenhänge dieser Ebenen und der darauf einwirkenden Faktoren und Rückkoppelungen. Disziplinäre, inter- und transdisziplinäre Herangehensweisen in der Wahrnehmung menschlicher, gesellschaftlicher und planetarer Entwicklungen thematisieren hierbei die verschiedenen Dimensionen wie die psychische, die soziale, die ökologische, die ökonomische und die politisch-strukturelle Ebene. Dies bezieht sich zunächst auf die kognitive Perspektive einer holistischen Wahrnehmung, wenn es darum geht, die Zusammenhänge mit dem Verstand zu begreifen. Das Denken der Menschen ist hierüber hinaus in einen Zusammenhang mit ihrem leiblichen So-Sein und ihren sinnlich-emotionalen Wahrnehmungs- und Erfahrungsmöglichkeiten zu verstehen, die in eine Verbindung zur gedanklichen Reflexionsfähigkeit im Sinne von Mündigkeit, Kritikfähigkeit und Verantwortlichkeit zu treten haben. [2] Oder noch einmal anders ausgedrückt: Etwas zu wissen ist etwas anderes als etwas zu fühlen. Doch beides beeinflusst einander und führt zum Verstehen. Körper, Emotion und Intellekt scheinen getrennte Ebenen zu sein und doch sind sie miteinander in einem intensiven Kontakt. Der persönliche Reifungsprozess im Sinne einer bewussten Integration von Verstand und Gefühl darf nicht vernachlässigt werden, wenn ein gesellschaftlicher Reifungsprozess angestrebt wird. Ganzheitlichkeit im Denken und Wahrnehmen kann die Beziehung der Teile zum Ganzen sowie die Beziehung der Teile untereinander vor dem Hintergrund des Ganzen thematisieren. Hierdurch tritt die Interdependenz alles Lebendigen hervor, werden Zusammenhänge zwischen lokalen und globalen Ereignissen und Strukturen, zwischen sozialem Miteinander im Lebensweltlichen und politischem Zusammenwirken auf allen Ebenen sowie die Verbindung von Gesellschaftlichkeit und Ökologie deutlich.

Isolierte und auf nur eine Dimension bezogene Wahrnehmungsleistungen und Strategien werden nicht die Erkenntnisleistung hervorbringen und nicht die Wirkung haben, die zu einer radikalen Neuordnung führen kann. 
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In diesem Sinne weist der langjährige Leiter des Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie, Uwe Schneidewind, darauf hin, dass „nur systemische Herangehensweisen, die auch einen breiten inter- und transdisziplinären Brückenschlag nicht scheuen, Orientierung in einer komplexer werdenden Wirklichkeit bieten. Dies gilt umso mehr in einer Zeit, in der im Wissenschaftssystem angesichts zunehmender Spezialisierung der Mut zu solchen Entwürfen eher ab- als zunimmt.“ (Schneidewind 2018, 11)

Rein fachliche Betrachtungsweisen können komplexere Zusammenhänge nicht erfassen. Disziplinarität, Inter- und Transdisziplinarität müssen sich sinnvoll ergänzen. Auch ein Auslassen leiblich-sinnlicher Erfahrungsmöglichkeiten, kann zu einem einseitigen und notwendige Wahrnehmungen verdrängenden Denken führen. Die Abspaltung des Emotionalen führt zu einer Verarmung der menschlichen Persönlichkeit, zu einer reduzierten Wahrnehmungsfähigkeit und zu einer destruktiven Rückkehr des Abgespaltenen. Die Ausklammerung einer kritischen Reflexionsperspektive wiederum kann zu mystischer Verklärung und ideologischer Verschleierung menschenunwürdiger Zustände führen.

Nur wenn eine neue Ordnung, eine systemische Neuordnung von der überwiegenden Mehrheit der auf dem Planeten Erde lebenden Menschen gewollt wird, wird sie eine Chance haben. Hierüber sollte man sich keinen Illusionen hingeben. Eine grundlegende Umsteuerung ist nur mit den Menschen und nicht gegen die Menschen zu erreichen.

Die Voraussetzungen hierfür werden hoffentlich nicht erst dann eintreten, wenn Generationen massives Leid erfahren haben und keinen anderen Ausweg mehr als in der radikalen Umsteuerung sehen. Dass eine derartige Transformation grundsätzlich möglich ist, darüber ist sich der Autor mit den Verfassern der 2017 erschienenen Studie des Club of Rome, Ernst Ulrich von Weizsäcker, Anders Wijkmann u.a., einig. Hierzu sind tatsächlich eine „neue Erzählung“, eine „neue Aufklärung“, aber auch ein emotionales Betroffensein sowie ein entschiedenes Umsteuern in den maßgeblichen Verhaltensweisen der Menschheit im lebensweltlichen, regionalen und globalen Kontext notwendig. [3]

 

Zugrunde liegende Fragestellungen

Die zentralen Fragestellungen des vorliegenden Buches markieren in diesem Sinne das Erkenntnisinteresse, um das es gehen soll: 

In welcher Hinsicht lässt sich von einer krisenhaften Entwicklung der Menschheit sprechen? Welche negativen Szenarien einer Zuspitzung der Krise sind vorstellbar und wahrscheinlich? Wird sich die Menschheit doch noch rechtzeitig als lernfähig erweisen können? Inwieweit muss eine grundlegende Veränderung des ökonomischen Systems erfolgen? Wie muss sich der Mensch psychisch, sozial und in seinem Verhalten für einen Neustart verändern? Welche Rolle können hier Bildung, Therapie, Meditation, alternative Lebensentwürfe und solidarische Ökonomien spielen? Wie ist das Verhältnis von Nationalstaaten, Regionen und transnationalen Systemen zukünftig zu gestalten? Kann eine demokratische Neuordnung der Vereinten Nationen orientiert an einer positiven Vision globaler Entwicklung gelingen? In welcher Weise muss das Verhältnis des Menschen zur Natur neu bestimmt werden? Wie kann eine regionale und internationale Neuordnung aussehen, bei der wirkungsvolle und verantwortliche klimapolitische Eingriffe zu einer Umkehr der Klimaentwicklung führen? Wie kann die Kooperation von privatwirtschaftlich organisierter Rüstungsindustrie, Politik und Militär wirkungsvoll aufgebrochen werden? Wie sind die Eigentumsfrage und die zukünftige Vermögensverteilung zu regeln? Welche Personengruppen, sozialen Bewegungen und Organisationen werden eine radikale Neuordnung durchzusetzen haben?

Und vor allem: Wie werden die ersten transformativen Schritte auf einem langen Weg zu einer Neuordnung aussehen, die den Menschen und seine psychischen, sozialen, ökologischen, ökonomischen und gesellschaftspolitischen Ordnungen im lokalen, regionalen und globalen Kontext umfasst?[ 4]

Der holistische Ansatz führt zu einer Analyse und zu einer Vision gesellschaftlich-humaner Entwicklung, die teilweise zunächst erstaunen und den Leser und die Leserin an eigene Grenzen gehen lässt. Lässt man sich aber darauf ein und lässt man die diejenigen Vorbehalte fallen, die oftmals aus einer Mischung von Vorurteilen und Ängsten bestehen, können eine Aufmerksamkeit und ein Ahnen für die zukünftigen Veränderungen in umfassender Hinsicht entstehen, um die es in diesem Buch gehen soll: Die Neuordnung des Lebens auf unserem Planeten.

Klaus Moegling, im Juni 2018



[1] Vgl. ausführlicher zu den Grundannahmen systemischen Denkens bei Capra (1985, 293 ff.); Auf einen Bezug zur Systemtheorie von Luhmann (z.B. 1984) wurde aufgrund des eher sozialtechnologischen Ansatzes, des übertriebenen Formalisierungsgrades sowie der Nicht-Berücksichtigung des Subjekts in Luhmanns Systemtheorie verzichtet.
[2] Vgl. noch ausführlicher zum Verständnis von Ganzheitlichkeit bei Moegling (2017, 80ff.).
[3] Vgl. Weizsäcker, v./Wijkman u.a. (2017, 197).
[4] Dieses Vorwort zur ersten Auflage wurde an einigen Stellen gekürzt bzw. modifiziert und mit Zwischenüberschriften versehen.

Extra:

Entwicklung einer 

Friedenspolitischen

 Handlungsperspektive

 angesichts des Kriegs in der

 Ukraine:


 https://www.klaus-moegling.de/peace-appeal/


Dies ist eine eigens für einen Friedensappell zum Krieg in der Ukraine  ,der auf Change.org und Action.Network veröffentlicht wurde, eingerichtete Webseite. Hier wird auch der Weg der Unterzeichnung des Appells für den Frieden beschrieben.
Des Weiteren finden sich dort Artikel, Statements von Politikern_innen, die namentliche Unterzeichner_innen-Liste und natürlich die Texte der Friedensappelle mit den Erstunterzeichner_innen-Listen.



1 Analyse gegenwärtiger

globaler Krisen – 

Ordnungen lösen sich auf 

Bevor eine positive Vision gesellschaftlicher Entwicklung entworfen werden kann, ist es erforderlich, die Notwendigkeit für eine solche Entwicklung überzeugend zu begründen. Dies soll hier im Rahmen des Kapitels 1 in einem ersten Schritt über die kritische Analyse gegenwärtiger gesellschaftlicher Verhältnisse gelingen. In einem nächsten Kapitel soll hierüber hinaus die Dringlichkeit einer systemischen Veränderung im globalen Kontext durch die Entwicklung von möglichen Negativszenarien deutlich werden (Kapitel 2): Was wird passieren, wenn die gegenwärtige Entwicklung nicht entscheidend gestoppt werden kann? Hier geht es also um negative Entwicklungen, die man nicht mit Sicherheit voraussagen kann, deren Eintreten aber unter bestimmten Voraussetzungen möglich ist.
Wenn es in den Bereich der menschlichen Vorstellungskraft gerät, wie verheerend und zerstörerisch ein derartiges Szenario auf die Möglichkeit menschlichen Lebens sein kann, wird hieraus erst die Kraft erwachsen können, die notwendig ist, um dies zu verhindern. Erst dann ist es möglich, mit der notwendigen Entschiedenheit, eine positive Vision planetarer Entwicklung zu entwerfen, die grundlegend und radikal ist, also an der Wurzel ansetzt. Ein Ansetzen an der Wurzel gesellschaftlicher Problemlagen muss sich auch der Systemfrage stellen. Davon können Eigentums- und Vermögens-verhältnisse nicht unberührt bleiben.
Auch meint Radikalität nicht das Einschmeißen von Fensterscheiben, das Inbrandsetzen von Autos oder gar Gewalt gegen einzelne Personen oder Menschengruppen. Der Einsatz von Gewalt ist nicht radikal, sondern extremistisch und widerspricht der hier vorliegenden Vision einer gesellschaftlichen Neuordnung.
So radikal, also an den systemischen Grundlagen ansetzend, eine Vision einer gesellschaftlichen Neuordnung aufgrund der existierenden und drohenden Gefährdungslage auch ist und sein muss, werden dennoch in einem darauf folgenden Schritt erste, an der gegenwärtigen gesellschaftlichen Wirklichkeit ansetzende und zeitlich differenzierte Reformschritte skizziert, die auf den Weg zur Einlösung dieser auf die Zukunft gerichteten Vorstellung gesellschaftlicher Entwicklung führen können (Kapitel 6).
So gesehen bleibt die Analyse nicht im Negativen stecken sondern gibt den Blick für eine mögliche positive Entwicklung frei, wenn die hierzu erforderlichen Maßnahmen mit der notwendigen Entschiedenheit und systemischen Stimmigkeit getroffen werden.
Hierbei  ist der Mut zur Vision und zur Utopie gefragt, so wie es bereits der Sozialphilosoph Ernst Bloch 1918 zum Ende des 1. Weltkriegs formulierte:
"Wir haben Sehnsucht und kurzes Wissen, aber wenig Tat und was deren Fehlen mit erklärt, keine Weite, keine Aussicht, keine Enden, keine innere Schwelle, geahnt überschritten, keinen utopisch prinzipiellen Begriff. Diesen zu finden, das Rechte zu finden, um dessentwillen es sich ziemt, zu leben, organisiert zu sein, Zeit zu haben, dazu gehen wir, hauen wir die phantastisch konstitutiven Wege (...) und suchen dort das Wahre, Wirkliche wo das Tatsächliche verschwindet - incipit vita nova."  (Bloch 1918/2018, 11) 

Doch vor der Vision ist die Arbeit der kritischen Analyse zu leisten, um den 'konstitutiven Weg' nicht ins Ungewisse zu nehmen.
 

1.1 Ökonomische Krisen 

1.1.1    Globale Strukturen der Gier 

Ökonomische Krisen in einem kapitalistisch geprägten globalen System, in dessen hochentwickelter neoliberaler Spätphase wir uns offensichtlich befinden, müssen zunächst auf der sozioökonomischen Ebene analysiert werden. In einem nächsten Schritt sind aber auch die psychischen und sozialen Dispositionen zu beschreiben, die mit den privatwirtschaftlichen Produktionsweisen, der privaten Abschöpfung des erwirtschafteten Mehrwerts sowie den entsprechenden Strukturen verbunden sind.
Marx/Engels haben bereits weitsichtig in der Mitte des 19. Jahrhunderts analysiert, wie sich der Prozess der Globalisierung im Kapitalismus vollzieht:
„Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muß sie sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen. Die Bourgeoisie hat durch die Exploition des Weltmarkts Produktion und Konsumtion kosmopolitisch gestaltet.“ [1]
Marx/Engels sehen die Tatsache, dass Investoren ständig auf der Suche nach neuen Investitionsmöglichkeiten und Produzenten auf der Suche nach neuen Absatzmärkten sind, als ökonomische Zwangshandlungen an, die Ausdruck von Kapitalverwertungskrisen sind, wenn sich die technischen Möglichkeiten der Produktion – und entsprechend weitergedacht – die kommunikativen Möglichkeiten der Investitionstätigkeit beständig weiterentwickeln.
Der Kolonialismus des globalen Nordens in den Regionen des globalen Südens diente – neben geostrategischen Überlegungen der Machtausdehnung – vor allem der ökonomischen Ausbeutung der menschlichen und natürlichen Ressourcen der militärisch eroberten Weltregionen. Eroberungskriege, Menschenhandel, Sklavenarbeit, Ethnozid, Umweltzerstörung, Plünderung, Zerschlagung funktionierender Infrastrukturen und Raubbau an den natürlichen Ressourcen sowie die Errichtung einer imperialen Weltwirtschaftsordnung sind Kennzeichen der kolonialen Phase weltweiter Entwicklung. Der Reichtum des globalen Nordens fußt auf der brutalen Ausbeutung des globalen Südens. Reichtum und Armut stehen hier in einem destruktiven funktionalen Zusammenhang. Postkoloniale Studien befassen sich u.a. mit der Verlängerung und auch der Modifizierung dieser Strukturen nach der eigentlichen Zeit des Kolonialismus im Zuge der Dekolonialisierung nach dem zweiten Weltkrieg. Hier wird thematisiert, dass die aus der Kolonialisierung resultierenden globalen Ungerechtigkeiten und auch das Denken und Fühlen in den Gesellschaften des globalen Nordens bis in die heutige Zeit weiter existieren.
Ina Kerner, Professorin für die Dynamiken der Globalisierung und für postkoloniale Studien, beschreibt die hieraus resultierenden Aufgaben:
Sie bestehen zunächst einmal darin,
„die landläufige, tendenziell positive oder zumindest verharmlosende Sicht auf den europäischen Kolonialismus zu verändern und ein kritisches Bewusstsein für seine Spätfolgen zu schaffen. Ferner geht es darum, nicht-koloniale Denkmuster, Verhaltensweisen, Repräsentationen und Institutionen zu entwickeln und zu stärken. (…) Zum einen durch genaue empirische Analysen und theoretische Reflexionen, die Aufschluss darüber geben, wie weit die kolonialen Ursachen und Pfadabhängigkeiten tatsächlich reichen – etwa bezogen auf Probleme wie Armut, starke soziale Ungleichheit, Autoritarismus oder mangelnde Rechtsstaatlichkeit in ehemaligen Kolonien. (…) Dass eine Kritik des eigenen Kontextes immer etwas Selbstreferenzielles hat, ist klar. Postkoloniale Theorien problematisieren vor diesem Hintergrund die unreflektierten Aspekte und die Machteffekte des Eurozentrismus. Denn dieser hat seit jeher dazu gedient, globale Macht- und Herrschaftsansprüche zu legitimieren.“ (Kerner 2020)
Waren es zur Kolonialzeit vor allem Konzerne wie die British East India Company, die Dutch East India Company oder die US-amerikanische United Fruit Company, die koloniale bzw. neokoloniale Herrschaftsverhältnisse in Asien und in Südamerika brutal ausnutzten, so muss in postkolonialen Zeiten die Rolle der multinationalen Konzerne moderner Prägung genauer betrachtet werden. 
Der Träger des Nobelpreises für Ökonomie, Josef E. Stiglitz, ist nicht weit entfernt von Marx/Engels‘ Analyse, wenn er die Übernahme der Marktmacht in den wichtigen ökonomischen Sektoren durch wenige Konzerne kritisiert. Diese Konzentration sei verbunden mit dem Ausschalten eines freien Wechselspiels von Angebot und Nachfrage zugunsten ungebremster Marktermächtigung und Bereicherung einiger weniger Privatpersonen zulasten der Bevölkerungsmehrheit:
„Diese Megakonzerne nutzen ihre Marktmacht, um sich auf Kosten aller anderen zu bereichern. Durch die Festsetzung höherer Preise haben sie den Lebensstandard der Verbraucher effektiv gesenkt. Neue Technologien ermöglichen diesen Unternehmen Massendiskriminierung – die sie auch praktizieren –, da die Preise nicht auf dem Markt festgesetzt werden (als Einheitspreis, der Angebot und Nachfrage abbildet), sondern durch die algorithmische Bestimmung dessen, welchen Höchstpreis ein Kunde zu zahlen bereit ist. (…)
Wo die finanzielle Deregulierung am weitesten fortgeschritten war, kam es auch am häufigsten zu Missbrauch auf dem Finanzsektor wie etwa Marktmanipulation, räuberischer Kreditvergabe und übermäßiger Kreditkartengebühren.“ [2]
Die gegenwärtige Variante des neoliberalisierten Kapitalismus sei die übelste Version kapitalistischer Gesellschaftsformation, da hier der Staat auf die notwendigen Kontrollen und Regulierungen des Kapitals weitgehend verzichte. Der Staat sieht sich vor allem in der Rolle, volkswirtschaftliches Wachstum und private Aneignung zu ermöglichen, ohne hier zu erkennen, dass Wirtschaftswachstum eine sehr problematische Größe sein kann.
Im Unterschied zu Marx/Engels sieht Stiglitz (2019) aber die Chance nicht in einer systemischen Überwindung des Kapitalismus, sondern in einem „progressiven Kapitalismus“, der eine echte Marktfunktion wiederherstelle und der das Kapital wieder gesellschaftlich einbette und sozialökologisch von staatlicher Seite reguliere.

Das Vordringen in innere Räume
 
Der Kapitalismus weitete sich im Rahmen seines historischen Siegeszuges weltweit aus. Er drang nicht nur von Europa ausgehend in alle geografischen Gebiete der Erde vor, sondern er dringt auch in die inneren Räume des menschlichen Zusammenlebens ein – so Elmar Altvater (2006, 22):
„Die Mikro- und Nanostrukturen des Lebens werden in Wert gesetzt und dabei so manipuliert, dass die Verwandlung in Ware und ihre Verwertung in Geldform herauskommen. Private Rückzugsräume sind vor Sachzwängen von Geld und Kapital nicht sicher. Formen des sozialen Zusammenlebens werden mehr und mehr vertragsförmig gestaltet und dadurch der Logik von monetärer Marktäquivalenz unterworfen. Kapitalistische Inwertsetzung ist ein allumfassendes und dennoch im Binnenraum des Planeten begrenztes und begrenzendes Prinzip, dessen Regeln zu befolgen sind, als ob es sich um Gebote Gottes handele.“
Hiernach sind die Menschen auch psychisch durchdrungen von Verwertungsinteressen, Konsumangeboten, medialer Beeinflussung und den darin enthaltenen Logiken des Kapitalismus. Insbesondere die Zwangsläufigkeit einer Verbindung von Wohlstand, Privateigentum und Wirtschaftswachstum scheint ein unhinterfragbares Paradigma. Aus dieser systemischen Hegemonie des Denkens und Fühlens scheint es kein Entkommen zu geben.
Diese kritische Analyse besitzt sicherlich eine sozioökonomische Plausibilität und ist in der Analyse weltweiter Kapitalkonzentration, einer ungerechten Vermögensverteilung, der globalen Investitionstätigkeit, des Raubbaus an den Bodenschätzen und der ökologischen Verwüstung, der destruktiven Rüstungsinvestitionen sowie der immer wiederkehrenden, durch Spekulation angeheizten Wirtschafts- und Finanzkrisen zu berücksichtigen. [3]
Dennoch soll der Mensch – trotz vorhandener Strukturen – nicht nur als ein Objekt ökonomischer Entwicklungen betrachtet werden. Jede und jeder Einzelne entscheidet selbst, auf welcher Seite des globalen Geschehens sie bzw. er stehen möchte: Wertschöpfung muss auch in den Zeiten eines technisch-digitalen Entwicklungsstadiums des Kapitalismus nicht zwangsläufig destruktiv sein. Ökonomische Investitionen können durchaus an einem an Nachhaltigkeit orientierten Wertschöpfungsprozess orientiert sein. Niemand zwingt Rüstungskonzerne, auf Investitionen in Rüstungskonversion im Sinne einer Produktion von Friedensgütern zu verzichten. Niemand zwingt die Energieversorger, eine Umsteuerung auf eine solare Energieversorgungszukunft nicht rechtzeitig vorzunehmen. Niemand zwingt Politiker und Politikerinnen, sich nationalchauvinistisch zu verhalten oder Bestechungsgelder aus der Wirtschaft anzunehmen. Niemand zwingt Banken, sich an der Risikospekulation auf den Finanzmärkten zu beteiligen, anstatt sich mit der Rendite aus Krediten an Hausbauer und an die mittelständische Wirtschaft zu begnügen.
Es kann durchaus zumindest in ernstzunehmenden Ansätzen ein richtiges Leben auch unter den falschen gesellschaftlichen Voraussetzungen geben: Gier müsste weder ein zentrales Politik- noch ein prioritäres Wirtschaftsprinzip sein. Hierhinter stehen Entscheidungen des Einzelnen sich den vorhandenen Strukturen mit der ganzen Persönlichkeit auszuliefern und sich dem Paradigma egozentrisch gesteuerter Gier zu unterwerfen.
 
Soziale und menschenrechtliche Folgen eines neoliberalisierten Kapitalismus
 
Anders sieht es für die Leidtragenden des neoliberalisierten Kapitalismus und der damit verbundenen Wirtschaftspolitik aus. Waren nach dem zweiten Weltkrieg noch Wohlstandsgewinne für größere Bevölkerungsteile und die Vergrößerung der Mittelschichten vor allem in den industrialisierten Staaten zu beobachten, sorgte die Neoliberalisierung für eine Umkehrung dieses Prozesses. Billiglohnsektoren weiteten sich auch in den westlichen Staaten aus, Lohndumping und Leiharbeit sowie Scheinselbstständigkeit sorgten dort für einen Abstieg aus der Mittelschicht und für entsprechende soziale Ängste bei den vom Abstieg Bedrohten. In den auch während der postkolonialen Zeit in Abhängigkeit gebliebenen Weltregionen gestalteten sich diese Entwicklungstendenzen noch viel dramatischer. Diese Länder dienen im Rahmen des durch Weltbank und IWF definierten ökonomischen Rahmens als Schuldner und Zinsenzahler, als Rohstofflieferanten und Anbauflächen von Monokulturen – so die Lateinamerika Expertin Sabine Kurtenbach (2019) am Beispiel Kolumbiens:
„Kolumbien könnte die Kornkammer Südamerikas werden mit ganz unterschiedlichen landwirtschaftlichen Produkten, weil es weltweit eines der Länder mit der höchsten Biodiversität ist. Stattdessen wird für den Export fast nur Palmöl angebaut.“ [4]
Das internationale Kapital sei insbesondere an einer Stabilisierung seiner Investitionstätigkeit und der damit verbundenen Profite durch autoritäre Regierungen in den postkolonialen Weltregionen interessiert. Demokratisch gewählte Regierungen jedoch, die an einer Nationalisierung der Bodenschätze, einer Auflösung der internationalen Arbeitsteilung im Interesse der reichen Nationen und der aus ihnen stammenden Großkonzerne interessiert seien, werden mit allen Mitteln, mit Geheimdiensten, Sanktionen, mit Medien-Propaganda und letztlich mit militärischen Mitteln bekämpft. Das Beispiel Chiles ist das bekannteste Beispiel, wie eine demokratisch gewählte Regierung mit der nachweislichen Unterstützung des CIA über einen Militärputsch gestürzt und 1973 ein neoliberales Regime unter einer rechts gerichteten Militärdiktatur installiert wurde. [5] Die verheerenden sozialen Auswirkungen des neoliberalen Modells in Chile sind immer wieder die Ursache für Massenproteste verbunden mit brutalen Einsätzen des chilenischen Militärs. In der Hauptstadt Santiago und weiteren Städten gab es z.B. im Jahr 2019 Demonstrationen mit über eine Million Menschen, die gegen die totale Privatisierung des Landes, die niedrigen Einkommen und Renten, die undemokratische Verfassung, die hohen Wasserpreise und Studiengebühren protestierten.
Ein Referendum für eine neue, gerechtere chilenische Verfassung scheiterte 2022 an der einseitigen Medienpropaganda und dem hierdurch erzeugten Votum gegen den Verfassungsentwurf. 

Eine andere Variante der autoritären Investitionssicherung liegt in der direkten Einflussnahme von multinationalen Unternehmen auf an der Macht befindliche Regierungen in postkolonialen Ländern, wie z.B. in Nigeria, um Bewegungen gegen die Korruption und die Ausbeutung durch Konzerne in diesen Ländern unschädlich zu machen. Das Beispiel des Trägers des Alternativen Nobelpreise (‚Right Livelihood Award‘) Ken Saro-Wiwa und acht seiner Mitstreiter zeigt, wie das Interesse des Ölkonzerns Shell von der nigerianischen Militärregierung durchgesetzt wurde. Der Kritiker des Raubbaus an der Natur, der Unterdrückung des Ogoni-Volkes und der Enteignung der nationalen Bodenschätze, hier des Öls durch Shell, wurde in einem aus der Sicht internationaler Beobachter rechtswidrigen Prozess mit seinen Gefährten zum Tod durch Erhängen verurteilt. Ken Saro-Wiwa und seine Mitstreiter wurden 1995 trotz weltweiter Proteste von den Henkern der Militärregierung hingerichtet. Shell bestritt die Einmischung, bezahlte aber den Familien der Getöteten 14 Jahre später dennoch 15,5 Millionen Dollar Entschädigung. [6]
Die Folgen einer solchen repressiven Politik multinationaler Konzerne und der sie unterstützenden Regierungen sind – in der dependenztheoretischen Formulierung – strukturelle Heterogenität und Marginalisierung. Durch ‚Land Grabbing‘ vertriebene Kleinbauern finden sich unter den elenden Bedingungen der sich beständig ausweitenden städtischen Slums wieder, ohne geregeltes Einkommen und ein Mindestmaß an gesundheitlicher Versorgung sowie sauberem Trinkwasser. Auf der anderen Seite lebt die von der Ausbeutung des Landes profitierende und von den Konzernen korrumpierte Oberschicht sowie die ausländischen Manager mit ihren Familien in ummauerten und bewachten Siedlungsfestungen, die überall und weltweit ähnlich aussehen. Eine derartige strukturelle Heterogenität ist jedoch nicht die Voraussetzung für ein demokratisches System, sondern führt in der Regel zu autoritären Lösungen, um diese Verhältnisse einer sozialen Ausgrenzung der Bevölkerungsmehrheiten aufrecht erhalten zu können.
Der weltwirtschaftliche Mechanismus, der diesen Verhältnissen zugrunde liegt, wird in der Dependenztheorie mit dem Phänomen des ungleichen Tauschs beschrieben. Dies bedeutet, dass der vorhandene Reichtum eines postkolonialen Landes, in Form von Bodenschätzen und Arbeitskraft, billig in die reicheren Regionen der Welt abzugeben ist. Hingegen müssen die Leistungen der industrialisierten Regionen in Form von gefertigten Waren oder technischen Dienstleistungen in den ärmeren Teilen der Welt mit hohen Preisen bezahlt werden. [7]

Großkonzerne versuchen nun ihre Vertreter direkt in den Schaltstellen der Politik zu positionieren
 
Allerdings liefern sich auch die multinationalen Konzerne einen Überbietungswettbewerb, bei dem derjenige vom größeren Unternehmen geschluckt wird, der nicht schnell genug wächst. Hedgefonds erkaufen sich zudem die Aktienmehrheit von Konzernen, zerlegen sie und liquidieren ohne Rücksicht auf die Arbeitsplätze und dort beschäftigten Menschen Konzernteile, die keine überdurchschnittliche Rendite erzielen. Es ist offensichtlich, dass Gier das ökonomische Prinzip der Wirtschaftskonzentration und in Verbindung damit das leitende Interesse des Finanzkapitals darstellt. [8] W. I. Lenin bezeichnet die durch das Finanzkapital, also der Verschmelzung von Industrie und Bankkapital, dominierte Epoche als die Phase des Imperialismus, als die am weitesten entwickelte Phase des Kapitalismus:
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Definition des Imperialismus: „1. Konzentration der Produktion und des Kapitals, die eine so hohe Entwicklungsstufe erreicht hat, daß sie Monopole schafft, die im Wirtschaftsleben die entscheidende Rolle spielen; 2. Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital und Entstehung einer Finanzoligarchie auf der Basis dieses ‚Finanzkapitals‘; 3. Der Kapitalexport, zum Unterschied vom Warenexport, gewinnt besonders wichtige Bedeutung; 4. Es bilden sich internationale monopolistische Kapitalistenverbände, die die Welt unter sich teilen, und 5. Die territoriale Aufteilung der Aufteilung der Erde unter die kapitalistischen Großmächte ist beendet.“ [9]
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Ob diese fünf Merkmale ausreichen, um den Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus auszuweisen, sei dahin gestellt. Zweifel sind angebracht, da Lenin natürlich die Auswüchse des digitalisierten Kapitalismus noch nicht kennen konnte [10], die fundamentalen Interessensunterschiede unterschiedlicher Kapitalfraktionen nicht berücksichtigte sowie hier keine ökologischen Aussagen vornimmt.
Auf jeden Fall scheint der Kapitalismus immer wieder neue Formen anzunehmen, die dazu führen, dass immer weniger Unternehmen eine zunehmende Wirtschaftsmacht und Finanzkraft besitzen, das Kapital von Großbanken und Konzernen nicht mehr auseinanderzuhalten ist, neue Wertschöpfungsketten entstehen und hierbei immer weniger Personen immer mehr Kapital anhäufen können. Außerdem lässt sich zunehmend feststellen, dass Großkonzerne es immer weniger nötig haben, nur Lobbyisten zu politischen Mandatsträgern zu senden. Sie positionieren entweder selbst Konzernmitarbeiter oder nahestehende Personen in politische Schaltstellen oder nehmen kurz nach dem Ausscheiden Regierungsvertreter unter Vertrag, so dass sie deren politischen Netzwerke nutzen können. Der ehemalige Geschäftsführer von Greenpeace International, Thilo Bode, spricht hier von einem „politisch-ökonomischen Komplex“, der zunehmend die Demokratie unterlaufe und dafür sorge, dass die unterschiedlichen ökonomischen Interessen der multinationalen Konzerne in Konkurrenz zueinander durchgesetzt werden. [11]
Gerhard Schröder, Mario Draghi, Joschka Fischer, Friedrich Merz, Christine Lagarde, Richard B. ‚Dick Cheney‘, Emmanuel Macron oder Donald Trump sind nur einige von zahlreichen Persönlichkeiten, die entweder direkt aus internationalen Konzernvorständen hinein in führende politische Ämter positioniert wurden oder kurz nach ihrem Ausscheiden als Regierungsmitglieder in Konzernvorstände eintraten.
Die Frage ist hier nun, ob der Kapitalismus sich sozial reformieren lässt, oder ob die Verbindung aus kollektiver Geldgier, Wirtschaftskonzentration und Finanzspekulation nur durch einen Systemwechsel, also durch eine radikale Neuordnung der Ökonomie und der Politik, aufgebrochen werden kann.
Sicherlich kann man dies nicht nur auf der systemischen Ebene bedenken, sondern muss auch in Verbindung hiermit den Einzelnen in seinem sozialen Kontext in den Blick nehmen. So weisen die Sozialwissenschaftler Ulrich Brand und Markus Wissen (2017) darauf hin, dass die systemische Ausbeutung von Mensch und Natur im Zuge eines neoliberalisierten Kapitalismus eine psychosoziale Entsprechung im Rahmen einer imperialen Lebensweise aufweist. Die imperiale Lebensweise ist nicht nur verankert in Institutionen und strukturell verstetigten Herrschaftsformen, sondern über einen Akt psychologischer und sozialisatorischer Vermittlung auch in den individuellen kognitiv und emotional gesteuerten und sozialen Verhaltensweisen der Menschen vorfindbar.
Zunächst basiere die imperiale Lebensweise erstens auf der Ausbeutung des Billiglohnsektors in den reichen Gesellschaften und zweitens auf der Ausbeutung des globalen Südens durch den globalen Norden. Des Weiteren beuten selbst die marginalisierten Menschen im Billiglohnbereich der reicheren Regionen wiederum die Arbeitskräfte in den ärmeren Regionen aus. Hierbei werde weder Rücksicht auf menschliche Grundbedürfnisse der Ausgebeuteten noch auf die Notwendigkeiten einer nachhaltigen Entwicklung aufgrund des massiven humanen und ökologischen Ressourcenverbrauch genommen.
Die imperiale Lebensweise benötigt grundsätzlich Regionen und Menschen, zu denen die Kosten für Produktion und Konsumtion hin ausgelagert bzw. externalisiert werden können. Für eine sozialökologische Transformation der Gesellschaft ist die imperiale Lebensweise strukturell und auch psychosozial zu überwinden. [12]
 

US-amerikanische Kritik am neoliberalen Modell des Kapitalismus
 
Auch in den USA gibt es Ansätze einer Systemkritik, die von der Verflechtung von Banken- und Konzernkapital sowie deren Verfilzung mit den politisch herrschenden Kräften ausgeht, die letztlich zur heutigen neoliberalen Variante des Kapitalismus führte.
Noam Chomsky, Träger von zehn Ehrendoktorwürden, analysiert den von Großkonzernen und der Finanzwirtschaft initiierten ‚Washington Consensus‘ als Ausdruck neoliberaler Interessendurchsetzung gegen die armen Weltregionen und insbesondere deren verarmten Bevölkerungsschichten. Der Washington Consensus wurde von der Weltbank und dem Internationalen Weltwährungsfonds (IWF) unterstützt und in seiner Durchsetzung gefördert.[13]
Der Washington Consensus von 1989 schrieb u.a. Deregulierung, Privatisierung, Absenkung der Unternehmenssteuern und Handelsliberalisierung als Richtlinien einer vorgeblichen Förderung insbesondere der Staaten des globalen Südens durch die Weltbank und den IWF fest. Hierdurch wurden diesen Staaten in Wirklichkeit die Möglichkeiten von Schutzzöllen und zur Abwehr des internationalen Finanzkapitals genommen, was – wie der Nobelpreisträger für Ökonomie, Joseph Stiglitz (2002), eindrucksvoll analysiert – zur weiteren Verarmung und finanziellen Ausblutung dieser Länder führte.
Aber auch die ehemals reichen Staaten, wie die USA, Großbritannien oder weitere europäische Staaten wurden aufgrund der Neoliberalisierung des Kapitalismus und der Entgrenzung der Märkte, insbesondere der Finanzmärkte, sozial zerklüftet. Dies führte zu einer immer reicher werdenden Oberschicht und einem Absinken ehemaliger Angehöriger der Mittelschichten in die soziale Armut:
In „most advanced countries, the market economy has been failing large swaths of society.
Nowhere is this truer than in the United States. Long regarded as a poster child for the promise of free-market individualism, America today has higher inequality and less upward social mobility than most other developed countries. After rising for a century, average life expectancy in the US is now declining. And for those in the bottom 90% of the income distribution, real (inflation-adjusted) wages have stagnated: the income of a typical male worker today is around where it was 40 years ago.“ [14]
Stiglitz macht deutlich, dass ein 40 Jahres andauerndes neoliberales Experiment kläglich gescheitert sei und fordert einen sozial eingehegten Kapitalismus ein („progressiver Kapitalismus“ [15), bei dem der Staat wieder seine zentrale Rolle und soziale und ökologische Verantwortung erkennen müsse.
Während Stiglitz vor allem im Nachlassen der staatlichen Aktivität im neoliberalisierten Kapitalismus zugunsten von Konzerninteressen das zentrale Problem sieht, machte der US-amerikanische Ökonom Michael Hudson (1939/2003, 1) schon früh auf die enorme Bedeutung der an weltpolitischer Hegemonie interessierten staatlichen Interventionsstrategien aufmerksam. Er fasste seine historisch orientierten finanzpolitischen Studien einleitend wie folgt zusammen:
„One lesson of U.S. experience is that the national diplomacy, embodied in what now is called the Washington Consensus, is not simply an extension of business drives. It has been shaped by overriding concerns for world power (euphemized as national security) and economic advantage as perceived by American strategists quite apart from the profit motives of private investors.“
Auch Chomsky (2000, 23) sieht die Verbindung staatlicher Interventionen und Konzerninteressen, wenn er kritisch über den Washington Consensus formuliert:
„Die ‚hauptsächlichen Architekten‘ des neoliberalen ‚Konsenses von Washington‘ sind die Herren und Meister der Privatwirtschaft, in der Hauptsache riesige Konzerne, die weite Bereiche der internationalen Wirtschaft kontrollieren und über Mittel zur Beherrschung der politischen Willensbildung wie zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung verfügen. Aus ersichtlichen Gründen spielen die USA in diesem System eine Sonderrolle.“
Chomsky weist nun im Rahmen seines Buches ebenfalls – vergleichbar mit der Wahrnehmung von Michael Hudson – nach, wie die US-Konzerne zwar die Liberalisierung und Deregulierung weltweit einforderten, allerdings selbst massiv vom US-Staat strategisch mit Subventionen und Handelsbegünstigungen unterstützt wurden. So sind natürlich auch die Bemühungen der Trump-Regierung und auch der Biden-Administration einzuschätzen: Selbst Schutzzölle erheben, aber von den anderen Staaten die Aufhebung von Schutzzöllen zu fordern. Chomsky kritisiert daher, dass der Washington Consensus nicht für die USA, sondern nur als Doktrin für Länder gelte, auf denen der ungehinderte Zugriff der US-Konzerne erleichtert werden solle und die der Gier der Reichen in den USA diene:
„Die gepriesenen Doktrinen dienen in ihrem Entwurf und ihrer Verwendung den Zwecken von Macht und Profit. Die gegenwärtig durchgeführten ‚Experimente‘ folgen einem vertrauten Muster, indem sie die Form eines ‚Sozialismus für die Reichen‘ annehmen, der im System eines globalen Merkantilismus der Konzerne angesiedelt ist, wo der ‚Handel‘ zum größten Teil in zentral geleiteten, innerbetrieblichen Transaktionen zwischen riesigen Institutionen besteht, die in ihrem Wesen nach totalitär sind und nur dem Zweck dienen, demokratische Entscheidungsprozesse zu unterminieren und die Herren und Meister vor der Disziplin des Marktes zu bewahren. In ihren strengen Lehrsätzen werden nur die Armen und Hilflosen unterwiesen.“ [16]

Zur Krisenhaftigkeit des neoliberalisierten Kapitalismus
 
Bereits Lenin analysierte die parasitären Ausbeutungsstrukturen innerhalb der globalen Arbeitsteilung:
„Monopole, Oligarchie, das Streben nach Herrschaft statt nach Freiheit, die Ausbeutung einer immer größeren Anzahl kleiner oder schwacher Nationen durch ganz wenige reiche oder mächtige Nationen – all das erzeugte jene Merkmale des Imperialismus, ihn als parasitären oder in Fäulnis begriffenen Kapitalismus zu bezeichnen.“ [17]
Sahra Wagenknecht analysiert in ihrem Buch „Wahnsinn mit Methode. Finanzcrash und Weltwirtschaft“ neuere Entwicklungen, die bei Marx/Engels und Lenin zwar im Grundsatz bereits analytisch angelegt waren, allerdings in dieser modernisierten Form noch nicht bekannt sein konnten. Wagenknecht sieht die Ursache für die 2007/2008 weltweit sich auswirkende Wirtschafts- und Finanzkrise in einer durch Bankengier gesteuerten leichtfertigen Kreditvergabe an insolvente Hausbesitzer (‚Subprime-Hypotheken‘), in dem Verkauf der undurchsichtigen und auf fehlende Bonität beruhenden Kreditpapier-Portfolios (‚Asset Backed Securities‘) auf den internationalen Finanzmärkten und im Platzen der so geschaffenen Immobilienblase, die wiederum die Erschütterung des Bankensystems nach sich zog. Die Voraussetzung hierfür war die Deregulierung der Finanzmärkte und des internationalen Kapitalverkehrs. In der Phase der Kreditverbriefung und des Verkaufs der entsprechenden Portfolios lag eine überdurchschnittliche Rendite begründet – so Wagenknecht (2008, 39):
„Zum einen lagen die Margen in diesem Geschäft deutlich höher als bei der traditionellen Kreditvergabe, die in der Regel weniger als 10 Prozent Rendite brachte, und zum anderen konnte das Kreditvolumen auf diese Weise weit über die Grenzen des Eigenkapitals der betreffenden Bank ausgedehnt werden. Da die Gewinne der Bank mit jedem vergebenen Kredit weiter anschwollen und das Ausfallrisiko ja auf die Käufer der Kreditpapiere überging, waren die Baufinanzierer fortan verständlicherweise bestrebt, so viele Darlehen wie möglich an wen auch immer zu vergeben.“
Letztendlich mussten die Steuerzahler die Rettung der Banken, die die faulen Hypothekenverbriefungen in großem Umfang erworben hatten, bezahlen. Die Nationalstaaten stützten die Großbanken aufgrund ihrer vermeintlichen Systemrelevanz („too big to fail“). Gewinne wurden also privatisiert und Verluste vergesellschaftet. Dass dann auch noch mit den Verlusten und den eventuell noch drohenden Staatsbankrotten über hochdotierte Wetten auf den Finanzmärkten zusätzliche Renditen zu erzielen versucht wurde, stellt einen zusätzlichen Aspekt des ‚Fäulnischarakters‘ dieser Wirtschafts- und Finanzordnung dar. [18]
Ökonomische Krisen werden im Kapitalismus mit einer Rückkehr zum wirtschaftlichen Wachstum versucht zu lösen - also mit genau der gleichen Medizin, die letztendlich zur Wirtschaftskrise geführt hatte. Wachstumsdenken führt zur Überproduktion, denn bezahlbarer Konsum ist begrenzt. Überproduktionskrisen führen in eine Rezession mit Folgen für die politische und kulturelle Stabilität. Rechtsextremismus und 'Wutbürger' sind typische Erscheinungen der Krisenhaftigkeit moderner kapitalistischer Gesellschaften.
Das Setzen auf grenzenloses Wirtschaftswachstum verkennt auch die ökologischen Grenzen unseres Planeten und vernichtet Schritt für Schritt die zivilisatorischen Lebensgrundlagen der Menschheit. Die bereits eintretende Klimakatastrophe, die Vermüllung der Erde sowie die Vernichtung der für die Ökologie dieses Planeten unabdingbaren Artenvielfalt sind Ausdruck einer prioritär Wachstums orientierten Wirtschaftsweise und Konsumorientierung.
Diese Kritik bezieht sich nicht nur auf die Verhältnisse des globalen Nordens sondern ebenfalls auf den kapitalistischen Entwicklungspfad in den Ländern des globalen Südens - so der Politikwissenschaftler und Aktivist Alexander Behr (2022, 29):
"Auch in vielen anderen Ländern des globalen Südens ist ein brutaler Klassenkampf im Gange. Die nationale Bourgeoisie bedient die Interessen transnationaler Konzerne. Kurzfristig kann sie sich dabei zwar auf eine wachsende Mittelschicht stützen, die ihre imperiale Lebensweise absichern will. Doch der hegemoniale Entwicklungspfad - ob staatsinterventionistisch wie in China oder neoliberal wie in Brasilien - ist zutiefst zerstörerisch und wird Ressourcenkonflikte in Zukunft weiter verstärken. Er gefährdet damit letztlich die Versorgungssicherheit aller Menschen."

Gier als psychologische Grundlage ökonomischen Handelns
 
Gier beschreibt eine Geisteshaltung und psychische Gestimmtheit, bei der ein Mensch rücksichtslos und egomanisch versucht, bei sich Werte und Ressourcen in Form von Geldäquivalenten, Grundstücken und Produktionsanlagen aufzuhäufen. Gier ist die psychische Grundstruktur und Motivationslage des neoliberalisierten Kapitalismus. Gier in Verbindung mit den Möglichkeiten spätkapitalistischer Strukturen hat dazu geführt, dass Ende des Jahres 2022 1,1% der Menschheit 45,8% des weltweiten Vermögens besitzt. Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung besaß hingegen nur 1,2% des weltweiten Vermögens. [19]

Gier zeigt sich auch im massenhaften Versuch der Vermögenden, ihr zusammengerafftes Geld ohne Versteuerung ins Ausland zu schaffen – so thematisiert der Politikwissenschaftler Hans-Jürgen Burchardt (2017) im Interview die Kapitalflucht und den Steuerbetrug über Konten auf den Cayman Islands oder nach Panama:
„In den Panama-Papieren tauchten aber 28 deutsche Banken auf, darunter sechs der sieben größten Geldhäuser. Neben England, Schweiz und Luxemburg gehört Deutschland mit Platz acht zu den elf Ländern, die illegitime Finanzflüsse weltweit am stärksten begünstigen. Das geschätzte Vermögen von Ausländern in Deutschland, über die sie zuhause keine Rechenschaft ablegen müssen, beträgt circa drei Billionen Euro. Darunter ist auch viel Geld, das in Entwicklungsländern erwirtschaftet und von den dortigen Eliten ins Ausland geschafft wurde. Diese Fakten machen zweierlei deutlich: Armut - hier wie anderorts - beruht nicht auf einem Mangel an Ressourcen, sondern auf ungleicher Verteilung sowie legaler und illegaler Steuervermeidung. Und die deutsche und europäische Politik hat alle Möglichkeiten, dagegen vorzugehen.“ [20]
Die ökonomische Gier zeigt sich nicht nur auf individueller sondern auch auf kollektiv-kontinentaler Ebene, wo reiche Kontinente und Regionen ärmere Regionen und Erdteile noch über das existierende Ungleichheitsniveau ausbeuten wollen. So verlangt die EU im Zuge der durch die Weltbank und den IWF gesteuerten Liberalisierung und Deregulierung des Welthandels (‚Washington Consensus‘) von Ländern des Kontinents Afrika den Abbau von Schutzzöllen, wobei EU-Produzenten gleichzeitig EU-subventionierte landwirtschaftliche Produkte und US-Konzerne ihre subventionierte Produktion in einem neokolonialen Sinne auf den afrikanischen Markt werfen:
„Die europäischen Handelsabkommen mit afrikanischen Ländern pochen bisher auf eine radikale Marktöffnung Afrikas. Dies verführt dazu, die mit EU-Subventionen hochgetriebenen, landwirtschaftlichen Überschüsse in Afrika abzusetzen: So hat zum Beispiel in den letzten Jahren der Verkauf von europäischen Milchprodukten, Fleisch oder Geflügel auf afrikanischen Märkten deutlich zugenommen. Gegen diese oft hochsubventionierten Lebensmittel können die afrikanischen Kleinbauern - die Mehrheit der Erwerbsbevölkerung - nicht konkurrieren. Sie verlieren ihre Einkommensquelle und migrieren in die Städte. Dort erfahren sie, dass dank EU-Handelsverträge auch die wenigen lokalen Industrien bald mit weltmarktgestählten EU-Unternehmen im ruinösen Wettbewerb stehen werden und auf mehr Beschäftigung kaum zu hoffen ist. Wem ist es dann zu verdenken, wenn er auf die Bremer Stadtmusikanten hört, die uns einst lehrten: Etwas Besseres als den Tod finden wir überall! Wir müssen uns heute entscheiden, ob wir unsere Abkommen mit Afrika auf eine echte Partnerschaft ausrichten wollen oder ob wir die afrikanische Wirtschaft zu einem Ramschbasar deklassieren, der immer mehr Menschen zwingt, ihr Glück woanders zu suchen.“ [21]
Nadège Compaoré (2017, 3) kritisiert in diesem Zusammenhang die Ausbeutung der afrikanischen Bodenschätze durch ausländische Minengesellschaften und Investoren („structural power imbalances in Africas mining sector“). Auch hier zeigt sich das Phänomen des ungleichen Tauschs (Senghaas 1974), bei dem Bodenschätze in den Ländern des Südens billigst eingekauft und fertig produzierte, technische Güter des Nordens teuer zurück verkauft werden. Die Politikwissenschaftlerin Compaoré fordert, dass der Mineralreichtum Afrikas zum Wohle der dort lebenden Menschen („Mineral wealth can be garnered to benefit its people“ (Compaoré 2017,5)) verwendet werde und fordert inklusive Partizipationsprozesse über das Einwirken von zivilgesellschaftlichen Gruppen und lokalen Kommunen.
Der Ökonom Franklin Obeng-Odoom (2020, 2021) analysiert das gleiche Phänomen hinsichtlich der Privatisierung von Land und des afrikanischen Land-Grabbings, bei dem die Menschen von ihrem Land, auf dem sie seit Generationen lebten und Landwirtschaft betrieben, vertrieben werden oder dort in Leibeigenschaft der Großgrundbesitzer geraten. Die Privatisierung von in Gemeineigentum befindlichen Landes im Rahmen kolonialer und postkolonialer Prozesse und Strukturen bezeichnet er als die „tragedy of the commons“ und fordert eine Dekolonialisierung des Landes in einem großen Maßstab. Hiermit meint er nicht die Nationalisierung bzw. Verstaatlichung von Land sondern dessen Vergesellschaftung, d.h. die angemessene Beteiligung an den Gewinnen und Landrechte für diejenigen, die dort arbeiten und produzieren sowie sich selbst organisieren. Obeng-Odoom betont die Wichtigkeit des Umgangs mit Land in der Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse und kapitalistischer Ökonomie aber auch für die Menschen selbst:
„ … land is not capital as in the conventional sense and land is not one thing, but rights and interests. It is, for many people, identity, another name for nature or spirit. Land is power.“ (Obeng-Odoom 2021)
Die negativen Folgen der Gier zeigen sich nicht nur in Bezug auf ärmere Gesellschaften, sondern durchdringen gerade hinsichtlich der Produktion von Waffen auch in brutaler und destruktiver Weise reichere Gesellschaften. Jedes Jahr werden in den USA Menschen in der Größenordnung einer mittelgroßen Stadt mit Schusswaffen umgebracht. Die Morde an US-Schulen an Schülern und Lehrern zeigen auf erschreckende Weise, wie sich die Waffenindustrie durchsetzen kann und Hürden für den Waffenerwerb durch Lobbytätigkeit, Kaufen von Spitzenpolitikern und großzügigen Wahlkampfspenden an die Regierenden gering gehalten werden.
Die Politikwissenschaftler Ulrich Brand und Markus Wissen (2017) machen deutlich, dass diese Form der kollektiven westlichen Gier und insbesondere der Bedürfnisstruktur der herrschenden und profitierenden Eliten in eine imperiale Lebensweise eingebunden ist. Imperiale Lebensweisen beruhen auf einer Mentalität, die davon ausgeht, dass ein Teil der globalen Gesellschaft berechtigt ist, von den Ressourcen, wie Arbeitskraft und Bodenschätze, des anderen Teils zu leben. Hierbei wird von den Profitierenden wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass ihr gutes Leben durch das schlechte Leben der anderen ermöglich werden könne. Ressourcenverschwendung, Umweltverschmutzung und Klimazerstörung werden für das eigene Lebensniveau in Kauf genommen. Die negativen Effekte werden aber zum großen Teil externalisiert, d.h. den ärmeren Teilen der Welt überlassen. Dies sei als hegemonialer Konsens in den Gesellschaften insbesondere des globalen Nordens aber auch im Denken der profitierenden und oftmals korrupten Eliten des globalen Südens verankert:
„Die imperiale Lebensweise ist ein wesentliches Moment in der Reproduktion kapitalistischer Gesellschaften. Sie stellt sich über Diskurse und Weltauffassungen her, wird in Praxen und Institutionen verfestigt, ist Ergebnis sozialer Auseinandersetzungen in der Zivilgesellschaft und im Staat. Sie basiert auf Ungleichheit, Macht und Herrschaft, mitunter auf Gewalt und bringt diese gleichzeitig hervor. Sie ist den Subjekten nicht äußerlich. Vielmehr bringt sie die Subjekte in ihrem Alltagsverstand (…) hervor, normiert sie und macht sie gleichzeitig handlungsfähig: als Frauen und Männer, als nutzenmaximierende und sich anderen überlegen fühlende Individuen, als nach bestimmten Formen des guten Lebens Strebende.“ [22] 
Dies bedeutet dann auch, dass Gier und imperiale Lebensweise kein losgelöstes psychologisches Konstrukt bzw. Lebensstilelement sind, sondern in den strukturellen Bedingungen des Produzierens und des Warencharakters der erzeugten Produkte verankert sind. So viel anzuhäufen und zu konsumieren, wie möglich, ist Merkmal des kapitalistischen Gesellschaftssystems. Immer mehr besitzen, Krisen ausnutzen und die Profitrate vergrößern, auf Wirtschaftswachstum setzen,  Mitmenschen als funktionales Humankapital zu behandeln, spekulative Gewinne erzielen, um das private Eigentum zu maximieren, sind Verhaltensweisen, die systemimmanent und Ausdruck eines allgemein anerkannten und medial verstärkten kapitalistischen Wertekonsenses sind.
Hegemonie in diesem Sinne heißt nicht nur, dass manifester Herrschaftsdruck ausgeübt wird, um die vorherrschenden Verhältnisse zu stabilisieren, sondern auch dass eine latente Manipulation der Menschen stattfindet. Es gelingt denjenigen Herrschaftsschichten, die im globalen Norden übermäßig von ungehemmten Wirtschaftswachstum, aber auch in Krisenzeiten in Zeiten der Rezession, profitieren, auch in den Mittelschichten bis in die sozial abgestuften Schichten hinein ein Bewusstsein zu verankern, dass der Kapitalismus, Profitstreben, Naturverschleiß, Konsumdenken, Niedriglöhne und bedingungslose Orientierung am Wirtschaftswachstum unumstößliche Größen sind. In diesem Sinne analysiert Alexander Behr (2022, 57):

„Dies führt dazu, dass relevante Teile der Bevölkerung den herrschenden Verhältnissen zustimmen und sie als alternativlos empfinden. Endloses Wirtschaftswachstum, die Ausbeutung von Mensch und Natur sowie die Entwicklung ständig neuer Konsumgüter gelten als Garanten für Wohlstand, Prosperität und Sicherheit. Über das anzustrebende Konsumniveau herrscht ein weitreichender gesellschaftlicher Konsens: Es gilt als wünschenswert und normal, dass eine mittelständische Familie eines oder mehrere Autos besitzt, aus Modegründen regelmäßig neue Kleidung kauft oder mit dem Flugzeug in den Urlaub fliegt. Wer dies nicht tut, dem fehlen in der Regel die Mittel dafür – nur eine Minderheit reduziert aus freier Entscheidung das eigene Konsumniveau.“

Ein Beispiel ökonomischer Gier: Cargill – „the worst company in the world“ (Mighty Earth)

Der Konzern ‚Cargill Incorporated‘ ist ein multinationales Unternehmen mit dem Sitz in Minnesota (USA), dessen weltweiter Umsatz in 2019 von 113,5 MRD Dollar auf 177 MRD Dollar in 2023 gesteigert wurde. [ 23] 

Nachfahren der Gründerfamilien Cargill und MacMillan besitzen etwa 85 Prozent des Unternehmens. Der Cargill-Konzern bietet verschiedene Produkte und Dienstleistungen an, die mit der Lebensmittelproduktion und -vermarktung in einen Zusammenhang stehen:

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Cargill Incorporated
·         „baut Baumwolle, Weizen, Ölsaaten, Mais, Gerste sowie Hirse an und verkauft, transportiert, lagert und verarbeitet die Rohstoffe;
·         stellt Futtermittel (und Zusatzstoffe) für Rinder, Schweine, Geflügel und Fische her, berät US-Bauern und bietet weltweit Risikomanagement-Dienstleistungen an;
·         ist der größte Hersteller von Rinderhackfleisch und bratfertigen Hamburgern weltweit, einer der Hauptkunden ist McDonald's, für den Cargill auch die Chicken McNuggets herstellt;
·         stellt Lebensmittel wie Kakao und Schokolade, Glasuren und Füllungen, Tortillas, Salz, Öle und Fette, Süßungsmittel, Fleisch- und Eiprodukte sowie hochverarbeitete Produkte her;
·         stellt Lebensmittelzusatzstoffe wie Stärke, Proteine, Emulgatoren, Pektine, Carrageene, Lecithine und andere chemische Produkte her;
·         stellt Beschichtungen für Pfannen und Backbleche, Zusatzstoffe für Kosmetika, Straßenbeläge, Biotreibstoffe, Straßensalz und Enteisungsmittel her.“ [24]
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Des Weiteren befasst sich Cargill mit Finanzdienstleistungen und stellt u.a. einen Hedge-Fonds (‚Black River Asset Management‘), der über zehn MRD Dollar an Vermögenswerten besitzt. 

In der breiten Öffentlichkeit und auch bei den Konsumenten ist dieser Konzern kaum bekannt, da er auf den Produkten als Zulieferer nicht benannt wird. Produkte von Cargill stecken in zahlreichen Lebensmitteln, ohne dass dies ersichtlich wird.

Die NGO Mighty Earth hat sich nun kritisch mit diesem multinationalen Unternehmen auseinandergesetzt, das inzwischen (2023) ca. 160.000 Mitarbeiter in 70 Ländern aufweist. Der frühere Kongressabgeordnete und derzeitige Vorsitzende von Mighty Earth, Henry Waxman, erhebt eine umfassende Anklage gegen das aus seiner Sicht extrem geldgierig und unmoralisch handelnde Unternehmen:

„The people who have been sickened or died from eating contaminated Cargill meat, the child laborers who grow the cocoa Cargill sells for the world’s chocolate, the Midwesterners who drink water polluted by Cargill, the Indigenous People displaced by vast deforestation to make way for Cargill’s animal feed, and the ordinary consumers who’ve paid more to put food on the dinner table because of Cargill’s financial malfeasance – all have felt the impact of this agribusiness giant. Their lives are worse for having come into contact with Cargill.“ [25]

Cargill sei wiederholt für den Verkauf minderwertigen und infizierten Fleisches bekannt geworden, finanziere die Zerstörung des Regenwaldes, z.B. in Brasilien oder in Bolivien, für den Sojaanbau und für Rinderweiden, betreibe ‚Land Grabbing‘ im großen Stil, und beziehe Produkte, z.B. Kakao-Bohnen, von afrikanischen Plantagen, die entführte Kindersklaven ausbeuten würden. [26]

Eine führende Menschenrechtsorganisation (International Labor Rights Fund (ILRF)) klagte bereits 2005 verschiedene Konzerne, u.a. Cargill, der massiven Verletzung von Kinderrechten an:

„A leading human rights organization and reputable civil rights firm filed suit against the Nestlé, Archer Daniels Midland, and Cargill companies today in Federal District Court in Los Angeles. The complaint alleges their involvement in the trafficking, torture, and forced labor of children who cultivate and harvest cocoa beans which the companies import from Africa. The suit was brought under two federal statutes, the Torture Victims Protection Act and the Alien Tort Claims Act.“ [27]

In den USA ist Cargill zudem mehrfach wegen der Verletzung der Luftreinheitsgesetze verklagt worden.

Das Unternehmen Cargill, das milliardenschwere Profite erwirtschaftet, ist ein multinationaler Agrarkonzern, der aus der Sicht von Mighty Earth für die Zerstörung ökologisch intakter Regionen und die Verwandlung in monokulturelle und chemisch zerstörte Gebiete verantwortlich ist:

„Cargill is America’s largest privately-owned company, surpassing the second place Koch Brothers by billions of dollars in annual revenues. Cargill is the corporate behemoth at the nexus of the global industrial agriculture system, a system that it has designed to convert large swaths of the planet into chemically dependent industrial scale monocultures to produce cheap meat, palm oil, and chocolate.“ [28]

Internationale Wirtschaftsregime, wie der Washington Consensus, aber auch zwischenstaatliche Wirtschaftsabkommen würden solchen Unternehmen die ungehinderten umwelt- und menschenfeindlichen Konzernaktivitäten erleichtern. Insbesondere Klagerechte der Konzerne im Rahmen bilateraler Verträge stellen die ungehemmte Investitionstätigkeit der Großkonzerne sicher. Anstatt diese Konzerne zu regulieren und zu kontrollieren, wird ihnen die Welt zur freien Nutzung überlassen. Hierhinter steckt ein zerstörerisches ökonomisches Freiheitsverständnis, das in seiner strukturellen Absicherung dafür sorgt, dass multinationale Konzerne zu den Gewinnern der Globalisierung und die Mehrheit der Menschen sowie ihre natürlichen Lebensvoraussetzungen zu Globalisierungsverlierern werden. Dies erfährt eine Steigerungsdynamik, solange die globalen Machtverhältnisse nicht einschneidend verändert und keine sozioökonomische Transformation hin zu einer komplexen Neuordnung gelingt, die von der Mehrheit der Menschen gewollt und getragen wird.

Fazit: Ungezügelte Profitgier ist Ausdruck destruktiver ökonomischer und politischer Ordnungen im Interesse der Reichen und Mächtigen. Koloniale Strukturen, die der Machtausdehnung und der Profitmaximierung des globalen Nordens dienten, finden ihre Verlängerung und Modifizierung in den globalen Ordnungsstrukturen der postkolonialen Zeit. Derartige, als kapitalistisch zu bezeichnende, privatwirtschaftliche Ordnungen geraten aufgrund ihrer systemisch bedingten Tendenz zur Selbstdestruktion nach scheinbar stabilen Phasen immer wieder in gewaltige Krisenentwicklungen, von denen insbesondere die ärmeren Teile der Gesellschaft betroffen sind.

Investitionen in Wertschöpfung über Produktion und Dienstleistungen werden zunehmend abgelöst über den spekulativen Einsatz von finanziellen Ressourcen auf den internationalen Finanzmärkten. Es entstehen riesige Spekulationsblasen, die in keinem Verhältnis zur realen Wertschöpfung mehr stehen. Das Platzen dieser Blasen kann systemisch noch funktionierende Ordnungen zerstören und die Existenz von Millionen Menschen vernichten. Wenn dies vor allem negative Auswirkungen auf die ärmsten Staaten im globalen Süden hat, dann kann dort von einer Verschärfung der Verteilungskämpfe sowie von zunehmender Armutsmigration ausgegangen werden.

Die Tendenz zu immer größeren multinationalen Unternehmenskonzentrationen führt zu außerparlamentarischen ökonomischen Gegenmächten, die einen massiven Einfluss auf Entscheidungen von Regierungen und weiteren Institutionen haben. Am Beispiel des multinationalen Konzerns Cargill wurden die Schäden derartiger Konzernaktivitäten im ökologischen, politischen und menschenrechtlichen Bereich skizziert, so wie sie die internationale NGO Mighty Earth erfasst hat und kritisiert.

Aber auch der ökonomischen und politischen Macht der Konzerne erwächst eine gegenhegemoniale Macht. Der Widerstand und die Proteste gegen die Neoliberalisierung in Form des Versuchs, problematische Freihandelsabkommen (MAI, TTIP, CETA, MERCOSUR …) zu installieren, zeigen den Konzernaktivitäten ihre Grenzen auf und lassen im erfahrbaren Transformationsprozess die Möglichkeiten einer gesellschaftlichen Neuordnung durchscheinen.

In diesem Sinne formulieren auch Brand/ Wissen (2017) zusammenfassend:

„Die imperiale Lebensweise beruht auf Exklusivität, sie kann sich nur solange erhalten, wie sie über ein Außen verfügt, auf das sie ihre Kosten verlagern kann. Dieses Außen schwindet jedoch, denn immer mehr Ökonomien greifen darauf zu, und immer weniger Menschen sind bereit oder in der Lage, die Kosten von Externalisierungsprozessen zu tragen. Die imperiale Lebensweise wird dadurch zum Opfer ihrer eigenen Attraktivität und Verallgemeinerung.“ [29] 



Anmerkungen zu Kapitel 1.1.1

[1] Marx/Engels (1848/1983, 27).
[2] Stiglitz (2019).
[3] Vgl. hierzu ausführlich u.a. Altvater (2006) und Wagenknecht (2008).
[4] Sabine Kurtenbach im Interview mit Jonas Seufert: https://www.fluter.de/politische-situation-in-suedamerika, 20.6.2019, 30.7.2019.
[5] Vgl. z.B. https://amerika21.de/video/129730/cia-verschwoerung-allende, 14.9.2015, 24.9.2019; insbesondere hier das Videointerview mit dem Lateinamerika-Experten Harald Neuber. Vgl. hierzu auch das Spiegel-Interview mit dem Dokumentarfilmer Patrizio Guzmán: https://www.spiegel.de/geschichte/40-jahre-pinochet-putsch-gegen-die-regierung-allende-nachts-hoerten-wir-die-schuesse-der-exekutionen-a-951404.html, 11.9.2013, 24.9.19.
[6] Vgl. Erhardt (2009).
[7] Vgl. u.a. Senghaas (1974).
[8] Vgl. hierzu in den Einzelheiten über die Macht der Konzerne Bode (2018).
[9] Vgl. Lenin (1917/1970, 94f.).
[10] Vgl. hierzu Kapitel 2.7.
[11] Vgl. Bode (2018, 33ff.).
[12] Vgl. ausführlicher hierzu Brand/ Wissen (2017)
[13] Zur Kritik am Washington Consensus und der entsprechenden institutionellen Politik vgl. auch Stiglitz (2002, 2010).
[14] Stiglitz (2019).
[15] Stiglitz (2019b).
[16] Chomsky (2000, 50).
[17] Lenin (1917/1970, 133).
[18] Vgl. auch Altvater (2006) und Scherrer (2015).
[19] Vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/384680/umfrage/verteilung-des-reichtums-auf-der-welt/, 3.1.2024, 6.2.2024. 

[20] Burchhardt (2017).[
21]
Burchhardt (2017).
[22] Brand/ Wissen (2017, 45)
[23] Vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/199621/umfrage/umsatz-und-gewinn-des-agrarunternehmens-cargill/, o.D., 21.9.2019  and 2023: https://www.cargill.com/about/doc/1432242761261/2023-cargill-annual-report.pdf, undated, 7.2.2024. 

[24] Kwasniewski (2019).
[25] In: https://stories.mightyearth.org/cargill-worst-company-in-the-world/index.html, o.D., 21.9.19.
[26] Vgl. hierzu die Quellenübersicht bei Mighty Earth: https://www.mightyearth.org/cargill_timeline, 9.7.2019, 20.9.2019.
[27] In: https://laborrights.org/releases/human-rights-watchdog-and-civil-rights-firm-sue-nestle-adm-cargill-using-forced-child-labor, 14.7.05, 21.9.19.[6] In: https://stories.mightyearth.org/cargill-worst-company-in-the-world/index.html, o.D., 21.9.19.[28] Brand/Wissen (2017, 15) 


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1.1.2    Widerstand gegen den neoliberalen Marktradikalismus


1.1.2.1 Die WTO-Proteste in Seattle

Die 1999 durch die WTO veranstaltete Welthandelskonferenz in Seattle [1] an der Nordwestküste der USA wurde zunächst von friedlichen Kundgebungen und Demonstrationszügen mit rund 50.000 Teilnehmern begleitet, die aus den unterschiedlichsten Schichten und Weltregionen kamen:
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 „Es ist ein buntes Volk, das den Mächtigen der Welt an diesem verregneten Morgen die Stirn bietet: Die Demonstranten, insgesamt fast 50 000, haben sich als Schildkröten oder Schmetterlinge kostümiert oder beschwören auf Regenmänteln den ‚Protest des Jahrhunderts‘. Farmer aus dem Mittleren Westen der USA sind ebenso dabei wie Regenwald-Schützer aus Frankreich, Greenpeace-Aktivisten aus Lateinamerika und Chinesen, die für Tibets Freiheit kämpfen. Schüler und Studenten skandieren den Namen jener Organisation, den einige, wie sie selber zugeben, vor kurzem noch gar nicht kannten: ‚Hey, hey, ho, WTO has to go!‘ Weg mit der Welthandelsorganisation!“ [2]
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Dann schlugen aber die zuvor durchweg friedlichen Proteste verschiedener globalisierungskritischer NGOs, darunter zahlreiche Gewerkschaftler, und engagierter Einzelpersonen von Seiten einiger militanter Kritiker der Welthandelsverhältnisse in Gewalt um. Sie griffen Delegierte an, blockierten Straßen und warfen Scheiben, u.a. von Mc Donalds und Nike, ein. Dies war allerdings, wie so häufig, eine kleine Minderheit, die sich nicht an die Aufforderung der Organisatoren hielt, gewaltfrei und kreativ zu protestieren. Das Ausmaß der gewalttätigen Aktionen wurde in den Medien anschließend in der Berichterstattung übertrieben, führte aber zu einer erhöhten Aufmerksamkeit in der Weltpresse und in den Nachrichtensendungen des Fernsehens.

Der Bürgermeister von Seattle verhängte eine nächtliche Ausgehsperre über die Innenstadt. Der Gouverneur des Staates Washington rief daraufhin den Notstand aus, und es wurde eine Bannmeile rund um den Tagungsort verfügt. Es wurde zudem die Nationalgarde und die Staatspolizei angefordert, deren Einsatz dann zu Übergriffen auch auf friedliche Demonstranten führte. [3]

Die Eröffnungszeremonie des WTO-Gipfels musste abgesagt werden, da für die Sicherheit der Delegierten nicht garantiert werden konnte. [4] Pressekonferenzen und erste WTO-Sitzungen konnten aufgrund der Blockade des Ministeriumsgebäudes nicht stattfinden. In den Eingängen des Konferenzgebäudes hatten sich Menschen aneinander gekettet.

Die politische Motivation zur Beteiligung an den Protesten war sehr unterschiedlich und reichte von Auffassungen, die eine Beeinträchtigung nationaler Anliegen durch die Liberalisierung des Welthandels sahen, über die Kritik an der fehlenden Transparenz der WTO-Entscheidungsprozesse bis hin zu wesentlich radikaleren Analysen, die sich grundsätzlich gegen den Weltkapitalismus und die internationale Herrschaft riesiger Konzerne, aber nicht prinzipiell gegen globalisierte Verhältnisse wandten – so die eher sozialistisch orientierten Gegner der WTO-Aktivitäten:

„Die Entwicklung einer politischen Bewegung gegen den globalen Kapitalismus benötigt vor allem eine bewusste Erkenntnis dessen, dass der Kapitalismus und nicht der zunehmend globale Charakter der modernen Gesellschaft der wirkliche Feind ist. Kapitalistische Globalisierung – d.h. die Unterordnung der Menschen unter die Profitinteressen einiger hundert gigantischer transnationaler Unternehmen – kann nicht durch die Hinwendung zu einem historisch veralteten System von relativ isolierten und nicht untereinander abgestimmten Volkswirtschaften bekämpft werden.“ [5] 

In Seattle wurde der erfolgreiche Widerstand gegen das ‚Multilaterale Abkommen über Investitionen‘ (MAI) fortgesetzt. Fast unbemerkt von der Weltöffentlichkeit sollte in den Jahren zuvor von Seiten der OECD versucht werden, den Investitionsschutz für multinationale Konzerne sogar über die Grenzen der OECD hinaus festzulegen. Dies hätte beispielsweise bedeutet, dass multinationale Konzerne eine nationale Regierung vor den umstrittenen und die staatliche Souveränität aushebelnden internationalen Schiedsgerichten auf Schadensersatz verklagen könnten, wenn ihre Investitionen, z.B. in Fracking, durch Umweltgesetze eines Nationalstaates behindert würden. Durch den entschiedenen Widerstand und die internationale Öffentlichkeitsarbeit verschiedener NGOs, u.a. der von Ralph Nader gegründeten Verbraucherschutz-Organisation ‚Publican Citizen‘, gelang es 1998 erfolgreich, dieses Ansinnen der Konzerne zu bekämpfen, das sich später wieder in bilateralen Verträgen einen Weg zu bahnen suchte. [6] [7]

Einer der Teilnehmer an den WTO-Protesten von Seattle beschrieb die Kreativität der Widerstandsformen, wie sie in vorherigen Protesten in dieser Form nicht zu beobachten war:

„Einer der bemerkenswertesten Aspekte dieser Aktion war die Präsenz von Kunst, Theater, Tanz und Lyrik: ein wahres Fest des Widerstands. Die Demos wurden aufgelockert mit riesigen Puppen, Kostümen (u.a. 240 Meeresschildkröten), schönen Transparenten, StelzenläuferInnen, SängerInnen, TänzerInnen, RapperInnen, und das Straßentheater (koordiniert vom Bread and Puppet Theater) war das professionellste und effektivste, das ich je gesehen habe. Mensch konnte sogar Kunst aus der Luft betrachten: nach mehreren kleineren Demos vor dem 30.11. half eine Künstlerin den Leuten, mit ihren Körpern Buchstaben zu formen, sodass von oben die Worte ‚Rise Up‘ (steht auf) zu lesen waren.“ [8]

Die Proteste in Seattle bewirkten eine erhebliche Störung der WTO-Konferenz, die letztlich ihre wirtschaftspolitischen Ziele in Seattle nicht realisieren konnte. Vor allem aber hoben sie erstmals die Welthandelsorganisation und ihren neoliberalen Ansatz internationaler Wirtschaftspolitik in den Fokus einer breiteren Weltöffentlichkeit. Weltweit begannen sich nun Menschen damit zu beschäftigen, welchen Einfluss die durch die WTO unterstützten Welthandelsverträge und die Liberalisierung des Welthandels auf die Entwicklung ärmerer Weltregionen sowie auf die Umwelt haben würden.

Die WTO-Proteste in Seattle waren für den Politikwissenschaftler Ulrich Brand Ausdruck von sich fortsetzenden und intensivierenden gegenhegemonialen Bewegungen – so Brand (2005b, 100):

„‘Seattle‘ war ein erster internationaler Kristallisationspunkt sozialer Bewegungen nach Jahren politischer Lähmung. Während die Proteste in den 1980er Jahren gegen Weltbank und IWF von der metropolitanen Solidaritätsbewegung getragen wurden und sich vor allem gegen die neoliberalen Strukturanpassungsprogramme in peripheren Ländern richteten, agieren die Initiativen heute wirklich global.“

1.1.2.2   Occupy Wall Street

Die antikapitalistische Bewegung ‚Occupy Wall Street‘ (OWS) entstand im September 2011 als eine Platzbesetzung mit Zelten in dem an die Wall Street direkt angrenzenden New Yorker Zuccoti Park in deutlicher Anlehnung an Platzbesetzungen im Zuge des ‚Arabischen Frühlings‘. Auch war die zuvor eingetretene Weltwirtschafts- und -finanzkrise ein wichtiger Hintergrund für die OWS-Proteste. Der Beginn der Occupy-Bewegung wurde möglich durch das Zusammenspiel verschiedener Gruppierungen und sozialer Netzwerke in den Medien, wie z.B. der konsumkritischen kanadischen Zeitschrift ‚Adbusters‘ oder des Hackerkollektivs ‚Anonymous‘, die zur Beteiligung an der globalisierungskritischen Platzbesetzung aufriefen. Die politische Intention richtete sich insbesondere gegen die Aktivitäten des internationalen Finanzkapitals. Auch wurde ein eigener (umkämpfter) Twitter Account @OccupyWallStNYC eingerichtet, über den mit großer Breitenwirkung kommuniziert wurde. Im Selbstverständnis der OWS-Bewegung sieht sie sich als basisdemokratische, multikulturelle, friedliche und Kapitalismus kritische Bewegung:

„Occupy Wall Street is a leaderless resistance movement with people of many colors, genders and political persuasions. The one thing we all have in common is that We Are The 99% that will no longer tolerate the greed and corruption of the 1%. We are using the revolutionary Arab Spring tactic to achieve our ends and encourage the use of nonviolence to maximize the safety of all participants.“ [9]

Die Platzbesetzung in New York führte zu weiteren Platzbesetzungen in den USA, z.B. in Portland und Oakland, sowie auch im Ausland, z.B. in Frankfurt vor dem Gebäude der Europäischen Zentralbank oder in Hamburg vor dem Gebäude der HSH Nordbank. In London gab es Platzbesetzungen an verschiedenen Orten. In Rom demonstrierten ca. 150.000 Menschen im Oktober 2011. In Spanien unterstützte die Graswurzelbewegung ‚iDemocracia real ya!‘ (‚Echte Demokratie Jetzt!‘) die zum 15.10.2011 weltweit ausgerufenen OWS-Proteste. In 82 Ländern und 911 Städten wurde mit mehreren Millionen Teilnehmer_innen demonstriert.[10]

Auch in New York kam es zu begleitenden Demonstrationen, z.T. unterstützt von verschiedenen Gewerkschaften. Die Zugänge zur New Yorker Börse und zu Goldman Sachs wurden blockiert, was zu Auseinandersetzungen mit der New Yorker Polizei und zu Verhaftungen führte.

Die Platzbesetzer verwalteten sich horizontal, d.h. unter Verzicht auf Hierarchien. Es fanden tägliche Versammlungen mit Reden und Beratungen auf dem zu seinem ursprünglichen Namen zurückbenannten ‚Liberty Plaza‘ statt. Forderungen wurden auf occupywallst.org gepostet oder in der Zeitschrift ‚Occupied Wallstreet Journal‘ veröffentlicht. Zahlreiche Prominente, wie z.B. Michael Moore, Susan Sarandon, Naomi Klein, Josef E. Stiglitz, Noam Chomsky und Immanuel Wallerstein, unterstützten OWS, hielten Reden, bekundeten öffentlich ihre Solidarität. Die Aussage „We are the 99 percent.“ wurde zum Slogan von OWS.

Die politischen Forderungen von OWS sind nicht einheitlich, zwar in der Tendenz antikapitalistisch, aber durch ein weites Spektrum sozialistischer bis anarchistischer Kritik an den Auswüchsen des Finanzkapitalismus gekennzeichnet. In diesem Kontext wurden insbesondere immer wieder Forderungen nach einer Regulierung des Bankensystems, Reichensteuern sowie Spekulationssteuern erhoben. In dem 2011 geposteten Manifest lässt sich immerhin folgendes zusammenfassendes Selbstverständnis entnehmen:
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„Wir sind hier friedlich versammelt, wie es unser Recht ist, um folgende Tatsachen bekannt zu machen... Sie haben uns mit illegalen Zwangsvollstreckungsmaßnahmen unsere Häuser weggenommen, ohne über die Originalhypothek zu verfügen. Sie haben sich ungestraft vom Steuerzahler aufkaufen lassen, und geben ihren Managern nach wie vor exorbitante Bonuszahlungen ... Sie haben Politikern, die dafür verantwortlich sind, sie zu regulieren, riesige Summen von Geld gewährt (...) Sie setzen die Ungleichheit und Diskriminierung am Arbeitsplatz fort, nach Alter, Hautfarbe, Geschlecht, Geschlechteridentität und sexueller Orientierung (...) Sie haben mit ihrer Fahrlässigkeit die Nahrungsmittelversorgung verseucht und die Landwirtschaft durch Monopolisierung untergraben. Sie haben Profit gemacht durch das Quälen, Einpferchen und die grausame Behandlung zahlloser Tiere, und diese Praktiken verbergen sie auch noch bewusst. Sie haben in ihrem Profitstreben absichtsvoll lebensgefährliche fehlerhafte Produkte nicht zurückgenommen (...) Sie versuchen fortwährend, Beschäftigte ihres Rechts auf Lohnverhandlungen und Verhandlungen zur Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen zu berauben. Sie haben beständig Arbeitsplätze ins Ausland verlagert, und das als Hebel benützt, um Lohn und Gesundheitsvorsorge bei den Arbeitern zu kürzen (...) Sie haben unser Privatleben als Ware verkauft (...) Die Liste ließe sich beliebig erweitern (...)“  [11]
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Im Winter 2011/2012 verebbte dann die eigentliche Occupy-Bewegung bzw. wurden auch die Zelte der im Winter weniger werdenden Protestierenden von der Polizei weggeräumt. Das letzte Occupy-Zeltlager verschwand wohl 2014 in Tel Aviv. [12] Es kam aber zu zahlreichen globalisierungskritischen Nachfolgeprojekten, und es waren wichtige Kontakte im Zuge der OWS-Bewegung entstanden, die zu weiteren Vernetzungen und Kooperationen führten. Die Social Media Accounts von OWS wurden weiterhin benutzt. [13]

Ähnlich wie die Folgen der 1968er Bewegung werden die über OWS geprägten jungen Menschen ihren Weg durch die öffentlichen Institutionen, durch die Parteien und NGOs gehen und ihre Erfahrungen in die neuen Arbeitszusammenhänge und in ihr politisches Engagement einbringen. Selbst wenn derartige Bewegungen nur eine Zeit lang in der Weltöffentlichkeit präsent sind und sich in ihrer organisatorischen Eigenart auflösen, geht ihr Einfluss nicht verloren – so die deutsche Journalistin und Autorin Caroline von Eichhorn (2016):

„Aktivisten aus dem Ursprungslager im New Yorker Zuccotti Park beispielsweise engagieren sich im ‚Debt Collective‘, einer Organisation, die aufzeigt, wie viele Menschen unter Schulden leiden, und Streiks oder andere Aktionen dagegen organisiert. Viele Ideen der „99 Prozent“ kanalisieren sich wieder dort, wo sie auch vor und während Occupy schon waren: in der Politik. Wie bei Bernie Sanders, der für die Demokratische Partei als Bewerber um die US-Präsidentschaftskandidatur antrat. Wie bei den von Occupy inspirierten Parteien Podemos in Spanien und Syriza in Griechenland.“

1.1.2.3   G20-Proteste in Hamburg

Die G20-Proteste in Hamburg im Juli 2017, die insbesondere durch die gewalttätigen Exzesse im Hamburger Schanzenviertel bekannt wurden, bezogen sich auf ein G20-Gipfeltreffen in der Hansestadt. Im Zentrum der G20 stehen die wirtschaftlich stärksten und politisch einflussreichsten Industrie- und Schwellenländer sowie die EU. [14] Die G20-Staaten repräsentieren 85% der globalen Wirtschaftsleistung und drei Viertel des Welthandels. [15]

Im Selbstverständnis einer der maßgeblichen Akteure der G20, der Bundesrepublik Deutschland, bilden die G20-Gipfel der Regierungschefs sowie die mehrmals jährlich stattfindenden Treffen der Finanzminister und Notenbankchefs der G20 ein wichtiges ordnungspolitisches Regulierungsinstrument und eine wirkungsvolle Möglichkeit, weltwirtschaftliche Krisen zu bekämpfen – so ist auf der Homepage des deutschen Bundesfinanzministeriums zu lesen:

„Die G20 besteht seit 1999 und wurde während der Finanzkrise 2008/2009 zum wichtigsten Forum für die wirtschaftspolitische Koordinierung auf globaler Ebene. Heute ist die G20 das bedeutendste Forum für internationale Ordnungspolitik und Regulierung. Die Zusammenarbeit der G20 hat maßgeblich zur Stabilisierung der Volkswirtschaften und der Finanzmärkte nach der Krise 2008/2009 beigetragen. Bis heute prägen die Folgen der Krise die Arbeit der G20. Zunehmend geht es aber auch darum, durch vorausschauende Zusammenarbeit mögliche neue Krisen zu vermeiden, aus Erfahrungen zu lernen und die Volkswirtschaften widerstandsfähiger zu machen.“ [16]

Auf dem G20-Gipfel 2017 in Hamburg wurden u.a. die Themen der Partnerschaft mit afrikanischen Ländern, Vertreibung, Migration und Flucht, Klimaschutz, Rechte der Frauen, Steuergerechtigkeit, Digitalisierung und die UN-Entwicklungsziele 2030 verhandelt. Einerseits bekannten sich die G20-Staaten zum Freihandel und wandten sich gegen nationalstaatlichen Wirtschaftsprotektionismus. Andererseits nahm die USA für sich in Anspruch, protektionistische Maßnahmen zum Schutze ihrer Wirtschaft vorzunehmen. Während Klimaschutz normalerweise über die Stärkung regenerativer Energieerzeugung definiert wird, betonte die USA des Weiteren auf dem Gipfel, dass sie andere Staaten von einer ‚sauberen‘ Nutzung von Kohle, Öl und Gas überzeugen wolle. Auch bestärkte damals unter der Trump-Regierung die USA ihren Willen, aus dem Pariser Klimaschutzabkommen auszusteigen, welches allerdings von den anderen G20-Staaten deutlich unterstützt wurde – inklusive China und Russland. [17]

Im Zentrum der Kritik an den G20-Staaten steht aus der Sicht von Organisationen, wie z.B. ATTAC, Campact oder Greenpeace, der fehlende Beitrag dieser Staaten zur Beseitigung der globalen sozialen Ungerechtigkeit, der Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum, Ressourcenausbeutung und Umweltverschmutzung sowie die Unterstützung von Freihandelsabkommen, die insbesondere den Konzerninteressen dienen würden.

Am 5./6. Juli 2017 wurde ein Gegengipfel von der Heinrich-Böll-Stiftung, ATTAC und dem BUND veranstaltet, auf dem die Frage nach einem anderen Wirtschaftssystem im Vordergrund stand, das Armut und soziale Ungleichheit beseitigen würde. Auf diesem Gegengipfel fanden 70 Veranstaltungen statt, an denen etwa 1500 Interessierte teilnahmen. Am Vorabend des Gipfels fand ein Konzert für die Solidarität mit ärmeren Weltregionen ‚Global Citizen Festival‘ mit 12.000 Zuhörern statt. Die angemeldete Großdemonstration mit mehreren 10.000 Teilnehmern unter dem Motto ‚Grenzenlose Solidarität statt G20‘ zum Abschluss des Gipfels verlief friedlich. In den Gipfel-Tagen selbst, vor allem am 7./8. Juli, fanden jedoch insbesondere im Hamburger Schanzenviertel kriegsähnliche Szenen im Zuge der Proteste gegen den G20-Gipfel statt, die z.T. auch noch in den nächsten vier Tagen anhielten. Anhaltende Auseinandersetzungen zwischen Spezialeinheiten der Polizei und Gewaltbereiten führten zu einer aus der Kontrolle geratenen Gewaltspirale. Polizisten wurden mit Molotow-Cocktails, mit Zwillen und Eisenstangen angegriffen. Es gab ca. 200 verletzte Polizisten. Brennende Barrikaden wurden auf den Straßen angelegt. Es kam zu von schwarz gekleideten und maskierten bzw. vermummten Protestierern gelegten Bränden, zu vereinzelten Plünderungen von Geschäften. Autos wurden in Brand gesetzt. Wasserwerfer, Schlagstöcke und Pfefferspray wurden von Seiten der Polizei eingesetzt. Mehrere Hundert Menschen wurden festgenommen.

Einige Augenzeugenberichte im Originalton zu den Vorgängen:

„Am Nachmittag wirkte es an vielen Stellen noch wie ein Straßenfest. Auf der Reeperbahn saßen Leute vor den Läden und tranken; vielleicht auch, um ihre Geschäfte zu schützen. Erst gegen Abend eskalierte es immer wieder. Vor allem an den Brennpunkten rund um Fischmarkt, Messehalle, Sternschanze, Reeperbahn und Hafenstraße.“

„Als wir die Schanzenstraße entlangliefen, rannte uns ein Mann mit einem iPad entgegen. Dann sahen wir, dass ein Apple-Laden geplündert wurde. Eine Frau versuchte verzweifelt, die Tür zuzuhalten und rief: ‚Ihr nennt euch Antikapitalisten? Was für eine Scheiße!‘“

„Vielen Polizisten konnte man ansehen, dass sie übermüdet waren und Angst hatten. Es war für alle Beteiligten einfach scheiße.“

„Am Nachmittag war alles verhältnismäßig friedlich. Erst gegen 19 Uhr schaukelte sich die Stimmung auf dem Schulterblatt hoch bis zur puren Aggression. Da ging es absolut nicht mehr um Politik, sondern nur noch um die Entladung von Gewalt und Frust. Das war keine Kapitalismuskritik. Viele der Leute waren sehr jung, vielleicht 14 oder 15, maximal 20. Sie schienen die Gelegenheit zu nutzen, ohne Konsequenzen Scheiße zu bauen. Dazwischen legte der militante Block Feuer und entglaste Schaufenster. Da viele komplett in Schwarz gekleidet und vermummt waren, konnte man oft nicht sagen, wer zu wem gehört.“ [18]

Hinsichtlich des Protests gegen den G20-Gipfel in Hamburg lag der mediale Fokus vor allem auf den gewalttätigen Ausschreitungen im Schanzen-Viertel. Hier zeigt sich die Problematik gewalttätiger Ausschreitungen im Kontext friedlicher Proteste in vollem Ausmaß:

·         Der friedliche, diskursive und kreative Anteil von Protestformen der Mehrheit wird im Falle gewalttätiger Ausschreitungen einer Minderheit weniger beachtet und gerät zur Marginalie. Dies bietet interessierten Medien daher die Möglichkeit, von dem eigentlichen globalisierungskritischen Anliegen der Mehrheit der Demonstrierenden abzulenken, indem vor allem spektakuläre und die gesamte Bewegung herabsetzende Gewaltszenen gezeigt werden.

·         Gewalttätiger Protest enthüllt zwar die angestaute Wut angesichts der fehlenden Problemlösungsfähigkeit bzw. des Unwillens vieler Regierungen, die soziale Ungerechtigkeit im globalen Maßstab, die notwendigen Schritte zur Friedenssicherung sowie die wirkungsvolle Klimapolitik zu beschließen. Andererseits zeigt sich auch von Seiten der gewaltförmig Protestierenden die Unfähigkeit, zu friedlichen Problemlösungsansätzen beizutragen. Widerstand und Protest sollte m.E. bereits die neue Qualität einer zukünftigen Gesellschaftsform hervor scheinen lassen. Dies ist im Werfen von Molotow-Cocktails, im Anzünden von PKWs, im Plündern von Geschäften oder im Werfen von Steinen auf Polizisten nicht zu erkennen. Eine derartige Widerstandsform ist auf seine Weise ähnlich inhuman wie die Gewalttätigkeit weltweiter Strukturen der Ungleichheit und in seiner Wirkung kontraproduktiv und abzulehnen.

·         Aus dem Blick gerät durch die Wucht der medialen Berichterstattung die grundsätzliche Kritik an dieser Form der G-Diplomatie. Zwar werden Organisationen, wie die Afrikanische Union (AU), die Asiatisch-Pazifische Wirtschaftsgemeinschaft (APEC) und die Organisation Neue Partnerschaft für die Entwicklung Afrikas (NEPAD) zu den G20-Gipfeln eingeladen. Dennoch haben sie kein Stimmrecht. Die meisten Länder – insbesondere bis auf Südafrika alle afrikanischen Staaten – sind von der G-Diplomatie – sei es G7/G8 oder G20 – ausgeschlossen und müssen das akzeptieren, was ohne sie beschlossen wurde. Der richtige Ort für derartige Diskussionen und Entscheidungsprozesse wäre jedoch bei den zuständigen Gremien der Vereinten Nationen zu suchen – unter der Voraussetzung, dass hier zukünftig ein demokratischer und transparenter Ort für derartige Prozesse geschaffen würde. [19]


Anmerkungen zum Kapitel 1.1.2 

[1] Es handelte sich hier um die dritte Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation.
[2] https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-15188884.html, 6.12.1999, 5.11.2019.
[3] Vgl. https://www.graswurzel.net/gwr/2000/01/ein-wahres-fest-des-widerstands/, 1.1.2000, 5.11.2019.
[4] https://www.spiegel.de/politik/ausland/seattle-strassenschlachten-ueberschatten-wto-gipfel-a-54872.html, 1.12.1999, 5.11.2019.
[5] https://www.wsws.org/de/articles/1999/12/wto-d09.html, 9.12.1999, 5.11.2019.
[6] Vgl. https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-15188884.html, 6.12.1999, 5.11.2019.
[7] Hilfreich war letztlich hierbei, dass Frankreich sich im Dezember 1998 gegen Mai wendete.[8] Dieses Zitat stammt von Vivien Sharples, einer Aktivistin der NGO ‚War Resisters League‘, die u.a. die WTO-Proteste vorbereitet hatte. Vgl. https://www.wsws.org/de/articles/1999/12/wto-d09.html, 9.12.1999, 5.11.2019.
[9] In: http://occupywallst.org/, 28.10.2019, 6.11.2019.
[10] Vgl. https://www.bpb.de/politik/wirtschaft/finanzmaerkte/135540/occupy-bewegung?p=all, 9.5.2012, 6.11.2019.
[11] Manifest von 2011, in: https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/occupy-wallstreet-gegen-1-uebermacht-profiteure, o.D., 6.11.2019.
[12] Vgl. https://www.fluter.de/was-ist-aus-occupy-geworden, 9.9.2016, 6.11.2019.
[13] Die Zusammenstellung der Ereignisse wurde vorgenommen u.a. aufgrund der Dokumentationen auf http://occupywallst.org/, 28.10.2019, 6.11.2019, https://www.zeit.de/campus/2018-09/occupy-wall-street-protestbewegung-nordamerika-erlebnisse/seite-3, 2018, 6.11.2019; Vgl. https://www.bpb.de/politik/wirtschaft/finanzmaerkte/135540/occupy-bewegung?p=all, 9.5.2012, 6.11.2019, https://www.fluter.de/was-ist-aus-occupy-geworden, 9.9.2016, 6.11.2019, https://de.wikipedia.org/wiki/Occupy_Wall_Street, 28.9.2019, 67.11.2019 sowie https://www.nytimes.com/2014/09/18/nyregion/occupy-wall-streets-twitter-account-is-focus-of-lawsuit.html, 17.9.2014, 6.11.2019.
[14] Neben der EU (Vertreter der EU-Ratspräsidentschaft, der EU-Kommission und der Europäischen Zentralbank) gehören folgende Staaten zu G20: Argentinien, Australien, Brasilien, China, Deutschland, Frankreich, Vereinigtes Königreich, Indien, Indonesien, Italien, Japan, Kanada, Mexiko, Russland, Saudi Arabien, Südafrika, Republik Korea, Türkei und die USA. Vor den Gipfeln gibt es Treffen und Gespräche mit verschiedenen NGOs; auch sind transnationale Institutionen eingeladen, wie z.B. die WTO oder die Afrikanische Union.
[15] Vgl. https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/
Themen/Internationales_Finanzmarkt/G7-G20/G20-7292.html, 4.1.2019, 7.11.2019.
[16] In:https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/Themen/
Internationales_Finanzmarkt/G7-G20/G20-7292.html,4.1.2019, 7.11.2019.
[17] Vgl. http://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/251308/g20-gipfel-03-07-2017, 3.7.2017, 7.11.2019; https://www.tagesschau.de/inland/g-zwanzig-beschluesse-101.html, 9.7.2017, 7.11.2019; https://www.zeit.de/politik/2017-07/g20-gipfel-hamburg-live, 9.7.2017, 7.11.2019.
[18] In: https://www.vice.com/de/article/bjxvm3/eingekesselt-zwischen-plunderern-und-sek, 8.7.2017, 7.11.2019.
[19] Vgl. z.B. die Konzeption eines Demokratischen Weltparlaments auf der Ebene der Vereinten Nationen in Kap. 5.3 






 

Extra:

Ergänzender Artikel zum Buchtext

Widerstand gegen den Energy Charter Treaty (ECT)

 

von Klaus Moegling

26.10.2022, letzte Aktualisierung: 5.11.2022


Eine Handvoll junger Menschen aus Europa klagt gegen den Energie-Charta-Vertrag. Sie wollen verhindern, dass multinationale Energiekonzerne zukünftig Staaten, die sich in der sozialökologischen Transformation befinden, vor internationalen Schiedsgerichten verklagen können. Auch zahlreiche NGOs und mehrere EU-Regierungen kritisieren den Ende des Jahres auf europäischer Ebene zur Abstimmung stehenden Vorschlag der EU-Kommission eines modernisierten ECT.

(Inzwischen hat die deutsche Bundesregierung den Austritt aus dem Energie-Charta-Vertrag beschlossen. Allerdings sind noch 20 Jahre Klagen von Energie-Konzernen gegen sich sozialökologisch transformierende Staaten möglich (siehe unten))

Kaum bemerkt von der Öffentlichkeit unterzeichneten u.a. die EU-Staaten rechtsverbindlich 1994 einen 1998 in Kraft getretenen internationalen Vertrag, der insbesondere dazu diente, Investitions- und Handelssicherheit für multinationale Energiekonzerne zu schaffen, die damals in den rechtlich unsicheren Verhältnissen in Osteuropa und Zentralasien investieren wollten. Inzwischen sind dem Energy Charter Treaty (ECT) 51 Staaten aus Europa und Asien sowie die EU und EURATOM beigetreten. Des Weiteren bezieht sich der Vertrag – entgegen seiner ursprünglichen Intention – nun auch maßgeblich auf die energiewirtschaftliche Investitionstätigkeit innerhalb der EU. Der Vertrag, der das Risiko für eine Investitionstätigkeit im Bereich der Energiewirtschaft postsowjetischer Staaten vermindern sollte, führte vor allem zu Klagen gegen EU-Staaten in Milliardenhöhe. Besonders strittig ist hierbei die im Vertrag verankerte Funktion internationaler Sondergerichte, die zum Teil in den USA sitzen und EU-Recht nicht anerkennen. Sie entscheiden in intransparenten Verfahren, wenn ein Konzern einen Staat verklagt, der ökologische Reformen vornimmt, von denen sich dieser Konzern benachteiligt fühlt. So verklagte RWE den niederländischen Staat, da dieser den Kohleausstieg auf das Jahr 2030 vorziehen wollte. Auch die hohen Abfindungssummen des deutschen Staates für den schwedischen Konzern Vattenfall im Zuge des deutschen Ausstiegs aus den Kernkraftwerken sind vor dem Hintergrund des ECT zu sehen. So klagte beispielsweise auch der britische Ölkonzern Rockhopper Explorations den Staat Italien aufgrund verweigerter Bohrgenehmigungen vor der italienischen Küste (Region Abruzzen). Slowenien wurde verklagt, da es von Konzernen ein Gutachten zur Umweltverträglichkeit von Fracking verlangte. Bis heute sind 150 Investorenklagen vor dem Hintergrund des ECT bekannt. [1]
Der Absatz 16 des Vertrags über die Energiecharta legt die Bestimmungen zu den Sondergerichten fest:
„Ist ein Investor einer anderen Vertragspartei der Auffassung, daß eine Regierung ihren nach den Investitionsschutzbestimmungen zu erfüllenden Verpflichtungen nicht nachgekommen ist, dann kann der Investor vorbehaltlich der bedingungslosen Zustimmung der Vertragspartei im Hinblick auf die Beilegung entweder das nationale Gericht befassen oder eine internationale Schiedsstelle (ICSID, die Zusatzeinrichtung des ICSID, das UNCITRAL oder die Stockholmer Handelskammer) einschalten.“ [2]
Dies bedeutet, dass unter dem Vorwand des Investitionsschutzes Staaten mit Milliardenklagen multinationaler Energiekonzerne überzogen werden können, wenn sie konsequente Maßnahmen gegen die eintretende Klimakatastrophe ergreifen oder der Gefährlichkeit von AKWs und der fehlenden Entsorgung radioaktiven Materials begegnen wollen. Hierbei können nicht nur entstandene Kosten sondern auch entgangene Gewinne eingeklagt werden. Derartige Vertragsdetails werden nur selten in der Medienöffentlichkeit thematisiert. Die Berliner Zeitschrift ‚Der Tagesspiegel‘, auf die sich hier u.a. bezogen werden soll, war eine der wenigen Zeitschriften, die ausführlich über die Problematik des Energiecharta-Vertrags und die laufenden Verhandlungen im Jahr 2022 berichteten [3]

Europäische Regierungen fordern einschneidende Reformen des ECT

Die NGO ‚Investigate Europe‘ [4] berechnete, dass es zukünftig um ein Klagevolumen von ca. 345 Milliarden Euro (!) gegen EU-Staaten gehen werde. Hierbei ist in diese Berechnung insbesondere der geschätzte Wert von erschließbaren Öl- und Gasfeldern im europäischen Raum eingeflossen.
Regierungen würden bereits im Vorfeld gesetzlicher Regelungen mögliche Investorenklagen von Energieunternehmen berücksichtigen und ihre Gesetzgebung entsprechend anpassen. Die Sorge vor Investorenklagen würde daher die notwendigen Gesetze für eine konsequente Bekämpfung der Klimakrise verhindern.
Seit 2017 sind daher angesichts dieses Klagerisikos Forderungen europäischer Staaten nach einer einschneidenden Veränderung des Energiecharta-Vertrags erhoben worden. Die EU-Kommission verhandelte dann auch einen veränderten ECT und bezeichnete das neue Vertragswerk [5], das im Juni 2022 abgeschlossen wurde, als Verhandlungserfolg, da er nun den EU-Klimazielen angepasst sei. Doch verschiedene europäische Vertragsstaaten sahen dies anders. Zwar würden neue fossile Unternehmensinvestitionen zukünftig nicht mehr durch den Vertrag geschützt werden. Der Schutz gelte nun vor allem für Investitionen in Wasserstoff und erneuerbare Energien, aber bereits bestehende Investitionen in die Fossilwirtschaft würden noch weitere 10 bis 20 Jahre Investitionsschutz und damit verbunden die Klagemöglichkeit vor den fragwürdigen internationalen Schiedsgerichten besitzen. Investitionen in die Förderung von Gasvorkommen würden sogar noch bis 2040 geschützt sein. Dies wäre ein erhebliches Hindernis für die gerade in der nächsten Dekade zu leistenden Energiewende und den wirkungsvollen Kampf gegen die Klimakrise.

Problematisch ist auch im Modernisierungsvorschlag der EU-Kommission der zeitlich unbegrenzte Schutz von Kernkraftwerken, da die mit der zivilen Nutzung der Atomenergie verbundenen Probleme noch nicht gelöst sind (wenn dies überhaupt lösbar ist). 

Aber auch den bisherigen Energie-Charta-Vertrag unterstützende Staaten, wie Japan und Großbritannien sowie Erdöl exportierende Staaten wie Kasachstan und Turkmenistan, wenden sich gegen  den reformierten ECT der EU-Kommission [6]. Derartige auf Fossilwirtschaft und z.T. auf Atomindustrie basierende Staaten möchten überhaupt keine Veränderungen des ursprünglichen ECT vornehmen. So kündigt Japan an, den modernisierten Vertragsvorschlag der EU-Kommission zu blockieren.

Forderungen nach dem Austritt aus dem Energiecharta-Vertrag

Dementsprechend überlegen derzeit verschiedene europäische Staaten, aus dem internationalen Vertragswerk des ECT auszusteigen. Italien hat den ECT bereits 2016  aufgekündigt. Spanien und die Niederlande wollen ebenfalls voraussichtlich den ECT verlassen, Deutschland und Frankreich prüfen die Möglichkeit, den Vertrag auch unter den reformierten Bedingungen zu kündigen.
In einem offenen Brief von 78 internationalen Klimawissenschaftler:innen kritisieren diese den Reformentwurf und fordern u.a. von der EU-Kommission und dem Rat der EU einen Austritt aus dem Energie-Charta-Vertrag, da ansonsten aufgrund der staatlichen Maßnahmen gegen die Klimakrise eine Vielzahl von Investor-State-Dispute-Settlements (ISDS, also Klagen von Investoren vor internationalen Schiedsgerichten) zu erwarten seien – so die Wissenschaftler:innen:
„By maintaining in the modernised ECT the protection of foreign investment in existing fossil fuels, EU countries will have to choose between keeping the existing fossil fuel infrastructure running until the end of their lifetimes or facing new ISDS claims. Both options will jeopardise the EU climate neutrality target and the EU Green deal.“ [7]
Diese Kritik an dem Entwurf eines modernisierten Energiecharta-Vertrags wird von zahlreichen NGOs, wie z.B. dem Climate Action Network Europe (CAN) oder ATTAC geteilt. Bereits 2021 zählte die Süddeutsche Zeitung [8] in ihrem Bericht über den ECT Hunderte Wissenschaftler und mehr als 250 Mitglieder des Europäischen Parlaments, die einen Austritt aus dem ursprünglichen Vertrag fordern würden. Mehr als eine Million Menschen in Europa hatten im März 2021, bereits zwei Wochen nach deren Veröffentlichung, eine Petition [9] gegen den ECT unterschrieben.
Der modernisierte Energie-Charta-Vertrag muss nun im November 2022 einstimmig von den ECT-Vertragsparteien angenommen werden. Dies ist sicherlich fraglich, ob eine derartige Annahme des Entwurfs der EU-Kommission gelingen wird. Auch müssen hiernach der EU-Rat und das EU-Parlament dem Vertragsentwurf zustimmen. Des Weiteren müssten die nationalen Parlamente der Mitgliedsstaaten dem Vertrag zustimmen. Dies wäre ein Prozess, der sich noch Jahre hinziehen könnte. [10]

Im September 2021 hatte übrigens bereits der Europäische Gerichtshof (EuGH) ein Urteil gefällt, dass die Anwendung von Bestimmungen des Energiecharta-Vertrags auf Rechtsansprüche im innereuropäischen Verhältnis europarechtlich nicht zulässig sei. Die Klage innereuropäischer Gegnerparteien vor internationalen Schiedsgerichten sei nicht mit dem europäischen Recht vereinbar. Gegner des ECT würdigten daher das EuGH-Urteil als die Beerdigung des Vertragswerkes. Dennoch hielt dies Unternehmen und Schiedsgerichte nicht davon ab [11], weitere Klagen einzureichen bzw. zuzulassen. 

Eine 17-jährige Klimaaktivistin von Fridays for Future klagt gegen den ECT.

Gemeinsam mit einigen anderen jungen europäischen Klimaaktivisten reichte die Schülerin Julia, die aus dem von der Klimakrise massiv betroffenen Ahrtal stammt, im Juli 2022 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Klage gegen zwölf europäische Staaten ein. Die Klage will erreichen, dass diese Staaten aus dem Energiecharta-Vertrag austreten. Eine französische Anwältin und mehrere NGOs unterstützen diese Klage.
Julia, die die katastrophalen Folgen der Klimakrise im Ahrtal selbst erfahren hat, ist der Auffassung, dass der Energiecharta-Vertrag den Kampf gegen die Klimakrise erschweren bzw. behindern würde. Er sei im Interesse der Fossilwirtschaft verfasst, auch in seiner modernisierten Form, und sei mit der notwendigen Energiewende im Sinne der Pariser Klima-Verträge unvereinbar. Die Klagemöglichkeit von Energie-Konzernen gegen Staaten in Milliardenhöhe stellt aus ihrer Sicht eine Verhinderung von staatlichen Maßnahmen zum Schutz des Klimas und damit auch eine massive Beeinträchtigung der Menschenrechte dar – so Julia:
„Ich habe das erlebt. Ich weiß, was Klimakrise macht. Also wenn so etwas passiert und nicht ausreichend gehandelt wird, was muss dann noch passieren? (…) Ich fühle mich direkt in meinen Menschenrechten verletzt.“ [12]

Austritt oder einschneidende Reform des ECT?

Der Austritt von Staaten aus dem Energiecharta-Vertrag, die mit der sozialökologischen Transformation angesichts der Klimakrise ernst machen wollen, scheint auf den ersten Blick ein plausibles Anliegen zu sein. Italien hat bereits 2016 diesen Schritt gewagt. Fakt aber ist, dass Italien, laut Vertrag, von 2016 an noch 20 Jahre von Fossilunternehmen verklagt werden kann, wenn Italien deren Investitionen behindere bzw. beeinträchtige. Ein Austritt europäischer Staaten würde also in den nächsten beiden, für die Bekämpfung der Klimakrise entscheidenden, Dekaden wenig ändern. Daher müsste m.E. eher eine deutlichere Überarbeitung des Energy Charta Treaty mit dem Ziel erfolgen, vor allem Investitionssicherheit für Energieunternehmen zu schaffen, die in erneuerbare Energien und in die zukünftige Wasserstoffwirtschaft investieren. Eine weitere Klagefrist für Fossilunternehmen vor Sondergerichten ist im Einklang mit europäischem Recht auszuschließen.
Der bisherige Modernisierungsvorschlag der EU-Kommission ist daher kritisch zu betrachten, da er zudem noch zwischen 10-20 Jahren Investitionssicherheit und die entsprechende Klagemöglichkeit vor internationalen Schiedsgerichten für die Fossilwirtschaft (Öl, Gas, Kohle) gewährleistet. Auch müsste das intransparente Klageverfahren zugunsten einer Klagemöglichkeit vor europäischen Gerichten beseitigt werden, die den Rechtsansprüchen des EuGH entsprechen. Eine weiterhin geltende Paralleljustiz widerspricht [13] europäischem Recht.
Es verwundert, dass über die genannten Aktivitäten im Widerstand gegen die Modernisierung des ECT kein größeres Protestpotenzial in der europäischen Bevölkerung ausgelöst wird – so wie es vor ein paar Jahren bei den weltweiten Protesten gegen die internationalen Investitionsschutz- und Handelsabkommen TTIP und CETA noch der Fall war.
Eine weitere Information [14] der internationalen Journalisten-NGO ‚Investigate Europe‘ könnte hier noch einmal als Weckruf wirken – nämlich,
·         „dass an den Schiedsgerichten ein kleiner Zirkel von Anwälten tätig ist, die mitunter in den Verfahren mal als Schiedsrichter und mal als Anwalt fossiler Konzerne arbeiten. Im Gespräch mit ‚Investigate Europe‘ nennt ein Schiedsrichter dies unethisch. Die Gehälter der Schiedsrichter sind zudem nahezu unbegrenzt und werden auch aus Steuergeldern bezahlt.
·         dass selbst Juristen das System der Schiedsrichter und des Energiecharta-Vertrags längst kritisch sehen. In Gesprächen mit ‚Investigate Europe‘ bezeichneten sie dieses als ‚russisches Roulette‘ sowie als ‚historischen Fehler‘.“
Die gegenwärtigen Ereignisse um den Krieg in der Ukraine scheinen die Öffentlichkeit sehr stark in ihrer Aufmerksamkeit zu fokussieren und von anderen drängenden Fragen abzulenken. Es ist zumindest zu hoffen, dass u.a. die Mitglieder des EU-Parlaments der Tragweite zukünftiger Beschlüsse hinsichtlich des Energiecharta-Vertrags weiterhin ihre kritische Aufmerksamkeit zuwenden. Wenn das EU-Parlament seine kürzlich beschlossene Resolution [15] zur Beendigung fossiler Energiewirtschaft und zur Stärkung erneuerbarer Energien ernst nimmt, dann kann es keine Klagemöglichkeit zwischen 10 und 20 Jahren hinnehmen, wenn Konzerne ihre an fossiler Energieproduktion orientierten Interessen beeinträchtigt sehen. Hier ist das EU-Parlament gefordert, sich nicht wieder – wie bei der Zustimmung zum Greenwashing der EU-Nachhaltigkeits-Taxonomie [16] – den Vorgaben der EU-Kommission mehrheitlich zu beugen.

Der ursprüngliche, noch geltende, Energy Charter Treaty ist der Versuch der neoliberalen politischen und ökonomischen Fraktion des Kapitalismus, Extra-Profite auf Kosten der Steuerzahler herauszuholen und gleichzeitig die Abkehr von der Nutzung fossiler Rohstoffe zu behindern. Hier handelt es sich um einen massiven Versuch der Privatisierung öffentlicher Gelder. Auch der modernisierte Vertragsentwurf ist noch z.T. von den Problemen des ursprünglichen Vertrags belastet. Wenn aber die Transformation des ECT nicht gelingt, würde sich an dieser Situation erneut die Unvereinbarkeit von Demokratie und ungebremstem Kapitalismus zeigen. Die Mehrheit der Bevölkerung würde sicherlich nicht einsehen wollen, warum sich Fossilkonzerne noch in der entscheidenden Phase sozialökologischer Transformation und der Bekämpfung der bereits eintretenden Klimakatastrophe mit Hilfe von intransparenten Klagen vor internationalen Schiedsgerichten auf ihre und nachfolgender Generationen Kosten bereichern können. 

Fazit und offene Fragen 

Meiner Meinung nach sollte eine radikale Modernisierung des Vertrags nach einem möglichen Veto des EU-Parlaments zum aktuellen Modernisierungsvorschlag der EU-Kommission versucht werden. Hierbei sollte ein Investitionsschutz für Ökologie feindliche Konzerne (Öl, Gas, Kohle) ausgesetzt werden. Auch dürften Investitionen in Kernkraftwerke zukünftig nicht mehr durch den modernisierten ECT geschützt werden, da hier weder die Entsorgungsmöglichkeit noch die Frage der Reaktorsicherheit geklärt sind. 

Der Investitionsschutz darf sich nur auf Investitionen in die sozialökologische Transformation beziehen. Wenn eine derartige Modernisierung des ECT auf EU-Ebene nicht gelingt (was wahrscheinlich ist), sollten immer mehr Staaten aus dem Energiecharta-Vertrag aussteigen, bis dieser dadurch unwirksam wird bzw. kaum noch internationale Relevanz besitzt. Die Regierungen von Spanien, der Niederlande, Polens, Sloweniens sowie Italiens (bereits ausgetreten) haben bereits entsprechende Ankündigungen vorgenommen. Deutschland und Frankreich denken derzeit über einen Austritt nach. Voraussetzung hierfür ist, dass z.B. die europäische Gerichtsbarkeit sich gegen die europarechtliche Missachtung von Seiten der internationalen Schiedsgerichte durchsetzt und die Beendigung der Gültigkeitsklausel des ECT erreicht wird, die austretende Staaten noch zu 20 Jahren Investitionsschutz für Investitionen in fossile Energien verpflichtet ('Sunset-Klausel').
Anschließend ist auf globaler Ebene, z.B. unter dem Dach der UN, ein neuer Investitionssicherungsvertrag für Investitionen im Kampf gegen die eintretende Klimakatastrophe auszuhandeln, an dem alle UN-Staaten teilnehmen können. Dieser Vertrag müsste ohne die eine intransparente Paralleljustiz darstellenden internationalen Schiedsgerichte auskommen können. Im Konfliktfall müssten die nationale Gerichtsbarkeit und die zuständigen UN-Institutionen ausreichen, wenn ein Staat seinem Investitionsschutz nicht nachkommt. Hierbei ist auch über die Einrichtung eines multilateralen Gerichtshofs unter dem Dach der UN nachzudenken, im Rahmen dessen unabhängige und auf internationales Recht spezialisierte Richter Klagen gegen staatliche Verstöße gegen den Schutz von Klima-Investitionen verhandeln. [17] 
Offene rechtliche sowie politisch zu klärende Fragen könnten sein:
* Die internationalen Schiedsgerichte erkennen das EuGH-Urteil von 2021 nicht an, das besagt, dass die zwischen europäischen Gegnern durchgeführten internationalen Schiedsgerichtsverfahren nach EU-Recht unzulässig sind. Welches Recht gilt nun? 

* In diesem Sinne: Wie stark sind Staaten überhaupt an internationale Schiedsgerichtsverfahren gebunden, wenn deren Urteile EU-Recht und auch nationalem Recht widersprechen würden? 

* Sind internationale Schiedsgerichte, deren Mitglieder überhaupt keine Richter sind und die intransparent entscheiden, überhaupt für Demokratien zulässig? 

* Was passiert, wenn die EU zu keiner mehrheitsfähigen Auffassung kommt, ob sie den modernisierten Vertrag akzeptiert oder für einen Ausstieg plädiert? 

* Wie kann eine Investitionssicherheit für Investoren auf internationaler Ebene initiiert und durchgesetzt werden, die in erneuerbare Energien investieren? 
* Wie kann eine Diskriminierung von binnenländischen Investoren verhindert werden, die z.B. als Genossenschaften in Windparks investieren? Der ECT - auch die modernisierte Variante - schützt nur Konzerne aus anderen ECT-Staaten.

* In diesem Zusammenhang ist zu klären: Was sind überhaupt erneuerbare Energien? Auch Biogas,  Biomasse? Wasserstoff? Was ist mit Techniken wie z.B. 'Carbon capture' und 'Carbon storage'?
* Inwieweit ist ein neuer auf regenerative Energien ausgerichteter ökologischer Investitionssicherungsvertrag mit der Nachhaltigkeits-Taxonomie der EU kompatibel, die in einem umstrittenen Verfahren die Nachhaltigkeit von Kernkraft und Gas unter bestimmten Voraussetzungen festlegt? (Dies wird allerdings von Österreich vor dem EuGH beklagt.)
* Was bedeutet die vorgesehene Ausweitung des ECT auf ca. 40 weitere Staaten in Afrika und Südostasien für die Zukunft dieser Länder, von denen viele Staaten Entwicklungsländer sind?
* Müsste nicht der Investitionsschutz für Investitionen der Fossilindustrie auch aus anderen internationalen Investitionsschutz- und Handelsverträgen herausgenommen werden, wie z.B. bei CETA?
* Und letztlich: Müsste die Entwicklung eines ökologisch orientierten Investitionssicherungsvertrags nicht eine dringende Angelegenheit der UN sein, wenn der künftig geltende Energiecharta-Vertrag gegen die Klimaschutzziele der Vereinten Nationen verstoßen und deren Umsetzung behindern sollte? Sollten die UN nicht initiativ für die Einrichtung eines qualifizierten, unabhängigen und an transparenten Verfahren interessierten multilateralen Gerichtshof werden, der Investitionsstreitigkeiten verhandelt?

Dies alles sind m.E. wichtige Fragen, die es im politischen Diskurs zu klären gilt, wenn am 22.11.2022 die ECT-Vertragsstaaten ihre Entscheidung zum Modernisierungsvorschlag der EU-Kommission gefällt haben. Die umfassende Tragweite und Vielschichtigkeit eines derartigen Vertrags dürfte deutlich gemacht haben, dass bei neuen Vertragsverhandlungen verantwortungsvoller mit dem Blick auf die Klimaentwicklung und damit verbunden auch mit den sozialen Verwerfungen umgegangen werden muss, die letztlich ein derartiger Investitionsschutz- und Handelsvertrag auslösen kann. [18] 

 

 
(Dies ist ein überarbeiteter und aktualisierter Artikel, der ursprünglich in einer früheren Fassung in Telepolis unter dem Titel ‚Julia gegen den Energiecharta-Vertrag‘ publiziert wurde. In: Telepolis, https://www.heise.de/tp/features/Julia-gegen-den-Energiecharta-Vertrag-7317343.html, 23.10.2022, 24.10.2022.)
 

Anmerkungen:

[1] Vgl. zur Anzahl der Investorenklagen in Anmerkung 1: https://endfossilprotection.org/sites/default/files/2022-06/2022-06-21%20Letter%20from%20climate%20scientists%20to%20EU%20leaders.pdf, o.D., entnommen 26.10.2022, vgl. zu den Beispielen für Klagen u.a. https://www.energiezukunft.eu/politik/italien-verliert-energiecharta-prozess-und-soll-oelkonzern-millionen-zahlen/, 26.8.2022, 26.10.2022.
[2] Text der Energiecharta: https://www.energycharter.org/fileadmin/DocumentsMedia/Legal/ECT-de.pdf, 1.10.1996, 26.10.2022.
[3] Vgl. z.B. Schulz, Florence (2022): Ringen um die Energiecharta. In: https://background.tagesspiegel.de/energie-klima/ringen-um-die-energiecharta, 21.6.2022, 21.10.2022 u. Schmidt, Nico (2022): Fliehkräfte in der Energiecharta wachsen. In: https://background.tagesspiegel.de/energie-klima/fliehkraefte-in-energiecharta-wachsen, 18.8.2022, 21.10.2022.
[4] Vgl. https://www.investigate-europe.eu/de/2021/energiecharta-vertrag/, Februar 2021, 26.10.2021.
[5] https://www.euractiv.com/wp-content/uploads/sites/2/2022/06/Agreement-in-principle-ECT_FS.pdf?_ga=2.172897254.419498057.1666437145-801624528.1643693634, 24.6.2022, 26.10.2022.
[6] Vgl. https://www.sueddeutsche.de/politik/energiecharta-klimaziele-schiedsgerichte-klagen-1.5223327, 4.3.2021, 21.10.2021.
[7] Vgl. https://endfossilprotection.org/sites/default/files/2022-06/2022-06-21%20Letter%20from%20climate%20scientists%20to%20EU%20leaders.pdf, o.D., 26.10.2022.[8] Vgl. https://www.sueddeutsche.de/politik/energiecharta-klimaziele-schiedsgerichte-klagen-1.5223327, 4.3.2021, 21.10.2021.
[9] Vgl. https://www.energiezukunft.eu/politik/austritt-unausweichlich/, 12.3.2021, 26.10.2022.
[10] Vgl. Schmidt, Nico (2022): Fliehkräfte in der Energiecharta wachsen. In: https://background.tagesspiegel.de/energie-klima/fliehkraefte-in-energiecharta-wachsen, 18.8.2022, 21.10.2022.
[11] Vgl. https://background.tagesspiegel.de/energie-klima/eugh-erklaert-energiecharta-vertrag-fuer-nicht-anwendbar, 3.9.2021, 26.10.2022.
[12] Nonninger, Bruno (2022): Julia aus dem Ahrtal klagt in Straßburg gegen den Klimaschutz. In: https://www.swr.de/heimat/eifel-ahr/warum-die-17-jaehrige-julia-aus-dem-ahrtal-in-strassburg-klagt-100.html, 22.7.2022, 26.10.2022.
[13] Vgl. hierzu https://www.windkraft-journal.de/2022/10/19/energiecharta-vertrag-ect-ermoeglicht-fossilen-konzernen-gegen-die-energiewende-zu-klagen/180736, 19.10.2022, 21.10.2022.
[14] Vgl. https://www.investigate-europe.eu/de/2021/energiecharta-vertrag/, Februar 2021, 26.10.2022.
[15] Vgl. https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/B-9-2022-0461_EN.html, 11.10.2022, 26.10.2022.
[16] Vgl. die kritische Analyse zur von der EU-Kommission vorgestellten und u.a. vom EU-Parlament mehrheitlich beschlossenen Nachhaltigkeits-Taxonomie: Moegling, Klaus (2022): Ist der Slogan "Atomkraft? – Nein danke!" jetzt zukunftsfeindlich?
https://www.heise.de/tp/features/Ist-der-Slogan-Atomkraft-Nein-danke-jetzt-zukunftsfeindlich-6346228.html, 3.2.2022, 26.10.2022.

[17] Vgl. hier die entsprechenden Vorschläge in: Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (o.D.): Investitionsschutz. In: https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Artikel/Aussenwirtschaft/investitionsschutz.html, o.D., 4.11.2022. 

[18] Die NGO PowerShift ruft zu Eingaben an die Bundesregierung auf, damit Deutschland aus dem ECT aussteigt. Diese Aktion wird international und mit Bezug auf weitere nationale Regierungen durchgeführt. Dauer der Aktion: Bis zum 31.12.2022. Vgl. https://power-shift.de/exit-ect/, o.D., 5.11.2022. 

 

1.2  Politische Krisen: Krise der UN, Rückzug der Demokratien und Wiederkehr autoritärer Herrschaftsformen

Thomas Hobbes berühmter Ausspruch „Homo homini lupus est“ [1], deckt sich mit der in den Realismustheorien vertretenen Einschätzung internationaler Beziehungen, die von der Raubtiermentalität der Staaten ausgeht, die in einer chaotischen und ungelenkten weltpolitischen Situation, also ohne eine übergreifende ordnende Hand, übereinander herfallen würden. Als Konsequenz müssten dann alle Staaten bis ins Unendliche in gegenseitiger Konkurrenz aufrüsten, um andere als gefährlich eingestufte Staaten besiegen zu können. Hobbes Lösung zur Beendigung des chaotischen Zustands innerhalb einer Gesellschaft war ein starker Herrscher bzw. eine starke staatliche Macht, die den „bellum omnium contra omnes“– „Krieg aller gegen alle“ – beenden würde. Überträgt man diese Einschätzung auf internationale Verhältnisse, so müsste hier eine starke Zentralgewalt auf der weltpolitischen Ebene gefordert werden, der sich alle Staaten per Vertrag unterwerfen würden. Allerdings widerspricht diese Forderung dem immer noch in der Charta der Vereinten Nationen dominant verankerten nationalstaatlichen Souveränitäts-Gebot, das den UN nur eingeschränkte Handlungsmöglichkeiten einräumt. Auch ließe sich dies nur vertretbar legitimieren, wenn die UN-Entscheidungsstrukturen tatsächlich demokratischen Anforderungen entsprächen. 

 

Anspruch und Wirklichkeit der Vereinten Nationen

Die United Nations Organization (UNO) sollte von ihrem Gründungsverständnis her tatsächlich zur lenkenden Macht der internationalen Beziehungen werden, im Rahmen derer über internationale Aushandlungsprozesse auf diplomatischem Wege vertretbare Kompromisse in Konfliktsituationen gefunden werden sollten. Dies entspräche dann dem Zugang der Institutionalismustheorie, die von einem institutionalisierten Interessensausgleich auf der internationalen Ebene ausging – so wie es in der Präambel der UN-Charta zugrundegelegt wurde.
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 „WIR, DIE VÖLKER DER VEREINTEN NATIONEN – FEST ENTSCHLOSSEN, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat,
unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen,
Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können,         
den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit zu fördern,
UND FÜR DIESE ZWECKE Duldsamkeit zu üben und als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben, unsere Kräfte zu vereinen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren,
Grundsätze anzunehmen und Verfahren einzuführen, die gewährleisten, daß Waffengewalt nur noch im gemeinsamen Interesse angewendet wird, und internationale Einrichtungen in Anspruch zu nehmen, um den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt aller Völker zu fördern – HABEN BESCHLOSSEN; IN UNSEREM BEMÜHEN UM DIE ERREICHUNG DIESER ZIELE ZUSAMMENZUWIRKEN.“ [2]
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Die Zunahme von Kriegen unterschiedlichster Form, die Klimakatastrophe, weltweite Ungerechtigkeit in der Eigentums- und Vermögensverteilung, der Hunger in der Welt, aber auch die Notwendigkeit zur Bekämpfung von Pandemien erfordern eine starke, demokratisch organisierte und leistungsfähige UN im Interesse aller Völker. Die UN dienen jedoch – so die im weiteren Verlauf zu begründende These – aufgrund ihrer undemokratischen und oligarchischen Organisationsstruktur vor allem der Interessendurchsetzung der als fünf ständige Mitglieder im Sicherheitsrat vertretenen Atommächte, was den in der Charta-Präambel festgelegten Grundsätzen deutlich widerspricht.

Die UN-Vollversammlung repräsentiert fast alle Staaten und müsste eigentlich die zentrale Entscheidungsmacht darstellen. Doch ein wesentliches Merkmal des Demokratiedefizits der Vereinten Nationen ist bereits in der Rekrutierung der Mitglieder der Vollversammlung angelegt: Es handelt sich bei den Mitgliedern der UN-Vollversammlung um keine demokratisch gewählten Delegierten, sondern um diplomatische Beamte der einzelnen Nationen, die weisungsabhängig sind. Auch die weltpolitischen Beschlüsse der UN-Vollversammlung haben nur empfehlenden Charakter. Derartige Entscheidungen und Resolutionen der UN-Generalversammlung sind völkerrechtlich nicht bindend.

Der Sicherheitsrat und dort vor allem die mit einem Veto-Recht ausgestatteten ständigen Mitglieder sind das eigentliche Machtorgan, ohne dass die USA, Russland, die VR China, England sowie Frankreich über ein dies legitimierendes demokratisches Mandat verfügen würden. Ihre Macht ist gesetzt und resultiert aus dem Ausgang des 2. Weltkriegs sowie aus dem Besitz von Atomwaffen. Durch ihr Veto-Recht ist der Sicherheitsrat häufig in kontroversen Fragen blockiert und beschlussunfähig, da hier noch keine universalistische Orientierung, sondern vor allem die Ausrichtung der UN-Politik an nationalen geostrategischen Interessen vorliegt. Hinzu kommt, dass der UN-Sicherheitsrat nicht repräsentativ ist, d.h. große Nationen, wie z.B. Indien oder Brasilien, oftmals nicht vertreten sind.[3]

Die Politikwissenschaftler James Cockayne (UK) und Christoph Mikulaschek (USA) sehen den Silocharakter voneinander getrennter institutioneller Bereiche und die institutionellen Revierkämpfe zwischen den verschiedenen Institutionen („institutional silos and turf Wars“) als eine wesentliche Ursache für die fehlende Effizienz der UN hinsichtlich der Lösung transnationaler Problemstellungen. Sie sprechen hier die Konkurrenz zwischen der UN-Generalversammlung und dem UN-Sicherheitsrat am Beispiel des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus an: 

„An example of the challenges of overcoming these institutional barriers to improved response to transnational security challenges is counterterrorism. The twenty-four different parts of the UN system engaged in counterterrorism have repeatedly been the subject of structural reform proposals. While the coordination and cooperation among the counterterrorism bodies has recently improved, none of the far-reaching structural reform proposals has been implemented thus far. One of the reasons underlying the structural reform deadlock is an ongoing struggle between the Security Council and the General Assembly over control of the UN’s counterterrorism program. Only when such turf wars can be resolved will the UN improve its capacity to respond to transnational security challenges.“ (Cockayne/Mikulaschek 2008,4)

Des Weiteren überlässt das Prinzip nationalstaatlicher Souveränität sowie die damit verbundene Nicht-Einmischungspolitik in innere Angelegenheiten den einzelnen Nationen bzw. deren Regierungen die Entscheidung, ob sie die ‚Human Rights‘ respektieren oder ihre Bevölkerungen unterdrücken. Alle Versuche scheiterten bisher, die UN-Charta eindeutig im Sinne des bisher umstrittenen ‚responsibility to protect‘ zu reformieren. Es gibt noch kein allgemein anerkanntes völkerrechtliches Mandat für die UN, bei massiven Verstößen gegen die Menschenrechte, z.B. hinsichtlich des allem überzuordnenden Freiheitsrechts und des Rechts auf körperliche Unversehrtheit aktiv zu werden. Auch gibt es kein UN-Mandat, bei der Vernichtung für die Menschheit unverzichtbarer ökologischer Ressourcen, z.B. hinsichtlich der Regenwälder, bei der fehlenden Vorsorge gegen die Ausbreitung Menschheits gefährdender Viren auch gegen das Votum der unterdrückenden, gefährdenden bzw. zerstörenden nationalen Regierung in innere nationalstaatliche Angelegenheiten einzugreifen.

Zudem dürfte für eine Neuorientierung der UN nicht förderlich sein, dass die USA der größte Geldgeber der Vereinten Nationen sind. 22% des UN-Kernbudgets werden von den USA bestritten [4], die mit ihrem Geldfluss auch konkrete Politik betreiben, wie z.B. das Zurückziehen der US-UNESCO-Gelder im Falle einer gegen die Interessen der USA gefällten Entscheidung [5] oder das Streichen der Gelder für UN-Aktionen gegen den Klimawandel belegen.

Es ist zu bezweifeln, ob die Vereinten Nationen in dieser Verfassung aufgrund der strukturellen Demokratiedefizite derzeit noch als ernstzunehmender Akteur im Rahmen einer wirkungsvollen Friedens- und Sicherheitsarchitektur mit konfliktpräventiver Funktion, wie es in Artikel 1 der UN-Charta festgelegt ist, anzusehen sind. [6]

Nur eine radikal-demokratische Reform der UN und damit verbunden eine Neuordnung der internationalen Beziehungen im Rahmen der Vereinten Nationen können hier entgegensteuern. [7]

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Artikel 1 der UN-Charta

„Die Vereinten Nationen setzen sich folgende Ziele:
1. den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken und internationale Streitigkeiten oder Situationen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen oder beizulegen;
2. freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln und andere geeignete Maßnahmen zur Festigung des Weltfriedens zu treffen;
3. eine internationale Zusammenarbeit herbeizuführen, um internationale Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art zu lösen und die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen;
4. ein Mittelpunkt zu sein, in dem die Bemühungen der Nationen zur Verwirklichung dieser gemeinsamen Ziele aufeinander abgestimmt werden.“ [8]
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Auch werden die Vereinten Nationen zunehmend von regionalen Bündnissen, z.B. im Falle des Syrien-Kriegs Russland, und die Türkei, sowie durch die ‚Club Governance‘ (G 7/8 oder G 20) unterlaufen, bei denen sich einflussreiche Staaten verselbstständigen und sich nicht an die Grundsätze der UN-Charta halten bzw. die Einflussmöglichkeiten anderer Staaten hintertreiben.

Der langjährige UNO-Berichterstatter und Journalist Andreas Zumach wendet sich in diesem Zusammenhang dagegen, von der UNO als einen einzigen Akteur zu sprechen, der wie eine Person oder eine homogene Regierung handele. Dies verkenne, dass die Vereinten Nationen aus einer Vielzahl nationalstaatlicher Akteure bestünden, die – mit unterschiedlichem Gewicht – ihre Interessen durchzusetzen versuchen – so Zumach (2021, 14):

„Tatsächlich bestimmen die Mitgliedsstaaten das Handeln der UNO. Ob sich die UNO überhaupt um ein Problem kümmert oder nicht, ob sie dabei erfolgreich ist oder scheitert – das ist immer das Ergebnis der Interessen von Mitgliedsstaaten, die sich bei den Entscheidungen des Sicherheitsrates, der Generalversammlung oder anderer Gremien und Institutionen des UNO-Systems entweder durchsetzen oder nicht. Allerdings setzen sich die Mitgliedsstaaten mit hohem politischem, wirtschaftlichem und militärischem Gewicht besonders häufig durch und bestimmen das Handeln der UNO. Diese Tatsache sowie der Umstand, dass einige dieser übergewichtigen Mitgliederstaaten, insbesondere die USA, die UNO-Charta und andere Bestimmungen des Völkerrechts in den letzten Jahren in besonders eklatanter Weise gebrochen haben, ohne dass diese Verstöße irgendwelche Folgen hätten, haben inzwischen bei vielen langjährigen Befürwortern der UNO zur resignativen bis zynischen Abkehr geführt.“

Allerdings plädiert Zumach entgegen dieser resignativen Abwendung von der UNO im Laufe seines Buches – angesichts der durchaus feststellbaren friedenpolitischen Leistungen der UNO in den letzten 75 Jahren – für eine strukturelle Reform der UNO und eine konsequente Demokratisierung der Vereinten Nationen.
Hierbei müssten m.E. auch die Interessen des Globalen Südens, so unterschiedlich sie sind, eine deutlichere Berücksichtigung finden. Auch wenn die USA dies nicht wahrhaben wollen, befindet sich die internationale Politik auf dem Weg zu einer multipolaren Struktur. Der Globale Süden ist sich seiner kolonialen Vergangenheit und der noch immer in diesem historischen Zusammenhang wirkenden postkolonialen Struktur durchaus bewusst. Dieser historische Kontext spiegelt sich auch in den Machtverhältnissen des UN-Sicherheitsrats wieder, in dem kein einziger Staat des Globalen Südens Mitglied im Kreis der mit Macht ausgestatteten ständigen Mitglieder ist. Der Globale Süden wird zwar vom Globalen Norden sowie China und der Russischen Föderation vor allem wegen seiner Bodenschätze hofiert, aber Welthandels- und internationale Entscheidungsstrukturen sprechen eine andere Sprache. Doch es lägen erhebliche Chancen in einer verstehenden, achtungsvollen und partnerschaftlichen Berücksichtigung des globalen Südens – so die im Umgang insbesondere mit afrikanischen Staaten erfahrenen Politikwissenschaftler Johannes Plagemann und Henrik Maihack (2023, 23):

„Ein besseres Verständnis der Unterschiede in der Wahrnehmung der internationalen Politik zwischen dem Globalen Süden und dem Westen wird drängender, je mehr der Westen an seiner Dominanz verliert. Die Menschheitsaufgabe der Klimakrise kann in einer multipolaren Welt nicht durch den Westen allein gelöst werden. Neue politische Allianzen zwischen globalem Norden und Süden werden notwendig, um globale Krisen zu lösen. Zumal eine multipolare Welt zumindest das Potenzial für eine gleichberechtigtere und damit demokratischere internationale Ordnung bietet. Die ist auch im langfristigen Interesse der deutschen und europäischen Außenpolitik. Wir müssen den Blick der Länder des Globalen Südens auf die internationale Politik besser verstehen, denn es lohnt sich. Dort, wo wir bislang vor allem Risiken sehen, warten eigentlich Chancen.“



„The future belongs to patriots“ – oder die Vergangenheit?

Die Rede des US-Präsidenten Donald Trump im September 2019 vor der 74. UN-Generalversammlung macht die bewusst im nationalchauvinistischen Sinne vorgenommene Schwächung der UN ebenfalls deutlich. Trump wagte es, den Vertretern der Vereinten Nationen ihre Legitimität im Sinne einer multilateralen Verständigungsgemeinschaft abzusprechen, indem er formulierte:

„If you want freedom, take pride in your country,“ Trump fuhr fort, „If you want Democracy, hold on to your sovereignty. If you want peace, love your nation. Wise leaders always put the good of their own people and their own country first.“ Und: “The future does not belong to globalists. The future belongs to patriots.“ [9]

Hier wiederholte er seine bereits zuvor vor den UN vorgebrachte provokative Aussage, dass die Zukunft nicht dem Weltbürgertum sondern den nationalstaatlichen Patrioten gehöre. Demokratie könne nur im nationalstaatlichen Rahmen erhalten werden. Nur Menschen, die ihre Nation lieben, tragen automatisch zum Frieden in der Welt bei. Geschichtsvergessener kann man sich wohl nicht äußern. Immer waren national-patriotische Einstellungen und nationalistisch gefütterte Emotionen Begleiterscheinung und massenpsychologisch hergestellte Motivation zwischenstaatlicher Kriege.

Klugheit in der politischen Führung besetzt er mit dem Nationalchauvinismus ihrer politischen Führer, vergleichbar mit dem „America first“. Dass Trump sich dies in seiner Funktion als US-Präsident vor den Vereinten Nationen erlauben konnte, ist Ausdruck der derzeit zu beobachtenden Schwächung der Vereinten Nationen, die sich gegen eine derartige Verhöhnung ihres eigenen Anspruchs hinsichtlich der Multilateralität und Völkerverständigung nicht wirkungsvoll wehren kann.

Auch die nationalstaatliche Demokratie ist in der Krise

Doch nicht nur auf der Ebene der Vereinten Nationen lassen sich Demokratiedefizite feststellen, auch zahlreiche Nationalstaaten mit ehemals demokratischem Selbstanspruch sind in der Krise. 

Bereits vor mehreren Jahrzehnten kritisierte der deutsche Sozialwissenschaftler Tilman Evers (1991, 3f.) zutreffend das Demokratiedefizit traditionell repräsentativ organisierter Demokratien:

„Dazu zählen Politikverdrossenheit und Vertrauensschwund in der Bevölkerung, Zurichtung politischer Inhalte auf Wahltermine und Medienöffentlichkeit, Ausblendung längerfristiger und programmatisch ‚querliegender’ Themen, Parteidisziplin statt Diskussions- und Lernoffenheit, hierarchische Binnenstrukturen und Ämterpatronage, Aushöhlung des Parlaments zugunsten der Exekutive und Kompetenzbehauptung statt Problemlösung.“

Der britische Sozialwissenschaftler Colin Crouch publizierte erstmals 2004 seinen weit verbreiteten Essay über die Postdemokratie [10]. Die westlichen Demokratien seien auf dem Weg zu einem postdemokratischen Zustand, in dem Demokratie nur noch formal vorhanden sei. Demokratie werde vor allem formal über Wahlen organisiert, bei denen vor allem über das entschieden werde, was PR-Agenturen, welche die Parteien beraten, für relevant halten. Der Staat verzichte zunehmend auf Interventionen in die Wirtschaft und überlasse der Ökonomie und den dahinter stehenden, profitierenden Eliten die wesentlichen gesellschaftlichen Entscheidungen. Während sich die nationalen Demokratien kaum weiter entwickelt hätten, unfähig zur internationalen Zusammenarbeit seien, entwickelte sich die internationale Verflechtung der Konzerne im Zuge der fortgeschrittenen Globalisierung weiter:

„Ich sage nicht, dass es die Demokratie nicht mehr gibt. Aber ich sage, dass wir uns auf einen Zustand zubewegen, den ich Postdemokratie nenne. Damit meine ich eine Situation, in der zwar alle Institutionen der Demokratie weiterbestehen – und teilweise sogar gestärkt werden –, aber gleichzeitig die politische Energie aus ihnen entwichen ist. Sie sind nur noch leere Hüllen. (…) Die Probleme, die sich heute der Politik stellen – ob Umweltschutz, die Verknappung der Ressourcen, die Kontrolle über die globalisierte Wirtschaft –, lassen sich mit den Instrumenten der nationalen Demokratie nicht mehr fassen. Das geht einfach nicht mehr, das ist sinnlos. Daraus entsteht eine Frustration, die zum Verlust politischer Energie führt.“ (Crouch 2008)

Demokratie in einem idealen Sinne als partizipative Politikform vollziehe sich kaum noch im repräsentativen Politiksystem, sondern zeige sich eher in sozialen Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen, die noch am ehesten Widerstand gegen die geballte Macht der Konzerne leisten würden. Crouch sieht das Stadium der Postdemokratie noch nicht erreicht, ist aber der Auffassung, dass die westlichen Demokratien auf dem Weg zu einer Postdemokratie seien und stellt die gegenwärtige Entwicklung kritisch infrage:

„Die Frage ist: Sehen wir Demokratie nur als formalen Prozess von Wahlen, aus denen Regierungschefs hervorgehen? Oder sehen wir darin auch eine Kultur von Debatten, zulässiger Kritik, von zivilen Rechten und der Sorge über Ungleichheit jeder Art? Mit Letzterem könnte es schwierig werden.“ (Crouch 2008)

Natürlich ist zu fragen, ob man alle westlichen Demokratien in dieser Weise undifferenziert betrachten kann oder ob man nicht zwischen den einzelnen politischen Systemen unterscheiden müsse. Dennoch ist anzuerkennen, dass die repräsentative Demokratie ein Partizipationsproblem hat, das zu einer fehlenden Identifikation mit der Demokratie als System führen kann.

Daher ist in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit zu diskutieren, Formen repräsentativer Demokratie mit Elementen direkter Demokratie, wie Bürger- und Volksbegehren sowie Volksentscheide, in eine sinnvolle Balance zu bringen. Werden allerdings Formen direkter Demokratie zu mächtig, dann entwerten sie demokratische Wahlen, die gewählten Parlamente und deren Repräsentanten. Auch stellt sich die Frage, ob Volksabstimmungen immer die besseren politischen Lösungen bringen oder nicht auch im Falle von Manipulation, Hetze und Demagogie zu fragwürdigen Entscheidungen führen. Findet hingegen direkte Demokratie nur mit hohen Hürden oder alibihaft statt, dann fühlen sich die Bürger zwischen den Wahlen oftmals übergangen und abgehängt. Es wird hierbei die Chance zu demokratischer Aktivierung und Mitbestimmung vertan.

Diese Überlegungen zur fehlenden Balance direkter und indirekter Demokratieformen lassen sich im Übrigen auch auf die Vereinten Nationen übertragen. Auch hier ist auf globaler Ebene ein Defizit an Mitbestimmungsmöglichkeiten für die Weltbürger_innen festzustellen.

Aufgrund der fehlenden Mitbestimmungsmöglichkeit, der Abgehobenheit vieler Parlamentarier und der Unzufriedenheit mit vielen parlamentarischen Entscheidungen hat sich in den letzten Jahrzehnten in vielen vorwiegend repräsentativen Demokratien eine schleichende Politik(er)verdrossenheit verbunden mit einem Hang zur Wahl rechtspopulistischer Parteien und Politiker eingestellt. 

Hieran hat sich in diesen Demokratien, wie z.B. Deutschland, Japan oder Frankreich, auch nur wenig in den letzten Jahren geändert – abgesehen von den aufgrund der Corona-Pandemie vorübergehend vorgenommenen Einschränkungen der Grundrechte. Einschneidende Änderungen hat es allerdings in einer Reihe ehemaliger repräsentativer Demokratien gegeben, die sich deutlich in die Richtung einer autokratischen Staatsform entwickeln, wie z.B. die Türkei, die Philippinen, Ungarn und Russland. Andere Staaten, die noch nie als demokratische Staaten zu bezeichnen waren, wie z.B. China, bauen die digitale Kontrolle über ihre Bürger zunehmend aus und treten in die staatliche Entwicklungsphase einer digitalen Autokratie ein.

Der Transformations-Index der Bertelsmann-Stiftung (BTI), der seit 2006 für 129 Entwicklungs- und Schwellenländer erhoben wird, weist einen Rückgang demokratischer Strukturen und eine Zunahme nationaler Autokratien aus:

„Immer mehr Menschen leben nicht nur in Ungleichheit, sondern auch in repressiven Regimen. Aktuell werden 3,3 Milliarden Menschen autokratisch regiert, so viele wie noch nie seit Start der Untersuchung. Ihnen stehen 4,2 Milliarden Menschen gegenüber, die in Demokratien leben. Von den 129 untersuchten Entwicklungs- und Transformationsländern stuft der BTI 58 als Autokratien und 71 als Demokratien ein. 2016 betrug das Verhältnis noch 55 zu 74. Aber es ist weniger die leicht steigende Zahl von Autokratien, die bedenklich stimmt. Problematisch ist, dass in immer mehr Demokratien Bürgerrechte beschnitten und rechtsstaatliche Standards ausgehöhlt werden. Ehemalige Leuchttürme der Demokratisierung wie Brasilien, Polen oder die Türkei gehören zu den größten Verlierern im BTI.“ [11]
Auch der EIU-Demokratie-Index der ‚Economist Intelligence Unit Limited‘-Gruppe zeigt für 2023 im Vergleich zu den Jahren zuvor eine ähnliche Tendenz bei den untersuchten Staaten an. Weniger als 8% der Weltbevölkerung würden danach in einer vollwertigen Demokratie leben. Ca. 40% der Weltbevölkerung hingegen leben in autoritären Staaten. Die andere Hälfte der Weltbevölkerung lebe in ‚flawed democracies‘ oder hybriden Systemen, die nur Ansätze der Demokratie aufweisen, aber mit undemokratischen Strukturen durchmischt bzw. mit deutlichen Defekten versehen seien.[ 

Economist Intelligence Unit Limited (2024).


Gesellschaftsveränderung nur über eine mehrdimensionale Stärkung der Demokratie

Trotz diesem derzeitig feststellbaren Rückzug der Demokratien im weltweiten Kontext soll an der Idee der Demokratie als geeigneter gesellschaftlicher, staatlicher und überstaatlicher Herrschafts- und Lebensform festgehalten werden. Nur in Demokratien lassen sich die Menschenrechte, wie z.B. Gesinnungs- und Meinungsfreiheit, verwirklichen. Nur in Demokratien müssen demokratisch engagierte Menschen im Anschluss an der Teilnahme an einer Demonstration nicht in der Angst leben, am nächsten Morgen verhaftet zu werden. Nur in Demokratien kann es gelingen, den Willen und die Bedürfnisse unterschiedlicher Bevölkerungsteile im Rahmen von Beteiligungsverfahren und politischen Kompromissen angemessen zu berücksichtigen.

Weder rechtspopulistisch legitimierte und autokratische Herrschaftsformen noch traditionell linke Vorstellungen eines autoritären sozialistischen Staats im Übergang zum Kommunismus (‚Diktatur des Proletariats‘) sind geeignet, die gegenwärtigen und zukünftigen Probleme der Menschheitsentwicklung und gesellschaftlicher Entwicklung zu bewältigen. Nur über eine weitere Demokratisierung im nationalen, regionalen und globalen Kontext ist eine gesellschaftliche Veränderung zu mehr Frieden und zu weniger Kriegen zu erzielen. Hier ist dem Ansatz der Liberalismustheorie der internationalen Beziehungen zuzustimmen, die u.a. davon ausgeht, dass Staaten, denen es gelungen ist, ihre Interessensunterschiede und Konflikte friedfertig und demokratisch auszutragen, auch international eher zu Verhandlungen und Kompromissbildungen neigen als autokratische oder sogar diktatorische Staaten.

Natürlich sind kapitalistische Gesellschaftsstrukturen sowie die hiermit in Verbindung stehende Profitgier der Menschen sozial zu bändigen und systemisch einzuhegen, damit sie die Demokratie nicht unterlaufen. Insbesondere die Praxis eines neoliberalisierten und entfesselten Kapitalismus und das Konzept der Demokratie passen nicht zueinander. Es besteht hier ein offenkundiger Widerspruch zwischen dem Interesse (und der Gier) einiger weniger sehr reicher Menschen und dem Wille der Mehrheit an ein auskömmliches und selbstbestimmtes Leben. 

‚Fassadendemokratie‘ und ‚Tiefer Staat‘?

Häufig wird in letzter Zeit kritisiert, Demokratien seien zu Fassadendemokratien degeneriert, die existieren könnten, weil sie für diejenigen, die sich hiervon nicht täuschen ließen, einen überwachenden ‚Tiefen Staat‘ bereithielten. Typisch für die im Widerspruch zueinander stehende Verbindung aus neoliberalisiertem Kapitalismus und einem nur formalen Anspruch auf demokratische Strukturen seien zunächst systemische Tendenzen hin zu Scheindemokratien bzw. Fassadendemokratien.

Der Psychologe Rainer Mausfeld (2017) beschreibt die Fassadendemokratie wie folgt:

 „Die großen politischen Entscheidungen werden zunehmend von Instanzen und Akteuren bestimmt, die nicht der Kontrolle der Wähler unterliegen. Während also die Hülse einer repräsentativen Demokratie weitgehend formal intakt erscheint, wurde sie ihres demokratischen Kerns nahezu vollständig beraubt. Demokratie birgt also für die eigentlichen Zentren der Macht keine Risiken mehr.“

Sicherlich sind Demokratien auch immer von ihrer Entleerung und Aushöhlung bedroht. Insbesondere sind sie auf das politische Interesse, das Engagement und die Zivilcourage ihrer Bürger_innen angewiesen. Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit und gerät unter dem Einfluss interessierter Kreise und profitierender Machteliten in Gefahr, zu einer Fassadendemokratie zu degenerieren, wenn ihre Bürger_innen das Interesse an ihr verlieren, sozial und ökonomisch abgewertet, zum Objekt raffinierter Medienpropaganda werden bzw. nicht die notwendigen Bildungsmöglichkeiten erhalten. Dann wäre es auch naheliegend, die Fassadendemokratie mit einem „Tiefen Staat“ zu verbinden, der von im Hintergrund (in der Tiefe) agierenden, für die Öffentlichkeit weitgehend unsichtbaren Kräften gesteuert wird. [12] Die Verbindung aus Fassaden-Demokratie und ‚Tiefer Staat‘ könne aufgrund subtiler Manipulationsmechanismen seiner Bürger funktionieren. Würden einzelne gesellschaftliche Gruppen das Konzept der Fassadendemokratie dennoch durchschauen, könne dann Systemstabilität über eine zunehmend repressiver werdende Ordnung und auf durchgehender Kontrolle basierende innere Sicherheitsarchitektur im Zuge des ‚Tiefen Staats‘ gewährleistet werden.

Ob die westlichen Demokratien bereits oder noch als Fassadendemokratien und als ‚Tiefer Staat‘ in diesem Sinne bezeichnet werden können, hängt meines Erachtens vom Ausgang der politischen Auseinandersetzungen zwischen den sich engagierenden Bürger_innen und den politischen und ökonomischen ‚Eliten‘ ab, die auf der Seite der wirtschaftlich Mächtigen stehen. Wie diese Auseinandersetzungen ausgehen werden, ist bislang noch nicht entschieden. So zeigten beispielsweise die in dieser Zeit überall auf der Welt stattfindenden Massenproteste erste Wirkungen, z.B. im Bereich der Klimapolitik, aber auch im Bereich gesellschaftlicher Herrschaft, politischer Disziplinierung und sozialer Benachteiligung, bis die Corona-Pandemie und deren Beschränkungen die Wirksamkeit der Protestbewegungen deutlich verminderte.

Die – trotz aller noch vorhandenen Defizite – am weitesten entwickelten westlichen Demokratien, wie z.B. die skandinavischen Staaten oder auch Staaten wie Frankreich, Deutschland oder Großbritannien, als Fassadendemokratien oder als ‚Tiefen Staat‘ bezeichnen zu wollen, ist aus meiner Sicht gegenwärtig nicht gerechtfertigt und übertrieben: Weder im historischen Vergleich gab es, noch im interkulturellen Vergleich gibt es mehr Möglichkeiten zur demokratischen Partizipation und Mitbestimmung, ohne dass eine Verfolgung und eine Bedrohung von staatlicher Seite zu befürchten ist. Eine pauschale und abwertende Gleichsetzung von allen westlichen Demokratien über deren Einschätzung als Fassadendemokratie gekoppelt mit einem ‚Tiefem Staat‘ halte ich für eine fatale Fehleinschätzung. [13]

Dies bedeutet dennoch nicht, dass nicht auch die Staaten mit demokratischem Selbstanspruch von systemischer Regression bedroht sind und auf erhebliche systemische Verbesserungen angewiesen sind, um ihr bisheriges Partizipationsniveau zu halten oder noch zu verbessern. Auch diese Staaten und ihre Bevölkerungen stehen unter dem Verwertungsdruck des internationalen Kapitals, dem die Partizipation der Bürger_innen lästig wird, wenn diese sich beispielsweise gegen Klimazerstörung oder gegen die Verwüstung ihrer Region zum Abbau von Bodenschätzen zu wehren beginnen.

Die Kritik an Diskrepanzen zwischen politischem und ökonomischem System sowie an der unvollendeten demokratischen Durchdringung gesellschaftlicher Strukturen ist berechtigt und muss im Detail analysiert werden. Dennoch bedeutet dies nicht, dass alle Erfolge vorhergehender Generationen im Kampf um demokratische Rechte pauschal abzuwerten sind. Auch eine alles vernichtende Kritik derjenigen Gesellschaften, die sich um eine Demokratisierung bemühen, hilft wenig und ist destruktiv.
Auch wenn der ehemalige deutsche Bundespräsident Joachim Gauck einem eher konservativen Lager hinzu zu rechnen ist, enthält seine Einschätzung der Demokratie als Herrschaftsform Lebenserfahrungen in zwei Gesellschaftssystemen, die wertschätzend zu beachten sind:
"Ich weiß nämlich aus eigener Erfahrung, was es heißt, keine Menschen- und Bürgerrechte zu besitzen, keine Versammlungs- und Meinungsfreiheit, keine unabhängigen Gerichte, keine selbstverwalteten Interessensvereinigungen, keine Freiheit der Medien. Ich wünschte die jungen Menschen und diejenigen, die nie in Unfreiheit leben mussten, könnten eine liberale Demokratie neu oder oder wieder zu ihrer inneren Überzeugung machen. Denn wir, die Bürger, sind es doch, die Freiheit entweder verspielen oder verteidigen und bewahren. Mag sie auch nicht frei von Mängeln sein, so bleibt die Demokratie doch die beste Regierungsform, die wir kennen, und weltweit Zufluchts- und Sehnsuchtsziel der Unterdrückten." (Gauck 2024)

Die historischen Erfahrungen mit dem sogenannten Realsozialismus weisen auf keine sinnvollen gesellschaftlichen Alternativen hin. Alle auf der realsozialistischen Diktatur einer Staatsmacht basierenden Gesellschaften sind bereits historisch vielfach widerlegt, führten sie doch jedes Mal weg von dem angestrebten ‚Reich der Freiheit‘ und hin zum Reich der stalinistischen oder maoistischen Massenvernichtung und Freiheitsberaubung. Über autoritäre Politikstrukturen, Repression und staatlich organisierte Exklusion lässt sich keine humanere Gesellschaft organisieren. Über die massive Einschränkung von Freiheit wird keine Freiheit in gesellschaftlicher Verantwortung entstehen, sondern nur Unterdrückung. Hier soll daher die Auffassung vertreten werden, dass eine Eindämmung und Transformation des enthemmten Kapitalismus, eine sozialökologische Gesellschaftsentwicklung, die am Gemeinwohl orientiert ist, und eine friedliche globale Gemeinschaft nur über ein Mehr an zivilgesellschaftlicher und transnationaler Demokratie und einer entsprechenden Veränderung nationaler, regionaler und internationaler Strukturen möglich werden wird  [14].

Hierbei muss allerdings auch die Frage nach der ökonomischen Partizipation bzw. nach dem privaten Besitz an den Produktionsmitteln gestellt werden. Die Erfahrungen in den Staaten sowjetischer Prägung haben einerseits gezeigt, dass es kontraproduktiv und ökonomisch äußerst fragwürdig ist, jeglichen Privatbesitz und jede Form marktwirtschaftlicher Betätigung zu verbieten. Weder die Aufgaben der Allokation, Produktion, Distribution noch des zufriedenstellenden Warenangebots konnten auf diese Weise gelöst werden, so dass die Bedürfnisse der Menschen hier nicht gedeckt werden konnten. Andererseits werden die westlichen Demokratien massiv von den ökonomischen Interessen riesiger Kapitalzusammenballungen bedroht. Insbesondere multinationale Konzerne versuchen in Verbindung mit dem hinter ihnen stehenden Finanzkapital die Demokratien und rechtsstaatlichen Strukturen über ihre Marktmacht, ihren Lobbyismus, über Korruption und über internationale Handelsverträge auszuhebeln. Begleitet wird dies von einer überbordenden internationalen Finanzspekulation, deren Umfang ein Vielfaches der globalen ökonomischen Wertschöpfung ausmacht. Allenfalls ein radikal transformierter Kapitalismus, der die Konzerne reguliert, Marktbeherrschungen durch Konzerne verhindert und multinationale Konzerne entflechtet, aufteilt und sie auf gemeinwohlorientierte Ziele und Praktiken hin gesetzlich verpflichtet, der die internationale Finanzspekulation beendet, ist kompatibel mit tatsächlich umgesetzten demokratischen Politikstrukturen. Ob man eine derartige Wirtschaftsform, die Kleinunternehmertum, mittelständige Unternehmen, marktwirtschaftliches Agieren im überschaubarem Rahmen, verkleinerte, z.T. verstaatlichte Konzerne sowie Formen solidarischer Ökonomie und Ökogemeinschaften beinhaltet, noch Kapitalismus nennen kann, ist allerdings fraglich. Wahrscheinlich würde dies ein neu bearbeitetes Verständnis und die Begrifflichkeit des ‚demokratischen Sozialismus‘, des ‚Ökosozialismus‘ oder einer ‚ökosozialen Marktwirtschaft‘, bei der ein weiterhin zu demokratisierender Staat seine Verantwortung regulierend wahrnimmt, richtiger ausdrücken. Auf jeden Fall würde eine gemeinwohlorientierte Ökonomie mit verkraftbaren marktwirtschaftlichen Elementen besser zu einer partizipatorischen Demokratie passen, die allerdings repräsentative und direktdemokratische Strukturen in eine noch bessere Balance bringen müsste, als dies bisher in der Regel der Fall ist. 

Demokratie als Herrschaftsform ist im Sinne des 1865 von einem Rassisten ermordeten US-Präsidenten Abraham Lincoln die Herrschaft der Bevölkerung, durch die Bevölkerung und für die Bevölkerung. [15] Und hierbei sind nicht die 1% die Bevölkerung, sondern eher wohl die 99% der Weltbevölkerung gemeint.

Die Beteiligung der 99% an den Erfolgen der Ökonomie und deren Partizipation in der Demokratie müssen hierbei prinzipiell übereinstimmen. Die gesellschaftlichen Bereiche der Ökonomie und des politischen Systems sollten demokratischen Normen verpflichtet sein. Ökonomisches und politisches System dürfen nicht in einen systemischen Widerspruch zueinander geraten. Wäre dies der Fall, dann würde eine repräsentative Wahldemokratie mehr und mehr zu einer demokratischen Spielwiese geraten, deren Freiräume dann eingeschränkt werden würden, wenn die Ökonomie in die Krise gerät.

1.2.1. Demonstrationen und Proteste gegen die extreme Rechte in westlichen Demokratien 


‚Remigration‘ und nordafrikanischer ‚Musterstaat‘

In westlichen Staaten lässt sich ein Aufkommen der politischen Rechten und auch rechtsextremer Bewegungen feststellen. Auch ist dies in Deutschland der Fall. Dies hängt einerseits mit der Unzufridenheit in größeren Teilen der Bevölkerung mit der Regierungspolitik zusammen, bei der sich zunehmend Menschen sozial abgehängt fühlen. Andererseits wirken hier auch ökonomische und politische Faktoren, die von nationaler Politik nur zum Teil zu beeinflussen sind. Insbesondere die Komplexität vieler globaler Problemlagen – von der Klimakrise, über miltärische Eskalationen und der Intransparenz der Finanzmärkte – stärkt den Wunsch nach einfachen Lösungen, welche die extreme Rechte scheinbar bietet.

Der prozentualer Aufstieg der zunächst rechtsnationalen ‚Alternative für Deutschland‘ (AfD) bis hin zur stärksten Partei – nach aktuellen Umfragen – in einzelnen ostdeutschen Bundesländern, z.B. Thüringen oder Sachsen, schien daher unaufhaltbar. Je rechtsradikaler sich die Partei entwickelte, desto größer war ihr Wahlerfolg. Dann outete sich die führende Partei gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit mit einer völkisch-ethnischen Unterscheidung zwischen ‚Biodeutschen‘ und Menschen mit Migrationshintergrund bzw. Migranten durch ein geleaktes Geheimtreffen in einer Potsdamer Villa. 

Dort nahmen – laut dem Recherche-Zentrum Correctiv – rechtsnationale Politiker von der AfD, der Werte-Union und zwei CDU-Politiker sowie rechtsextreme Unternehmer und Influenzer an der Tagung teil. Ein Correctiv-Mitarbeiter nahm verdeckt teil und sicherte die Vorgänge.

Im Fokus des u.a. mit führenden AfD-Mitgliedern besetzten Treffens stand ein sogenannter ‚Masterplan‘ zur Rückführung von Millionen Migranten (‚Remigration‘), auch Deutscher mit Migrationsherkunft, ‚nicht assimilierter Personen‘ sowie von unbequemen Menschen, die sich gegen die Deportationspläne sperren. Insbesondere der Redebeitrag des rechtsradikalen Aktivisten und Autors, Martin Sellner, dem langjährigen Sprecher der ‚Identitären Bewegung Österreich‘, überschritt deutlich die bisher immer noch viel zu häufig akzeptierten roten Linien des rechtspopulistischen Diskurses – so Correctiv über Sellners verfassungsfeindlichen Redebeitrag:

„Sellner ergreift das Wort. Er erklärt das Konzept im Verlauf des Vortrages so: Es gebe drei Zielgruppen der Migration, die Deutschland verlassen sollten. Oder, wie er sagt, „um die Ansiedlung von Ausländern rückabzuwickeln“. Er zählt auf, wen er meint: Asylbewerber, Ausländer mit Bleiberecht – und „nicht assimilierte Staatsbürger“. Letztere seien aus seiner Sicht das größte „Problem“. Anders gesagt: Sellner spaltet das Volk auf in diejenigen, die unbehelligt in Deutschland leben sollen und diejenigen, für die dieses Grundrecht nicht gelten soll.“ [16]

Einerseits sollten Migranten deportiert werden und andererseits alle diejenigen, die sich dieser ‚Remigration‘ widersetzen würden:

„Eine Idee ist dabei auch ein „Musterstaat“ in Nordafrika. Sellner erklärt, in solch einem Gebiet könnten bis zu zwei Millionen Menschen leben. Dann habe man einen Ort, wo man Leute „hinbewegen“ könne. Dort gebe es die Möglichkeit für Ausbildungen und Sport. Und alle, die sich für Geflüchtete einsetzten, könnten auch dorthin.“ [17]

Sellners ‚Masterplan‘ wurde von den Teilnehmern positiv aufgenommen und weitere Redebeiträge bezogen sich konkretisierend hierauf.

Öffentlicher Aufschrei in der Republik

Nach dem Bekanntwerden der Recherchen von Correctiv kam es zu einem öffentlichen Aufschrei in Deutschland und zu einem Einsetzen von Massendemonstrationen gegen den organisierten Rechtsextremismus und insbesondere gegen die AfD: Innerhalb von drei Wochen fanden Anfang 2024 Proteste mit mehreren Millionen Teilnehmern statt, z.B. in Berlin mit 500 veranstaltenden Organisationen und Hamburg mit 180.000 Teilnehmern. In München demonstrierten 100.000 Teilnehmer. Die TAZ berechnet die Teilnehmerzahl der bis zum Veröffentlichungszeitpunkt (9.2.2024) erfolgten Anti-AfD-Demonstrationen mit ca. drei Millionen Teilnehmern (nach Veranstalterangaben: vier Mill. Tn). [18]

Erinnerungen an die 68er-Zeit und dem damaligen Kampf für mehr Demokratie wurden wach. Die Menschen gehen erstmals seit 1989 wieder massenhaft auf die Straße und setzen sich für die Grundwerte des Grundgesetzes ein, die eine diskriminierende Unterscheidung der Bevölkerung verbieten. [19] Dies wird in den Leitmedien als längst fällige symbolische Handlung dargestellt, die ein Ausdruck des Funktionierens der Demokratie sei.

Die AfD hingegen zeigt gefakte Fotos von halb leeren Plätzen, obwohl in der Regel der Platz für die demonstrierenden Menschenmengen kaum ausreichte. Auch will sich die AfD mit der Bezeichnung der Potsdamer Tagung im Landhaus Adlon als ‚privates Treffen‘ herausreden. Dennoch verliert der persönliche Referent von Alice Weidel umgehend seinen Job. Daher folgert Robert Pausch in ‚Die Zeit‘:

„Für eine Partei, die für sich in Anspruch nimmt, die schweigende Mehrheit zu vertreten, stellt es eben doch ein ernst zu nehmendes strategisches Problem dar, wenn eine lautstarke Mehrheit dagegen aufsteht und auch rein zahlenmäßig die Verhältnisse einmal geraderückt: 25.000 Teilnehmer demonstrierten auf dem Höhepunkt der rechten Mobilisierung im Pegida-Jahr 2015, zwischen einer und anderthalb Millionen Menschen waren es, je nach Zählweise, allein am vergangenen Wochenende.“ [20]

Auf den Anti-AfD-Demonstrationen bzw. Demos gegen den Rechtsextremismus nahmen auch immer wieder Bundestagsabgeordnete und Regierungsmitglieder der Ampelparteien und Teilen der Opposition im Bundestag teil. Hierbei könnte deren Motivation auch im Ausschalten einer unliebsamen Parteienkonkurrenz und in der werbenden Anbiederung an die Demonstrierenden liegen. Ebenfalls wird des Öfteren kritisch eingewendet, dass gerade ihre Entscheidungen doch oftmals auch Ursache der AfD-Wahlerfolge gewesen seien. Würden die verantwortlichen Politiker eine Politik entwickeln und umsetzen, die den Interessen der Bürger entsprechen würden, dann wäre auch der Aufstieg der AfD nicht möglich gewesen. So der Journalist Philipp Fess (2024) in Telepolis: 

„Das nahezu totale Tabu über dem Thema Migration hat dazu beigetragen, dass nur die politischen Randkräfte sich noch über den Horizont des gesellschaftlich Sanktionierten wagen. Die Rechten ergründen sozusagen im strammen Alleingang das Niemandsland hinter den Gedankenverboten.“ [21]

Demonstrationen Ausdruck einer revitalisierten Demokratie?

Die Frage ist nun, ob es sich bei den derzeitigen Anti-AfD-Demonstrationen um mehr als nur eine identitätswirksame Selbstvergewisserung progressiver Milieus handelt. Möglicherweise werden die Demonstrationen von Woche zu Woche kleiner, bis nur noch das Häufchen Aktivisten übrig bleibt, das auch ansonsten gegen die AfD demonstriere.

Der Mitarbeiter der Magdeburger ‚Arbeitsstelle Rechtsextremismus‘, David Begrich, sieht in den Anti-AfD-Demonstrationen einerseits eine wichtige Klarstellung und Kontrastierung gegenüber rechtsextremer Politik, andererseits ist er der Auffassung, dass sich eine Brechung des ansteigenden AfD-Erfolgs nur durch eine längerfristige Aktivitätsperspektive erreichen lasse: 

„Ich glaube, man darf sich nicht die Illusion machen, dass diese Demonstrationen die rechten Dominanzräume aufbrechen. (…) Dafür bräuchte es die Überführung dieser Demonstrationen in ein kleinteiliges langfristiges Engagement vor Ort.“ [22]

In jedem Fall müsse den Menschen klar werden, dass es mit den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg und auch den Kommunalwahlen in Mecklenburg-Vorpommern im Jahr 2024 um das Ganze gehe – es stelle sich die Frage: „Gelingt es der AfD so etwas wie eine Initialzündung für eine autoritär formierte rechte Gesellschaftsordnung in Ostdeutschland vom Zaun zu brechen?“ Die extreme Rechte betrachte Ostdeutschland als Experimentierfeld für ihre gesellschaftspolitischen Konzepte und es müsse vor allem den Unentschlossenen jetzt klar sein, dass es „um Alles“ gehe. [23]

Heike Kleffner vom ‚Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e.V.‘ macht im gleichen Interview deutlich, dass es im Osten Deutschlands noch mehr Mut als in Westdeutschland brauche, um gegen die rechtsextreme Dominanz in vielen Orten auf die Straße zu gehen. Durch die Demonstrationen gegen die AfD sei erstmals seit dem Eintreten der Corona-Pandemie die „rechtsextreme Dominanz im öffentlichen Raum“ gebrochen worden. In Orten, wie in Zwickau oder Stralsund, hätten Tausende Demonstranten gezeigt, dass es nicht die extreme Rechte ist, welche die Mehrheit darstellt und es auch demokratische Gegenbewegungen hierzu gäbe. Dies sei auch sehr wichtig für die Unentschiedenen, die sich bisher nicht trauen würden, ihre Meinung gegen eine rechtsextreme Hegemonie im Alltag zu äußern. [24]

In diesem Sinne kann es sich also durchaus bei den derzeitigen Demonstrationen um eine Stärkung der Demokratie durch basisdemokratische Aktivitäten handeln. Der Schwäche der parlamentarischen Demokratie, fast keine Mitbestimmungs- und Aktionsformen auf Bundesebene im Sinne direkter Demokratie zu ermöglichen, werden die derzeit erlebbaren massenhaften Versammlungen und Kundgebungen gegen die extreme Rechte entgegengesetzt. Und: Es geht nicht primär um die Kritik an einzelnen Politikern oder regierenden Parteien sondern um ein Engagement für die Demokratie und die grundlegenden Verfassungsinhalte.

Die Frage ist allerdings, wie lange das Antisymbol AfD den brüchigen Zusammenhalt in der gesellschaftlichen Mitte stärkt. Wann schlägt die Entsolidarisierung in Zeiten gesellschaftlicher Anspannung und spaltender Ressourcenkämpfe wieder durch? Der Einschätzung einer zukünftig auslaufenden Anti-AfD-Bewegung stehen allerdings der Fakt der in 2024 anstehenden Landtags- und Kommunalwahlen sowie natürlich die bereits im öffentlichen Fokus stehende nächste Bundestagswahl im Spätsommer bzw. Herbst 2025 entgegen. Hier wird das Thema des Rechtsradikalismus und der AfD weiterhin in der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen. Wenn es der AfD gelingt, in den Bundesländern oder gar auf Bundesebene in Regierungsverantwortung zu kommen, hat dies gravierende Kompetenzen für die Gerechtigkeit und die Lebensqualität in Deutschland. Da werden sich die Kritiker, die das aktuelle parlamentarische System als ‚Fassadendemokratie‘ bezeichnen, noch an die Republik vor einem etwaigen Siegeszug der AfD zurücksehnen.

„Nie wieder 1933!“

Es stellt sich nun die Frage, ob die zahlreich gezogenen Parallelen und Vergleiche zwischen heute und dem Beginn der Nazizeit vor 1933 tatsächlich zutreffen oder eine unzulässige Überspitzung darstellen. Niklas Nelle (2024) zweifelt zu Recht an, dass es sich um eine identische Situation handele:

„Dennoch stehen wir aktuell nicht „kurz vor 1933“, dem Jahr der Machtübergabe, des Verbots der Gewerkschaften, der Bücherverbrennungen, der Gründung des KZ Dachau und der Einführung des „Ariernachweises“.

Ab 1933 konnten Jüdinnen und Juden nicht mehr als Beamte oder öffentliche Angestellte arbeiten. Innerhalb weniger Wochen wurde damals die Opposition ausgeschaltet, Minderheiten drangsaliert und das deutsche Volk auf das nationalsozialistische Projekt eingeschworen. So weit sind wir 2024 nicht. Und trotzdem ist das kein Grund zur Entwarnung.“ [25]

Zu klären und genau hinzuschauen ist allerdings zukünftig hierauf: Kann die Politik der AfD mit der Politik des Faschismus und seiner extremen Formen des deutschen Nationalsozialismus gleichgesetzt werden oder ist eine differenziertere Analyse notwendig? Handelt es sich bei der AfD um eine faschistische Partei oder um eine nationalchauvinistisch-bürgerliche Partei mit einzelnen rechtsextremen Mitgliedern? Von der Beantwortung dieser Fragen hängt dann auch ab, inwieweit die AfD und auch ihre Jugendorganisation ‚Junge Alternative‘ uneingeschränkt weiterhin agieren dürfen bzw. einzelnen als faschistisch beurteilten Mitgliedern die Wählbarkeit entzogen werden sollte. Denn: Aus der historischen Erfahrung von Weimar heraus ist das Konzept der ‚Wehrhaften Demokratie‘ sehr bewusst im bundesdeutschen Grundgesetz verankert worden, um die Demokratie gegen ihre erklärten Feinde zu schützen. Allerdings ist hierbei zu berücksichtigen, dass ein Verbot der AfD durch das Bundesverfassungsgericht das mächtigste Instrument wäre, das der bundesdeutsche Staat zur Verfügung hätte. Daher sind auch Schritt für Schritt restriktive Instrumente einzusetzen, die unterhalb des Parteienverbots angesiedelt sind, die allerdings auch wieder ausgesetzt werden könnten, wenn sich die AfD nachweisbar in eine andere Richtung entwickeln würde.

Konsequenzen aus dem Erstarken rechtsradikaler Kräfte und insbesondere der AfD

Das Erstarken der extremen Rechten ist kein bundesdeutsches Phänomen, sondern lässt sich derzeit überall in Europa beobachten. Daher sind die folgenden Überlegungen, zumindest zum Teil auch auf andere europäische Staaten zu beziehen. 

Die Konsequenzen hinsichtlich einer politischen Reaktion auf das Anwachsen der extremen Rechten beziehen sich insbesondere auf eine ‚gute Politik‘ der verantwortlichen Regierungen, aber auch auf ein permanentes Engagement von unten.

Zunächst einmal gilt es, sich in der Öffentlichkeit und auch in Bildungsinstitutionen argumentativ – differenziert und faktengestützt – mit den recht simplen Forderungen der AfD auseinanderzusetzen, so dass deutlich wird, dass die AfD-Forderungen die vorhandenen nach wesentlich komplexeren Lösungsansätzen verlangenden Probleme nicht lösen können. Die von der AfD geforderte Renaissance der fossilen Energieträger steht beispielsweise in einem Gegensatz zu den politischen Handlungsnotwendigkeiten, die sich aus der immer drängender werdenden Klimaproblematik ergeben; die Forderung nach der Reaktivierung der Atomkraftwerke blendet die permanente Gefahr von Störfällen, die extremen Kosten und die fehlende Entsorgungsmöglichkeit aus; der geforderte Abbau von Sozialleistungen verstärkt gesellschaftliche Spaltungen und geht zu Lasten von Benachteiligten etc.

Maßnahmen der wehrhaften Demokratie

Die Bundesinnenministerin Faeser schlug in Reaktion auf rechtsextremistisch motivierte Morde (u.a. in Hanau), auf den geplanten Putsch der 'Reichsbürger' sowie vermutlich auch in Reaktion auf die Gespräche in der Potsdamer Villa zur Remigration Millionen Deutscher folgende Maßnahmen im Sinne der Wehrhaften Demokratie vor [26]:

· Eine Früherkennungseinheit, die rechtzeitig gegen Fake-Accounts und KI-gesteuerter Fehlinformation vorgehen kann;

· die Verschärfung der Waffengesetze für Rechtsextremisten;

· die Aufdeckung und Austrocknung von Finanzquellen rechtsextremer Organisationen durch den in seiner Kompetenz hier zu stärkenden Verfassungsschutz;

· eine Änderung des Grundgesetzes, um das Bundesverfassungsgericht gegen Demokratiefeinde zu schützen;

· die Verhinderung der Ein- und Ausreise von Rechtsextremisten;

· ein verschärftes Disziplinarrecht für den öffentlichen Dienst, um leichter Rechtsextremisten aus dem Dienst entfernen zu können.

Hier scheint man mit dem Konzept der 'wehrhaften Demokratie' ernst machen zu wollen. Die Frage ist, wie weit eine Demokratie hier gehen darf, damit sie sich in der Gegenwehr gegen Verfassungsfeinde nicht selbst abschafft. Der in Deutschland lange Zeit praktizierte Extremistenerlass (‚Berufsverbote‘), der sich einst vorwiegend gegen die Linke richtete, wurde als undemokratisch und rechtswidrig vom Europäischen Gerichtshof verboten. Er musste von der deutschen Regierung zurückgenommen werden. Auch die Gefahr der Ausweitung der Überwachung und Bespitzelung durch Staatsorgane birgt die Gefahr einer schleichenden Entdemokratisierung in sich. Dies bedeutet, dass die Balance zwischen Maßnahmen einer wehrhaften Demokratie und der Notwendigkeit, hierdurch die demokratischen Strukturen nicht zu beschädigen, sorgfältig austariert werden muss.

Demonstrationen gegen das Erstarken rechtsradikaler Parteien und Gruppierungen bilden eine basisdemokratische Gelegenheit, sich symbolisch Ausdruck zu verleihen und das Zusammengehörigkeitsgefühl in der noch demokratisch gesonnenen gesellschaftlichen Mitte zu stärken. Auch üben sie einen nicht zu unterschätzenden Druck auf regierende Politiker_innen auf allen Ebenen aus, Koalitionen und organisierte Zusammenarbeit mit der AfD weiterhin abzulehnen (‚Brandmauer‘). Dennoch müssten Demonstrationen auch in ein systematisches und längerfristiges Engagement vor Ort überall und insbesondere dort münden, wo bislang rechtsradikale Gruppierungen noch die Deutungshoheit im öffentlichen Raum haben. 

Es gilt allerdings vor allem für die gewählten Verantwortlichen auf allen Ebenen, eine ‚gute‘ Politik zu machen, die nicht den Bedürfnissen und Interessen der Menschen widerspricht – so die TAZ: 

„Es ist auch die von vielen Krisen bestimmte Weltlage, die Menschen dazu bringt, die AfD zu wählen. Das Gefühl der Schwäche des Nationalstaats, die Klimakrise, die Angst der Mittelschicht, abzusteigen. All das führt ja nicht nur in Deutschland zu einem Aufstieg der Rechtspopulisten und lässt sich nicht einfach wegdemonstrieren.“ [27]

Dies bedeutet also auch, sinnvolle, realisierbare und menschlich vertretbare Lösungen für die Migrationsproblematik zu schaffen. Denn in der langen Tabuisierung und Vernachlässigung dieser Thematik liegt das Erfolgsrezept der AfD begründet.

Vor allem gilt es, positive Zukunftsvorstellungen zu entwickeln, die konkret und nachvollziehbar sind und zeigen, wie eine multikulturelle Gesellschaft demokratisch und gerecht weiterentwickelt werden kann und Menschen unterschiedlicher Herkunft hierbei friedlich zusammen leben können.


 

1.3  Versuche der Weltbeherrschung und hegemonial verursachter internationaler Krisen

Das Konzept der Hegemonie in den internationalen Beziehungen kann als extreme Form unilateraler internationaler Politik durch eine Weltmacht verstanden werden, die ihre chauvinistischen und geostrategischen Interessen skrupellos durchzusetzen versucht, und steht, genauso wie das Festhalten an absoluter staatlicher Souveränität, dem eigentlichem Grundgedanken der Vereinten Nationen radikal entgegen – so Gareis/Varwick (2014, 348):

„Es hängt also stark von den theoretischen Leitbildern in den betreffenden Staaten ab, ob eine unilaterale oder multilaterale Strategie als Erfolg versprechend angesehen wird. Die Vereinten Nationen können nur dann eine wichtige Rolle in der internationalen Politik spielen, wenn ihre Mitgliedsstaaten auf multilaterale Strategien zur Bewältigung der Probleme und Herausforderungen setzen, d.h. ein Erfolg der Vereinten Nationen ist äußerst voraussetzungsreich. In der realen Welt zeigt sich, daß diese Voraussetzungen nicht immer gegeben sind. Zu selten sind die Mitgliedsstaaten bereit, die Vereinten Nationen an die Spitze ihrer außenpolitischen Prioritäten zu setzen und vor allem ihr Verständnis von der Außenpolitik ‚souveräner‘ Staaten zu ändern.“

Der Versuch hegemonialer Herrschaftsausübung wurde insbesondere von Antonio Gramsci kritisch analysiert [28] und in späteren politikwissenschaftlichen Arbeiten zeitgenössischer Autoren [29] weiter bearbeitet. Hierbei steht der Versuch des kapitalistischen Westens im Fokus, und hier insbesondere der geostrategischen Interessen der USA, die Weltpolitik militärisch abgesichert zu dominieren und gezielt militärische Aggression einzusetzen, um die politische und ökonomische Hegemonie im globalen Kontext durchzusetzen. 

Hiermit verbunden ist die medial vermittelte Herstellung eines dominanten Bewusstseins in der Bevölkerung des beherrschenden Staates oder Staatenverbunds, dass diese Dominanz berechtigt, völkerrechtskonform und gerecht ist. Es kommt hierbei im Mainstream dieser Gesellschaften zu einer Identifikation mit dem Hegemon und zu einem fehlenden Unrechtsbewusstsein hinsichtlich der Dominanz des Hegemons. Hierbei findet eine Unterteilung in die guten und als frei empfundenen Staaten und die als negativ und unfrei wahrgenommenen Staaten statt, welche dämonisiert und abgewertet werden. Kritik an der eigenen Staatlichkeit ist hierbei unerwünscht und kann zur Abwertung und Ausgrenzung der sich gegen die hegemonial erzeugten Einstellungen wendenden Person bzw. Gruppierung führen. Hegemoniale Herrschaft findet also nicht nur in Strukturen sondern auch über Identifikationen und politischen Einstellungen statt.

Dieses Konzept lässt sich allerdings auch in regional-hegemonialer Hinsicht auf andere Akteure, wie z.B. China, Saudi-Arabien, Iran, Türkei und Russland, übertragen, die ständig bestrebt sind, zumindest ihren regionalen Machtbereich auszuweiten und ihre politischen und ökonomischen Interessen dort hegemonial durchzusetzen.

Inwieweit die EU ebenfalls regional-hegemoniale Interessen militärisch durchsetzen und absichern will, hängt davon ab, inwieweit sich die EU als Friedensmacht begreift oder ob sie als 'Global Player' auf der militärischen Ebene mitwirken will. [30]

Im Rahmen einer hegemonial bestimmten Herrschaftsordnung findet innergesellschaftlich eine Identifizierung mit Mainstream-Konzepten statt, die medial inszeniert und von den Herrschenden initiiert werden, um in der Bevölkerung ein Bewusstsein zu erzeugen, das mit der ‚Identifikation mit der Entfremdung‘ bezeichnet werden kann. Im Fall einer internationalen Dominanz kann dies auch als imperiales Bewusstsein umschrieben werden. [31]

Der politische Aktivist Ralph Nader macht ebenfalls den gesellschaftlichen Mechanismus transparent, bei dem beispielsweise der in der Regierungszeit von Bush jun. angestrengte und vom damaligen UN-Generalssekretär Kofi Annan als völkerrechtlich illegal bezeichnete zweite Irak-Krieg [32] nur einen wirkungslosen zivilgesellschaftlichen Widerstand erfuhr:

“When the president beats the drums of war, the dictatorial side of American politics begins to rear its ugly head. Forget democratic processes, congressional and judicial restraints, media challenge, and the facts. All of that goes out the door. It’s the president, stupid – plus the clique that surrounds him and the vested interests that reflexively support him. Dissenting Americans may hold rallies in the streets, but their voice is drowned out by the bully pulpit.” [33]

Als Stellvertreterkriege interessierter Hegemonen könnten nun beispielsweise der Korea-Krieg in den fünfziger Jahren, der Vietnam-Krieg, der militärische Eingriff in Ex-Jugoslawien, der von Bush-Junior und einer Militärallianz geführte Irak-Krieg sowie die Katastrophen in Afghanistan und im Jemen beispielhaft genannt werden. Hier handelte es sich um von u.a. den NATO-Staaten inszenierte Kriege, die als illegal und völkerrechtswidrig zu bezeichnen sind. [34] Bei allen diesen Kriegen lagen kein einstimmiges Votum des UN-Sicherheitsrats sowie kein Selbstverteidigungsfall im Sinne der UN-Charta einer angegriffenen Nation vor, die einen internationalen Bündnisfall und eine UN-Intervention auslösen können. 

Beim Krieg in der Ukraine handelt es sich um eine gemischte Form des Krieges. Einerseits versuchte die Russische Föderation ihren hegemonialen Anspruch auf die Ukraine über ihre militärische Invasion umzusetzen. Andererseits handelt es sich hierbei auch um den Krieg des Hegemons mit einem globalen Anspruch, den Vereinigten Staaten, gegen einen Regionalhegemon, die Russische Föderation, der seinen Einflussbereich vergrößern will. Die Ukraine geriet also in den Interessenskonflikt zweier Großmächte, die ihren hegemonialen Anspruch durchzusetzen versuchen – durchaus mit ökonomischen und geostrategischen Eigeninteressen.

Nachdem die NATO sich 40 Jahre als Verteidigungsbündnis gegenüber den Staaten des Warschauer Pakts verstanden hatte, hätte sie sich nun eigentlich angesichts des Wegfalls der vermeintlichen Bedrohung auflösen müssen. Der Gegner war abhanden gekommen. Allerdings verlief die tatsächliche Entwicklung in eine andere Richtung – so der Politikwissenschaftler und Friedensforscher Peter Strutynski (2008, 222f.):

„Militärs, die wie jede andere Berufsgruppe ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Sicherung ihrer Besitzstände haben, reagierten auf den weltpolitischen Epochenumbruch sehr kreativ mit der Konstruktion neuer Risiken. In der NATO-Erklärung von Rom wurden sie exakt beschrieben: Die illegale Weitergabe von Massenvernichtungsmitteln gehörte ebenso dazu wie die Gefahr durch terroristische Anschläge, die Ausbreitung von Kriminalität oder die Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Rohstoffe sowie die Störung des freien Welthandels.“

Dies alles sind aber vorwiegend militärische Interventionsgründe, die von der gegenwärtigen UN-Charta nicht legitimiert sind.

USA und China als absteigende und aufsteigende Hegemone

Derzeit sieht die USA, als eher ökonomisch absteigender Hegemon, ihre Stellung insbesondere gegenüber China bedroht. China hat – trotz der zu kritisierenden Menschenrechtssituation und der Einschränkung demokratischer Freiheiten – eine enorme ökonomische, soziale und politische Erfolgsgeschichte hinter sich, die über mehrere Jahrzehnte reicht. Dies gelang China mit einem anderen Politik- und Ökonomie-Modell als dies die USA für sich umsetzt. China besteht aus einer Mischung von zentralstaatlicher Planung und Kontrolle verbunden mit marktwirtschaftlichen Elementen. China ist in die Welthandelsorganisation aufgenommen worden, obwohl eine Zentralregierung mit einer Staatspartei herrscht, die die Wirtschaftsentwicklung lenkt. Es gibt in China einen staatlich verabschiedeten 5-Jahresplan und eine Regulierung des Kapitalverkehrs. Gleichzeitig gibt es aber auch ein Spektrum an halbstaatlichen Konzernen, privatwirtschaftlich geführten Unternehmen und Joint Venture-Unternehmenskooperationen, bei denen westliche Unternehmer und chinesische Unternehmer zusammen investieren, produzieren und vermarkten. China hat inzwischen die zweithöchsten Rüstungsinvestitionen – nach den USA – baut das internationale Handelsprojekt der ‚Neuen Seidenstraße‘ auf und intensiviert seinen weltpolitischen und ökonomischen Einfluss, u.a. in Afrika und Europa. [35]

Die USA reagiert nun wohl auf diese zunehmend bedeutender werdende Rolle Chinas und hinsichtlich ihrer eigenen ökonomischen Abwertung mit dem Beginn eines Handelskrieges, bei dem sie einseitig Schutzzölle gegen China mit der Begründung verhängt, Chinas Exporte würden die US-Wirtschaft benachteiligen. Die berechtigte Frage ist, ob die hiernach folgende Eskalation gegenseitiger Schutzzölle und Handelsblockaden der Anfang auch einer militärischen Auseinandersetzung sein wird – so folgert Listl (2019, 72f.):

„Sollten die USA mit ihrem Handelskrieg gegen den strategischen Hauptfeind China ihr Ziel nicht erreichen, China massiv zu schwächen, um die US-Hegemonie aufrecht zu erhalten, bliebe die nächste Eskalationsstufe z.B. die Blockade der Seewege, auf denen China einen großen Teil seines Außenhandels realisiert, der nach Trumps Auffassung den US-Interessen entgegensteht.“

Hinzu kommt, dass die USA bereits dabei ist, China militärisch einzukreisen. Rings um China herum hat die USA 20 Militärstützpunkte eingerichtet, sind Raketensysteme installiert, US-Flugzeugträger und U-Boote sind im Pazifik in der Nähe Chinas stationiert.[24] Es ist zu hoffen, dass sich die chinesische Staatsführung intelligenter verhält und die Möglichkeiten von internationalen Verhandlungslösungen wahrnimmt. Auch ein diplomatisches Gegenwirken der UN sowie der EU wäre hier gefragt. [37]

Dennoch darf es im Rahmen einer sich kritisch verstehenden Politikwissenschaft und Soziologie nicht zu einem einseitigen Blick auf die verschiedenen politischen Systeme kommen. Natürlich ist die Kritik an der neoimperialistischen Politik westlicher Bündnissysteme und westlicher Hegemonialabsichten berechtigt und lässt sich mit vielfachen historischen Beispielen belegen. Der CIA geführte Sturz von demokratisch gewählten Regierungen in Persien sowie in Chile sind z.B. historische Belege hierfür. Aber genauso der 3. Golfkrieg mit dem völkerrechtswidrigen Einfall einer militärischen Staatenallianz um die USA sowie die nicht durch einen UN-Beschluss legitimierten NATO-Luftangriffe in Ex-Jugoslawien sind Beispiele hierfür. Genauso ist der kritische Blick auf Staaten wie die VR China und Russland zu lenken. Auch dort ist der Zusammenhang zwischen innerer Verfasstheit und militärpolitischer Aggression ohne Illusionen zu thematisieren.

Hier stehen Versuche regionaler Hegemonie und militärischer Aggression im Fokus, wie sie Russland beispielsweise in der Ukraine oder in Syrien ausübt. Nachweisbar haben – laut Amnesty International – russische Kampfflugzeuge Krankenhäuser, Märkte und Moscheen in Syrien bombardiert. [38] Der russische Angriff auf die Ukraine im Jahr 2022 und danach wurde genauso erbarmungslos geführt wie Russlands Angriffe z.B. in Tschetschenien und Syrien.

China weitet seinen hegemonialen Machtbereich beständig kompromisslos aus. Hier ist zunächst die Überwältigung und brutale Besetzung Tibets zu nennen. Dann sind die vertragswidrige Gleichschaltung Hongkongs und die Zerstörungen des dortigen demokratischen Systems zu nennen, die mit zahlreichen Verhaftungen und der militärisch abgesicherten Zerschlagung der zivilgesellschaftlichen Opposition verbunden war. Genauso gehört der die Menschenrechte massiv verletzende Umgang mit den Uiguren in der Provinz Xinjiang, die zunehmend aggressivere Rhetorik gegenüber Taiwan sowie die militärischen Aktivitäten im südchinesischen Meer zu diesen Hegemonialansprüchen. Äußerst gefährlich ist der Versuch Chinas, Taiwan als chinesische Provinz zu bezeichnen und die ‚Wiedervereinigung‘ anzustreben. Wenn China das von den USA protegierte Taiwan militärisch angreift, droht die Gefahr eines dritten Weltkriegs.

Natürlich sind in der politischen Bilanz Chinas auch die erheblichen Erfolge des chinesischen Systems und der chinesischen Staatsführung hinsichtlich der wirtschaftlichen Besserstellung des Bevölkerungsdurchschnitts zu sehen. Auf der anderen Seite wiegen aber die innerchinesischen Menschenrechtsverletzungen und die totale (digitale) Kontrolle chinesischer Bürger schwer. [39]

Die Gesellschaftswissenschaften müssen die Missstände überall schonungslos aufdecken, dürfen sich keine fragwürdigen Bündnispartner suchen, gegenüber denen aus falsch verstandener Loyalität Menschenrechtsverletzungen sowie das Brechen des Völkerrechts verschwiegen wird. Der kritische Blick darf nicht nur auf den westlichen Kapitalismus gerichtet sein, sondern muss auch seine Aufmerksamkeit nach Osten  und auf gefährliche Entwicklungen im globalen Süden richten.

Dies gilt genauso für die internationale Friedensbewegung, die nur dann glaubwürdig ist, wenn sie keine Unterschiede im kritischen Zugang zu Staaten und Staatenverbünden macht, wenn diese in gefährlicher Weise ihr Militärpotenzial ausweiten, immer gefährlichere Waffen entwickeln, völkerrechtlich übergriffig sind und ihre Bevölkerungen unterdrücken.

Sicherlich müssen hierbei auch historische Entwicklungen und Kontextualisierungen berücksichtigt werden. So muss sich auch in die Sicherheitsinteressen bedrängter Staaten hineinversetzt werden, die nicht zur NATO gehören. Hier war es sicherlich kontraproduktiv, dass die NATO immer näher – entgegen vorheriger Zusicherungen – an die Westgrenze Russlands vorgerückt ist, ohne Russland das gleiche Angebot einer NATO-Mitgliedschaft zu unterbreiten. Dies hatte Reaktionen in Russland und die dortige Stärkung nationalistischer Kräfte und des militärisch-ökonomischen Komplexes zur Folge. Auch muss das Sicherheitsinteresse Chinas verstanden werden, dass sich zunehmend von US-Militärstützpunkten und Kampfschiffflotten umgeben sieht. Dennoch muss darauf insistiert werden, dass internationale Sicherheit prioritär durch internationale Zusammenarbeit, durch Diplomatie und die Kontrolle gestärkter und demokratisierter Vereinter Nationen hergestellt werden kann. Nicht internationale Aufrüstung ist das Gebot der Stunde sondern eine miteinander in nachvollziehbaren Schritten vorgenommene Abrüstung aller Waffensysteme. Und dies muss gerade angesichts des Ausbruchs der Russischen Föderation aus der bestehenden internationalen Sicherheitsarchitektur gefordert werden: Der Krieg in der Ukraine darf nicht für eine weitere Aufrüstungsspirale instrumentalisiert werden, sondern sollte der Anlass für verstärkte Abrüstungsverhandlungen angesichts der durchaus vorhandenen nuklearen Gefährdungslage sein.
Auch der brutale Überfall der Hamas auf Israel am 7.10.2023 und die folgende unbarmherzige militärische Reaktion des israelischen Militärs im Auftrag einer rechtsgerichteten Regierung mit Zehntausenden toten Zivilisten auf palästinensischer Seite zeigen noch einmal auf dramatische Weise die Notwendigkeit rechtzeitiger Verständigung zwischen gegnerischen Seiten und auch einer übergeordneten weltpolizeilichen Macht mit Eingriffsrechten, die demokratisch organisiert und kontrolliert ist. 



Anmerkungen Kapitel 1.2 - 1.3

 

[1] „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf.“[
2]
Präambel der UN-Charta (1945).
[3] Vgl. zur Kritik am UN-Sicherheitsrat auch v. Sponeck (2019).
[4] Vgl. Bernstein (2017, 4).
[ 5 ] In diesem Fall: Die Anerkennung Palästinas als UNESCO-Mitglied.
[6] Vgl. hierzu auch Kapitel 1.3.
[7] Vgl. z.B. zur Kampagne zu einem demokratischen Weltparlament (Leinen/Bummel 2017) sowie Kap. 5 des vorliegenden Buches.
[8] Entnommen aus https://www.unric.org/de/charta, o.D., 17.8.2018.
[9] Zitate entnommen aus: https://www.upi.com/Top_News/US/2019/09/24/Trump-at-UN-General-Assembly-The-future-belongs-to-patriots/4441569319785/?ur3=1, 24.9.19, 24.9.19. [10] Crouch, Colin (2004): Post-Democracy. A Sociological Introduction. Cambridge: Polity Press Ltd.
[11] Bertelsmann-Stiftung (2018).
[12] Vgl. Mausfeld (2017), vgl. auch Wernicke (2017).
[13] Vgl. ausführlicher zu diesem Begründungszusammenhang Moegling (2020a)
[14] vgl. Kapitel 5.
[15] Democracy is „Government is of the people by the people and for the people“, https://www.quora.com/What-was-Abraham-Lincolns-definition-of-democracy, 12.3.2016, 17.11.2019.
[16] Correctiv (2024): Geheimplan gegen Deutschland. https://correctiv.org/aktuelles/neue-rechte/2024/01/10/geheimplan-remigration-vertreibung-afd-rechtsextreme-november-treffen/, 10.1.2024, 11.2.2024.
[17] Correctiv (2024): Geheimplan gegen Deutschland. https://correctiv.org/aktuelles/neue-rechte/2024/01/10/geheimplan-remigration-vertreibung-afd-rechtsextreme-november-treffen/ ,10.1.2024
[18] https://taz.de/Protestwelle-gegen-Rechtsextremismus/!5991343/, 9.2.2024, 11.2.2024.
[19] Vgl. auch Angele, Michael (2024): Anti-AfD-Demos: Ein Hauch von 1968 auf den Straßen. In: Der Freitag,  https://www.freitag.de/autoren/michael-angele/ein-hauch-von-68-auf-den-strassen, Ausgabe 5/2024.
[20] Pausch, Robert (2024): So viel Mitte war nie. In: Die Zeit, vom 8.2.2024, S.1.
[ 21] Philipp Fess (2024): Die AfD und Tabus in der Debatte: Warum die politische Mitte versagt. In: Telepolis, https://www.telepolis.de/features/Die-AfD-und-Tabus-in-der-Debatte-Warum-die-politische-Mitte-versagt-9624676.html?seite=all, 10.2.2024, 10.2.2024.

[22] Zitat aus dem Podcast-Interview von Ebru Taşdemir mit Heike Kleffner und David Begrich: Umgang mit der AfD: helfen Demos, Parteiverbote oder Bündnisse? https://www.freitag.de/autoren/podcast/podcast-zum-umgang-mit-der-afd-helfen-demos-parteiverbote-oder-buendnisse, o.D., 11.2.2024, 09:55-10:23.
[23] Vgl. die entsprechenden Aussagen von David Begrich im Podcast-Interview von Ebru Taşdemir mit Heike Kleffner und David Begrich: Umgang mit der AfD: helfen Demos, Parteiverbote oder Bündnisse? https://www.freitag.de/autoren/podcast/podcast-zum-umgang-mit-der-afd-helfen-demos-parteiverbote-oder-buendnisse, o.D., 11.2.2024, 19:10ff..
[24] Vgl. die entsprechenden Aussagen von Heike Kleffner im Podcast-Interview von Ebru Taşdemir mit Heike Kleffner und David Begrich: Umgang mit der AfD: helfen Demos, Parteiverbote oder Bündnisse? https://www.freitag.de/autoren/podcast/podcast-zum-umgang-mit-der-afd-helfen-demos-parteiverbote-oder-buendnisse, o.D., 11.2.2024, 10:45ff.

[25] Kersten Augustin (2024): Kleiner, aber feiner werden. In: TAZ, https://taz.de/Demos-gegen-rechts/!5987599/, 9.2.2024, 11.2.2024.

[26] Vgl. https://www.tagesschau.de/inland/faeser-rechtsextremismus-108.html, 9.2.2024, 13.2.2024.

[27] https://taz.de/Proteste-gegen-Rechtsextreme/!5987699/, 4.2.2024, 11.2.2024. 

[28] Vgl. die Auswahl der sogenannten Gefängnishefte bei Gramsci (1979) und die 10-bändige Reihe der Gefängnisbriefe bei Gramsci (2012) in der Neuauflage.
[29] Vgl. zu neueren Varianten im Verständnis von Hegemonie bei Mouffe/ Laclau (1985), Brand (2003, 2005), Winter (2003) oder Eis (2018).
[30] Vgl. ausführlicher hierzu Kapitel 5.4.
[31] Vgl. Brand (2005a, 9ff.) sowie Brand/Wissen (2017).
[32] Vgl. die Aussagen von Annan unter https://rp-online.de/politik/ausland/kofi-annan-irak-krieg-war-illegal_aid-9259853, 24.7.2018.
[33] Nader (2004, 219).
[34] Vgl. im Überblick der insbesondere von Seiten der USA angestifteten und durchgeführten illegalen Kriege, welche die UN-Ordnung unterliefen z.B. bei Ganser (2017).
[35] Vgl. hier die Argumentation bei Listl (2019) und Crome (2019, 13ff.).
[36] Vgl. noch weitergehender hierzu Listl (2019, 73ff.).
[37] Vgl. Crome (2019, 69).
[38] Vgl. Amnesty International (2015)
[39] Vgl. ausführlicher im Kapitel 2.7


 


1.4   Militärische Krisen und Rüstungspolitik 

1.4.1          Das Wachstum des militärischen 
                  Gewaltpotenzials 

1.4.1.1        Waffenexporte und der militärisch-ökonomische Komplex 

Es ist nachvollziehbar, dass – solange noch kein stabiles und sicheres internationales System über die Vereinten Nationen existiert, solange hochgerüstete Staaten mit aggressiven geostrategischen Absichten vorhanden sind - Staaten bzw. Staatenverbünde trotz des Vorrangs der Diplomatie und internationalen Verständigung auch ein notwendiges Minimum an Wehrfähigkeit besitzen müssen. Waffensysteme, die vorwiegend zur Verteidigung dienen, wie z.B. Flugabwehrsysteme, sind akzeptable Produkte einer öffentlich kontrollierten Rüstungsindustrie. Die Produktion von Waffen sollte jedoch in Demokratien unter staatliche Kontrolle genommen werden  und nicht in privatwirtschaftlichen Händen liegen, da sich ansonsten ein militärisch-ökonomischer Komplex mit verhängnisvollen Interessensverflechtungen entwickelt.
Der militärisch-ökonomische Komplex soll hier als eine Ökonomie des Todes angesehen werden, die über militärische Aufrüstung, eine Steigerung von Waffenexporten und häufig brutale Zerstörung gesellschaftlicher Ordnungen in Form von Kriegen unterschiedlichster Art Renditen für ihre Anteilseigner erzeugt. [1]  Eigentlich müsste von einem militärisch-ökonomischen-politischen Komplex gesprochen werden, da es die Politiker sind, die Kriegsentscheidungen fällen und Rüstungsausgaben kontrollieren. Rüstungsunternehmer, Kriegsherren, Rüstungslobbyisten und staatstragende Politiker bilden in der Regel – seien es nun formale Demokratien oder offene Diktaturen – eine Einheit mit oftmals miteinander kompatiblen Interessen. Oder anders formuliert: Ohne die medial geschürte Angst vor dem Gegner, ohne kriegerische Auseinandersetzungen, d.h. ohne das massenhafte Sterben von Menschen in den Kriegsgebieten, lassen sich in der Rüstungsindustrie keine nennenswerten Gewinne erzielen. Dies bedeutet, dass internationale tragfähige Abkommen zur Friedenssicherung nicht im Interesse der Rüstungsindustrie und der mit ihr verbundenen militärischen Führung sowie der kooperierenden (und hin und wieder auch profitierenden) Politikern sein können.
Hierbei darf nicht unerwähnt bleiben, dass nicht nur die Generalität, die Banken- und die Konzernchefs, Regierungspolitiker zum militärisch-ökonomischen Komplex gehören, sondern auch die Arbeitnehmer in der Rüstungsindustrie sowie die Berufssoldaten in den Armeen. Beide Gruppierungen haben existenzielle Interessen am Funktionieren einer privatwirtschaftlich organisierten und auf Wachstum setzenden  Rüstungsindustrie und identifizieren sich weitgehend mit deren Zielen und Strukturen bzw. verlangen allenfalls noch eine zusätzliche Effizienzsteigerung.
Der damals scheidende US-Präsident Dwight D. Eisenhower – als Republikaner wahrlich kein politisch links stehender Kritiker des Systems – warnte bereits 1961 in einer Fernsehansprache vor dem militärisch-industriellen Komplex, der aus seiner Sicht dabei sei, die demokratische Staatsform mit seinem Einfluss zu unterlaufen. Eisenhower warnte eindringlich vor dem entdemokratisierenden Einfluss des militärisch-industriellen Komplexes:
„In the councils of government, we must guard against the acquisition of unwarranted influence, whether sought or unsought, by the military-industrial complex. The potential for the disastrous rise of misplaced power exists and will persist.
We must never let the weight of this combination endanger our liberties or democratic processes.“ [2]

Die Interessen des militärisch-ökonomischen Komplexes – Waffenexporte in Spannungsgebiete als Ausdruck moralischer Unterentwicklung 

Greta Thunberg warf den auf dem UN-Klimagipfel vertretenen Staats- und Regierungschefs 2019 mit ihrem empörten „How dare you?!“ ihre Ignoranz und Untätigkeit angesichts der eintretenden Klimakrise vor. Müsste man nicht den gleichen empörten Vorwurf heute der Waffenindustrie machen und in der politischen Öffentlichkeit gegen die Regierungsvertreter erheben, die Waffenexporte in Spannungsgebiete genehmigen: „Wie können Sie es wagen!?“? 
Ist die menschengemachte Klimakrise nicht vergleichbar mit den Waffenexporten in Spannungsgebiete? Die Klimakrise und ethisch nicht zu rechtfertigende Waffenexporte stellen ein globales Phänomen dar, das durch den Menschen verursacht wird. Auch in der durch Waffenexporte beschleunigten Destruktion von Gesellschaftssystemen gibt es Kippunkte und Rückkoppelungseffekte, wie dies ebenfalls bei der krisenhaften Entwicklung des Weltklimas der Fall ist. Letztlich bleiben eine sich steigernde Destruktionsdynamik mit Toten und Verletzten, Failed States, einer zerstörten Umwelt sowie zertrümmerten Gebäuden und Einrichtungen übrig. 
Beides – Klimakrise und durch globalen Waffenexport verschärfte Kriegssituationen – entstehen aus dem gleichen Zustand moralischer Unterentwicklung, aus der gleichen unreifen Geisteshaltung, aus der heraus alles, was eine Rendite einbringt, trotz massiver Zerstörung von Lebensgrundlagen dennoch realisiert wird. 
Gier als Ausdruck moralischer Unterentwicklung, ökonomische und politische Motive spielen eine zentrale Rolle beim Export von Rüstungsgütern in Spannungsgebiete. Hierbei sollen unter der Bezeichnung ‚Spannungsgebiete‘ alle Staaten und Regionen gemeint sein, in denen entweder zwischenstaatliche Kriege, asymmetrische Konflikte sowie massive staatlich organisierte Menschenrechtsverletzungen und staatlich organisierter Terror sowie Bürgerkriege drohen oder bereits existieren.
Es gibt allerdings eine einzige Ausnahme, wo Waffenexporte in Spannungsgebiete sinnvoll sind: Wenn ein Staat durch einen mächtigeren Staat angegriffen wird und alle Verhandlungsangebote vergebens sind, dann kann es legitim sein, den angegriffenen Staat sehr dosiert mit Waffenlieferungen zu unterstützen (und gleichzeitig die diplomatischen Bemühungen aufrecht zu erhalten  bzw. sogar noch zu verstärken). Die russische Invasion in die Ukraine stellt einen solchen Konfliktfall dar, der zu legitimen Waffenexporten in die Ukraine führte. Hierbei wäre es wichtig gewesen, eine verbindliche und prinzipiengeleitete ‚rote Linie‘ für die Waffenexporte zu formulieren, also was geliefert werden darf und was nicht. Auch sollten dies prioritär Waffen sein, wie Abwehrsysteme zum Abschuss angreifender Kampfjets oder Waffen zur Abwehr von Drohnenangriffen, sowie Waffen zur Abwehr angreifender Panzer, z.B. Panzerfäuste. Waffen, die primär zum Angriff gegen den angreifenden Staat im Landesinnern verwendet werden können, z.B. der Luft-Boden Marschflugkörper ‚Taurus‘, verwendet werden können, wie Raketen mit weiter Reichweite sowie Kampfjets, müssten hier jenseits der friedenspolitisch vertretbaren Entscheidungen liegen. 

Zu den ökonomischen Motiven des Rüstungsexportes auch in Spannungsgebiete lässt sich feststellen, dass die Rüstungsindustrie wachsende Renditen verzeichnet, steigende Aktienkurse notiert, bei Anlegern besonders nachgefragt ist und sich auch in Krisenzeiten in einem sicheren Verwertungszusammenhang befindet. [3]
Die genehmigenden Politiker_innen wiederum geben vor, Arbeitsplätze und Technologietransfer sichern zu wollen, haben z.T. ebenfalls ökonomische Interessen (‚Drehtüreffekt‘), stehen unter dem massiven Lobbydruck der Rüstungsindustrie und handeln aus dem Kalkül geostrategischer Interessen heraus.
Offiziell positioniert sich in Deutschland beispielsweise jeder politisch Verantwortliche, Wähler wirksam, gegen die Waffenexporte in Spannungsgebiete, da die nationale und internationale Rechtslage bzw. entsprechende Verordnungen hier inzwischen öffentlich wahrnehmbare Barrieren markieren. Auch sind Waffenexporte in Spannungsgebiete nicht populär. Die überwiegende Mehrheit (mehr als drei Viertel) der deutschen Bevölkerung  lehnt – abgesehen von den Waffenexporten in die sich verteidigende Ukraine – Waffenexporte in Spannungsgebiete ab. [4]
Abgesehen von der Ausnahme, bei der aus Solidarität mit einem angegriffenen Staat gehandelt wird, spielen neben den ökonomischen Motiven geopolitische Motive beim Waffenexport eine Rolle. Waffen bekommen vor allem diejenigen, von denen sich die genehmigenden Politiker im Falle ihres militärischen Sieges einen Vorteil erhoffen. Manchmal werden sogar beide gegeneinander kämpfende Kriegsparteien gestärkt, wenn deren geostrategische Schwächung dem Interesse der Waffen liefernden Nationen entspricht. Die Waffenlieferungen sowohl an den Iran als auch an den Irak von Seiten der USA und auch durch die damalige UDSSR während des ersten Golfkriegs sind ein Beispiel hierfür. Das zynische Kalkül, beide Seiten zu schwächen, ließ einen Krieg eskalieren, dem etwa eine Million Menschen zum Opfer fiel. [5]
Welche konkreten rechtlichen Barrieren wurden nun im Zuge langanhaltender Proteste und deutlicher Kritik an Waffenexporten in Spannungsgebiete errichtet? Dieser Frage soll im nächsten Abschnitt der Untersuchung zunächst für die internationale Ebene und dann für die nationalen Rechtsgrundlagen der Genehmigungspraxis nachgegangen werden. Anschließend wird gefragt, wie wirkungsvoll diese Regelungen für die tatsächliche Praxis der Waffenexporte in Spannungsgebiete sind.

Internationale Regelungen, um Waffenexporte in Spannungsgebiete zu verhindern
 

Regelungen der Vereinten Nationen
 
Der UN-Vertrag über den Waffenhandel (Arms Trade Treaty – ATT), der im April 2013 von der UN-Generalversammlung verabschiedet und 2014 wirksam wurde, ist eindeutig. Die Vertragsstaaten verpflichten sich, ein transparentes und wirksames Kontrollsystem für konventionelle Waffenexporte zu installieren. Ein Vertragsstaat darf laut Artikel 6, Absatz 3 des ATT
„keinerlei Transfer von konventionellen Waffen (…) genehmigen, wenn er zum Zeitpunkt der Entscheidung Kenntnis davon hat, dass die Waffen oder Güter bei der Begehung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, schweren Verletzungen der Genfer Abkommen von 1949, Angriffen auf zivile Objekte oder Zivilpersonen, die als solche geschützt werden, oder andere Kriegsverbrechen im Sinne völkerrechtlicher Übereinkünfte, deren Vertragspartei er ist, verwendet werden würden.“ [6]
Das Problem hierbei ist, dass bisher nicht alle UN-Mitglieder den ATT ratifiziert haben: 113 Staaten haben den Vertrag ratifiziert, akzeptiert, genehmigt oder sind ihm beigetreten („state parties“), von 28 Staaten, die den Vertrag unterschrieben haben, steht dies noch aus („Signatories that are not yet States Parties“), 54 Staaten haben noch nicht unterzeichnet („States that have not yet joined the treaty“) (Stand Februar 2024) [7].  Waffenexporteure, wie Russland und Iran, haben den ATT-Vertrag noch nicht unterzeichnet. Die USA hatten ihm zugestimmt, ihn aber noch nicht ratifiziert, so dass er für sie völkerrechtlich nicht gültig war. Trump bekräftigte nun im Jahr 2019, dass die USA den Vertrag nicht ratifizieren würden:  „Amerikaner leben nach amerikanischen Gesetzen, nicht nach Gesetzen anderer Länder“. [8]  

Aber auch die Biden-Administration hat bisher noch keine Schritte unternommen, den ATT zu ratifizieren – so Rachel Stohl (2022): 

„Unfortunately, the Biden administration has been frustratingly and disappointingly silent on the ATT despite support for the treaty appearing in the Democratic Party’s platform and numerous promises to review the agreement and the U.S. role in it. This decision sits firmly in the executive branch’s hands; no congressional action is required to recommit to the treaty. (…) President Biden need only send a letter to the UN stating that it will fulfill its responsibilities as a signatory and be bound by the object and purpose of the treaty, which are to reduce human suffering and ensure a responsible, accountable, and transparent arms trade.“ 

Deutschland hat den ATT ratifiziert, damit ist der Vertrag für Deutschland völkerrechtlich verbindlich. Mit China, Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Großbritannien haben Staaten das Abkommen unterzeichnet, die zu den zehn größten globalen Waffenexporteuren gehören. China trat dem ATT relativ spät bei, er wurde mit dem Bestätigungsschreiben der UN im Oktober 2020 rechtsgültig. 

Somit lässt sich festhalten, dass zwei der führenden Waffenexporteure, USA und Russland, sich noch nicht entschlossen haben bzw. sich verweigern, dem ATT rechtsverbindlich beizutreten. Auch wenn weitere maßgebliche Waffenexporteure, wie z.B. Deutschland, China oder Frankreich, dem ATT-Vertrag beigetreten sind, kann er seine Wirksamkeit nur sehr eingeschränkt entfalten, bis zumindest alle ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates bereit sind, sich u.a. dem Exportverbot von Waffen in Krisenregionen und Spannungsgebiete anzuschließen. 

Des Weiteren muss kritisiert werden, dass der ATT keine Regelungen zu verbindlichen Kontrollen und Sanktionen enthält. Es wird lediglich an die Nationalstaaten appelliert, die Anforderungen des ATT in nationales Recht zu überführen und die rechtlichen Grundlagen sowie die Genehmigungspraxis und die Art, den Umfang und Zielort der Waffenexporte auf freiwilliger Basis an das ATT-Sekretariat der Vereinten Nationen weiterzuleiten. Dies soll durch den Anreiz finanzieller Förderung durch das ATT-Sponsorship Programme und den ATT Volantary Trust Fund unterstützt werden.
Allerdings muss festgestellt werden, dass diese Anreize nicht wirkungsvoll genug sind, da auch ATT-Unterzeichnerstaaten, wie z.B. Frankreich, Deutschland, Großbritannien, China und Italien, in Spannungsgebiete – ohne dass dort eine Unterstützung einer Selbstverteidigung im Sinne der UN-Charta vorliegt – Waffen exportieren. Amnesty International (o.D.) führt hier z.B. die importierenden Staaten, wie z.B. Saudi-Arabien, Israel und Ägypten an.  Beispielsweise hat die deutsche Bundesregierung im Januar 2024 den Verkauf von 150 Iris-T-Raketen an Saudi-Arabien genehmigt, obwohl dieses Land am Krieg im Jemen maßgeblich beteiligt ist.

  
EU-Regelungen
 
Auch auf der Ebene der Europäischen Union haben wir ebenfalls entsprechende Regelungen, die den Waffenexport in Spannungsgebiete strikt untersagen und über den Waffenexport insgesamt Kontrolle ausüben wollen.
Im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU (GASP) wurde ein sogenannter „Gemeinsamer Standpunkt des Rates“ 2008 (in Fortschreibung und erneutem Beschluss 2019) entwickelt. [9] Hierbei wird zunächst betont, dass die Mitgliedsstaaten Anträge auf Waffenexport oder auf den Export von Waffentechnologie vor dem Hintergrund internationaler Vereinbarungen zu prüfen haben. Dies sind in erster Linie Bündnisverpflichtungen gegenüber der EU und der UN, die sich u.a. aus Übereinkünften zu verhängten Sanktionen, der Nicht-Verbreitung von Nuklearwaffen, dem Verbot von Antipersonen-Minen (Ottawa-Übereinkunft) sowie dem Verbot chemischer und biologischer Waffen ergeben (Art. 2 (1) des „Gemeinsamen Standpunkts des Rates“). Im Art. 2 (2) werden acht Kriterien für die Zusage bzw. die Ablehnung des Waffenexports festgelegt. Insbesondere bei einem Verstoß eines Staates gegen die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht ist eine Exportgenehmigung in ein Endbestimmungsland zu versagen. Wenn ein Risiko besteht, dass die exportierten Rüstungsgüter und Militärtechnologien zur internen Repression in dem Empfängerland führen würden, wenn dort schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen und Verstöße gegen das geltende Völkerecht vorgenommen würden oder zu erwarten sind, wenn bewaffnete Konflikte im Innern und mit anderen Staaten hierdurch verschärft würden, wenn eine unerwünschte Haltung zum Terrorismus bestehe, dann müsse die Exportgenehmigung verweigert werden. Auch wenn eine Abzweigung von Militärtechnologie zu erwarten und das Risiko eines Weiterexports von Rüstungsgütern in unsichere und risikobehaftete Drittstaaten zu erwarten sei, müsse der Rüstungsexport verweigert werden. 
Mit diesen Formulierungen bewegt sich der Beschlussrahmen auf der Ebene des UN-Vertrags für Waffenexporte (ATT). 
Probleme ergeben sich allerdings, wenn die Bestimmungen des Artikels 2 (1) und 2 (2) in einen Widerspruch zueinander treten. Unwägbar und offen bleibt die staatliche Genehmigungspraxis, wenn aufgrund von Bündnisverpflichtungen eine Lieferung von Rüstungsgütern als notwendig erachtet wird, obwohl diese Waffen dann zur Unterdrückung der eigenen Bevölkerung, der Aggression im Nachbarstaat oder für die direkte Lieferung an kriegsführende Parteien in Spannungsgebieten eingesetzt werden. Hier wären sicherlich beispielsweise die deutschen Waffenlieferungen in die Türkei, nach Saudi-Arabien sowie die Waffenlieferungen von Frankreich und Italien im Libyen-Konflikt zu nennen. Auch die USA und Russland liefern weltweit Waffen an ihre an militärischen Konflikten beteiligten Bündnispartner, ohne dass dies durch Regulierungen der UN-Charta legitimiert ist. 

Der auf Waffenexporte spezialisierte Journalist Wolf-Dieter Vogel verweist zudem darauf, dass der ‚Gemeinsame Strandpunkt des Rates‘ keine Rechtsverbindlichkeit im Sinne einer EU-Verordnung besitze. [10] Offensichtlich belässt man bewusst einen erheblichen Entscheidungsspielraum für die Mitgliedsstaaten bei dem Export von Rüstungsgütern. Die fehlende Rechtsverbindlichkeit der Beschlüsse sowie die potenziell in einen Widerspruch zueinander tretenden Bestimmungen von Art. 2 (1) und 2 (2) bieten dann auch eine ungünstige Voraussetzung für Sanktionen gegenüber EU-Staaten, die sich nicht an die Vereinbarung des Rates zu Waffenexporten in Spannungsgebiete bzw. in die Menschenrechte missachtenden Staaten halten.

Nationalstaatliche Regelungen am Beispiel Deutschlands
 
Jeder Staat hat seine eigenen Regelungen zur Frage der Waffenexporte, die unterschiedlich streng bzw. nachlässig gestaltet sein können. Es soll hier am Beispiel Deutschlands demonstriert werden, inwieweit dort welche normativen Erwartungen an den Waffenhandel formuliert werden. Diese werden dann in einem nachfolgenden Schritt– genauso wie für die globale und die europäische Ebene – überprüft, inwieweit Anspruch und Realität zusammenfinden können. 
Die Beschränkungen des Waffenexports aus Deutschland in andere Staaten beziehen sich zunächst auf das grundsätzliche Friedensgebot des Artikels 26 (1) und der Ansprüche des Artikels 26 (2) des deutschen Grundgesetzes, in dem die Herstellung von Waffen und der Waffenexport als genehmigungspflichtig deklariert werden („Zur Kriegsführung bestimmte Waffen dürfen nur mit der Genehmigung der Bundesregierung hergestellt, befördert und in Verkehr gebracht werden.“ (GG Art. 26 (2)). 
Beispielsweise im Koalitionsvertrag von 2017 berief sich die damalige Bundesregierung u.a. auf den ATT, den ‚Gemeinsamen Standpunkt des Rates‘ der EU, das Außenwirtschaftsgesetz (AWG) und das Kriegswaffenkontrollgesetz (KrWaffKontrG) und legte für sich restriktiv hinsichtlich des Waffenexports fest: 

„Die Beachtung der Menschenrechte im Empfängerland spielt bei der Entscheidungsfindung eine hervorgehobene Rolle. Wenn hinreichender Verdacht besteht, dass die zu liefernden Rüstungsgüter zur internen Repression oder zu sonstigen fortdauernden und systematischen Menschenrechtsverletzungen missbraucht werden, wird eine Genehmigung grundsätzlich nicht erteilt.“ [ 11]
Neben der Einhaltung der Menschenrechte ist das zweite entscheidende Kriterium die Frage nach der friedenspolitischen Zuverlässigkeit bzw. der Gefährdung des zwischenstaatlichen Friedens durch das Empfängerland:
„Nach § 6 KrWaffKontrG besteht kein Anspruch auf Erteilung einer Genehmigung für die Ausfuhr von Kriegswaffen. Diese ist zwingend zu versagen, wenn die Gefahr besteht, dass die Kriegswaffen bei einer friedensstörenden Handlung verwendet, völkerrechtliche Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt werden oder aber der Antragsteller nicht die für die Handlung erforderliche Zuverlässigkeit besitzt.“ [12]
Eigentlich sind diese Regelungen genügend restriktiv und verantwortungsvoll formuliert. Dennoch kritisiert auch hier Wolf-Dieter Vogel, dass diese Formulierungen eher Ansprüche und keine rechtlich verbindlichen Regelungen darstellen („Die deutschen Rüstungsexportrichtlinien sind nicht rechtsverbindlich“ [13]). Diese Kritik lässt sich m.E. zwar auf Regelungen in einem Koalitionsvertrag sowie auf den Bundesexportbericht beziehen, aber weder auf das AWG noch auf das KrWaffKontrG, die Gesetzescharakter besitzen und auf deren Grundlagen im Falle von Verstößen die Strafverfolgung eingeleitet werden kann bzw. müsste.
Der offizielle Weg zu einer Waffenexportgenehmigung sieht eine Voranfrage eines Rüstungsunternehmens bei dem Ministerium für Wirtschaft und Energie über die Möglichkeit eines Waffenexports bzw. Exports von Rüstungsgütern vor. Das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA), eine Oberbehörde des Bundeswirtschaftsministeriums, ist an der Kriegswaffenkontrolle beteiligt, dem regelmäßig Kriegswaffenbestände und Bestandsveränderungen zu melden sind. Maßgeblich für die Genehmigung einer Voranfrage ist – neben einer politischen Einschätzung des Empfängerlandes – eine lange und detaillierte Waffenliste, die definiert, welche Gerätschaften der Exportkontrolle unterliegen (Ausfuhrliste zur Außenwirtschaftsverordnung (2018)). Falls die Voranfrage eines Rüstungsunternehmens abschlägig beschieden wird, wird das Projekt zumindest auf diesem offiziellen Weg in der Regel nicht weiter verfolgt. Wird die Voranfrage positiv beschieden, dann kann der Waffenexport in der Regel erfolgen. Ein Waffenexport, der außerhalb Europas zu Staaten erfolgen soll, die nicht zur NATO oder vergleichbaren Staaten angehören oder die als problematische Staaten gelten, führt bei entsprechender politischer Bedeutung zur Verhandlung vor dem Bundessicherheitsrat (BSR), einem Kabinettsausschuss, der von der Bundeskanzlerin bzw. dem Bundeskanzler geleitet wird und in dem u.a. mehrere Bundesminister sitzen. Dort wird u.a. unter Ausschluss der Öffentlichkeit über entsprechende Anträge auf Waffenexport verhandelt. Die Sitzungen des Bundessicherheitsrats sind geheim. Es wird weder ein Sitzungsdatum noch eine Tagesordnung im Vorhinein bekannt gegeben. Erst im Nachhinein wird nach erfolgter Entscheidung der Bundestag informiert. Allerdings untersteht der Bundesssicherheitsrat nicht der parlamentarischen Kontrolle des Bundestags. Er entscheidet über Waffenlieferungen in der Regel autonom und ist der Bundesregierung nur verpflichtet, wo dies gesetzlich festgelegt ist. Hierbei stehen die Waffenexportgenehmigungen in einem Zusammenhang mit der deutschen Sicherheitspolitik und ihrer strategischen Ausrichtung, so wie dies der Bundessicherheitsrat und die Bundesregierung für sich definieren.
Auch wird der Ermessensspielraum für den Bundesssicherheitsrat auch weiterhin dadurch belassen, dass transnationale Sanktionspolitik und Bündnisverpflichtungen aufgrund zwischenstaatlicher Verträge (KrWaffKontrG § 27 [14]) zu beachten sind. So sind nach dem Artikel 3 des Nordatlantikvertrags der NATO (1949) die Vertragsstaaten verpflichtet: „Um die Ziele dieses Vertrags besser zu verwirklichen, werden die Parteien einzeln und gemeinsam durch ständige und wirksame Selbsthilfe und gegenseitige Unterstützung die eigene und die gemeinsame Widerstandskraft gegen bewaffnete Angriffe erhalten und fortentwickeln.“
Ein weiteres Problem ist, dass das deutsche Waffenkontrollgesetz in einem partiellen Widerspruch zur Handhabung europäischer Rechtsnormen steht. Es gibt immer noch keine wirksame Kontroll- und Sanktionspolitik auf europäischer Ebene aufgrund des rechtsunverbindlichen Charakters der betreffenden EU-Regelungen. Dadurch wird der Waffenexport aus Deutschland in andere EU-Staaten ermöglicht, die wiederum Waffenexporte in Spannungsgebiete tolerieren. Hierdurch wird die Ausfuhr aus dem betreffenden EU-Land in Drittländer, zu denen dann auch Spannungsgebiete gehören können, ermöglicht.
Zwar wurden im Jahr 2015 von der Bundesregierung Richtlinien für Post-Shipment-Kontrollen formuliert, bei denen u.a. in Zusammenarbeit mit dem Bundeswirtschaftsministerium, insbesondere dem Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA), der Endverbleib der exportierten Waffen im Empfängerland kontrolliert werden soll. Das Problem hierbei stellt sich zunächst im Prinzip der exemplarischen Überprüfung und des fehlenden Personals für vollständige Überprüfungen sowie mit dem Blick auf die Einlösung von Handelsinteressen dar, wenn dort formuliert wird:
„Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie und die Rüstungszusammenarbeit mit Drittländern dürfen durch das System der Post-Shipment Kontrollen nicht gefährdet werden.“ [15]
Dementsprechend gibt es auch keine wirksame Handhabe gegenüber Direktinvestitionen von Rüstungskonzernen in Spannungsgebieten oder wenn in einen vermeintlich sicheren Staat außerhalb der EU und der NATO investiert wird. Wenn beispielsweise ein deutscher Technologietransfer nach Australien erfolgt, dort eine Waffenfabrik bzw. eine Munitionsfabrik in Zusammenarbeit mit einem deutschen Rüstungskonzern gebaut wird, ist aufgrund der entsprechenden Aussagen der australischen Regierung und der bereits getätigten Lieferungen nicht gesichert, dass diese dort produzierten Waffen nicht auch in Spannungsgebiete exportiert bzw. dort von dem beteiligten, Waffen produzierenden Staat eingesetzt werden.[16] Wenn in Südafrika von einem deutschen Rüstungskonzern eine Munitionsfabrik gebaut wird, dann muss man sich nicht wundern, wenn mit deutschem Know How im Jemen-Krieg getötet wird.

Die Realität der Waffenexporte
 
Es soll hierbei bereits etwas früher in der Datenanalyse angesetzt werden, um die Entwicklung über einen längeren Zeitraum verfolgen und die Veränderungen im Laufe der Zeit im Zusammenhang mit politischen Ereignissen feststellen zu können.
Das schwedische Friedensforschungsinstitut SIPRI (Stockholm International Peace Research Institute) stellte bereits in seinen im Frühjahr 2018 veröffentlichten Bericht fest [17], dass der internationale Waffenhandel in den letzten fünf Jahren im Vergleich zu 2008 bis 2013 um 12% zugenommen habe. Hierbei belegte die Rüstungsindustrie der USA mit 34% Marktanteil (plus 25% Waffenverkäufe im Vergleich) den ersten Rang waffenexportierender Nationen. Die Verträge hierfür wurden unter der Regierung des Friedensnobelpreisträgers Obama unterzeichnet. Zweitgrößtes Exportland war Russland (minus 7,1% Waffenverkäufe), dann folgten Frankreich (plus 27%) sowie Deutschland (minus 14%) und China (plus 38%). Die Rüstungsindustrien dieser fünf Staaten waren für 74% aller Waffenverkäufe von 2012-2017 verantwortlich. Nahezu jede dritte verkaufte Waffe wurde in Staaten des Mittleren Ostens geliefert, welche die Zahl ihrer Waffenimporte in diesem Zeitraum verdoppelt hatten. Jede zweite US-Waffe wurde hierbei wiederum in den Mittleren Osten verkauft. Die Waffenverkäufe der deutschen Rüstungsindustrie in den mittleren Osten stiegen in dieser Zeit um 109%.
Im Jahr 2019 besaßen die USA bereits einen Waffenexportanteil von 36% und die Waffenexporte waren im Zeitraum 2015-2019 um 76% höher als die Exporte des Zweitgrößten Exportland Russland (minus 7,1% Waffenverkäufe) (SIPRI 2020a).
Insgesamt waren im globalen Kontext die jährlichen Waffenverkäufe im Vergleich zu 2002 bis zum Jahr 2018 um 42% gestiegen. Hierbei führten in der Skala der Waffen produzierenden Unternehmen fünf US-Konzerne:
„For the first time since 2002, the top five spots in the ranking are held exclusively by arms companies based in the United States: Lockheed Martin, Boeing, Northrop Grumman, Raytheon and General Dynamics. These five companies alone accounted for $148 billion and 35 per cent of total Top 100 arms sales in 2018. Total arms sales of US companies in the ranking amounted to $246 billion, equivalent to 59 per cent of all arms sales by the Top 100. This is an increase of 7.2 per cent compared with 2017.“ [18]
Die meisten Waffen wurden nach Indien verkauft (Spannungen mit China und Pakistan). Saudi-Arabien, das aktiv zur Destabilisierung des Mittleren Ostens beiträgt und zerstörerische militärische Einsätze im Jemen fliegt, war zweitgrößter Importeur von Waffen (Verdreifachung seiner Waffeneinkäufe in den letzten fünf Jahren). Hiernach folgten Ägypten, die Arabischen Emirate und China.
China verringerte seine Importe, da es zunehmend selbst Waffen produziert. Die Steigerung der Waffenexporte Chinas (38%) bezieht sich vor allem auf Pakistan, Algerien und Bangladesch.
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„Seit 2003 hat die Bundesregierung ihre Beziehungen zu Saudi-Arabien stetig ausgebaut. Ziel der Bundesrepublik war und ist vor allem die Förderung des Außenhandels, doch hatten einige der neueren Geschäfte eine klare sicherheitspolitische Dimension. Bisheriger Höhepunkt der von mittlerweile drei deutschen Regierungen betriebenen Zusammenarbeit war der geplante Verkauf von 270 Leopard-Kampfpanzern in das Wüstenkönigreich. Vor dem Hintergrund des Arabischen Frühlings war dieses Geschäft jedoch höchst problematisch. Dies betraf zunächst einmal die Ausstattung der bestellten Panzer. Es handelt sich um den Leopard 2A7–+, der für die Aufstandsbekämpfung in bewohntem Gebiet umgerüstet ist und sich damit vor allem für die Niederschlagung von Unruhen im Inland eignet.“ [19]
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Dies bedeutet eindeutig, dass die Waffenlieferungen trotz politischer Diskussionen und anderslautender politischer Statements der jeweiligen Regierungen fast durchweg in Spannungsgebiete erfolgen. Die Ökonomie des Todes wächst mit jedem Spannungsherd – so Pieter Wezeman, Senior Researcher des ‚SIPRI Arms and Military Expenditure Programms‘:
“Widespread violent conflicts in the Middle East and concerns about human rights have led to political debate in Western Europe and North America about restricting arms sales (…) Yet the USA and European states remain the main arms exporters to the region and supplied over 98 per cent of weapons imported by Saudi Arabia.” [20] 
Der Rüstungsexport in Spannungsgebiete hat oftmals massive militärische Unterdrückung der Zivilbevölkerung durch die verschiedenen Kriegsparteien (siehe Syrien oder Jemen) bis hin zum rassistisch unterlegten Versuch des Genozids zur Folge, wie z.B. aktuell in Myanmar (Birma) in Bezug auf die muslimische Volksgruppe der Rohingyas oder 1994 in Ruanda hinsichtlich des Massenmords an der Bevölkerungsgruppe der Tutsis durch Hutu-Milizen. 
Auch die 2023/2024 erfolgte völkerrechtswidrige Bombardierung des Gaza-Streifens mit Zehntausenden Toten insbesondere in der palästinensischen Zivilbevölkerung, in unverhältnismäßiger Reaktion auf den vorherigen brutalen Angriff der Hamas auf israelisches Gebiet, erfolgte mit westlichen Waffen. 
Auch Daten von SIPRI (2020) machen deutlich, dass die USA, Russland, Frankreich, Deutschland und China, die fünf größten globalen Waffenexporteure, Waffen überall hin exportieren – unabhängig davon, ob es sich hierbei um Spannungsgebiete handelt.

SIPRI (2023) verweist nun auf eine Trendwende hinsichtlich der regionalen Verteilung der Waffenimporte. Insbesondere europäische Staaten steigerte ihre Waffenimporte, was sicherlich in einer Verbindung mit den wachsenden Spannungen mit Russland im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine steht:

„Imports of major arms by European states increased by 47 per cent between 2013–17 and 2018–22, while the global level of international arms transfers decreased by 5.1 per cent. Arms imports fell overall in Africa (–40 per cent), the Americas (–21 per cent), Asia and Oceania (–7.5 per cent) and the Middle East (–8.8 per cent)—but imports to East Asia and certain states in other areas of high geopolitical tension rose sharply. The United States’ share of global arms exports increased from 33 to 40 per cent while Russia’s fell from 22 to 16 per cent, according to new data on global arms transfers published today by the Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI).“

Die Zahlen des schwedischen Friedensforschungsinstituts SIPRI machten für den Zeitraum von 2015-2019 deutlich, dass die Rüstungsexporte beständig stiegen. Hiervon waren auch die Rüstungsexporte in Spannungsgebiete nicht ausgenommen: 
 

Table 1: The 10 largest arms exporter and importers [21] 

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 Arms exports 2015-2019                   Arms imports 2015-2019
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Rank       Country      Share in %        Country           Share in %
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1              USA                  36                Saudi Arabia       12 
2              Russia              21                India                     9.2
3              France              7.9              Egypt                     5.8
4              Germany          5.8              Australia               4.9                  
5              China*              5.5              China                     4.3
6              UK                     3.7              Algeria                   4.2
7              Spain                3.1              South Korea          3.4
8              Israel                3.0              United Arab 
                                                              Emirates (UAE)     3.4
9              Italy                   2.1              Iraq                         3.4
10           South Korea     2.1              Qatar                      3.4
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Ab 2022 ist die angegriffene Ukraine zum drittgrößten 
Waffenimporteur aufgestiegen (SIPRI 2023a) 
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* China's arms exports are most likely to be set higher, as no traceable international insight into Chinese arms exports is available . 

 
Die Tab. 1 macht deutlich, dass die USA und Russland bis 2019 mit Abstand die größten Waffenexporteure waren, die für mehr als die Hälfte aller Waffenexporte verantwortlich sind (57%). Hierbei lassen sich weder diese beiden Staaten noch auch die acht folgenden Länder im Ranking der Exporteure von den internationalen Waffenexportverboten in Bezug auf Krisen- und Spannungsgebiete abhalten. Fast alle weltweit führenden, Waffen importierenden Staaten befanden sich in Spannungsgebieten bzw. sind in Kriege und asymmetrische militärische Konflikten verwickelt (bis auf Australien).
So stiegen die Waffenexporte in das Spannungsgebiet des Mittleren Osten im Vergleich der Jahre 2010-2014 mit dem Zeitraum von 2015-2019 um 61% (!). [22] 
Insbesondere Syrien, Jemen und Libyen sind in dieser Zeit Kriegsschauplätze, auf denen vorwiegend mit aus den USA und aus Europa (incl. Russland) importierten Waffen Kriege geführt werden.
SIPRI (2023) zeigt nun, dass inzwischen die von der russischen Invasion betroffene Ukraine die größten Waffenimportsteigerungen aufweist und 2022 zum drittgrößten Waffenimporteur wurde:

„From 1991 until the end of 2021, Ukraine imported few major arms. As a result of military aid from the USA and many European states following the Russian invasion of Ukraine in February 2022, Ukraine became the 3rd biggest importer of major arms during 2022 (after Qatar and India) and the 14th biggest for 2018–22. Ukraine accounted for 2.0 per cent of global arms imports in the five-year period.“ 
Für den Zeitraum von 2019 bis 2023 veränderte sich das Verhältnis hinsichtlich der Exporte schwerer Waffen erheblich (Tab. 2).

 

Tab. 2: Die 10 größten Exporteure schwerer Waffen und prozentuale Veränderungen (SIPRI 2024)
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Exportierendes       Prozentualer Anteil % am          Prozentualer Anteil % am        Prozentualer Wechsel  Land                         weltweiten Export schwerer      weltweiten Export schwerer   von 2014-2018 zu

                                   Waffen 2019-2023                     Waffen  2014-2018                 2019-2023

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USA                                         42                                                       34                                               17

Frankreich                              11                                                       7,2                                              47

Russland                                 11                                                       21                                              -53

China                                        5,8                                                      5,9                                             -5,3

Deutschland                            5,6                                                      6,3                                             -1,4

Italien                                       4,3                                                       2,2                                               86

Großbritannien                        3,7                                                      4,1                                              -14

Spanien                                    2,7                                                       2,7                                              -3,3

Israel                                         2,4                                                       3,1                                              -25

Südkorea                                  2,0                                                       1,7                                               12

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Im Zuge des Kriegs in der Ukraine konnten die Rüstungsunternehmen in den Vereinigten Staaten ihre Waffenexporte im Vergleichszeitraum deutlich erhöhen. Die Exporte von schweren Waffen, wie Panzern, Artillerie und Raketensystemen, erhöhten sich von 34% auf 42% prozentualem Anteil am Welthandel. Auch die Exporte aus Frankreich und Italien erhöhten sich erheblich. Gleichzeitig sanken die russischen Exporte im Zuge der westlichen Sanktionspolitik um 53% von 21% auf 11% prozentualem Anteil am Welthandel mit schweren Waffen.

 
Beispiel Libyen

Seit dem Sturz des Gaddhafi-Regimes 2011 befand sich Libyen in einer politisch äußerst instabilen Lage. Lange Jahre fand eine militärische Auseinandersetzung zwischen den Truppen des Generals Haftar und den Regierungstruppen der Regierung von al Sarradsch statt, immer wieder von kurzen Waffenstillständen unterbrochen. Trotz eines vom UN-Sicherheitsrat verhängten Waffenembargos, das auch noch einmal im Juni 2020 verlängert wurde, wurden von verschiedenen Staaten Waffen in das Spannungsgebiet geliefert. Die Türkei entsendete syrische Söldner, Waffen und Drohnen, um al Sarradsch zu unterstützen. Auch Katar unterstützt die Regierungstruppen. Russland, die Arabischen Emirate sowie Saudi Arabien unterstützte Haftar. Russland entsendete u.a. Söldnertruppen aus privaten russischen Militärfirmen nach Libyen.[23] Aber auch innerhalb der NATO und der EU gingen die Unterstützungsleistungen in eine unterschiedliche Richtung. Während die an der Ausbeutung libyscher Gasvorkommen interessierte Türkei al Sarradsch militärisch absicherte, wurde dieser ebenfalls von Italien mit der Lieferung von Militärausrüstung unterstützt, das ebenfalls Interesse an der Ausbeutung der Erdölfelder vor der libyschen Küste und dem Zurückhalten von Flüchtlingen hat. Italien hat hier eine längere Tradition, da Italien bereits al-Gaddafi Militärhubschrauber geliefert hatte, die er dann 2011 gegen seine revoltierende Bevölkerung einsetzte. Frankreich befindet sich, gemeinsam mit Russland, auf der Seite des Generals Haftar. Beide Staaten wiederum haben Interessen hinsichtlich der Sicherung Milliarden umfassender Aufträge, des Angebots eines Zugangs zum libyschen Energiemarkt, des Zurückdrängens von Islamisten sowie der Nutzung libyscher Mittelmeerhäfen. Alle Beteiligten haben hierüber hinaus geostrategische Interessen und wollen ihren Einfluss im arabischen Raum stärken. [24]
Während Deutschland zu internationalen Verhandlungsgesprächen zur Durchsetzung eines Waffenembargos einlädt, werden im Hintergrund von der deutschen Bundesregierung Waffenlieferungen im großen Umfang an Staaten genehmigt, die selbst wiederum Waffen in das libysche Konfliktgebiet liefern – so genehmigte die Bundesregierung seit Beginn des Jahres 2019 Rüstungsexporte im Wert von mehr als 1,3 Milliarden Euro in Staaten, die den Libyen-Krieg anheizen. [25] 
Aufgrund der ökonomischen und geostrategischen Interessen wird sich über alle geltenden Bestimmungen des Waffenexports hinweggesetzt. Selbst ein einstimmig vom UN-Sicherheitsrat verhängtes Waffenembargo zeigt kaum eine Wirkung.
Im Jahr 2023 beschreiben Böhm/Nahr (2023) die Lage in Libyen wie folgt: 

„Seit dem Sturz des Langzeitdiktators Muammar al-Ghadhafi im Jahr 2011 herrscht in Libyen nahezu ununterbrochen Krieg. Milizenbosse, Politclans und fremde Söldner kämpfen in dem riesigen, dünn besiedelten Wüstenland um Macht und Öl. Jüngst musste sich Hamudas Chef, der international anerkannte Ministerpräsident Dbaiba, seines Konkurrenten Fathi Bashagha erwehren, der das Amt ebenfalls beansprucht und dabei vom mächtigen, ostlibyschen Warlord Khalifa Haftar unterstützt wird. (…) Dbaiba-treuen Kämpfern gelang es im letzten Sommer, den Angriff zurückzuschlagen. Seither herrscht Ruhe. Zum ersten Mal seit Jahren schweigen die Waffen. Die lokalen Kriegsparteien in Libyen sind müde, und ihre internationalen Unterstützer aus der Türkei, Russland, dem Westen und dem Golf sind mit anderen Dingen beschäftigt. Jüngst war sogar der CIA-Chef im Land, um zwischen den verfeindeten Politikern im Osten und im Westen des Landes zu vermitteln. (…) Libyen ist gespalten, es gibt zwei Parlamente, zwei Ministerpräsidenten, eine Vielzahl bewaffneter Gruppen, und die ursprünglich für Dezember 2021 angesetzten Wahlen wurden auf unbestimmte Zeit verschoben.“ 

Eine UN-Resolution 2702 des Sicherheitsrats vom 30.10.2023 fordert weiterhin das Abhalten freier, allgemeiner Wahlen für Libyen und drückt ihre Sorge um die Sicherheitslage in Libyen und ihre destabilisierende Wirkung in Bezug auf Nachbarstaaten aus.

Zusammenfassend lässt sich feststellen: Das Beispiel des libyschen Staates zeigt, wie massive Militärinterventionen, Waffenexporte an unterschiedliche Gruppierungen verbunden mit geostrategischen und ökonomischen Interessen ein Land langfristig zerstören können. Libyen befindet sich im Status eines 'failed States‘ und es bleibt abzuwarten, ob die zukünftige  Durchführung von Wahlen zu einer Einigung und Stabilisierung des Landes führen können. 

 

Waffenexporte in Spannungsgebiete aus der EU

Im Jahr 2012 erhielt die Europäische Union den Friedensnobelpreis. Im gleichen Jahr war die EU hingegen  massiv an der Produktion und am Export von Waffen und anderen Rüstungsgütern beteiligt. Trotz der Regelungen des ATT und des ‚Gemeinsamen Standpunkts des Rats der EU‘ wurden aus der EU massiv Waffen gezielt in Spannungsgebiete geliefert:
„Von 51 autoritären Regimen weltweit bekamen 43 europäische Rüstungsgüter geliefert. Von 47.868 beantragten Exportlizenzen wurden nur 459 zurückgewiesen. Alleine die deutschen Rüstungsexporte in die sechs Staaten des Golf-Kooperationsrates – unter ihnen Saudi Arabien und Bahrain – beliefen sich im Jahre 2012 auf 1,42 Milliarden Euro!“[26]
Doch auch nach 2012 entwickelte sich dies nicht anders. Neben Deutschland sind vor allem Frankreich, GB, Spanien und Italien am Waffenexportgeschäft beteiligt. Ihr Anteil am Waffengeschäft betrug 22.6%, knapp ein Viertel der weltweiten Waffenexporte – so eine Anfrage 2020 der Linken im Europaparlament. Hierbei gehen die Exporte vorrangig in Spannungsgebiete, wie Saudi-Arabien, die Türkei, Ägypten, Libyen, die Vereinigten Emirate oder Algerien.[27]
Die Ansprüche des „gemeinsamen Standpunkts der EU“ scheinen nicht zu greifen. Wenn Bündnisverpflichtungen und eigene geopolitische und ökonomische Interessen im Raum sind, wird der „Gemeinsame Standpunkt“ zur Makulatur bzw. umgangen.
Auch Regulierungen hinsichtlich des Exports von Gütern, die sowohl zivil als auch militärisch nutzbar sind („EU Dual-Use Regulation“), kamen bis zum jetzigen Zeitpunkt aufgrund von Meinungsverschiedenheiten in den Europäischen Gremien noch nicht zustande. Bei diesen zweifach verwendbaren Gütern handelt es u.a. um elektronische Produkte wie Störsender, die z.B. zur Störung des Internets und des Handy-Empfangs auch gegen die eigene Zivilbevölkerung eingesetzt werden können. Genauso können Militärlastwagen durch das Anbringen einer Lafette und eines Maschinengewehrs militärisch aufgerüstet werden.
Hingegen arbeitet die EDA (European Defense Agency) im Rahmen der Permanent Structured Cooperation (PESCO) hinsichtlich der Koordination der europäischen Rüstungsbemühungen bereits mit Hochdruck. Die EDA soll zwar u.a. nur für die Unterstützung der innereuropäischen Forschung und Entwicklung von Militärtechnologie zuständig sein. Dies vollzieht sich in einem finanziellen Rahmen von PESCO, bei der sich die beteiligten EU-Staaten verpflichtet haben, ihre Investitionen in Verteidigungsgüter um 20% zu erhöhen. Hierbei entzieht es sich aber der Kompetenz und Kontrolle der EDA, wenn eine derart entwickelte Technologie auch Gegenstand von Rüstungsexporten in Drittstaaten wird.
Die aktuelle Entwicklung hinsichtlich der europäischen Militärkooperation kann diese Problematik noch verschärft abbilden. Die derzeit auf EU-Ebene aufgrund des Antrags der Hohen Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik im Dezember 2017 auf den Weg gebrachte sogenannte ‚Europäische Friedensfazilität‘ (EFF) (European Peace Facility, EPF) gibt vor, vor allem die EU-Entwicklungszusammenarbeit von Kosten für die Sicherheitsarchitektur in Afrika zu entlasten, indem ein Fonds von 10,5 MRD € außerhalb des regulären EU-Haushalts u.a. hierfür bereitgestellt werden solle.
Die EFF sieht explizit – neben dem Angebot militärischer Ausbildung – den Export von Waffen, Munition und Sicherheitstechnik vor.
„Derzeit verfügt die EU nur über begrenzte Kapazitäten für eine Beteiligung an militärischen oder verteidigungspolitischen Maßnahmen wie Kapazitätsaufbau und Bereitstellung von Ausbildung, Ausrüstung oder Infrastruktur. Die EFF wird zum Ausbau der Kapazitäten von Streitkräften in Partnerländern zur Friedenssicherung, Konfliktverhütung und Bewältigung von Sicherheitsbedrohungen beitragen. Zum Beispiel wird der Erfolg militärischer Ausbildungsmissionen der EU manchmal dadurch infrage gestellt, dass die Partner wegen oftmals nur sehr rudimentärer Ausrüstung oder Infrastruktur aus dem Gelernten nur unzureichenden Nutzen ziehen können. Die EFF wird es der EU ermöglichen, umfassende Unterstützung durch integrierte Pakete zu leisten, die Ausbildung, Ausrüstung und andere Formen der Unterstützung vorsehen können. So wird es den Partnern leichter gelingen, Krisen und Sicherheitsbedrohungen aus eigener Kraft zu bewältigen.“ [28]
Zwar könnte die beabsichtigte Trennung von Entwicklungszusammenarbeit und Militärausgaben tatsächlich positive Effekte für den tatsächlichen Umfang der zivilen Entwicklungszusammenarbeit haben, dennoch ist dies nicht ohne Risiken. Insbesondere besteht eine Gefahr darin, dass diese Milliarden auch dazu dienen, Waffenexporte in Drittstaaten zu finanzieren, die erstens als Krisengebiete anzusehen sind und zweitens keine sicheren Endverbleibsstaaten sind, d.h. selbst diese Waffen weiter in Spannungsgebiete weiterleiten bzw. verkaufen. [29] 
Dies wäre dann eine neue Qualität auch der offiziellen EU-Außen- und Sicherheitspolitik, wenn Waffenlieferungen offen in Drittstaaten bzw. Krisengebiete geliefert werden könnten. 
Die EFF wird derzeit auf EU-Ebene diskutiert und der Ausgang der Entscheidung war eine Zeit lang noch offen.  Dann wurden aber aus den Mitteln der EFF in den Jahren 2022 und 2023 u.a. auch die militärischen Unterstützungsleistungen für die Ukraine finanziert (Bundesregierung 2023). 


Deutsche Waffenexporte in Spannungsgebiete

Im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts wurden aus Deutschland Rüstungsgüter im Wert von knapp 17 MRD € exportiert. Im gleichen Zeitraum wurden Rüstungsgüter von ca. 63 MRD € durch die Bundesregierung für die zukünftigen Exporte genehmigt. [30] Hierbei lässt auch das Jahr 2019 eine ergiebige Rendite für die Zukunft erwarten.
 

Table 3: Licenses for arms exports from Germany [31] 

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Number and value of individual
licenses for military equipment
granted by the German government
                  2018  in € billion                        2019 in € billion
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Total                                                                          11,142 individual approvals     11,479 individual licenses  
                                                                                    € 4.82                                          € 8.02
-------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------to NATO states, EU states 
and NATO-equivalent states                                   € 2.28                                          € 4.48
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to third countries                                                       € 2.55                                          € 3.53
------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------to developing countries                                           € 0.37                                          € 1.35 

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to developing countries that                                                                                     Egypt (€ 0, 8),

qualify as areas of tension                                                                                        Indonesia (€ 0,2),
                                                                                                                                        India (€ 0,93),
                                                                                                                                        Pakistan (€ 0,63),
                                                                                                                                        Morocco (€ 0, 61)
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 Inzwischen ist die Ukraine das wichtigste Bestimmungsland von deutschen Waffenexporten: 

„Die Mittel für die Ertüchtigungsinitiative belaufen sich auf insgesamt 2,2 Milliarden Euro für das Jahr 2023 (nach 2 Milliarden Euro im Jahr 2022). Die Mittel sollen vornehmlich der Unterstützung der Ukraine zugutekommen.“  (Bundesregierung (2023a) 
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Tab. 3 macht deutlich, dass zunächst der Wert der Rüstungsexporte aus Deutschland von 2018 auf 2019 extrem gestiegen ist (von 4,82 auf 8,02 MRD €). Des Weiteren sind ungefähr 44% der Rüstungsexporte in Drittländer gegangen, die entweder selbst Spannungs- und Krisengebiete sind oder in denen ein Endverbleib von Waffen nicht kontrolliert werden kann. Aber auch selbst der Endverbleib von exportierten Waffen in EU-Staaten ist nicht gesichert. So sind aus Italien bis ins Jahr 2019 von der Rheinmetall-Tochter produzierte Waffen an die im Jemen kämpfende Saudi-Koalition geliefert worden.
Auch die Rüstungsexporte in Entwicklungsländer haben sich deutlich erhöht. Hierbei werden auch Rüstungsexporte an mit zwischenstaatlichen Spannungen bzw. Menschenrechte verletzende Staaten aus Deutschland vorgenommen.
Die Gesamtzahl und der Wert der Einzelgenehmigungen, die durch das Bundeswirtschaftsministerium und den Bundesssicherheitsrat vorgenommen werden, sind nicht gleichzusetzen mit den tatsächlich getätigten Ausfuhren von Rüstungsgütern. Dennoch geben sie einen Einblick in die zukünftig in den nächsten Jahren zu erwartenden Rüstungsexporte. Hierbei handelt es sich bei Rüstungsexporten nicht nur um Waffen. Es sind z.B. auch Lastwagen, Boote und Minenräumgeräte dabei. Hierbei kann dies leicht umgerüstet bzw. unterstützend bei kriegerischen Aktivitäten eingesetzt werden.
Zu den Einzelgenehmigungen kommen noch Sammelgenehmigungen für 2019 ungefähr im Wert einer halben MRD € hinzu. Der größte Anteil der Genehmigungen für Rüstungsgüter bezieht sich auf Panzerfahrzeuge und Militärlaster (3,06 MRD €) [32]

Tab. 4: The three most important countries of destination for individual licenses in 2019 [33] 


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Rank                          Country                     Military equipment                                       Value in total
                                                                                                                                                in € billion

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1                                Hungary                     Main battle tanks, self-propelled                  1,7842
                                                                      howitzers, armored engineer 
                                                                      vehicles, armored recovery vehicles, 
                                                                      armored bridge laying vehicles, 
                                                                      armored driving school vehicles,
                                                                      trucks, all-terrain vehicles,

                                                                      all-terrain vehicles,

                                                                      trailers and parts for main
                                                                      battle tanks, armored vehicles,
                                                                      all-terrain vehicles, land vehicles,
                                                                      driving and combat simulators
                                                                       and parts for driving and combat 
                                                                      simulators 
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2                                   Algeria                     Trucks and parts                                             0.847
                                                                       for armored vehicles 
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3                                   Egypt                         Missiles, firing equipment,                            0.802

                                                                        special tools and parts for missiles,
                                                                        missiles, fire control equipment,
                                                                        target acquisition systems,
                                                                        target range finding systems
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Von 2022-2024 war die Ukraine aufgrund des russischen Angriffskriegs das prioritäre Land für Einzelgenehmigungen.
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Allein die ersten drei in der Tab. 4 aufgeführten Staaten – abgesehen von der Ukraine – machen die Problematik der deutschen Rüstungsexporte anhand des hier verwendeten Beispiels für 2019 deutlich. Zwei Staaten (Algerien und Ägypten) sind als Spannungsgebiete zu bezeichnen, Staaten die ebenfalls die Grundrechte ihrer Bevölkerung missachten. Des Weiteren ist insbesondere von Ägypten die Unterstützung der Saudi-Koalition im Jemen-Krieg bekannt, so dass hier deutsche Waffen eingesetzt werden dürften, obwohl es ein von Deutschland unterstütztes internationales Waffenexportembargo für den Jemenkrieg gibt. Ungarn hingegen wurde innerhalb der Union beschuldigt, die Grundrechte seiner Bürger auszuhebeln und die Gewaltenteilung zu zerstören.
In den Jahren zuvor dominierten des Weiteren Rüstungsexporte an die im Jemen beteiligten Kriegsparteien der Saudi-Koalition – so der Politikwissenschaftler und Publizist Markus Bickel im Jahr 2018:
„Obwohl das Europaparlament bereits 2016 ein Ende der Waffenlieferungen an die am Konflikt beteiligten Länder forderte, erteilt die Bundesregierung ungerührt weiter Exportgenehmigungen. In den vergangenen drei Jahren winkte der Bundessicherheitsrat allein an Saudi-Arabien Militärgüter im Wert von über einer Mrd. Euro durch. Ägypten erhielt Rüstungsexporte im Wert von 850 Mio. Euro und die Vereinigten Arabischen Emirate in Höhe von 474 Mio. Euro.“ [34]
Die Waffenexporte in die Ukraine werden dann später von der Bundesregierung – in Abkehr von der offiziellen Selbstdarstellung, Waffen möglichst nicht in Spannungsgebiete zu exportieren – mit dem Selbstverteidigungsrecht der Ukraine begründet und mit der Verpflichtung der UN-Staaten, ein angegriffenes Mitglied der UN militärisch zu unterstützen. Insgesamt wurden der Ukraine Unterstützungsleistungen (Stand 2023) seit der russischen Invasion am 24.2.2022 von bereits 14 MRD € in Form von Waffen, direkter Zahlung oder humanitärer Unterstützung geleistet (Bundesregierung 2023b).  Bis zum Februar 2024 hat sich die Unterstützung der Ukraine in Form von Waffen, direkten Zahlen und humanitärer Hilfe bis auf 30 Milliarden Euro erhöht. Damit ist Deutschland der zweitgrößte bilaterale Unterstützer der Ukraine nach den USA seit dem 24.2.2022, dem Datum des russischen Überfalls auf die Ukraine (Deutsche Botschaft Stockholm, 2024).

Allein 2023 wurde von der Bundesregierung ein neuer Rekord an Rüstungsexportgenehmigungen im Wert von rund 12,2 Milliarden € aufgestellt. Das Bundeswirtschaftsministerium teilte mit, dass sich die Genehmigungen zu 6,44 Milliarden € auf Kriegswaffen und 5,76 Milliarden € auf sonstige Rüstungsgüter, wie z.B. gepanzerte Fahrzeuge, bezogen. Mit 4,44, Milliarden € war die Ukraine wiederum das Hauptempfängerland. Die Ukraine wurde hierbei mit einem Nato-Land vergleichbar behandelt (Handelsblatt 2024).


Beispiel der Waffenexporte in die Türkei
 
Die in einem Jahr genehmigten Rüstungsexporte sind nicht gleichzusetzen mit den in diesem Jahr tatsächlich stattfindenden Rüstungsexporten. Zwar ist seit dem Einmarsch der Türkei in Syrien der Bundessicherheitsrat zurückhaltend hinsichtlich der Genehmigung von Waffenlieferungen dorthin, dennoch erhielt das NATO-Land Türkei z.B. im Jahr 2019 Rüstungsgüter von nahezu 350 Millionen € aus Deutschland geliefert. [35] Entschuldigend wird von Regierungsseite in solchen Fällen jeweils angeführt, dass es sich um ältere Genehmigungen handele, die erfüllt werden müssten.
Mit der Türkei liegt derzeit ein aggressiver Staat vor, der mehrfach völkerrechtswidrig außerhalb seiner nationalen Grenzen militärisch eingegriffen hat (Syrien, Irak, Libyen). Des Weiteren liegen schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen im Inland vor (willkürliche Verhaftungen von Regimegegnern, lange Haft ohne rechtsstaatliche Verurteilung, fragwürdige Rechtsprechung, Ausschaltung und Verbot von Teilen der Opposition). Wenn die deutsche Regierung es ernst mit dem ATT der UN und dem Gemeinsamen Standpunkt des Rates der EU sowie mit den in den deutschen Gesetzen und Vereinbarungen formulierten Rechtsansprüchen meinen würde, dann würde sie – aufgrund der sich verschärfenden Lage im Zusammenhang mit der Türkei – gegebene Genehmigungen zum Waffenexport in die Türkei konsequent zurückziehen.
Wenn die Türkei mit Leopard 2-Panzern von Rheinmetall die syrischen Grenzen überschreitet und mit deutschen Waffen dort hiermit und mit anderen aus Deutschland stammenden Waffen die kurdische Bevölkerung bekämpft, dann ist der Bundesregierung vorzuwerfen, dass sie hier nicht rechtzeitig die Zeichen der Zeit erkannt hat und sich der Bezichtigung einer Mittäterschaft nur schwerlich entziehen kann. Auch ist zukünftig mit dem Argument einer gemeinsamen NATO-Mitgliedschaft kritischer umzugehen. Solange die NATO aus geostrategischen Gründen einen das Völkerrecht verletzenden Staat in seinen Reihen duldet, kann die gemeinsame NATO-Mitgliedschaft kein hinreichendes Argument für Waffenlieferungen innerhalb des NATO-Bündnisses mehr sein.
Bereits in den ersten vier Monaten des Jahres 2020 hat Deutschland wieder bereits knapp eine halbe Milliarde Waffen exportiert (40% mehr als im gleichen Zeitraum 2019). Hierbei sind dual zu nutzende Rüstungsgüter noch nicht einbezogen.
Die Linken-Politikerin und Bundestagsabgeordnete Sevim Dağdelen forderte nach einem Bericht des ‚Spiegels‘:
„ ‚Die Ausfuhr von nahezu 40 Prozent mehr Kriegswaffen als im Vorjahreszeitraum in einer Welt, in der die Konflikte jeden Tag zunehmen, ist völlig unverantwortlich‘, sagte Dağdelen, die abrüstungspolitische Sprecherin ihrer Fraktion ist. ‚Gerade mit den Kriegswaffenexporten an Ägypten und die Türkei mästet die Bundesregierung die Konflikte in und am Mittelmeer und verletzt damit sogar die eigenen laxen Rüstungsexportrichtlinien in eklatanter Weise.‘ Wer sein eigenes Bekenntnis, international mehr Verantwortung zu übernehmen, ernst nehmen würde, müsse die Exporte von Kriegswaffen in alle Welt stoppen.“ [36]
Interessanterweise werden zahlreiche Staaten nun in der Waffenexportliste Deutschlands nicht mehr gelistet – u.a. auch die Türkei – mit dem Hinweis, man könnte hierdurch Rüstungsunternehmen identifizieren, die dorthin geliefert hätten. Die Einstufung dieser Staaten als Verschlusssache würde zum Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen der beteiligten Rüstungsfirmen vorgenommen. Dies macht zukünftig natürlich die Identifizierung und Kontrolle von Rüstungsexporten zunehmend schwieriger und kann als ein problematisch zu bewertender Erfolg der Lobbytätigkeit der Rüstungsindustrie angesehen werden.
Die Exporte in die Türkei waren die ersten Waffenlieferungen, die von der Bundesregierung zur Geheimsache erklärt wurden und wohl auch nur durch einen Fehler veröffentlicht wurden – so Dağdelen in einem Papier der Links-Fraktion [37]
„Auf der Homepage des Bundeswirtschaftsministeriums wurde allerdings – vermutlich aus Versehen – eine parlamentarische Antwort veröffentlicht, wonach die Türkei im vergangenen Jahr insgesamt Kriegswaffen für 345 Millionen Euro aus Deutschland erhalten hat, was mehr als ein Drittel der gesamten deutschen Kriegswaffen in Höhe von 824 Millionen Euro ausmacht. Schon 2018 war Erdogan mit 242,8 Millionen Euro Rekordhalter unter den Empfängern deutscher Kriegswaffenexporte (770,8 Millionen Euro). Auch in den Monaten Januar bis April 2020 gehört sie zu den zehn Hauptempfängerstaaten. Vor dem Hintergrund der zahlreichen völkerrechtswidrigen Angriffskriege der Türkei in Syrien und aktuell im Norden Iraks sind die Waffenlieferungen besonders verwerflich.“
Wie aktuell das Interesse an Waffenimporten von Seiten der Türkei ist, zeigt das Feilschen um den NATO-Beitritt Schwedens in 2024 im Zusammenhang mit Handelsvereinbarungen zur Anschaffung von Kampfjets von Seiten der Türkei  (Meinardus, 2024).

Andererseits benutzt die Türkei auch Waffenimporte zum Ausbau des eigenen militärischen Know-hows und zur Entwicklung und Produktion eigener Waffen, die sie wiederum in Spannungsgebiete exportiert, u.a. Lieferung türkischer Drohnen (Bayraktar TB2) und Panzerfahrzeuge in die Ukraine und Lieferung elektronischen Materials für Kriegswaffen zur im Krieg mit der Ukraine befindlichen Russischen Föderation (Pehlivan, 2023). Des Weiteren kaufte die Türkei das russische Luftabwehrsystems S-400 und düpierte hiermit die USA, die am Verkauf ihres eigenen Abwehrsystems interessiert waren (Marz, 2023). 

 

Beispiel der Waffenexporte zur Krieg führenden Allianz im Jemen
 
Der sich nun seit vielen Jahren hinziehende Krieg im Jemen, einem der ärmsten Länder der Welt, hat zum Teil interne Gründe, aber ist auch zunehmend zu einem Stellvertreterkrieg zwischen der Saudi-Emirate-Koalition und dem die Houthis unterstützenden Iran geworden.[38] Der UN-Sicherheitsrat hat sich auf die Seite der Saudi-Allianz gestellt und 2015 einseitig in seiner Resolution 2216 ein Waffenembargo für die Houthis beschlossen. Hingegen werden der Gegenseite weitgehend unvermindert Waffen geliefert. Die UN-Resolution 216 ist die Grundlage für die Blockade des Jemen und die militärischen Maßnahmen der Allianz aus Saudi-Arabien, den Emiraten und unterstützt von westlichen Staaten.
Die drei größten Waffenexporteure an die im Jemen Krieg führende Saudi-Allianz sind die USA, Frankreich und Großbritannien.
Auch Deutschland ist an einem Export von Waffentechnik in das Spannungsgebiet beteiligt: Es fanden z.B. Lieferungen von in Deutschland (Mecklenburg-Vorpommern) produzierten 33 Patrouillenboote an Saudi Arabien statt, die vor der Küste zur Durchsetzung der Houthi-Blockade eingesetzt werden. Die Argumentation der Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD), dies seien nur Patrouillenboote, wird durch den militärisch relevanten Einsatz als Blockadeboote und natürlich der Möglichkeit, nachträglich z.B. mit Maschinengewehren bewaffnet zu werden, widerlegt. [39]
Insgesamt hat Deutschland seit Anfang 2019 nach Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums für ca. 1,2 MRD € Waffen an die im Jemen Krieg führende Saudi-Koalition genehmigt (insgesamt 224 Lieferungen). Hiermit verstößt die Bundesregierung gegen ihren eigenen Koalitionsvertrag, in dem der Stopp der Waffenlieferungen an die am Krieg im Jemen Beteiligten vereinbart wurde.
In einer Pressemitteilung der Zeitschrift ‚Die Zeit‘ werden die Daten differenziert zusammengefasst:
„Demnach wurden allein an Ägypten innerhalb von 15 Monaten 21 Waffenlieferungen für 802 Millionen Euro erlaubt. Für die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) waren es 76 Genehmigungen im Gesamtwert von 257 Millionen Euro. An drei weitere Mitglieder des Bündnisses – Bahrain, Jordanien und Kuwait – gingen Waffenexporte für zusammen 119 Millionen Euro.“ [40]
Allein für Saudi-Arabien wurde der Waffenlieferungsstopp in 2019 weitgehend eingehalten.
Im Jemen-Krieg gibt es insbesondere aufgrund der permanenten Bombardierungen des Jemen von Seiten der Saudi-Allianz Tausende von Opfern insbesondere unter der Zivilbevölkerung. Auch hierbei kamen westliche Waffen sowie Waffen aus Deutschland zum Einsatz. Inzwischen wurden durch Waffengewalt über 100.000 Menschen im Jemen getötet. Der Journalist Jacob Reimann macht 2020 den Umfang der Bombardierung deutlich:
„Massaker an der Zivilbevölkerung vonseiten der Saudi-Emirate-Koalition stehen seit jeher auf der Tagesordnung: Immer wieder wurden Schulen, Hochzeiten, Beerdigungen, Marktplätze, Flüchtlingsboote, Krankenhäuser und Moscheen vorsätzlich bombardiert. Insgesamt flog die Koalition in über fünf Jahren bereits 21.259 Luftschläge gegen den Jemen – im Schnitt über elf Angriffe pro Tag. Da die Koalitionäre – bis auf Ägypten – nur über rudimentäre eigene Rüstungsindustrien verfügen, sind sie in der Begehung ihrer Kriegsverbrechen auf die Komplizenschaft überwiegend westlicher Waffenexporteure angewiesen. Nach den USA, Frankreich, Russland und Großbritannien ist Deutschland hierbei auf Platz 5 der Hauptexporteure an die acht Koalitionäre in den Jahren des Krieges.“ [41]
Aber die meisten Opfer starben aufgrund der See- und Grenzblockade durch das Abschneiden der jemenitischen Bevölkerung von der Versorgung mit Lebensmitteln sowie von Medikamenten. Allein in den Jahren 2015 bis Ende 2019 sind im Jemen-Krieg, laut der internationalen NGO ,Save the Children‘ 85.000 Kinder im Alter unter fünf Jahren verhungert. [42]
Es ist den Mitgliedern im UN-Sicherheitsrat vorzuwerfen, dass sie aufgrund ihrer eigenen geostrategischen Interessenslagen und der teilweisen Verwicklung in den Jemen-Krieg nicht bereit sind, hier eine neutrale und mit intervenierenden Maßnahmen verbundene Resolution zu entwerfen. Die 2015 verabschiedete Resolution 2216 des UN-Sicherheitsrats wirkte hingegen im Sinne einer einseitigen Stellungnahme im Interesse Saudi-Arabiens u.a. und lieferte die Grundlage für die Blockade und die militärischen Maßnahmen Saudi-Arabiens in Verbindung mit einer Allianz aus den Vereinigten Arabischen Emiraten und westlichen Mächten zu Lasten der jemenitischen Bevölkerung: 

„Da die Versorgung des Jemen fast völlig Import-abhängig ist, bedeutet diese UN-Resolution insbesondere die Legitimierung einer totalen Versorgungsblockade. Kein Treibstoff; keine Lebensmittel; kein trinkbares Wasser; keine Medizin. Nahezu Null von all dem, was man selbst im Jemen zum bloßen Überleben braucht. 

Nach dem üblichen Verständnis des Völkerrechts ist eine solche Blockade glasklar ein Kriegsverbrechen. Mit der Resolution 2216 legitimiert die UN einen Völkermord – den seit 2015 von der SAC mit massiver Unterstützung der USA, Großbritanniens und Frankreichs systematisch betriebenen Völkermord im Jemen. Was heißt: Die UN selber schafft ihr eigenes Fundament, das Völkerrecht, ab“ (Meggle 2019) 

Westlichen Staaten, wie z.B. Deutschland, ist des Weiteren vorzuwerfen, dass sie noch im Jahr 2022 weitere Waffenlieferungen an den Kriegs führenden Staat Saudi-Arabien lieferten und damit dazu beitrugen, den Krieg im Jemen noch zu verlängern. 

Der aus Deutschland stammende Konzern ‚Rheinmetall‘ war an den Waffengeschäften mit der Saudi-Koalition massiv beteiligt. Bis 2019 lieferte er Fliegerbomben aus seiner italienischen Tochterfirma RWM Italia an die Saudis, die im Jemen-Krieg gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt wurden. Hierdurch erklären sich entsprechende Bombenfunde aus deutscher Abstammung im Jemen. Erst 2019 wurden diese Waffenlieferungen aus Italien auf Intervention der italienischen Regierung hin verboten. [43]
Die Greenpeace-Studie zu deutschen Waffenexporten kommt gerade anlässlich derartiger Unternehmensaktivitäten zu folgendem Schluss:
„Diese Beispiele von Rüstungskooperationen, der Gründung von Tochterfirmen in Drittstaaten und deutschem Technologie- und Knowhow-Transfer offenbaren Regelungslücken in der deutschen Rüstungsexportgesetzgebung und in den dazugehörigen Verfahren. Diese betreffen den Export von technischer Unterstützung und Knowhow sowie die Kontrollmöglichkeiten bei Investitionen deutscher Rüstungsunternehmen in den Aufbau ausländischer Produktionskapazitäten. Diese Regelungslücken sind auch nach der Überarbeitung der Politischen Grundsätze vom Juli 2019 nicht geschlossen worden.“ [44]
 

Fazit: Zwar beklagen die UN die Situation im Jemen durchaus mit richtigen Zahlen, sind aber selbst Teil des Problems und aufgrund der Interessenslage im UN-Sicherheitsrates nicht in der Lage, wirksamere Konsequenzen aus diesen Einschätzungen zu ziehen bzw. die Resolution 2216 zurückzunehmen. Im Jemen offenbart sich nicht nur die Rücksichtslosigkeit hegemonialer Interessensdurchsetzung sondern auch die Misere der Vereinten Nationen im vollen Umfang. Die Vereinten Nationen haben sich durch die Resolution 2216 einseitig festgelegt, sind daher weder fähig, wirksam bei der Wiederherstellung einer gesamtstaatlichen Ordnung zu helfen, noch einen mäßigenden Einfluss auf die Krieg führenden Parteien mit dem Ziel auszuüben, eine den Menschen helfende Neuordnung des ‚Failed State‘ Jemen einzuleiten. 

Hierbei ist es müßig, die Frage zu erörtern, wer denn nun der eigentliche Verursacher dieses Krieges gewesen sei. Dies war ein Wechselspiel von Reaktionen und Vorfällen durch alle an dem Krieg beteiligten Akteure. Sicherlich sind sowohl der Iran als auch Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und die mit Waffenlieferungen, Logistik und Ausspähung unterstützenden Westmächte sowie die innerhalb Jemens wirkenden Gruppierungen an der Verschärfung des Konflikts beteiligt. Es ist zu hoffen, dass es den UN – trotz der bisher recht erfolglosen Vermittlungsversuche und der destruktiven Resolution 2216 – dennoch gelingt, einen mäßigenden Einfluss auf alle Kriegsparteien auszuüben. Es geht darum, eine UN-kontrollierte Flugverbotszone einzurichten, medizinische Versorgung und die Versorgung mit Nahrungsmitteln sicher zu stellen und ggf. Blauhelmsoldaten mit einem robusten Mandat in das umkämpfte Gebiet zu schicken, um die Kriegsparteien auseinanderzuhalten. Die Angriffe im Spätsommer 2019 auf die Ölanlagen in Saudi-Arabien verweisen auf die Eskalationsmöglichkeiten dieses Konflikts – zumal, wenn hier westliche Interessen berührt werden. 

Im Frühjahr 2022 gelang es zwar, unter der Vermittlung des UN-Sonderbeauftragten eine zeitlich limitierte Waffenruhe im Jemen zu erreichen, die allerdings im Oktober 2022 nicht verlängert werden konnte. Seit dem Ausbruch des Kriegs im Jemen sind zu diesem Zeitpunkt nach UN-Schätzungen 380.000 Menschen an direkten und indirekten Folgen des Krieges gestorben. 

Eine internationale Geber-Konferenz versuchte, die Not der vom Krieg betroffenen Bevölkerung zu lindern. Jedoch kamen von den 4.3 MRD benötigten US-Dollar nur 1.2 MRD US-Dollar an Zusagen zusammen, wobei man natürlich auch noch nicht weiß, ob diese Zusagen auch tatsächlich eingelöst werden. Auch bleibt der Widerspruch, einerseits eine der Kriegsparteien, Saudi-Arabien, militärisch u.a. mit Waffenlieferungen zu unterstützen und andererseits mit der Jemen-Hilfe die Kriegsfolgen zu lindern. Wirkungsvoller wäre sicherlich eine durchgreifende diplomatische Initiative sowie eine Wiederaufbauhilfe, die von einem Waffenstillstand und einem nachfolgenden Friedensvertrag mit einvernehmlichen Regulierungen begleitet wird.
Inzwischen mischen sich die vom Iran unterstützten (und gelenkten) Houthis in den Krieg zwischen Israel und der Hamas ein, indem sie die Schiffe des Israel unterstützenden Westens im Roten Meer mit Raketen angreifen. Als Reaktion hierauf wurden u.a. Anfang Februar 2024 36 Ziele im Jemen mit Luftangriffen einer von den USA geführten Allianz bombardiert. Getroffen wurden Waffenlager, Lenkflugkörpereinrichtungen und Antischiffsraketen. Beteiligt waren – neben den USA und Großbritannien - Australien, Bahrain, Kanada, Dänemark, die Niederlande und Neuseeland. 

Diese Ereignisse machen deutlich, wie ein zunächst regionaler militärischer Konflikt, der nicht bewältigt wurde, sich zunehmend ausweitet und immer weiter eskaliert. Dies gilt für den Krieg im Jemen genauso wie für den Krieg in der Ukraine sowie den Nahostkonflikt zwischen Israel und den palästinensischen Organisationen. 

 
Militärisch-ökonomischer Komplex und Drehtüreffekte
 
Zur Rüstungsindustrie gehören ebenfalls Ausrüstungsfirmen, private militärische Forschungsinstitute, und Unternehmen, die auf den militärischen Transport spezialisiert sind. Auch hier gibt es zahlreiche Verbindungen zwischen Politik und Rüstungswirtschaft – Richard B. ‚Dick‘ Cheney war das prominenteste Beispiel eines den Irak-Krieg befördernden US-amerikanischen Spitzenpolitikers [45], dessen einstige Firma Halliburton über entsprechende Ausrüstungs- und Transportaufträge profitierte. Hierbei handelte es sich nach Perlo-Freeman/Sköns (2008) um den Vorgang der Vorteilsnahme über ein öffentliches Amt mit Affinitäten zur Korruption. [46]
Das „System offener Drehtüren“ gibt es in allen Nationalstaaten. Dies lässt sich auch am Beispiel Deutschlands belegen, bei dem ehemalige Entscheider im politischen System, insbesondere ehemalige Mitglieder des Bundesssicherheitsrats, in die Rüstungsindustrie wechseln sowie ehemalige hochrangige Offiziere in die Rüstungsindustrie.
Dirk Niebel (FDP), Beratertätigkeit für Rheinmetall, der Wechsel von Franz Josef Jung (CDU) in den Aufsichtsrat von Rheinmetall oder die Ernennung des ehemaligen Staatssekretärs im Bundeswirtschaftsministerium, Georg Wilhelm Adamowitsch (SPD), zum langjährigen Hauptgeschäftsführer des hauptsächlich mit Lobbyismus befassten Bundesverbands der Deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV) sind Beispiele dieses verhängnisvollen Drehtüreffekts. [47]
Ein weiteres prominentes Beispiel ist der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr (2000-2002) der frühere Luftwaffengeneral Harald Kujat. Er war nach seiner Zeit als höchstrangiger deutscher Soldat und Bindeglied zwischen Bundeswehr und Bundesregierung Vorsitzender des NATO-Militärausschusses (2002-2005). Er wurde 2019 Aufsichtsratsvorsitzender des Rüstungsunternehmens Heckler & Koch. [48] Zur Erinnerung: Heckler & Koch waren es, die illegalerweise 5000 G36-Sturmgewehre in den von einem Embargo versehenen Bezirk Mexikos (Guerrero) geliefert hatten. Mit diesen Waffen wurden dann u.a. 2014 die Lehramtsstudenten ermordet, die auf dem Weg zu einer Demonstration gegen die Verschmelzung von mexikanischer Politik und organisierter Kriminalität waren. [49]
Auch wenn Harald Kujat sich in letzter Zeit mehrfach 2023/2024 in der Öffentlichkeit für eine Beendigung der aus seiner Sicht aussichtslosen Kriegshandlungen in der Ukraine einsetzte und für Verhandlungen plädierte, heißt dies nicht, dass er gegen Waffenlieferungen in die Ukraine eintritt – so Kujat 2024 im Interview mit der Berliner Zeitung: 

„Ob das seit Monaten diskutierte 61-Milliarden-Dollar-Hilfspaket in Washington überhaupt genehmigt werde, sei nicht absehbar. Die EU habe ‚einiges zustande gebracht bisher‘, könne den Rückgang der amerikanischen Unterstützung aber nicht wettmachen. Trotzdem sei es wichtig, ‚dass das fortgesetzt wird. Das ist ja das, was der Bundeskanzler auch erreichen will. Wir müssen der Ukraine die Sicherheit geben, dass diese Unterstützung nicht abbricht.‘ “ (Fasbender, 2024)

 

Kriege als Konjunkturhilfen
 
Kriege werden gern von Krieg führenden Politikern und einigen affirmativen Wirtschaftswissenschaftlern als Konjunkturhilfen für die heimische stagnierende Wirtschaft ausgegeben. Joseph Stiglitz (2008) [50] tritt Auffassungen entgegen, Kriege wären letztlich als Konjunkturprogramm geeignet, und fordert, die wahren Kosten von Kriegen transparent zu machen:
„Anfang des Jahres 2003 hieß es von der US-Regierung, der Irak-Krieg werde nur 50 bis 60 Milliarden Dollar kosten. War dies lediglich ein Irrtum, waren die Politiker also schlicht zu optimistisch? Erstens setzte man zu Beginn lediglich die Kriegskosten im engeren Sinne an, also die operativen Ausgaben. Ignoriert wurden die Kriegskosten im weiteren Sinne, wie zum Beispiel die Zinszahlungen auf Kriegskredite, die Kosten zur Pflege von Kriegsinvaliden und Veteranen oder Geld für die Geheimdienste. (…) Man muss auch bedenken, was man mit den drei Billionen Dollar Kriegsausgaben alles für die Konjunktur hätte tun können. Zum Beispiel amerikanische Infrastruktur aufbauen anstatt irakische zu zerstören. Vom ökonomischen Standpunkt her sind Krieg und massenhafte Zerstörung das schlechteste Konjunkturprogramm.“
Auch wäre es sicherlich mehr als zynisch, das massenhafte Leiden und Sterben von Menschen auf einer lediglich ökonomischen Ebene diskutieren zu wollen. Dies wäre dann wohl Ausdruck einer Weltsicht, die einen Vorrang ökonomischer Prioritäten vor den Notwendigkeiten der Humanität einräumen würde: Zerfetzte Menschen, Kinder, die ihre Eltern verlieren und Eltern, die ihre toten Kinder in den Armen halten, als Opfer ökonomischer Interessen im Spektrum von privatwirtschaftlichem Profitstreben bis hin zur volkswirtschaftlichen Erwartung einer Konjunkturhilfe durch die boomende Rüstungsindustrie im Kriegsfall.

Die Rolle privater Militärfirmen und Sicherheitsdienste
 
Zunehmend spielen auch private Militär- und Söldnerfirmen als Teil des militärisch-ökonomischen Komplexes eine Rolle in militärischen Konflikten. Hier agieren, z.B. in Afghanistan und Pakistan, private Söldnertruppen im Auftrag der USA gegen sich durch Rauschgifthandel finanzierende Terrorgruppen. Manchmal werden sie auch gegen Staaten eingesetzt. Moisés Naím beschreibt diese relativ neue Rüstungsindustriesparte in seinem Buch „The End of Power“:
“Often starting as small companies out of anonymous office parks in the outskirts of London or suburban Virginia, firms such as Blackwater (now renamed Academia), MPRI, Executive Outcomes, Custer Battles, Titan, and Aegis took on key roles in different military operations. Some were bought by larger firms, some went out of business, and some remained independent. Among other recent opportunities, private military firms have found a market for their services in protecting commercial vessels from Somali pirates. Mercenaries, with all the ancient associations of the word, have turned into a booming and diverse industry.” [51]
Der staatliche und auch der privatwirtschaftliche Einsatz von Söldnern privater Sicherungs- bzw. Militärfirmen bergen noch größere Risiken z.B. bezüglich des Einhaltens des Kriegsrechts, wie der Genfer Konvention oder der Haager Landkriegsordnung.
Die Tötung von 17 Zivilisten im Irak durch Söldner von ‚Blackwater‘ im September 2008 [52] warf ein Schlaglicht auf die Aktivitäten privater Militär- und Söldner-Firmen und führte zu breiter geführten Diskussionen über die Legitimität staatlicher Kooperation mit derartigen Unternehmen, die vor allem aus den USA und dem United Kingdom stammen. Die ‚Wagner-Gruppe‘ ist eine Militärfirma mit direkten Kontakten zur Putin-Regierung, die im Rahmen der russischen Invasion besonders brutal kämpft und die für zahlreiche Kriegsverbrechen verantwortlich ist.  Die Söldner-Truppen der russischen Wagner-Gruppe sind für ein extrem robustes Handeln und ein verdecktes Vorgehen bekannt. Besonders kurios ist der Versuch der Wagner-Gruppe sich in einem Putschversuch im Juni 2023 gegen ihren eigenen Auftragsgegner, die Regierung der Russischen Föderation, zu wenden. Dies endete letztendlich nach dem gescheiterten Putschversuch mit dem Absturz des Flugzeugs, mit dem die Spitze der Wagner-Gruppe flog und damit auch getötet wurde.
Aber auch andere Institutionen und Organisationen, wie z.B. multinationale Konzerne, einige NGOs und Intergovernmental Organizations (IGOs) arbeiten mit militärischen Sicherungsfirmen zusammen. Der Markt hierfür hat hohe Wachstumsraten. [53]
Söldnertum bzw. privat bezahlte Militärdienste gab es in der Geschichte bereits seit langem, doch die heutigen privaten Militärdienste sind nach Perlo-Freeman/Sköns (2008, 2f.) durch die Spezifik ihrer organisatorischen Eingebundenheit gekennzeichnet:
“One of the main differences between the current private providers of military services and private military organizations in the past is the corporatization of military services. The services are now provided by private firms, operating as businesses to increase value for their shareholders, and many of them are part of bigger multinational corporations.”
Söldner privater Sicherungsfirmen bzw. Militärfirmen werden gern von Regierungen hochentwickelter Staaten eingesetzt, da sie im Umgang mit technisch hochspezialisierten Gerät versierter sind und gefallene Angehörige von Militärfirmen für weniger öffentliche Aufmerksamkeit sorgen. Söldner können auch hinter den Fronten eingesetzt werden. Sie sind daher auch im Kampf gegen terroristische Gruppen ‚flexibler‘, d.h. z.T. unter Umgehung nationalen und internationalen Rechts, im Sinne von Geheimarmeen mit illegitimen Aufträgen einsetzbar. Auch entspricht der Übergang zu privaten Militärfirmen dem Trend zum kostensparenden, gewinnsteigernden und risikoärmeren Outsourcing in einem neoliberalen Sinne.

Relativierung des staatlichen Gewaltmonopols
 
Der Putschversuch der russischen Wagner-Gruppe und der damit verbundene Marsch auf Moskau in 2023 zeigten, wie dem staatlichen Gewaltmonopol  auch in einem autoritären Staat eine Konkurrenz durch eine immer mächtiger werdende Söldner-Organisation entstehen kann. 

Der Einsatz von Söldnern privater Sicherungsfirmen ist allerdings auch in westlichen Demokratien hochproblematisch, da er das Gewaltmonopol demokratisch legitimierter Regierungen relativiert bzw. unterläuft: 

“While a key principle of modern states is that they alone have the exclusive legitimacy to exercise violence – the state monopoly of violence – the reliance on private companies for its execution increases the distance between decision making and implementation of force, creating an intermediate actor with its own private, profit-maximizing goals. This thus challenges both the ability of government to exercise direct control over the use of force and the accountability of security providers to the electorate.“ [54]
Die SIPRI-Forscher Perlo-Freeman/Sköns (2008, 17) fassen daher die Problematik privater Militärfirmen wie folgt treffend zusammen:
“The continuing expansion of the private military services industry raises many issues. The view that outsourcing is economically efficient can be challenged on a number of grounds, not least when these services are provided in operationally deployed contexts. The involvement of private companies in assisting military operations in armed conflict situations such as Iraq also raises serious concerns about the democratic accountability of armed forces, the status of civilian contractors in military roles, and the political influence of companies that have a vested interest in the continuation of the conflict.”
Der Frankfurter Politikwissenschaftler Tim Engartner bezieht sich auf die Unterschiedlichkeit demokratischer Zielsetzungen eines Staates und dem betriebswirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Denken in seiner Konsequenz für eine angeblich vom Parlament kontrollierte Armee. Im Zuge eines Ausverkaufs staatlicher Dienstleistungen und Institutionen, wie z.B. der Post oder der Bundesbahn, gerate auch das Militär in den Blick von staatlichen Privatisierungsanstrengungen in einem neoliberalen Sinne:
„Wie bei Privatisierungen in anderen vormals staatlich verantwortbaren Bereichen bleibt die Interessensdivergenz zwischen Gewinnerzielungsabsichten auf der privaten und Gemeinwohlverpflichtungen auf der öffentlichen Seite bestehen. Kurzfristig zu hebende Einsparpotenziale können die Preisgabe parlamentarischer Kontrolle und die damit verbundene Entdemokratisierung nicht rechtfertigen. Andernfalls läuft ein leidlich demokratischer Staat Gefahr, sicherheitsrelevante Informationen preiszugeben und Entscheidungen, die eines der kostbarsten Güter überhaupt – das Gut ‚Frieden‘ – betreffen, privaten Unternehmen anheimzustellen.“
(Engartner 2018, 13) 55]

Zivilgesellschaft als Angriffsziel
 
Eine weitere Eskalationsstufe kriegerischer Auseinandersetzungen liegt in der gezielten Bombardierung zivilgesellschaftlicher Institutionen. Die gewaltsamen Angriffe und Massenmorde in militärischen Konflikten machen auch nicht vor den Institutionen der Bildung und vor Kindern und Lehrern halt – so die Organisation „World Vision“ im Rahmen ihrer – u.a. von UNICEF getragenen – Initiative „Safe Schools Declaration“:
„In den letzten zehn Jahren hat sich die Anzahl der gewaltsamen Konflikte fast verdoppelt, was dazu führt, dass weltweit jedes vierte Kind keine Schule besucht. Das Ausmaß der Angriffe auf Bildungseinrichtungen ist erschreckend: der aktuell veröffentlichte Bericht ‚Education Under Attack 2018‘ dokumentiert zwischen 2013 und 2017 mehr als 12.700 Angriffe auf Bildungseinrichtungen, bei denen mehr als 21.000 Lernende und Lehrende verletzt oder getötet wurden. Mehr als 1.000 Angriffe (gezielt oder als „Kollateralschaden“) auf Schulen wurden jeweils in der Demokratischen Republik Kongo (allein 639 hiervon in der Kasai Region in den Jahren 2016/2017), in Israel und den Palästinensischen Gebieten, in Nigeria und im Jemen dokumentiert. Zwischen 500 und 999 Angriffe auf Schulen wurden sowohl in Afghanistan als auch im Südsudan, in Syrien und in der Ukraine verzeichnet.“ [56] 
Diese Problematik verschärft sich, wenn militante Gruppen bewusst gerade Schulen und Krankenhäuser nutzen, um den gegnerischen Angriffen zu entgehen. Dementsprechend werden Schulen, Krankenhäuser und Krankentransporte zunehmend zum Zielobjekt militärischer Angriffe mit dem Argument, dass sich feindliche Kämpfer unter deren Schutzschirm verstecken bzw. von dort agieren würden.
Im Zuge der russischen Aggression gegen die Ukraine werden ebenfalls gezielt zivile Objekte angegriffen. Nicht nur die Energieversorgung der Ukraine wurde 2022/2023 zum Zielobjekt der russischen Raketenangriffe sondern auch Schulen, Krankenhäuser und Wohnbezirke. Der Internationale Strafgerichtshof hat des Weiteren im März 2023 den russischen Präsidenten wegen der Mitverantwortung bei der Entführung Tausender ukrainischer Kinder und deren Freigabe zur Adoption an russische Eltern strafrechtlich verurteilt. Putin kann ab jetzt in allen Staaten, die den IStGH anerkennen, theoretisch verhaftet werden. Auch ist dies natürlich ein wichtiger symbolischer Akt, dass niemand über dem Gesetz stehen darf. Die entsprechenden Konsequenzen dieses Sachverhalts für den Krieg im Irak, für die Politiker Bush jun. und Cheney dürften auf der Hand liegen.  Ebenfalls muss die Tötung von über 1000 israelischen Zivilisten und in Reaktion darauf die Tötung von Zehntausenden palästinensischen Zivilisten – u.a. Tausenden Kindern, Jugendlichen und Frauen ­­– möglichst zeitnah nach der Beendigung des Krieges im Nahen Osten Gegenstand der internationaler Gerichtsbarkeit werden. 

 
Fazit: Der an privatwirtschaftlicher Profitmaximierung orientierte militärisch-ökonomische Komplex soll nicht als ‚normale‘ Ökonomie sondern als destruktive Wirtschaftsform vor dem Hintergrund der existierenden politischen Strukturen, als eine Ökonomie des Todes, aufgefasst werden. Waffenlieferungen in Spannungsgebiete, massiver Lobbyismus, Kriege als Konjunkturhilfen und privatwirtschaftliche Kriegsführung mit hohen Renditen verweisen auf einen zynischen Umgang mit der Tatsache massenhaften Sterbens der von der Kriegsführung betroffenen Zivilbevölkerung. Spekulation mit Aktien von Rüstungsbetrieben im Zusammenhang mit militärischen Konflikten und Kriegen, wie am Beispiel der russischen Invasion 2022 in der Ukraine und den damit verbundenen Aufrüstungszusagen westlicher Regierungen, führen zu hohen Profiten von Kriegsgewinnlern. Der rechtzeitige Kauf von Aktien der Rüstungskonzerne führte zu hohen Gewinnsteigerungen, die mit dem Leid vom Krieg betroffener Menschen erzielt werden.
Im nächsten Kapitel wird analysiert, wie der militärisch-ökonomische Komplex mit der Unterstützung der Politik sich weiterhin durchsetzt und eine neue Rüstungsspirale zur zunehmenden Unordnung der Welt beitragen wird.


Anmerkungen zum Kapitel 1.4.1.1

[1] Im weiteren Verlauf dieses Kapitels wird sich u.a. auf die Ausführungen bei Moegling (2020b) zu Waffenexporten in Spannungsgebieten gestützt, und es werden Teile dieses Beitrags in modifizierter Form übernommen.
[2] Eisenhower, Dwight (1961)
[3] Vgl. zur Effizienz von Investitionen in die Waffenindustrie: Stocker, Franz (2020)
[4] So lehnen beispielsweise nach einer 2019 veröffentlichten Greenpeace-Umfrage 81% den Waffenexport in am Jemen-Krieg beteiligte Länder ab. Vgl. https://www.dw.com/de/umfrage-deutsche-gegen-waffenexporte/a-49169332, 13.6.2019, 18.2.21. Laut einer weiteren repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov lehnen 64 Prozent der Befragten Waffenexporte generell ab. 80 Prozent der Befragten votierten gegen Waffenlieferungen in Kriegs- und Krisengebiete. 83% der Befragten lehnten den Export von Rüstungsgütern in die Türkei ab. Vgl. https://www.welt.de/newsticker/news1/article176788904/Umfragen-Deutliche-Mehrheit-der-Deutschen-ist-gegen-Verkauf-von-Waffen-an-andere-Staaten.html, 29.5.2018, 18.2.21.
[5] Nepo, Sara, 2012, Der Iran-Irak-Krieg 1980-1988. Die Balancepolitik der Großmächte. In: file:///C:/Users/Klaus_neu/Downloads/2222-2770-1-PB.pdf, 1.3.2013.
[6] ATT der UN, in deutscher Übersetzung abgedruckt in: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (Hrsg.) 2020, 49ff.
[7] Angaben nach https://thearmstradetreaty.org/treaty-status.html?templateId=209883, entnommen, o.D., 26.3.2023, Stand: Februar 2024.
[8] https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-04/nra-waffenhandel-usa-donald-trump-un-vertrag-att-waffenexport, 29.5.20.[9] Der komplette „Gemeinsame Standpunkt der Rates“ (2008/ 2019) siehe Anlage 2 im Rüstungsexportbericht 2019, a.a.O., S.43ff.
[10] Vogel (2015)
[11] Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (Hrsg.) (2020), 6.
[12] Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (Hrsg.) (2020), 10.
[13] Vogel (2015), o.S.
[14] Vgl. https://www.gesetze-im-internet.de/krwaffkontrg/__27.html, in der letzten Änderung vom 27.6.2020.
[15] Eckpunkte für die Einführung von Post-Shipment- Kontrollen bei deutschen Rüstungsexporten. In: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (Hrsg.) (2020, 42f). Hierbei muss angemerkt werden, dass die Bundesrepublik Deutschland 2019 ihrer eigenen Beurteilung nach das einzige EU-Land war, das überhaupt systematische Post-Shipment-Kontrollen versucht hat. Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (Hrsg.) (2020, 14) [16] Vgl. Wälterlin, Urs, (2018)
[17] Vgl. http://www.zeit.de/news/2018-03/12/mehr-waffenimporte-in-den-mittleren-osten-und-nach-indien-180312-99-441610, 12.3.18 und https://www.sipri.org/news/press-release/2018/asia-and-middle-east-lead-rising-trend-arms-imports-us-exports-grow-significantly-says-sipri, 13.3.2018.
[18] Vgl. die Angaben bei SIPRI auf https://www.sipri.org/media/press-release/2019/global-arms-industry-rankings-sales-46-cent-worldwide-and-us-companies-dominate-top-5;
9.12.19, 9.12.19.
[19] Steinberg (2013).
[20] SIPRI (2018).
[21] SIPRI Yearbook (2020a, 13) 
[22] Vgl. SIPRI (2020, 12).
[23] Vgl. Knipp (2020). 
[24] Vgl: Libyen: Der grenzenlose Konflikt? In: https://www.daserste.de/information/politik-weltgeschehen/weltspiegel/libyen-180.html, 19.1.20., 21.2.21.
[25] Vgl. Salzen, v. (2020)
[26] Die Linke im Europaparlament, 2020, Waffenexporte/ Rüstungsexporte. In:https://www.dielinke-europa.eu/de/article/8988.waffenexporte-ruestungsexporte.html, o.D. [27] Vgl. SIPRI (2020a, 13)
[28] Europäische Friedensfazilität. Ein außerbudgetärer EU-Fonds für die Friedensförderung und die Stärkung der internationalen Sicherheit. In: https://op.europa.eu/de/publication-detail/-/publication/b678ff59-7f34-11e8-ac6a-01aa75ed71a1/language-de/format-PDF, 13.6.2018, 21.2.21
[29] Vgl. zur kritischen Untersuchung der EPF: Bergmann/Furness (2019) sowie: Europäische Militär-Fazilität birgt erhebliche Risiken für den Frieden. Presserklärung von ‚Ohne Rüstung leben‘ zusammen mit 17 weiteren Organisationen. In: https://www.ohne-ruestung-leben.de/nachrichten/article/offener-brief-europaeische-militaer-friedens-fazilitaet-erhebliche-risiken-329.html, 8.10.19
[30] Vgl. Deutschland exportiert deutlich mehr Kriegswaffen. In: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-07/waffenexporte-ruestungsindustrie-kriegswaffen-deutschland, 14.7.20, 21.2.21.
[31] Alle Zahlen tabellarisch zusammengestellt aus: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (Hrsg.) (2020, 8 u. 22).
[32] Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (Hrsg.) (2020, 24), die Höhe der Sammelgenehmigungen ebenda, S.23.
[33] Alle Zahlen tabellarisch zusammengestellt nach Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (Hrsg.) (2020,8 u. 22).
[34] Bickel (2018, o.S.)
[35] Türkei erhält mehr als ein Drittel der deutschen Waffenexporte. dpa-Meldung vom 23.6.20, in: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/tuerkei-erhielt-mehr-als-ein-drittel-der-deutschen-waffenexporte-a-52c320a4-147c-4b92-8a35-9fcfe1dd27a8, 23.6.20.
[36] Türkei erhält mehr als ein Drittel der deutschen Waffenexporte. dpa-Meldung vom 23.6.20, in: a.a.O., 23.6.20.
[37] Links-Fraktion, Geschäft mit Kriegswaffen boomt. In: https://www.sevimdagdelen.de/geschaeft-mit-kriegswaffen-boomt/, 16.7.20, 22.2.21
[38] Vgl. ausführlicher zum Jemen-Krieg bei Reimann (2020b).
[39] Vgl. Bickel (2018, o.S.).
[40] Rüstungsexporte: Deutschland liefert Rüstungsgüter für 1,2 Milliarden an Jemen-Allianz, In: https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-04/ruestungsexporte-jemen-krieg-deutschland-allianz, 1.4.20.
[41] Reimann (2020b, o.S.)
[42] Vgl. https://www.mena-watch.com/im-jemen-sind-bis-zu-85-000-kinder-verhungert/, 8.10.2019.
[43] Vgl. Nassauer 2019.
[44] Greenpeace (Hrsg.) (2020, 29).
[45] Der ehemalige US-Vizepräsident Cheney war von 2001-2009 Vizepräsident des Konzerns Halliburton, der über seine Firmen als Ausrüster und Transportunternehmer vom in dieser Zeit stattfindenden 2. Irak-Krieg profitierte.
[46] “Furthermore, a long-term contracting relationship can lead to the ‘capture’ of the contracting process by the private firms and even to corruption. The close relationship between contractor and customer can create a ‘revolving door’ between government and industry, with senior personnel often moving from one to the other, and can result in a high degree of lobbying power for firms intimately connected with government activity.” (Perlo-Freeman/Sköns 2008, 15).
[47] Vgl. Vogel (2015, o.S.)
[48] Vgl. Danner (2019); inzwischen ist übrigens Kujat einem Machtkampf zweier Großanleger zum Opfer gefallen und musste diese Position wieder verlassen.
[49] Vgl. Eglau (2019).
[50] Das folgende Zitat entstammt einem 2008 von Stephan Kaufmann in der Berliner Zeitung geführten Interview mit Joseph Stiglitz (Stiglitz 2008).
[51] Naím (2014, 118).
[52] Vgl. Perlo-Freeman/Sköns (2008, 1).
[53] Vgl. Perlo-Freeman/Sköns (2008, 2).
[54] Perlo-Freeman/Sköns (2008, 13).
[55] Vgl. hierzu auch das entsprechende Kapitel ‚War sells‘: Die Bundeswehr. im Buch von Engartner (2016, 109ff.).
[56] https://www.worldvision.de/pressemitteilungen/2018/05/22/safe-schools-declaration,o.D., 23.5.18.



 

1.4.1.2   Die Wiederkehr der Rüstungsspirale 
Mit Hilfe der Realismustheorie internationaler Beziehungen lässt sich rechtfertigen, dass ein Staat beständig aufrüsten müsse, um sich gegen einen potenziell feindlichen Staat verteidigen zu können. Dieser andere Staat wiederum nutzt das gleiche Argument einer Bedrohungslage, um seinerseits militärisch aufzurüsten. Hier herrscht ein Denken vor, dass Sicherheit nur um den Preis militärischer Stärke erreichbar sei. Dies wird mit der Auffassung legitimiert, dass derjenige, der für den Frieden ist, sich für den Krieg wappnen müsse. Auch sei zum Aufbau von Verhandlungsdruck in der internationalen Diplomatie der Rückhalt eines hochgerüsteten Militärs von Vorteil. Hierdurch aber ensteht eine einsetzende und sich steigernde Aufrüstungsdynamik zwischen den Staaten und Militärblöcken mit allen humanen, politischen, ökologischen und ökonomischen Folgen und Risiken, die dies mit sich bringt. 

Im Krieg in der Ukraine wird des Weiteren argumentiert, dass Friedensverhandlungen erst sinnvoll seien, wenn die russische Armee geschlagen bzw. weitgehend zurückgedrängt worden sei. Daher werden eine Eskalation von Waffenlieferungen in die Ukraine und eine Steigerung der Waffenproduktion gefordert. Insbesondere US-Konzerne profitieren hier von neuen Rüstungsaufträgen. Auch Deutschland hat in diesem Zusammenhang 2022 ein Sondervermögen für Rüstungsausgaben im Wert von 100 Milliarden Euro beschlossen. Entsprechend reagiert die für die militärische Aggression in die Ukraine hauptverantwortliche Russische Föderation, baut ihre Volkswirtschaft mehr und mehr zur Kriegswirtschaft um und steigert damit die eigene Waffenproduktion, was wiederum zu weiteren Aufrüstungsforderungen in westlichen Staaten führt. Die Eskalationsspirale entwickelt sich im Rahmen dieses auf Krieg fixierten Denkens kontinuierlich weiter und führt zu einer Ausweitung und Intensivierung der Kriegshandlungen mit unabsehbaren Folgen.

Eine Rüstungsspirale muss nicht zwangsläufig eintreten 

Die erfolgreichen Abrüstungsverhandlungen des ausgehenden 20. Jahrhunderts im Rahmen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE, ab 1995 OSZE) [1], an denen auch die USA, Kanada und die damalige Sowjetunion teilnahmen, zeigen, wie es über Diplomatie und Gespräche gelingen kann, einen größeren Teil der konventionellen und atomaren Waffen zu vernichten sowie auch den ‚Human Rights‘ zu einem Durchbruch zu verhelfen. Die Voraussetzung hierfür war u.a. die zivilgesellschaftliche Unterstützung durch eine breitangelegte, das Engagement von Millionen Menschen umfassende transnationale Friedensbewegung. Die bereits 1975 im Rahmen der KSZE-Schlussakte vorgenommenen Vereinbarungen über die Einhaltung von Menschenrechten, freien Wahlen, freien Meinungsäußerungen etc. führten wiederum zu zahlreichen sich zivilgesellschaftlich engagierenden Helsinki-Gruppen und zu einer politischen Öffnung der Warschauer Pakt-Staaten. Die wiederaufgenommenen INF-Verhandlungen (Intermediate Range Nuclear Forces) im Rahmen der KSZE hatten 1987 einen Vertrag über die Vernichtung landgestützter nuklearer Mittelstreckenraketen zum Ergebnis. Der Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) wurde von 22 Regierungschefs der Warschauer Pakt- und der NATO-Staaten signiert. Das Ergebnis hiervon wiederum war bis Ende 1995 der Wegfall von ca. 50.000 konventionellen Angriffswaffensystemen (Panzer, Artillerie, Angriffshubschrauber und Kampfflugzeuge, die in Europa stationiert waren). Des Weiteren wurden in der Folge des Helsinki-Dokuments von 1992 kriegspräventive und friedenssichernde Maßnahmen zwischen den unterzeichnenden Staaten vereinbart. [2] Personen, die behaupten, eine Rüstungskontrolle und eine Abrüstung im großen Stil könnten grundsätzlich nicht gelingen, sei dieser historische Verhandlungserfolg in den 70er, 80er und 90er Jahren entgegengehalten. Gesellschaftliche Ordnungen im Bereich von Militär- und Sicherheitspolitik können sich durchaus verändern, wenn ein entsprechender gesellschaftlicher Druck entsteht. Hierdurch schien die Tür zu einer grundlegenden Neuordnung und einer damit verbundenen Friedensdividende einen großen Spalt geöffnet zu sein. 

Auch die Gegenkräfte wurden aktiv … 

Doch auch die Gegenkräfte hinsichtlich einer friedenstiftenden Neuordnung machten in dieser Situation des Wechsels mobil. Der militärisch-ökonomische Komplex und seine Unterstützer in der Politik können natürlich kein Interesse an einer Beseitigung von Aufrüstungsprogrammen haben, da hierdurch ein lukratives Geschäftsmodell entfallen würde sowie national-chauvinistische geostrategische Optionen nicht mehr durchsetzbar sein würden. 

In den letzten Jahren hat sich daher aufgrund der politisch gewollten medialen Inszenierung internationaler Feindbilder und vorhandener geostrategischer und ökonomischer Interessen eine neue globale Rüstungsspirale entwickelt, die zur Einlösung der enormen Renditen der Rüstungsindustrie führen konnte. 

Mit der völkerrechtswidrigen Intervention der US-geführten Truppen in den Irak, dem völkerrechtswidrigen Überfall der Türkei auf die Kurdengebiete im nordöstlichen Syrien, der ebenfalls völkerrechtswidrigen Besetzung der Krim durch Russland, der militärischen Invasion Russlands in der Ukraine sowie dem Versuch, zumindest Teile der östlichen und südöstlichen Regionen der Ukraine abzuspalten, dem völkerrechtswidrigen Stellvertreterkrieg des Irans mit Saudi-Arabien im Jemen, der zunehmenden Aggressivität Chinas (Hongkong, Taiwan, südchinesisches Meer), dem Expansionsbestreben Israels  sowie den Kriegen in Syrien und in Libyen konnte aufgrund regionaler hegemonialer Interessen eine neue Rüstungsspirale initiiert werden, anstatt primär Konflikte mit diplomatischen Mitteln zu lösen. In diesem Kontext stehen die weiteren Aufrüstungsbemühungen der USA und Russlands sowie der Versuch von Seiten der USA, Chinas und der NATO, die Natomitglieder hinsichtlich des staatlichen Militärbudgets auf zumindest 2% des Bruttoinlandsprodukts zu verpflichten. Dies würde z.B. im Falle Deutschlands fast eine Verdoppelung des Rüstungsetats bedeuten. [3] 
Der 2024 zum republikanischen Präsidentschaftskandidat gewählte Ex-US-Präsident eskalierte im Februar 2024 in unverantwortlicher Weise im Sinne von Schutzgelderpressung die internationale Situation – so die Berichterstattung von CNN (2024): 

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“ ‚NATO was busted until I came along,‘ Trump said at a rally in Conway, South Carolina. ‚I said, ‘Everybody’s gonna pay.’ They said, ‘Well, if we don’t pay, are you still going to protect us?’ I said, ‘Absolutely not.’ They couldn’t believe the answer.‘ 

Trump said ‚one of the presidents of a big country‘ at one point asked him whether the US would still defend the country if they were invaded by Russia even if they ‚don’t pay.‘ 

‚No, I would not protect you,‘ Trump recalled telling that president. ‚In fact, I would encourage them to do whatever the hell they want. You got to pay. You got to pay your bills.‘ 

President Joe Biden said Sunday that Trump ‚is making it clear that he will abandon our NATO allies‘ and outlined the potential consequences of Trump’s comments.“   (Sullivan 2024) 
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Dies muss man sich einmal klar machen: Trump würde Putin ermutigen, westliche Staaten zu überfallen, wenn sie nicht zumindest 2% des Bruttoinlandsproduktes in den NATO-Etat einzahlen würden. Hierbei ist mit zu bedenken, dass von den westlichen Aufrüstungsinvestitionen insbesondere US-amerikanischen Rüstungsunternehmen profitieren würden. Ein klarer Fall von internationaler Schutzgelderpressung.

Die Rüstungsspirale wird über die mediale und manipulative Konstruktion von Feindbildern beschleunigt (z.B. wechselseitig USA und Russland, Iran und USA, Saudi Arabien und Iran, USA und China), indem unterstellt wird, der jeweils andere würde die militärische Überlegenheit in einem Waffensektor anstreben, sich nicht an internationale Vereinbarungen zur Waffenkontrolle halten, eine grundsätzlich feindselige und vertrauensunwürdige Haltung einnehmen, die falsche Ideologie bzw. Religion haben und einen Angriffskrieg planen oder bereits durchführen. [4] 

Der Krieg in der Ukraine hat die globale Rüstungsspirale drastisch intensiviert. Des Weiteren lässt sich in den letzten Jahren eine Zuspitzung der Konkurrenz zwischen China und den USA erkennen. Dort dürfte auch in naher Zukunft ein erhebliches globales Konfliktpotenzial liegen, da China zunehmend im geopolitischen, ökonomischen und militärischen Bereich zu den USA aufschließt bzw. in Teilbereichen bereits eine Überlegenheit erreicht hat. 

Die weltweite Rüstungsspirale in Zahlen 

Die Fakten sehen wie folgt aus: Insgesamt steigen die Rüstungsausgaben in den letzten Jahren weltweit. Das schwedische Forschungsinstitut SIPRI ermittelte für 2017 einen Anstieg der weltweiten Rüstungsausgaben auf 1,739 Billionen Dollar (2018: 1,83 Bill., 2019: 1,9 Bill.). Das Militärbudget der USA beträgt 2018 ein Drittel aller weltweiten Rüstungsausgaben (649 Milliarden Dollar gegenüber 2017: 610 Milliarden Dollar) und liegt damit um das 2,7-fache vor dem Zweitplatzierten China (228 Milliarden). China hat in 2017 seinen Rüstungsetat um 5,6%, Indien um 5,5% und Saudi-Arabien sogar um 9,2% gesteigert. 

2021 stiegen die weltweiten Rüstungsausgaben deutlich über zwei Billionen Dollar (2,113 Billionen). Die fünf größten Rüstungsinvestoren waren die USA, China, Indien, Großbritannien und Russland. Sie hatten einen Anteil von 62% an den weltweiten Rüstungsausgaben (SIPRI 2022). 

Russlands Rüstungsausgaben verringerten sich 2017 um 20% gegenüber dem Vorjahr (2017: 66,3 Milliarden Dollar) und noch einmal 2018 um weitere 3,5%. Der Ursache für die Abnahme der russischen Rüstungsausgaben lag in ökonomischen Schwierigkeiten begründet. Allerdings hat Russland in den vergangenen Jahren seine Armee modernisiert und immer wieder in verschiedenen militärischen Konflikten erprobt. Auch sind die russischen Kosten für Waffensysteme und Personal wesentlich niedriger anzusetzen als in den westlichen Staaten, so dass diese Zahlen nicht ohne Weiteres vergleichbar sind. 

Allerdings stiegen dann die russischen Militärausgaben 2019 wieder um 4,5% auf über 65 MRD Dollar. [5] Auch 2021 hat Russland sein Militärbudget noch einmal um knapp 3% erhöht und verwendet in 2021 4,1% seines Bruttoinlandsprodukts für Rüstungsausgaben (SIPRI 2022). 
Die russischen Rüstungsausgaben erhöhten sich dann 2023/2024 noch einmal erheblich im Zuge des Kriegs der Russischen Föderation in der Ukraine – so schätzt SIPRI (2024)

„dass die geplanten Militärausgaben Russlands im Jahr 2024 mit 12 765 Milliarden Rubel (rund 140 Milliarden US-Dollar) real um 29 Prozent höher ausfallen würden als im Jahr 2023, was 7,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und 35 Prozent der gesamten Staatsausgaben entspricht.“
Gleichzeitig und in eindeutiger Reaktion auf den russischen Angriff hat die Ukraine ihre Verteidigungsiausgaben für 2022 drastisch erhöht – so SIPRI 2023c:

„Die Militärausgaben der Ukraine erreichten im Jahr 2022 44,0 Milliarden Dollar. Mit 640 Prozent war dies der höchste Anstieg der Militärausgaben eines einzelnen Jahres, der jemals in den SIPRI-Daten verzeichnet wurde. Infolge dieses Anstiegs und der kriegsbedingten Schäden an der ukrainischen Wirtschaft stieg die militärische Belastung (Militärausgaben als Anteil am BIP) von 3,2 Prozent im Jahr 2021 auf 34 Prozent des BIP im Jahr 2022.“

Deutschland lag 2017 mit leichter Steigerung auf Platz 9 der weltweiten Rüstungsskala (47, 2 Milliarden Dollar), stieg für 2018 auf Rang 8 (plus 3,8% Rüstungsausgaben) und in 2019 auf Rang 7. Die Ausgaben aller Nato-Staaten für Rüstung betrugen 2017 52% aller globalen Rüstungsausgaben (ca. 900 Milliarden Dollar Militärausgaben der NATO-Staaten). Dies steigerte sich für 2018 auf 53% und für 2019 auf 54% (1035 MRD Dollar) der weltweiten Rüstungsausgaben. [6] 

Der Verteidigungsetat für 2024 sieht für Deutschland eine Addition des normalen Verteidigungshaushaltes und des Sondervermögens vor – so das Bundesverteidigungsministerium (2024):

„Gegenüber dem Vorjahr ist der Verteidigungsetat 2024 um 1,83 Milliarden Euro gestiegen. Mit 51,95 Milliarden Euro aus dem Verteidigungshaushalt und rund 19,8 Milliarden Euro aus dem Sondervermögen Bundeswehr können auch dieses Jahr weitere wichtige Investitionen in bestmögliches Material und Ausrüstung für die Truppe erfolgen.“

Somit hat Deutschland 2024 mit einem Verteidigungshaushalt, der über 70 Milliarden Euro beträgt, die 2%-Grenze des BIP deutlich überschritten.

China rüstet ebenfalls massiv auf. China schließt parallel zu seiner wachsenden ökonomischen Macht militärisch zunehmend zur USA auf und es wird geschätzt, dass sich China in ca. zehn Jahren auf dem gleichen Rüstungslevel wie die USA befindet, wenn diese Entwicklung vergleichbar weitergeht. 

Die Rüstungsausgaben für 2020 in absoluten Zahlen sowie als prozentualer Anteil an den weltweiten Ausgaben und vergleichend zwischen 2011 und 2020 finden sich in Tabelle 5. 


Tab. 5:
Rüstungsausgaben im internationalen Vergleich 

             (zusammengestellt nach SIPRI 2021, 2022, 2023c) 
 

 

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  State                2020 in US $                Change in %                            World share in % and
                            billion and (change    (2011-2020)                           (share of nat. GDP in %)     
                            2019-2020 in%)           
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  1 United States   778 (+4.4)                       -10                                                       39 (3.7)
  2 China                 (252)  (+1.9)                    +76                                                     (13) ((1.7)
  3 Indien                 72.9  (+5.5%)                  +34                                                     3.7 (2.9)
  4 Russland            61.7 (+2.5)                      +26                                                     3.1 (4.3)
  5 United                 59.2 (+2.9)                      -4.2                                                     3.0 (2.2)
     Kingdom
  6 Saudi Arabien    (57.5) (-10%)                  +2.3                                                    (2.9) ((8.4))
  7 Deutschland       52.8 (+5.2)                     +28                                                      2.7 (1.4)
  8 Frankreich           52.7 (+2.9%)                  +9.8                                                    2.7 (2.1)
  9 Japan                   49.1 (+1.2)                     +2.4                                                   2.5 (1.0)
 10 Südkorea            45.7 (4.9)                       +41                                                     2.3 (2.8)
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Total                                                     
 Insgesamt (weltweit) :    1.981 US $ trillion                                                                          

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Anteil der NATO-Staaten | 1.103 Bill.  | USA, UK, Deutschland, Frankreich, Italien u. Kanada: 90% (995 MRD $) der NATO-Ausgaben und knapp 50% der weltweiten Rüstungsausgaben 

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SIPRI (2022):  „Die gesamten weltweiten Militärausgaben steigen 2021 real um 0,7 Prozent auf 2113 Milliarden Dollar. Die fünf größten Geldgeber im Jahr 2021 sind die Vereinigten Staaten, China, Indien, das Vereinigte Königreich und Russland, auf die zusammen 62 Prozent der Ausgaben entfallen“. 

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SIPRI (2023c):
"Die weltweiten Militärausgaben stiegen im Jahr 2022 real um 3,7 Prozent und erreichten damit einen neuen Höchststand von 2240 Milliarden Dollar. Die Militärausgaben in Europa verzeichneten im Jahresvergleich den stärksten Anstieg seit mindestens 30 Jahren."
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China baut inzwischen eigene Flugzeugträger, Überschallkanonen, Spezial-Torpedos und Tarnkappen-Jets. Obwohl China betont, dass seine Rüstung ausschließlich zu Zwecken der Landesverteidigung gilt, baut China auf den künstlich aufgeschütteten Inseln im südchinesischen Meer, das auch von anderen umliegenden Staaten beansprucht wird, Militärbasen aus. So kritisierte der US-Verteidigungsminister James Mattis während einer Konferenz in Singapur im Juni 2018: 

„Auch, wenn China das Gegenteil behauptet: Die Stationierung dieser Waffensysteme hat militärische Gründe und dient der Einschüchterung und Gewalt.“ [7] 

Es würden chinesische Bomber auf den Inseln landen, neben Flugabwehrraketen gäbe es auch Raketen, die zum Angriff auf Schiffe im Umkreis von bis zu 550 Meilen in der Lage wären. [8] 

Das größte konventionelle Raketenpotenzial besitzt inzwischen China. Auch besitzt China ein großes Arsenal von Kampfdrohnen und ist inzwischen der weltweite größte Exporteur derartiger Drohnen. China weitet – genauso wie dies die USA öffentlich erklären – Fähigkeiten zur Aufklärung und Einwirkung auf den Weltraum, z.B. hinsichtlich der Zerstörung gegnerischer Satelliten, aus. [9]
China hebt hierbei kontinuierlich seinen Rüstungsetat an, so SIPRI (2023c): 

„China blieb der zweitgrößte Militärausgeber der Welt und gab 2022 schätzungsweise 292 Milliarden Dollar aus. Das sind 4,2 Prozent mehr als im Jahr 2021 und 63 Prozent mehr als im Jahr 2013. Chinas Militärausgaben sind in 28 aufeinanderfolgenden Jahren gestiegen.“ 

 

Die Gefahr eines Atomkriegs steigt 

Nukleare Abrüstungsverträge werden aufgekündigt. Gleichzeitig wird derzeit nicht nur verstärkt in den konventionellen Waffenbereich, sondern auch in die Nuklearstreitkräfte und nuklearen Waffentechnologien investiert; es droht ebenfalls eine neue atomare Rüstungsspirale – so die Pressemitteilung von ICAN Germany anlässlich der Münchener Sicherheitskonferenz 2018: 

 „Das Friedensforschungsinstitut SIPRI in Stockholm warnt vor den gigantischen Modernisierungsprogrammen der Atomwaffenstaaten. Allein die USA wollen nach Angaben des Haushaltsbüros des US-Kongresses innerhalb von zehn Jahren über 400 Milliarden US-Dollar für ihr Atomwaffenarsenal ausgeben. Auch Russland investiert massiv in seine Nuklearstreitkräfte und testet neue Interkontinentalraketen. China, Pakistan und Indien rüsten ebenfalls atomar auf. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat vergangene Woche angekündigt, die Ausgaben für Unterhalt und Erneuerung der französischen Nuklearwaffen fast zu verdoppeln – auf sechs Milliarden Euro pro Jahr, insgesamt 37 Milliarden über die nächsten sieben Jahre. Zudem hat mit Nordkorea jüngst auch die Zahl der Staaten weiter zugenommen, die Atomwaffen besitzen. Das alles vollzieht sich in einem höchst instabilen sicherheitspolitischen Umfeld. Nie zuvor gab es zwischen so vielen Atomwaffenstaaten so große Spannungen. Es gibt derzeit keinen Atomwaffenstaat, der sich nicht in einer Krisen- oder Konfliktsituation befindet.“ [10]

Insbesondere mit der von China, Russland und den USA vorangetriebenen Entwicklung von Hyperschalldrohnen und -raketen ist eine neue Dimension im Rüstungswettlauf erreicht. Aufgrund der Schnelligkeit und der Manövrierfähigkeit der z.B. mit 32.000 km/h fliegenden und mit nuklearen Sprengköpfen bestückten russischen Marschflugkörper ist eine Abwehr im Falle eines Angriffs faktisch unmöglich. [11] 

Nicht nur die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats bauen beständig nach zunächst erfolgten Abrüstungen ihr atomares Aufrüstungsprogramm aus – auch hinsichtlich einer flexibleren und begrenzteren Anwendung. Auch äußerst instabile Staaten, wie Pakistan, Israel, Nordkorea und Indien, besitzen aufgrund der Weitergabe der atomaren Technologie durch die ständigen Sicherheitsratsmitglieder bereits die Atombombe. Weitere als problematisch einzuschätzende Staaten, wie z.B. der Iran, stehen an der Schwelle zur Atomtechnologie. 

Wenn radikale Religionsausübungen, politische Ideologien, ökonomische Interessen sowie Vorstellungen geostrategischer Hegemonie in bestimmten Weltregionen aufeinander treffen, führt der Besitz der Atomtechnologie bzw. von Wasserstoffbomben zu einer globalen Bedrohung, deren Folgen unabsehbar sind. 

Auch Konflikte zwischen China und Indien sowie Indien und Pakistan (Kaschmir-Konflikt) stellen unkalkulierbare Gefährdungen zwischen Nuklearmächten dar, die z.T. auch nur unzureichend und intransparent im multilateralen System kooperieren. [12] 

Eine neue Gefährdung besteht in der Ankündigung z.B. des abgewählten US-Präsidenten Donald Trump, kleinere Atombomben entwickeln zu lassen und in militärischen Konflikten einzusetzen. ‚Mini-Nukes‘ wären für einen ‚begrenzten Atomschlag‘ im Sinne taktischer Atomwaffen einsetzbar. [13] Da die geplanten ‚Mini-Atomwaffen‘ hinsichtlich ihrer Vernichtungskraft noch immer Städte in der Größe von Hiroshima und Nagasaki zerstören können, wird mit diesen Ankündigungen lediglich die atomare Rüstungsspirale weiter aktiviert und dann auch die Hemmschwelle für den Einsatz von Atomwaffen verringert – so auch der ehemalige US-Präsident Trump 2016 im Wahlkampf: „If we have nuclear weapons why can‘t we use them?“ [14] 

Auch von russischer Seite wurde 2022, 2023 und 2024 im Zuge des Krieges in der Ukraine dem Westen mehrfach mit nuklearen Angriffen gedroht und die Atomwaffen in Einsatzbereitschaft geschaltet. 

Auch die Europäische Union hat massive nukleare Aufrüstungspläne für die Zukunft. Hier steht das "Future Combat Air System" (FCAS) im Mittelpunkt, das ein komplexes System bestehend aus neuartigen und nuklear bestückbaren Kampfflugzeugen begleitet von Drohnenschwärmen in Satelliten gestützter Vernetzung mit Streitkräften auf dem Land und dem Wasser beinhaltet. Das neue Kampfflugzeug der 6. Generation ist ein Tarnkappenbomber, der auch mit Fähigkeiten zum Cyber-Krieg ausgerüstet und mit einer Gefechts-Cloud und mit Hilfe künstlicher Intelligenz mit den anderen Kampfsystemen vernetzt ist. Der Entwicklungskosten dieses europäischen Militärprojekts, das bis 2040 einsatzbereit sein soll, allerdings noch in Konkurrenz zu einem zweiten vergleichbaren europäischen Aufrüstungsprojekt („Tempest“) steht, werden auf 100 MRD Euro geschätzt. Die Anschaffungskosten werden auf 500 MRD Euro geschätzt. [15] 

Antipersonenminen – ein schreckliches Kriegserbe 

2017 wurden weltweit 1,7 Billionen Dollar für die Herstellung von Waffen eingesetzt. 2018 waren es schon 1,82 Billionen Dollar, 2019  1,917 Billionen Dollar  und 2022 bereits 2,24 Billionen Dollar  

(vgl. Tab. 5). Die internationale Aufrüstung und die damit verbundene Gefährdungslage nehmen wieder zu. 

Ein schreckliches Instrument gewalttätiger Auseinandersetzungen und gefährlicher Aufrüstung ist in Antipersonen-Minen zu sehen. Zwar gab es 1999 mit der ‚Ottawa-Konvention‘ einen ersten Durchbruch bei dem internationalen Verbot der Anwendung, Weitergabe und Entwicklung von Anti-Personen-Minen, dennoch haben die größten Minenlieferanten USA, Russland und China den Vertrag noch nicht unterzeichnet. 

Derzeit gibt es in über 70 Ländern zwischen 70 und 110 Millionen Landminen in Form von Anti-Personen- oder Fahrzeugminen, die im Boden verborgen vor allem eine Gefahr für die Zivilbevölkerung darstellen. Diese Situation hat sich zwischen 2003 und 2016 kaum verändert.[16] 

Es sind zukünftig dreistellige Milliarden Dollarbeträge notwendig, um die Landminen zu beseitigen – wenn dies überhaupt vollständig gelingen kann. 

Drohende Eskalation durch Hyperschallwaffen  [17] 


Die sich u.a. in Kaliningrad befindlichen russischen, nuklear bestückbaren und mit Tarnkappentechnik versehenen Iskander-Hyperschallraketen können in wenigen Minuten z.B. Deutschland erreichen. Dies stellt eine bedrohliche Entwicklung dar und ist eine unverantwortliche Maßnahme der Regierung der Russischen Föderation, die es deutlich zu kritisieren gilt. [18] 

 Im Krieg in der Ukraine wurden erstmals auch Hyperschallraketen von der russischen Seite - von Kampfjets abgefeuert - eingesetzt und sind nur schwer abzuwehren: 

„Die Hyperschallrakete Ch-47M2 Kinschal („Dolch“) ist einer der furchterregendsten Neuzugänge der russischen Luftwaffe. Die etwa acht Meter langen Raketen fliegen extrem schnell und extrem hoch, bleiben dabei nach russischen Angaben aber manövrierfähig. Sie sind nach Einschätzung der Nato im März mit herkömmlicher Flug- oder Raketenabwehr kaum abzufangen. AS-24 Killjoy (‚Spielverderber‘) hat das westliche Bündnis die neue russische Waffe getauft.“  [19] 

Allerdings behauptet die ukrainische Führung, dass sie jüngst mehrere russische Kinschal-Raketen mit Hilfe des Patriot-Abwehrsystems abgeschossen habe, auch wenn dies nicht einfach gewesen sei. [20] 

Nun droht die Gegenreaktion der USA und der NATO, indem sich die Anzeichen verdichten, dass auch in Europa, beispielsweise in Deutschland oder in Polen Hyperschallraketen (‚Dark Eagle‘, Bezeichnung: Long Range Hypersonic Weapon) stationiert werden sollen. [21] 

Diese Waffen bewegen sich deutlich schneller als Mach 5 (= über 6000 km/Std.), tragen lenkbare Gleitflugkörper, die mit den bisherigen Techniken nur schwierig abgefangen werden können. Eine Reaktion ist aufgrund der hohen Fluggeschwindigkeit, der großen Variabilität der Gleitflugkörper und deren tiefer Anflugphase unterhalb des Radars mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Die derzeit in der letzten Testphase befindlichen US-Hyperschallraketen sind mit konventionellen Sprengköpfen bestückt, könnten aber auch im Sinne von ‚dual use‘ mit nuklearen Sprengköpfen umgerüstet werden. Die NATO dementiert dies zwar, aber wie glaubhaft ist dies in einem eskalierenden Konfliktfall – zumal die russischen Hyperschallraketen nach russischen Angaben nuklear bestückbar sind?  

Bei einem Softwarefehler bzw. einer Eigendynamik oder einem fehlerhaften Verhalten der KI ist weder die Abwehr noch die umfassende Prüfung einer angemessenen Gegenreaktion möglich. Bereits konventionell ausgerüstete Hyperschallraketen können einen Atomkrieg auslösen. Sie sind als Kampfmittel im Sinne eines Enthauptungsschlags konzipiert, um also die gegnerische Regierungsspitze auszuschalten, wenn sie sich in oberirdischen Gebäuden aufhält. Wie ein derart angegriffener Staat, der nuklear bewaffnet ist, reagieren wird, kann man sich denken.

Daher wurde gerade angesichts der gegenwärtigen aggressiven globalen Situation und der (drohenden) Stationierung von Hyperschallwaffen ein Appell gegen die nukleare Aufrüstung auf den Weg gebracht und die Rückkehr zu Abrüstungsverhandlungen eingefordert. [22] 

Hierbei ist die deutsche Bundesregierung der Adressat. es wird von der Bundesregierung ein Veto gegen die zukünftige Stationierung von Hyperschallraketen sowie ein Eintreten für die Wiederbelebung bzw. Weiterentwicklung von Verträgen zur nuklearen Abrüstung gefordert. So wird von der Bundesregierung u.a. die Unterzeichnung des bereits völkerrechtlich gültigen Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) gefordert, der dann auch die nukleare Teilhabe Deutschlands beenden würde.


Zum Ausstieg aus der Abschreckungslogik

Natürlich ist keine Naivität angebracht. Hinter der militärischen Eskalation stehen politische und ökonomische Interessen. Die unheilvolle Verbindung von ökonomischen Interessen des militärisch-industriellen Komplexes, geostrategischen Interessen, völkisch-religiösen Ideologien und autoritärem Profilierungsgehabe unter Druck stehender (meist männlicher) Politiker führt zu einer fortwährenden Verschärfung der globalen Sicherheitslage. Doch bei einem nuklearen Inferno sind alle Verlierer – auch die Milliardäre, die Ideologen und die Kriegsherren auf allen Seiten.

Militärische Verstöße und Aggressionen werden derzeit in der Regel mit noch härteren Gegenangriffen beantwortet, anstatt aus der Abschreckungs- und Bestrafungslogik auszusteigen und den Verhandlungsweg auch unter Einschaltung der Vereinten Nationen und weiterer multilateralen Institutionen, wie z.B. der OSZE, zu wählen.

Die österreichische Nobelpreisträgerin Bertha von Suttner (1843-1914) kritisierte die Uneinsichtigkeit und Dummheit der Kriegstreiber und der Politik der Abschreckung und eskalierender Bestrafungsaktionen. Sie schreibt in diesem Zusammenhang sehr treffend: 

"Keinem vernünftigen Menschen wird es einfallen, Tintenflecken mit Tinte, Ölflecken mit Öl wegputzen zu wollen - nur Blut, das soll immer wieder mit Blut ausgewaschen werden."  

[23] 


Einsatz Künstlicher Intelligenz (KI) in militärischen Konflikten 

Eine neuere Gefahr besteht in dem Einsatz künstlicher Intelligenz über Mensch-Roboter-Systeme, z.B. beim Einsatz von Kampfdrohnen und der Auswertung des Filmmaterials über intelligente Algorithmen, um in diesen Aufnahmen Menschen als Grundlage von Angriffen schnell zu erkennen und zu unterscheiden. [24] Hier gibt es bereits NGOs, die diese Entwicklung kritisch verfolgen bzw. zum Protest hierzu aufrufen, wie z.B. die US-Bürgerrechtsorganisation Electronic Frontier Foundation (EFF) und das International Committee for Robot Arms Control (ICRAC). 

Laut der EFF [25] habe das US-Verteidigungsministerium 2017 7,4 Milliarden US-Dollar in die Entwicklung Künstlicher Intelligenz für militärische Zwecke investiert. Besonders problematisch werde es, wenn Drohnen Kriterien, wie z.B. Rassenzugehörigkeit oder Hautfarbe, selbstständig zur Unterscheidung von Menschen benutzen würden – so Kate Conger und Dell Cameron (2018) auf der EFF-Homepage: 

“Maven was tasked with using machine learning to identify vehicles and other objects in drone footage, taking that burden off analysts. Maven’s initial goal was to provide the military with advanced computer vision, enabling the automated detection and identification of objects in as many as 38 categories captured by a drone’s full-motion camera, according to the Pentagon. Maven provides the department with the ability to track individuals as they come and go from different locations. 

Artificial intelligence is already deployed in law enforcement and military applications, but researchers warn that these systems may be significantly biased in ways that aren’t easily detectible. For example, ProPublica reported in 2016 that an algorithm used to predict the likelihood of recidivism among inmates routinely exhibited racial bias.” 

In der internationalen Kampagne „Campaign to Stop Killer Robots“ sind bereits über 60 Nicht-Regierungsorganisationen zusammengeschlossen, die sich gegen tötende und mit Hilfe künstlicher Intelligenz ausgestattete Kampfmaschinen wenden: 

„Bisher hat noch kein Staat vollautomatische Waffensysteme eingesetzt, aber das könnte sich ändern. Großmächte wie die USA, Russland und China bereiten sich bereits darauf vor, „Killer-Roboter“ im Gefecht einzusetzen. Grund könnte die Angst sein, bei einem möglichen zukünftigen Wettrüsten nicht mithalten zu können. Obwohl die Bundeswehr bislang ausschließt, solche Systeme zu erwerben, und ohnehin der Bundestag einem Einsatz zustimmen müsste, muss die deutsche Verteidigungspolitik sich darauf einstellen, dass deutsche Soldaten eines Tages solchen Systemen gegenüberstehen könnten.“ [26] 

Das International Committee for Robot Arms Control (ICRAC) fordert das Verbot und die Entwicklungskontrolle in Bezug auf autonom entscheidende Killer-Maschinen bzw. Killer-Roboter, da Großmächte wie Russland, China und die USA mit großem Tempo an der Entwicklung dieser Waffen arbeiten würden. Thompson Chengeta (ICRA) fordert daher auf einem UN-Hearing: 

“Finally, human control over critical functions of weapon systems and a ban on fully autonomous weapon systems are two sides of the same coin. States are urged to focus on the requirement of human control rather than technical definitions of autonomy. Further, States must move towards negotiation of a legally binding instrument on this issue.” [27]
Der Informatiker und KI-Spezialist Karl H. Bläsius (2024) sieht insbesondere im Zusammenhang mit KI eine bedrohliche Entwicklung von nuklearen Waffensystemen. KI werde zur schnellen Erkennung angesichts immer schnellerer und schwieriger zu ortender Raketen mit nuklearer Trägerlast zwischengeschaltet, da die Menschen mit dem Vorgang des Wahrnehmens, Entscheidens und Befehlen in derart kurzer Zeit überfordert seien. Wenn aber KI letztendlich Ausschlag gebend für einen nuklearen Gegenangriff sei, dann bestehe die Gefahr eines ‚Atomkriegs aus Versehen‘. Die KI könne nie zu 100% sichere Aussagen treffen und verfüge auch nicht über moralische und ethische Maßstäbe so wie es bei verantwortlichen Menschen der Fall sein könnte. 


Zusammenfassend lässt sich feststellen: Anstatt abzurüsten, wächst die Rüstungsspirale weiter. Hierbei bilden nachweisbar die USA, was den Umfang der Rüstungsausgaben betrifft, die treibende Kraft. Aber auch große Staaten wie China, Russland und Saudi-Arabien erhöhen ihre ohnehin hohen Rüstungsausgaben beständig offen oder verdeckt weiter. Die Ukraine sieht sich gezwungen, massiv aufzurüsten. Der russische Krieg in der Ukraine zeigt, wie sich ein Staat, hier Russland, aggressiv entwickelt, wenn er durch seine erheblichen Rüstungsinvestitionen sich im Zuge einer neoimperialistischen Ideologie, die mit völkischen Motiven unterlegt ist, mächtig genug fühlt, einen Nachbarstaat zu überfallen. 

Insbesondere die Gefahr eines nuklear ausgetragenen Konflikts wächst, wenn Nuklearwaffen weiter verbreitet und über die Entwicklung von Mini-Nukes bzw. im Sinne taktischer Atomwaffen einsetzbar erscheinen. Dies hat der Krieg in der Ukraine noch einmal deutlich vor Augen geführt. Hierbei wird derzeit aus der Verbindung von KI und modernisierten Waffensystemen eine besonders gefährliche Entwicklung eingeleitet, die auch bereits im Krieg in der Ukraine ihre Erprobung erfährt. Auch die Stationierung von Hyperschallraketen, die nuklear bestückbar sind, stellt in diesem Kontext eine besondere Gefahr dar.

Dies alles steht in einem Gegensatz zu den Bemühungen, über diplomatische Mittel, Kompromissfindung und im Sinne einer gemeinsamen globalen Perspektive den Frieden zu bewahren bzw. zu erreichen. Zudem fehlen diese Billionenbeträge der Menschheit für sinnvollere Ausgaben im Sinne einer hierfür zu verwendenden Friedensdividende im Abrüstungsfall, wie z.B. für die Bekämpfung der Klimakatastrophe, für präventive Reaktionen auf Hungerkatastrophen, für den Kampf um sauberes Wasser oder die Beseitigung globaler sozialer Ungerechtigkeit.


Anmerkungen Kapitel 1.4.1.2


[1] Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (Organization for Security and Cooperation in Europe, OSCE).
[2] Es wurde u.a. das Konfliktverhütungszentrum (KVZ) sowie das KSZE-Forum für Sicherheitskooperation (FSK) in Wien eingerichtet.
[3] Vgl. https://www.wdr.de/tv/applications/daserste/monitor/pdf/2017/manuskript-milliardenschwere-aufruestung.pdf, S.1, o.D., 5.4.2018.
[4] Vgl. ausführlicher Kap. 1.4.1.5.
[5] https://www.tagesschau.de/ausland/sipri-ruestungsausgaben-111.html, 27.4.20, 17.8.21
[6] In: http://www.rp-online.de/politik/ausland/ruestungsausgaben-steigen-weltweit-usa-spitzenreiter-aid-1.7550249, o.D., 2.5.18, vgl. Tab.1. sowie https://www.dw.com/de/sipri-deutschland-steigert-r%C3%BCstungsausgaben-deutlich/a-53231450, 26.4.20, 17.3.21.
[7] Wurzel (2018).
[8] Vgl. Wurzel (2018).
[9] Vgl. hierzu Schiltz (2021).
[10] In: https://www.icanw.de/neuigkeiten/msc-abschreckungspolitik-treibt-welt-an-den-abrgund/, 15.2.2018, 3.3.2018.
[11] Vgl. hierzu Rötzer (2019).
[12] Vgl. Saalmann (2021)
[13] Vgl. https://motherboard.vice.com/en_us/article/a3nnaa/trump-tiny-nukesZitat, 5.3.2018.[14] In: https://www.telegraph.co.uk/news/2016/08/03/donald-trump-asked-why-us-cant-use-nuclear-weapons-if-he-becomes/, 5.3.2018.
[15] Vgl. Monroy (2021) und Wagner (2021)
[16] Vgl. für 2003: https://www.landmine.de/fileadmin/user_upload/pdf/Publi/broschuere2003.pdf, 24.7.2018 und im Vergleich für 2016: https://handicap-international.de/sites/de/files/faktenblatt_landminen_3-2016.pdf, 24.7.18.
[17] Der Abschnitt zu den Hyperschallwaffen ist an Moegling (2024b) orientiert.
[18]  Vgl. https://www.welt.de/politik/ausland/article176090499/Iskander-Russland-stationiert-Raketen-in-Kaliningrad-Reichweite-bis-nach-Berlin.html, 5.5.2018., 22.1.2024.
[19]  https://www.rnd.de/politik/nato-russische-hyperschallrakete-kinschal-ist-kaum-abzufangen-PERKBT3XRA5X6YQEG6DYAUFAJ4.html, 10.5.2022, 22.1.2024.
[20]  Vgl. Rugalla, Lukas (2024): Masse statt „Wunderwaffe“? Wie Russland die Kinschal-Raketen im Ukraine-Krieg einsetzt. In: https://www.fr.de/politik/russland-kinschal-raketen-wunderwaffe-ukraine-krieg-angriff-putin-92757841.html, 4.1.2024, 21.1.2024.
[21]  Vgl. u.a. folgende Quellen hierzu: https://www.thedrive.com/the-war-zone/43051/army-revives-cold-war-nuclear-missile-unit-to-deploy-new-long-range-weapons-in-europe, 10.11.2021, 21.1.2024;  

https://www.imi-online.de/2021/12/16/die-neue-nachruestung/, 16.12.2021, 21.2.2024; https://www.hessenschau.de/panorama/hyperschallwaffen-in-mainz-kastel-der-kalte-krieg-kehrt-zurueck-nach-wiesbaden,airbase-kastel-hyperwaffen-100.html, 13.1.2022, 20.1.2021; https://www.fr.de/rhein-main/wiesbaden/wiesbaden-alte-befuerchtungen-91277511.html, 2.2.2022, 20.1.2024. 

[22]  Der Appell wurde  von Bernhard Trautvetter zusammen mit den Erstunterzeichner*innen initiiert:  https://www.change.org/p/gegen-die-atomare-bedrohung 

[23]  Aus: Bertha von Suttner "Die Waffen nieder", S.218 - Livi Verlag 2022 (mein Dank gilt Ulrike Koushan für den Hinweis auf dieses aussagekräftige Zitat.) 

[24] Vgl. z.B. das US-amerikanische ‚Projekt Maven‘, bei dem laut New York Times und Taz Google-Mitarbeiter mit dem US-Verteidigungsministerium kooperieren: http://www.taz.de/Googles-Zusammenarbeit -US-Militaer/!5510134/, 3.6.2018.
[25] Vgl. den Beitrag von Conger/Cameron (2018).
[26] Adani (2018).
[27] https://www.icrac.net/icrac-statement-at-the-april-2018-ccw-gge/, 9.4.2018, 4.6.2018.


1.4.1.3   Umwelt, Militär und Krieg 

 Ein über lange Zeit vernachlässigter Aspekt von Aufrüstung und militärischer Aktivitäten liegt in der massiven Umweltzerstörung, die weltweit durch das Militär und insbesondere während und nach Kriegen verursacht werden. Aber auch im Regelbetrieb militärischen Alltags und militärischer Übungen ist das Militär der größte institutionelle Emittent von Klimagasen. Zusätzlich sind die bei der Produktion von Waffen anfallenden Umweltzerstörungen und  Emissionen hinzuzurechnen. 

Die Vergiftung und Zerstörung der Umwelt mit schwerwiegenden Folgen für Menschen, Tiere und Pflanzen kommen erst jetzt am Rande der aktuellen Proteste der Umwelt- und der Friedensbewegung allmählich an die Öffentlichkeit. Doch der norwegische Friedensforscher Johan Galtung hat diesen Aspekt bereits 2004 weitsichtig thematisiert: 

„Eine Sache ist der Schaden, der dem Ökosystem zugefügt wird, eine andere die Verstärkung des allgemeinen kulturellen Codes der Herrschaft über die Natur, die auch ein Teil des Vergewaltigungssyndroms ist. Unzählige Millionen von Menschen schauen sich nicht nur an, wie Menschen getötet und verwundet werden, sondern auch wie die Natur zerstört wird und in Flammen aufgeht. Der Krieg ist legitimiert, der Schaden, den er anrichtet, wird vielleicht beklagt, nicht jedoch seine Legitimation.“ [1] 


Geschichte militärbedingter Umweltzerstörung 


Die militärbedingten Eingriffe in die Umwelt und die legitimatorische Selbstverständlichkeit der Naturvernichtung im Rahmen von militärischen Konflikten und zur militärischen Nutzung fanden jedoch bereits vor Hunderten von Jahren statt. Ökologische Zerstörungen durch Militär wurden früher nur selten als Bedrohungen angesehen; ökonomische und geostrategische Zielsetzungen hatten Priorität. So kritisiert bereits z.B. der römische Naturkundler Plinius der Ältere im 1. Jahrhundert n. Chr. die Abholzung der Wälder und die Verwüstung der Landschaften in Italien, Spanien und Nordafrika, um für den Handel und den Krieg u.a. Holz, Kupfer und Eisenerz zu gewinnen: 

„Man durchgräbt die Erde auf der Jagd nach Reichtum, weil die Welt nach Gold, Silber, Elektron und Kupfer verlangt – dort der Prunksucht zuliebe nach Edelsteinen und Färbemitteln für Wände und Holz, anderswo um des verwegenen Treibens willen nach Eisen, das bei Krieg und Mord sogar noch mehr geschätzt wird als das Gold.“ [2] 

Die Folgen dieser massiven Eingriffe in die Natur zeigen sich noch bis heute beispielsweise in der Verkarstung großer Teile der italienischen und spanischen Berglandschaft. 

Später war der Kolonialismus mit weiteren Umweltzerstörungen und Eingriffen in ökologisch angepasste und funktionierende Systeme der Subsistenzwirtschaft verbunden: Indigene Bauern wurden in den eroberten Gebieten von ihrem Land vertrieben. Eine intakte Umwelt wurde oftmals aufgrund des militärischen Eingreifens der Kolonialmächte zu einer monokulturellen und einseitig ausgerichteten Plantagenwüste. 

Die beiden Weltkriege verwandelten zahlreiche Regionen in eine zerstörte und mit Waffenresten verseuchte Landschaft. 

Nach Schätzungen des Fraunhofer Instituts liegen ungefähr 1,6 Millionen Tonnen konventionelle Kampfmittel und ca. 200.000 Tonnen chemische Kampfmittel auf den Meeresböden der Ost- und Nordsee. Seeminen, Bomben, Giftgasgranaten rosten, werden porös und geben ihre giftige Ladung in die Umwelt frei, so dass über die Fische das Gift in die menschliche Nahrungskette gerät. [3] 

Die beiden Atombombenabwürfe auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki im August 1945 bewirkten neben einer Viertelmillion Toten allein 1945 bis heute die radioaktive Verseuchung dieser Regionen sowie zahlreiche Krebstote und mit genetischen Defekten geborene Kinder. 

Es wurden bereits 1961 Pflanzenschutzmittel in Vietnam nach Anordnung durch den US-amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy eingesetzt, um den Vietcong die Deckung im entlaubten Regenwald zu nehmen und deren Reisfelder zu zerstören. Ab Februar 1967 wurde das Pflanzengift ‚Agent Orange‘ zur Entlaubung des vietnamesischen Regenwalds und zur Zerstörung der Reisfelder des Vietcong im Rahmen des größten Chemie-Angriffs der Geschichte im Vietnam-Krieg eingesetzt. Das darin enthaltene Dioxin konnte bis heute nicht entfernt werden und ist für massive Krebserkrankungen und Gendefekte in Vietnam verantwortlich. Insgesamt wurden von der US-Armee 70 Millionen Liter Herbizide aus der Luft über Vietnam mit verheerenden Folgen für die Natur und die Gesundheit der Menschen versprengt. [4] 


Aktuelle Umweltzerstörung durch Militär und Krieg 


Die ‚Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen‘ (ICAN), die 2017 den Friedensnobelpreis erhielt, geht von ca. 2000 Atomwaffentests mit der Sprengkraft von 29.000 Hiroshima-Bomben aus, die unter der Erde, im Wasser und über dem Boden durchgeführt wurden. Die Atomwaffenversuche sind verantwortlich für eine umfangreiche radioaktive Verseuchung verschiedener Regionen sowie heute für ca. 2,4 Millionen Krebstote. So führten die USA von 1945 – 1992 insgesamt 1032 Test durch. Von der Sowjetunion wurden allein in Semipalatinsk in der kasachischen Steppe  zwischen 1949 und 1991 456 sowjetische Nuklearwaffentests durchgeführt. [5] 

Niemand weiß allerdings genau, wie viel Millionen Menschen tatsächlich aufgrund insbesondere der überirdischen Tests an Krebs erkrankten und starben. Die Organisation ‚Internationale Ärzte für die Verhütung eines Atomkriegs‘ (IPPNW) setzt die Opferzahlen im Rahmen ihrer Studie ‚Bedrohung des Lebens durch radioaktive Strahlung‘ noch höher als ICAN an. Die vom Münchner Biochemiker Prof. Roland Scholz geleitete Studie kommt bereits 1997 zum Ergebnis, 

„dass allein die äußere Strahlenbelastung durch den Bomben-Fallout weltweit 3 Millionen zusätzliche Krebstote bis zum Jahr 2000 verursachen könnte. Hinzu kämen die Folgen der Inkorporation von Radionukliden durch Nahrung und Atemluft. Durch diese interne Strahlung könne es noch zusätzliche 30 Millionen Opfer geben.“ [6] 

Brennende Ölquellen im Zuge von militärischen Auseinandersetzungen im arabischen Raum, z.B. im Irak-Krieg, sorgten für eine massive CO2-Verschmutzung der Biosphäre. Ein weiteres Beispiel hierfür sind die brennenden Ölquellen Saudi-Arabiens im Rahmen des Jemen-Kriegs. 

Aber insbesondere die 30-jährige Bombardierung des Iraks ist hier zu nennen, im Rahmen dessen Hundertausende von Einsätze von Kampfflugzeugen mit Tod bringender Bombenlast und massiver Umweltzerstörung erfolgten. Die USA und ihre Verbündeten töteten über 30 Jahre hinweg insgesamt 2,7 Millionen Menschen im Zuge des 2. und 3. Golfkrieges und den nachfolgenden Einsätzen und Maßnahmen, im Durchschnitt pro Tag 270 Menschen.[7] Des Weiteren kam es zu massiven ökologischen Schäden durch Bombardierungen, Anzünden von Ölanlagen sowie dem Einsatz von Uran-Munition (DU, depleted uranium) – so der Journalist Jacob Reimann (2021, o.S.): 

„Am 24. Februar 1991 begannen die USA die Bodeninvasion Kuwaits und konnten innerhalb weniger Tage das gesamte Land zurückerobern. Auf dem Rückzug befindliche irakische Truppen setzten Dutzende Ölanlagen in Brand und öffneten kuwaitische Ölterminals, wodurch im Persischen Golf eine verheerende Umweltkatastrophe ausgelöst wurde. (…) 

Die USA haben 1991 im Irak 320 Tonnen radioaktive DU-Munition verschossen. Die Krebsraten schossen in die Höhe. Wie schon bei der chemischen Kriegsführung der USA in Vietnam mittels Agent Orange werden auch von DU die Kleinsten am härtesten getroffen: In nur zehn Jahren kam es in Basra zu einer Versiebzehnfachung der Zahl von Missbildungen bei Neugeborenen. (….) Die USA haben durch ihre DU-Munition geradezu eine neuartige Klasse des menschlichen Elends und des Leids erschaffen.“ 

Hierüber hinaus: Wenn US-Truppen ein besetztes Gebiet verlassen, hinterlassen sie oftmals ein ökologisches Desaster, das schwerwiegende Folgen für die Gesundheit der dort noch lebenden Menschen hat. Die US-Armee darf nach ihrem eigenen Statut keine Materialien zurücklassen, so dass alles, was nicht mitgenommen wird, in sogenannten ‚Burn-Pits‘ verbrannt wird. Das sind große Gruben, in denen u.a. Ölrückstände, chemischer Abfall, Sprengstoff, Batterien, Farbe, Autowracks in Flammen aufgehen. Die Feuer brennen oft noch Wochen, nachdem die US-Truppen sich zurückgezogen haben. Durch die entstehenden Emissionen werden Giftpartikel in die Umwelt ungefiltert herausgelassen, was seine Auswirkung auf die Menschen und die Umwelt hat. Das Grundwasser wird verseucht, Krebs- und Lungenerkrankungen und vermehrte Fehlgeburten treten im Umfeld der ‚Burn-Pits‘ auf. Auch diejenigen, die das Feuer anfachen, die US-Soldaten, haben eine erhöhte Krebsrate und Lungenerkrankungen. [8] 

Doch nicht nur im Irak wurde Uran-Munition eingesetzt. Auch die u.a. im ehemaligen Jugoslawien von der NATO verwendete Uran-Munition vergiftete die Umwelt und sorgte dort für radioaktiv verstrahlte Gebiete. Radioaktive Munition wurde auch im Irak und heute in Syrien eingesetzt, insbesondere für Panzer brechende Angriffswaffen. Als Folge kommen gehäuft Kinder mit massiven Missbildungen auf die Welt, sind oft nicht überlebensfähig. 

Die langjährig in Damaskus akkreditierte Korrespondentin Karin Leukefeld berichtet über die Gesundheitsfolgen von Uranmunition aus abgereicherten Uran, das – neben seiner unmittelbar zerstörerischen Wirkung – hochgiftig für Umwelt, Tiere und Menschen, auch für zukünftige Generationen, ist: 

„Die Folgen der von den USA und ihren Verbündeten in mehreren Golfkriegen eingesetzten abgereicherten Uranmunition haben noch heute die Familien im Südirak und westlich von Bagdad, in Falluja zu tragen. Unzählige Kinder werden tot oder mit schweren Missbildungen geboren: mit offenem Rücken, zusammengewachsenen Beinen, außenliegender Blase, einem Auge oder auch gar keinem Auge, offenen Schädeln, um nur einige Beispiele zu nennen.“ [9] 

Auch in Syrien wird Uranmunition eingesetzt. Hierbei verbrennt bei einem Beschuss das Uran bei bis zu 5000 Grad Celsius zu Nanopartikeln, die 100 Mal kleiner als rote Blutkörperchen sind, und fällt als radioaktiver Feinstaub zu Boden, der die Umwelt kontaminiert. [10] 

Der russische Überfall und der Krieg in der Ukraine ab dem Februar 2022 brachten ebenfalls massive Mitweltzerstörungen mit sich, welche die Menschen, die Gebäude und die Infrastruktur sowie die Biosphäre betreffen. Tausende Detonationen durch Bomben- und Raketenangriffe, Sprengungen, explodierende Treibstofflager, die Gefahr des Austritts von Radioaktivität durch angegriffene Atomkraftwerke, umfangreiche CO2-Emissionen durch das Betreiben tausender Militärfahrzeuge und Kampfjets, zerstörte Landschaften und vermintes Gelände sind das Ergebnis dieses Krieges.
In einer Studie von de Klerk et al (2023) wurde ermittelt, dass innerhalb eines Kriegsjahres in der Ukraine von beiden Kriegsparteien ungefähr soviel CO2-Emissionen emittiert wurden wie im gleichen Jahr insgesamt in Belgien. Es handelte sich hierbei um 119 Millionen Tonnen CO₂-Äquivalente. [11] 

Stuart Parkinson und Linsey Cottrell (2022) fassen des Weiteren ihre Studie zur Klimaschädigung durch Militär und Kriege wie folgt zusammen:

„If the world’s militaries were a country, this figure would mean they have the fourth largest national carbon footprint in the world – greater than that of Russia. This emphasises the urgent need for concerted action to be taken both to robustly measure military emissions and to reduce the related carbon footprint – especially as these emissions are very likely to be growing in the wake of the war in Ukraine.“ [12]

Susanne Aigner (2022) fügt in ihrem Bericht über die ökologischen Folgen des Ukraine-Kriegs diesen Schäden und Zerstörungen noch eine weitere Bedrohung hinzu:

„Daneben gibt es noch andere Arten radioaktiver Verseuchungen, eine geht auf den Krieg im Donbass zurück: Seit Kriegsbeginn 2014 wurden dort die alten Kohleschächte nicht mehr ordnungsgemäß ausgepumpt und gewartet. Infolge dessen wurden rund 200 Minen überflutet, die teilweise mit nuklearen Sprengungen gegraben wurden, so dass sich Chemikalien wie Quecksilber und Arsen im Grundwasser ausbreiten. Wie Messungen des ukrainischen Umweltministeriums bereits 2016 ergaben, lagen in der gesamten Region die Strahlungswerte in den Brunnen um ein Zehnfaches über dem Grenzwert.“  [13] 

Olena Melnyk und Sera Koulabdara (2024) gehen davon aus, dass ca. ein Drittel des ukrainischen Bodens durch den Krieg mit giftigen Stoffen wie Blei, Kadmium, Arsen und Quecksilber kontaminiert ist. Böden und ihr fruchtbarer Anteil würden über Tausenden von Jahren gebildet und nun innerhalb weniger Jahre im Krieg vergiftet und unbrauchbar für die Landwirtschaft gemacht. [14] 

Der Krieg in der Ukraine hinterlässt eine zerstörte Mitwelt, für welche die Russische Föderation Milliarden Euro Reparationen zu zahlen hat, wobei dann letztlich hier nur der oberflächliche Schaden reparierbar wäre. Die tiefen Eingriffe in die menschliche Gesundheit aufgrund der eingeatmeteten Emissionen, des Trinkens belasteten Wassers und der zu ertragenden Strahlung sind nicht mit Geld bezahlbar.

Aber das Militär ist nicht nur im militärischen Einsatzfall, also im Krieg, sondern auch im militärischen Alltagsbetrieb, d.h. in noch kriegsfreien Regionen, einer der größten globalen Umweltverschmutzer. So schreibt Markus Gelau (2018) am Beispiel des US-Militärs: 

„Offiziell werden auf den weltweit 1.000 Militärbasen täglich 320.000 Barrel Öl verbraucht. Hauptsächlich verursacht durch die sich ständig im Einsatz befindlichen 285 Kampf- und Versorgungsschiffe der US-Navy. Ebenso rund 4.000 Kampfflugzeuge, 28.000 gepanzerte Fahrzeuge, 140.000 sonstige Fahrzeuge, über 4.000 Hubschrauber, mehrere Hundert Transportflugzeuge und 187.493 Transportfahrzeuge (alle Zahlen aus 2012). 

Zudem werden ausgemusterte Schiffe samt hochgiftiger Ladung zumeist nicht fachgerecht abgebaut und entsorgt, sondern auf hoher See einfach mit Torpedos und Raketen bombardiert und versenkt. Mindestens 109 Mal soll dies zwischen 1999 und 2012 so praktiziert worden sein. Nur 64 Schiffe wurden im selben Zeitraum verschrottet und recycelt“. [15] 

Allein in den USA gibt es im Kontext militärischer Übungsgelände nach Pentagon-Angaben ca. 39.000 verseuchte Gegenden, deren Dekontaminierung Hunderte Milliarden Dollar kosten würde. [16] 

Auch Deutschland ist beispielsweise von dieser Problematik nicht ausgenommen. Das zeigen die massiven Waldbrände auf dem ehemaligen Übungsgelände der DDR-Armee und der Bundeswehr mit der damit verbundenen Gefahr weiterer explodierender Munition in Mecklenburg-Vorpommern sowie die immer noch auftretenden Bombenfunde in deutschen Großstädten. 

Der Friedens- und Umweltaktivist Bernhard Trautvetter sieht das weltweite Militär als einen der gefährlichsten institutionellen Klimaschädiger an, das bereits im Normalbetrieb massive Schäden verursacht – ganz abgesehen vom Kriegsfall: 

„Ein Eurofighter verbrennt pro Flugstunde circa 3.500 kg Treibstoff, wobei circa 11 Tonnen CO2 entstehen. (…) Ein Panzer verbraucht je nach Gelände pro 100 km circa 500 Liter Treibstoff.“ [17] 

Man geht von Klimaschädigungen allein des US-Militärs in einer Größenordnung dreier Staaten aus – so das Ergebnis einer Anfrage von Wissenschaftlern an die ‚Defense Logistic Agency‘: 

„Die Wissenschaftler ermittelten auf Basis dieser Daten, dass die US-Streitkräfte, wenn sie ein Nationalstaat wären, der 47. größte Emittent von Treibhausgasen in der Welt wären, wenn man nur die Emissionen aus der Kraftstoffnutzung berücksichtigen würde. Damit würde das US-Militär alleine mehr Emissionen verursachen als Portugal, Schweden oder Dänemark. 

Im Jahr 2017 benötigte das US-Militär jeden Tag etwa 42,9 Millionen Liter Öl, dabei wurden mehr als 25 Millionen Tonnen Kohlendioxid emittiert. Die US-Luftwaffe kaufte im selben Jahr Treibstoffe im Wert von 4,9 Milliarden US-Dollar, die Marine 2,8 Milliarden US-Dollar, gefolgt von der Armee mit 977 Millionen US-Dollar und den Marines mit 36 Millionen US-Dollar, wodurch mehr klimawirksame Gase emittiert wurden als von den meisten mittelgroßen Länder.“ [18]
In einer Studie von Dr. Start Parkinson (Scientists for Global Responsibility) wurde nicht nur von den direkten CO2-Emissionen beim Transport und bei Übungen ausgegangen, sondern es wurden auch die Emissionen bei der Waffenproduktion, dem Bau der Infrastruktur und den Lieferketten einbezogen. Für die mit Abstand größte Armee berechnete Parkinson für das Jahr 2017 340 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente, und dies dürfte derzeit nicht weniger geworden sein. Für die globale Situation berechnete Parkinson, dass 5,5% der der weltweiten CO2-Emissionen auf das Militär aller Nationen zurückgehen. Hierbei ist der Kriegsfall noch nicht einberechnet. Man kann also annehmen, dass der Prozentsatz der weltweiten CO2-Emissionen, die durch Militär verursacht werden, wesentlich höher ist. [19] 
Parkinson (2020) resümiert die notwendigen Konsequenzen anhand seiner Ergebnisse zum ökologischen Fußabdrucks des Militärs wie folgt: 

„The key to real reductions in military carbon emissions is thus to shrink the huge military budgets around the world – which totalled more than $1,800 billion in 2018. (…)  And the key to shrinking these budgets is to reduce military tensions. So, rather than looking for new, lower carbon ways to fight wars, our governments should be prioritising measures such as diplomacy, international disarmament treaties, fair trade, poverty alleviation and, of course, reductions in carbon emissions right across the economy. Only then can we confidently achieve a more secure world.“ 

Ein weiteres Problem stellt sich mit der ökologischen Kontaminierung durch Landminen dar. Die Vereinten Nationen schätzen, dass in den vergangenen Jahrzehnten mehr als 100 Millionen Landminen in über 70 Ländern gelegt wurden. [20] Derartige Gegenden z.B. im ehemaligen Jugoslawien, in der Demokratischen Republik Kongo, in Vietnam, Kambodscha oder Tschetschenien sind somit Kampfmittel verseucht und langfristig weder für Wohnungsbau oder Landwirtschaft nutzbar, da deren Beseitigung teuer und auch nur über einen längeren Zeitraum hinweg Schritt für Schritt erfolgen kann. 


Zum gemeinsamen Interesse von Umwelt- und Friedensbewegung 


Diese Bilanz könnte mit zahlreichen weiteren Beispielen (Einsatz von Streumunition durch Saudi-Arabien im Jemen, Fassbomben des syrischen Militärs, gesunkene sowjetische Atom-U-Boote in der Ostsee, CO2-Emissionen durch Militärbewegungen zu Luft und am Boden …) fortgeführt werden und zeigt: 

Die Umwelt- und Friedensbewegung haben einen gemeinsamen substanziellen Schnittpunkt. Die Forderung nach einer Beendigung der Umweltzerstörung durch Militär und Kriege sollte sowohl von der Umweltbewegung als auch der Friedensbewegung als zentrale Forderungen an die Politik adressiert werden. 

Diese Einschätzung wird nochmals dadurch unterstützt, dass das Militär nicht nur Ursache von Klimaschädigung ist, sondern auch die eintretende und in einem Zusammenhang mit kapitalistischen und geostrategischen Interessen stehende [21] Klimakrise wiederum die weitere Ursache für militärisch auszutragende Konflikte und die Zerstörung politischer Systeme gerade in den ärmeren Regionen der Welt sein wird – so Michael T. Klare (2015), Professor für Frieden und Weltsicherheit am Hampshire College in Massachusetts: 

„Die stärksten und reichsten Staaten, insbesondere in den gemäßigteren Klimazonen, dürften mit diesen Belastungen besser zurechtkommen. Hingegen wird die Zahl der gescheiterten Staaten wohl dramatisch anwachsen, was zu gewaltsamen Auseinandersetzungen und regelrechten Kriegen um die verbleibenden Nahrungsquellen, landwirtschaftlich nutzbaren Böden und bewohnbaren Flächen führen wird. Große Teile des Planeten könnten also in Zustände wie jene geraten, die wir heute in Libyen, Syrien und dem Jemen vorfinden. Manche Leute werden bleiben und um ihr Überleben kämpfen; andere werden abwandern und so gut wie sicher auf wesentlich gewaltsamere Formen jener Feindseligkeit stoßen, die Einwanderern und Flüchtlingen in ihren Zielländern heute schon entgegenschlägt. Somit würde es unausweichlich zu einer weltweiten Epidemie von Bürgerkriegen und anderen gewalttätigen Auseinandersetzungen um Ressourcen kommen.“ [22] 

Dies bedeutet demnach, dass die weltweiten Militäraktivitäten sowohl Ursache als auch Folge von Umweltzerstörung sein können. 

Dementsprechend fordert der Friedensaktivist Karl-Heinz Peil (2019, 13) (Bundesausschuss Friedensratschlag): „Für die Friedensbewegung gilt es (…), dass nur durch drastische Abrüstung globale Nachhaltigkeit und Ressourcenschutz ermöglicht wird.“ [23] 

Dies gilt genauso für die Umweltbewegung, welche die ökologische Gefährdung von Seiten des Militärs sowohl in Friedens- als auch in Kriegszeiten deutlicher in ihren Aufmerksamkeitsfokus nehmen müsste. Wenn eine Aufrüstung Deutschlands und der EU im Sinne der NATO-Anforderungen (2% des BIP für Militärausgaben) vollzogen wird, dann fehlt dieses Geld für die existenziell notwendige Bekämpfung der Klimakrise – so der internationale Friedensnetzwerker Rainer Braun und der Umweltpolitiker Michael Müller (2018): 

„Wir leben aber in einem unfertigen Frieden, in dem soziale Unterschiede und ökologische Risiken zunehmen. Hunger, Elend und Umweltzerstörung erzeugen eine Gewalt, die Kriege auslösen kann. Zusätzlich fast 30 Milliarden Euro fürs Militär würden der Modernisierung der Infrastruktur, dem sozialen Wohnungsbau, der Entwicklungszusammenarbeit oder im Kampf gegen den Klimawandel fehlen. 

Geld muss in die 17 Nachhaltigkeitsziele der Agenda 2030 und das Pariser Klimaabkommen fließen, um die Erderwärmung möglichst bei 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Das sind Investitionen, die für den Frieden unverzichtbar sind.“ [24] 

In diesem Zusammenhang ist auch die Frage der Finanzierung einer Beseitigung der durch Militär verursachten Umweltschäden zu stellen. Hierzu müssten – neben den verursachenden Kriegsparteien – auch die Produzenten in der Rüstungsindustrie herangezogen werden. Gerade für die Rüstungsindustrie ist ja nicht vertretbar, dass eine Privatisierung der (erheblichen) Gewinne bei gleichzeitiger Vergemeinschaftung der Kosten auf den Staat und den Steuerzahler hin erfolgt. Eine derartige Externalisierung von Kosten und die Internalisierung von Gewinnen in der Rüstungsindustrie sind nicht mehr länger hinnehmbar. Es ist überhaupt nicht einsichtig, warum beispielsweise die Hersteller von Tellerminen nicht auch für deren Beseitigung und für Schadensersatzforderungen der Opfer aufkommen sollten. 

Vor allem die Ausklammerung des Militärs als Klimaschädiger aus dem Kyoto-Protokoll und dem Versuch, dies auch in den Pariser Verträge in der Unverbindlichkeit zu belassen, insbesondere auf Druck der USA [25] verweist des Weiteren auf die internationale Dimension der Problematik. Hier sind die Vereinten Nationen gefragt, die Umweltproblematik im Zusammenhang mit dem Militär und den Kriegseinsätzen in den Bestand der internationalen Klima-Verträge aufzunehmen. Dies dürfte ihnen leichter fallen, wenn ein entsprechender zivilgesellschaftlicher Druck, z.B. über die Fridays-for-Future-Bewegung und die Ostermarsch-Bewegung bzw. weitere Aktivitäten der Friedensbewegung aufgebaut wird. 

Insbesondere sollte hierbei auf das Missverhältnis von Militärausgaben und Investitionen in den Umweltschutz aufmerksam gemacht werden, welches Ausdruck eines problematischen Bewusstseinsstand der politisch Herrschenden ist und natürlich auch den Interessen der Rüstungsindustrie entgegenkommt. Der Friedensaktivist Bernhard Trautvetter (2019a) hat dies für Deutschland eindrucksvoll in Zahlen dokumentiert: 

„Auch in Deutschland wird die indirekt umweltgefährdende Wirkung der Rüstung schon beim Blick auf den Bundeshaushalt unmittelbar klar: Der Ansatz für die sogenannte Verteidigung erreichte 2019 einen neuen Rekord, indem er sprunghaft von circa 38,5 Milliarden Euro auf 43,2 Milliarden Euro anstieg. Der Ansatz für Umwelt, Naturschutz und sogenannte nukleare Sicherheit stieg von knapp 2 Milliarden Euro auf knapp 2,3 Milliarden Euro. Das Verhältnis von Militärausgaben und dem Etat, der unter anderem die Kosten für Umwelt aufführt, beträgt circa neunzehn zu eins.“ 

An die Wahlbürger_innen ist entsprechend zu appellieren: Keine Partei mehr zu wählen, die sich nicht ökologisch eindeutig positioniert; keine Partei mehr zu wählen, die für die Ausweitung des Rüstungsetats und des Waffenhandels eintritt, auch wenn dies mit dem Arbeitsplatzargument unterstützt wird; keine Partei zu wählen, die bereit ist, sich an völkerrechtswidrigen Kriegen zu beteiligen, die immer sowohl gegen die Menschen als auch gegen die Umwelt gerichtet sind. 

Des Weiteren: Wenn die erstarkende internationale Umweltbewegung, die derzeit vor allem von der jüngeren Generation getragen wird, über den Zusammenhang zwischen Militär, Krieg und Umweltzerstörung Kontakt zur Friedensbewegung aufnimmt, sich mit dieser vernetzt, dann wird ihre langfristige gesellschaftliche Relevanz weiterhin zunehmen. Wenn dann auch noch der Zusammenhang zwischen der vorwiegend durch ein ungebremstes Profitstreben und durch geostrategische Interessen ausgelösten Umweltzerstörung, gewalttätig ausgetragenen Verdrängungskonflikten und der Migration von fliehenden Menschengruppen thematisiert wird, dann könnte langfristig einer derartigen gesellschaftlichen Bewegung möglicherweise noch eine größere systemische Bedeutung zukommen, als dies bei der 1968er-Bewegung der Fall war. 



Anmerkungen zum Kapitel 1.4.1.3

[1] Galtung (2004).
[2] Sonnabend (2010).
[3] Vgl. Fraunhofer Institut (2018).
[4] Vgl. Langels, Otto (2017): Der größte Chemieangriff der Geschichte. https://www.deutschlandfunkkultur.de/agent-orange-im-vietnamkrieg-der-groesste-chemie-angriff.932.de.html?dram:article_id=378270, 7.2.17, 9.7.19.
[5] Vgl. ICAN (o.J.).
[6] Aus: https://www.ippnw.de/atomwaffen/humanitaere-folgen/atomtests/artikel/de/millionen-krebstote-durch-atomtests.html, ohne Datum, 13.7.2019.
[7] Vgl. Reimann (2021)
[8] Vgl. hierzu Leukefeld (2019, 162f.)
.[9] Leukefeld (2019, 163).
[10] Vgl. Leukefeld (2019, 164) über eine von Frieder Wagner vorgenommene Analyse der
Wirkungsweise Uranmunition.
[11]  Vgl. de Klerk, Lennard et al (2023), in: https://climatefocus.com/wp-content/uploads/2022/11/clim-damage-by-russia-war-12months.pdf,  1.6.2023, 25.6.2023. 

[12]  Parkinson, Stuart/Cottrell, Linsey (2022): Estimating the Military’s Global Greenhouse Gas Emissions. In: https://www.sgr.org.uk/publications/estimating-military-s-global-greenhouse-gas-emissions, 10.11.2022, 6.3.2024.
[13] Vgl.  Aigner, Susanne (2022): Krieg in der Ukraine schädigt die Umwelt nachhaltig. In: Info-sperber, Krieg in der Ukraine schädigt die Umwelt nachhaltig - https://www.infosperber.ch/umwelt/luft-klima/krieg-in-der-ukraine-schaedigt-die-umwelt-nachhaltig/, 16.5.2022, 16.5.2022. 

[14]  Olena Melnyk/Sera Koulabdara (2024): Kriegsfolgen: Ein Drittel der ukrainischen Fläche sind bereits vergiftet. In: Telepolis, https://www.telepolis.de/features/Kriegsfolgen-Ein-Drittel-der-ukrainischen-Flaeche-ist-bereits-vergiftet-9643928.html?seite=all, 2.3.2024, 2.3.2024. 

[15] Gelau (2018).
[16] Vgl. Braun (2019, 4).
[17] Vgl. Trautvetter (2021, o.S.)
[18] Vgl. Krebs (2019)
[19] Vgl. hierzu die von Anika Limbach referierten Studienergebnisse von Parkinson unter: https://www.freitag.de/autoren/anika-limbach/klimabilanz-von-kriegen-wie-hoch-sind-die-globalen-co2-emissionen-des-militaers, 22.6.2023, 23.6.2023.  

Die Studie von Parkinson findet sich unter: Article from Responsible Science journal, no.2; advance online publication: 8 January 2020, https://www.sgr.org.uk/resources/carbon-boot-print-military-0, 8.1.2020, 26.6.2023. 

[20] In: https://handicap-international.de/sites/de/files/faktenblatt_landminen_3-2016.pdf, 12/2015, 30.11.2019.
[21] Vgl. ausführlicher zum Zusammenhang von Kapitalismus und Klimazerstörung bei Klein (2012, 2019).
[22] Klare (2015).
[23] Peil (2019).
[24] Braun/Müller (2018), vgl. hierzu auch den von Michael Müller (Vorsitzender der Naturfreunde Deutschlands, NFD) im Dezember 2018 gehaltenen Vortrag auf dem 25. Friedensratschlag in Kassel (Müller 2019).
[25] Vgl. Braun (2019): a.a.O., 3.

 

1.4.1.4   Asymmetrische Kriegsformen und die ‚Neuen Kriege‘ 

Parallel zu den traditionellen Kriegen, bei denen sich einzelne Staaten bzw. Staatenallianzen gegenseitig bekämpfen (‚symmetrische Kriege‘), finden seit geraumer Zeit veränderte Formen kriegerischer Auseinandersetzung statt. Terroristische Anschläge, Guerillakriege, Cyber-Attacken, Bürgerkriege, die Bevölkerung ausbeutende und beherrschende Regime von Warlords sowie rassistisch-religiöse Ausschreitungen führen zu dauerhaften militärischen Auseinandersetzungen nicht nur in den Peripherien, sondern auch zunehmend in den kapitalistischen Metropolen. Der Krieg kommt mit einem veränderten Gesicht in die Wohlstandzonen auch in Form terroristischer Bedrohung und durch Massenfluchten wieder zurück. 

Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler (2014) unterscheidet zwischen symmetrischen und asymmetrischen Kriegen. Der klassische Staatenkrieg, bei dem im Auftrag eines territorial eingrenzbaren Nationalstaates Armeen gegeneinander antreten, die tendenziell mit gleichen Militärstrategien vorgehen und an den gleichen militärischen Prinzipien, z.B. dem Versuch in einer Entscheidungsschlacht den Gegner zu besiegen, orientiert sind, wird als symmetrischer Krieg bezeichnet. Asymmetrische Kriege sind durch die Ungleichheit hinsichtlich der militärischen Strategie, durch den gravierenden Unterschied in der militärischen Stärke sowie das Unterlaufen der Regelungen des Westfälischen Friedens gekennzeichnet, der auf symmetrische Konflikte ausgerichtet ist und z.B. auch zwischen einen Umgang mit Kombattanten (Armeeangehörigen) und Nicht-Kombattanten (Zivilbevölkerung) mit Regelungen für den Kriegsfall unterscheidet. Münkler (2002, 2004) prognostiziert für das 21. Jahrhundert vor allem drei Typen gewalttätiger Auseinandersetzungen, die bereits jetzt zunehmend neben die traditionellen Kriegsformen treten und als ‚asymmetrische‘ Kriege zu bezeichnen sind: 

 „Ressourcenkriege an der Peripherie“: An den Rändern der Wohlstandszonen entwickeln sich lokale bis regionale Konflikte, bei denen Warlords mit ihren Söldnern in Verbindung mit international organisierter Kriminalität einerseits und multinationalen Konzernen andererseits die militärische Gewalt über ein eingegrenztes Gebiet erkämpfen, um die dort befindlichen Rohstoffe, wie z.B. Diamanten, Erdöl oder Tropenhölzern, auszubeuten. Gleichzeitig wird hierbei die heimische Bevölkerung unterworfen und in die Arbeitssklaverei gedrängt, um die Profite, die aus dem Verkauf der Rohstoffe resultieren, noch zu erhöhen. Als Beispiel hierfür können Diamantenminen im Kongo sowie der Opiumanbau in von den Taliban beherrschten Regionen in Afghanistan genannt werden. 

Ressourcenkriege sind nur schwierig mit Hilfe der bisherigen Mittel auszutrocknen und zu beenden, da Sanktionen oftmals auf die Zivilgesellschaft der betroffenen Region verlagert werden und Ressourcenkriege in der Regel mit der globalen Schattenwirtschaft verbunden sind – so Münkler (2004, 1): 

 „Diese Ressourcenkriege finanzieren sich durch so genannte offene Kriegsökonomien, also ihre Verknüpfung mit den Kapital- und Warenströmen der Weltwirtschaft. Die Folge dessen ist, dass diese Kriege nicht infolge wirtschaftlicher Erschöpfung zu Ende gehen bzw. die an ihnen Beteiligten mit wachsender Erschöpfung friedensbereit werden, sondern der auf kleiner Flamme geführte Krieg (low intensity war) selbst das ökonomische Schwungrad darstellt.“ 

Oftmals geben die kriminellen Banden sich einen legitimen Anstrich, indem sie religiöse oder andere kulturelle Differenzen bzw. entsprechende Diskriminierungen als Beweggrund ihrer Aktivität ideologisch vorgeben. 

„Pazifizierungskriege“: Hierbei wird sich von Seiten der Wohlstandsmächte, vor allem den USA bzw. von den USA angeführten Allianzen, in regionale Konflikte, z.B. auch in Ressourcenkriege, eingemischt. Auch die Verhinderung der Proliferation von ABC-Waffen kann als Ziel von Pazifizierungskriegen vorgegeben werden. Die Gründe für Pazifizierungskriege hierfür können in ökonomischen und geostrategischen Interessenslagen angesiedelt, aber auch menschen- und völkerrechtlich begründet sein. Oftmals besteht eine Vermischung verschiedener Interessenlagen. 

Der zweite Irak-Krieg ist ein Beispiel für einen Pazifizierungskrieg. Hier wurde – neben massiven Menschenrechtsverletzungen gegen die irakischen Kurden – der Bau bzw. der nahende Besitz von Atomwaffen durch den Irak als Grund für die Intervention eines von den USA geführten Bündnisses in den Irak angeführt. 

Die Behauptung einer atomaren Bedrohung stellte sich später als eine Lüge der durch George W. Bush geführten US-Regierung dar. Derartige Behauptungen dienten dazu, eine Allianz zu schmieden und hiermit ökonomische Interessen der Rüstungsindustrie, Interessen der Ölindustrie und hegemoniale Interessen der USA im arabischen Raum zu realisieren. 

Pazifizierungskriege sind aufgrund der mangelnden Popularität in der eigenen Bevölkerung, der fehlenden Bereitschaft in postheroischen Gesellschaften, Tote und Verwundete zu riskieren, und aufgrund der hohen Kosten in der Regel nur von kurzer Dauer. Daher können Ressourcenkriege durch sie oftmals kaum beendet werden, bzw. sie führen dann nur dazu, die Machtkonstellationen in dem betroffenen Raum zu verändern. So führte der zweite Irak-Krieg zur Verdrängung der Sunniten von der Macht zugunsten einer durch Schiiten dominierten Zentralregierung. Dies war wiederum u.a. der Anlass, dass sich die Terrororganisation Islamischer Staat (IS, vormals ISIS) im Irak und dann auch in Syrien gründete, deren militärischer Kern sich u.a. aus einem Teil der sunnitischen Soldaten des ehemaligen und vom CIA ursprünglich in den Sattel gehobenen Regimes von Saddam Hussein zusammensetzte. 

 

„Verwüstungskriege gegen den Norden“: Hier handelt es sich vor allem um den Krieg terroristischer Organisationen gegen die wohlhabende OECD-Welt. Allerdings sind hierunter m.E. auch terroristische Angriffe z.B. in Russland durch tschetschenische Untergrundorganisationen oder der terroristische Angriff auf das World Trade Center in 9/11 zu verstehen. Im Unterschied zu Partisanenkriegen können sich Terroristen in der Regel nicht auf den Schutz der Zivilbevölkerung verlassen, sondern nutzen die moderne mediale Infrastruktur und die modernen Transportmittel in klandestiner Weise, um ihre terroristischen Aktivitäten zu realisieren. Als ideologische Legitimation dienen derartigen Organisationen, wie z.B. dem IS oder den Taliban, kulturelle bzw. religiöse Begründungen. Reale Gründe für derartige terroristische Aktivitäten dürften allerdings eher ein Gemisch aus religiösen, machtpolitischen und ökonomischen Interessen sein. 

Terroristische Organisationen greifen in Gruppen oder zunehmend häufiger auch über von ihnen motivierte Einzeltäter z.B. Fußgängerzonen, Flugzeuge oder Urlaubszentren an, um Angst in der Bevölkerung der reichen Länder des Nordens zu verbreiten: Hierdurch solle u.a. ein Rückzug von Truppen z.B. im Rahmen von Pazifizierungskriegen erreicht werden – so Münkler (2004, 3): 

 

„Was sie aber eigentlich angreifen, ist die labile psychische Infrastruktur vor allem der westlichen Welt, über die sie den politischen Willen des angegriffenen Landes ermatten und erschöpfen wollen. Dabei setzen sie vor allem auf die psychischen Effekte der Gewalt, also den Schrecken, der umso intensiver verbreitet wird, je größer die mediale Dichte des angegriffenen Landes ist.“ 

Diese Dreiteilung bereits vorhandener und in Zukunft sich noch verstärkender ‚Neuer Kriege‘ hat eine hohe Plausibilität. Jedoch werden die ‚neuen Kriege‘ traditionelle Kriegsformen und Kriegsallianzen nicht vollständig ablösen. Oftmals wird es auch eine Mischform zwischen traditionellen und neuen Kriegen geben. Dies zeigt sich exemplarisch am Krieg zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine. Neben einem – kaum für möglich gehaltenen – Überfall eines Staates auf einen angrenzenden Staat im Sinne eines traditionellen Krieges werden hier genauso Formen ‚Neuer Kriege‘ im Sinne Münklers praktiziert. Cyber-Angriffe, Desinformationskampagnen, Einsatz von Guerilla-Gruppen, Raketenterror sowie kämpfende Söldner-Armeen führen zu einer aggressiven Mischung innerhalb eines kaum noch zu kontrollierenden militärischen Konflikts. 

Zu den drei von Münkler skizzierten neuen Kriegsformen treten zudem echte Befreiungskriege, in denen sich die Mehrheit einer Bevölkerung gegen diktatorische Regime auflehnt und erst über den Partisanenkrieg, dann über den massenhaften zivilgesellschaftlichen Widerstand sowie letztlich dem Wegfall der Unterstützung des Regimes von Seiten des Militärs zu einem politischen Systemwechsel gelangt. Mit dem globalen Zunehmen autokratischer und diktatorischer Regime ist eine Zunahme von Befreiungskriegen, z.T. auch in Verbindung mit internationalen militärischen Interventionen zu erwarten. Vor allem, wenn die in der UN-Charta verankerte Nichteinmischung in die staatliche Souveränität durch ein Recht der UN und von der UN beauftragter militärischer Allianzen ersetzt wird, bei massiven Verstößen gegen die Menschenrechte in diktatorische Regimes einzugreifen, sind vermehrt regionale und nationale Befreiungskriege im angesprochenen Sinne und deren Erfolge mit Unterstützung UN-geführter und demokratisch kontrollierter Weltpolizeikräfte mit robustem Mandat zu erwarten. [1] Dieser vierte Typ (‚Befreiungskrieg‘) ist menschenrechtlich und völkerrechtlich selbstverständlich anders zu bewerten, als die anderen drei von Münkler dargestellten Typen der Kriegsführung. 

Problematisch wird es aber, wenn sich eine selbsternannte internationale Militärallianz im eigenen geostrategischen Interesse als Befreiungsarmee aufspielt, um Widerstandsbewegungen zu unterstützen bzw. Autonomiebewegungen zu bekämpfen. Im Jemen, in Syrien und in Libyen finden wir asymmetrische Konfliktlinien vor, bei denen eine Mischform von Guerilla-Krieg, Terrorismusbekämpfung, staatlicher Selbstbehauptung und Stellvertreterkrieg zu einer verheerenden Lage für die Zivilbevölkerung führt. 

Die völkerrechtliche Problematik von Geheimarmeen und Interventionen ausländischer Geheimdienste 

Auch die Existenz von Geheimarmeen in der Nachkriegszeit in Europa, die von der CIA, der Nato in Verbindung mit rechtsgerichteten Politikern und Gruppierungen, z.B. ‚Ordine Nuovo‘ in Italien, in Westeuropa gegen den Kommunismus aufgebaut wurden, stellt eine Variante asymmetrischer Konflikte dar. 

Die Geheimorganisation ‚Gladio‘ in Italien war beispielsweise ursprünglich aufgebaut worden, um im Falle einer sowjetischen Invasion hinter die Linien zurück zu fallen und dort Anschläge zu verüben. Es wurden geheime Militäreinheiten gegründet und geschult sowie versteckte Waffenlager in Italien angelegt. Als die sowjetische Invasion nicht eintraf, wurde die Funktion von ‚Gladio‘ verändert. In Zusammenarbeit mit rechtsterroristischen Gruppen und dem italienischen Geheimdienst wurden blutige Anschläge in der Bevölkerung durchgeführt und hierfür die Kommunistische Partei Italiens (PCI) verantwortlich gemacht. Hierdurch sollte eine Verschärfung der Sicherheitsgesetze – insbesondere in der Anwendung gegen die italienische Linke – sowie ein Rechtsruck in der Bevölkerung bewirkt werden. 

Ähnliche Geheimarmeen existierten – nach Aussagen des mehrfachen italienischen Regierungschefs Giulio Andreotti in gerichtlichen Vernehmungsprotokollen – ebenfalls u.a. in Deutschland, Griechenland, Dänemark, Frankreich und Belgien. [2] 

Noam Chomsky bestätigt die Untersuchungen des Schweizer Friedensforschers Danielle Ganser zur Destabilisierung Italiens durch die CIA gesteuerten Geheimoperationen und erweitert dies für die Situation in Südamerika: 

„Nationalistische Regierungen, die die ‚Stabilität‘ bedrohen, werden ‚Viren‘ genannt. Das Italien von 1948 ist ein Beispiel. 25 Jahre später beschrieb Henry Kissinger Chile als einen ‚Virus‘, der in Bezug auf die Möglichkeit gesellschaftlicher Veränderung falsche Botschaften aussenden und andere Länder befallen könnte. Selbst Italien nach Jahren umfangreicher CIA-Programme zur Untergrabung seiner Demokratie immer noch nicht ‚stabil‘, drohte infiziert zu werden. Viren müssen vernichtet und andere Länder vor der Ansteckung bewahrt werden: Für beide Aufgaben ist oftmals die Gewalt das geeignetste Mittel; sie zieht eine grauenhafte Spur von Massakern, Terror, Folter und Verwüstung.“ (Chomsky 1999, 25f.) 

Neben den traditionellen Kriegen treten zunehmend schwieriger zu begrenzende und zu kontrollierende militärische Operationsformen auf. Sie finden zum Teil im Geheimen im Auftrag von Regierungen, als Guerilla-Aktivitäten, als militärische Unterdrückung von ‚Warlords‘ in Kooperation mit multinationalen Konzernen oder in Form terroristischer Handlungsmuster statt. Diese Kriegsformen sind auch nicht mehr durch das internationale Kriegsrecht zu fassen, das hierauf aufgrund der Klandestinität des Vorgehens nicht anwendbar ist. Auch halten sich derartige Akteure, die zum Teil im Verdeckten operieren, an keinerlei Regulierungen des Kriegsrechts, wie sie die Genfer Konvention oder die Haager Landkriegsordnung darstellen. 

Der internationale Terrorismus nutzt den Vorteil der fehlenden Territorialität 

Während die Voraussetzung der im Gefolge des Westfälischen Friedens vorwiegend durchgeführten symmetrischen Kriege zwischen Staaten die nationalstaatliche Eingrenzbarkeit war, sind asymmetrische Konflikte durch die Nichtterritorialität gekennzeichnet – so Münkler (2014, 64): 

„Die Basisvoraussetzung symmetrischer Politikkonstellationen ist deren Territorialität, also ihre Fassbarkeit und damit Verwundbarkeit, die als Garant politischer Rationalität angesehen werden kann. Verglichen damit ist die Enterritorialisierung von Politikakteuren mit ihren Verschwinden unter Tarnkappen vergleichbar: Sie sind angriffsfähig, ohne mit reziproken Antworten rechnen zu müssen. Das ist genau die Situation, die mit dem Auftritt des transnationalen Terrorismus entstand.“ 

Der internationale Terrorismus muss nicht mit einem Gegenschlag unter Einsatz gleicher Mittel rechnen, da er nur schwer identifizierbar ist, die Infrastruktur eines Staates für sich benutzt und kein eingegrenztes Territorium besitzt. Wenn Terroristen Giftgas oder Sprengstoff für ihre Anschläge nutzen, dann müssen sie nicht damit rechnen, dass auf ihr eigenes Territorium ein vergleichbarer Angriff erfolgt, da sie international organisiert und ohne ein zuordenbares nationalstaatliches Territorium agieren. Indem nun der sogenannte Islamische Staat (IS) territorial eingrenzbar wurde, war es wiederum entsprechend dieser Logik möglich, ihn dort vorfindbar anzugreifen und z.T. militärisch zu besiegen. Der IS musste dementsprechend reagieren und begab sich wieder in den terroristischen Untergrund, wo er die Vorteile des asymmetrischen Krieges in Form des internationalen und mit kleinen Terrorzellen operierenden Terrorismus nutzen konnte. 

Fazit und Perspektivenbildung: Asymmetrische Kriegsformen in einem globalisierten Konzept sind weitere Argumente für eine (demokratisch kontrollierte) weltpolizeiliche Struktur, die auf Seiten einer zu reformierenden UN zu installieren ist. Sind schon konventionelle Kriege zu ächten und zu verhindern, so sind die genannten vorwiegend neueren Kriegsformen unnachgiebig von den entsprechenden zukünftig zu installierenden weltpolizeilichen Organen und Militäreinheiten der Vereinten Nationen als kriminelle Kriegshandlungen zu verfolgen. 

Hierzu bedarf es einerseits selbstverständlich eines robusten Mandats für das UN-Militär, das von der UN-Vollversammlung und vom UN-Sicherheitsrat zu beschließen ist. Weitgehend unbewaffnete Blauhelmtruppen helfen hier wenig bzw. werden eher als menschliche Schutzschilde gegen Angriffe militärischer Allianzen bzw. Interventionen UN geführter Truppen verwendet .[3] Wo sich andererseits enterritorialisierte und keiner eingrenzbaren Region zuordenbare terroristische Aktivitäten zeigen, bietet eine weltpolizeiliche Struktur wiederum bessere Voraussetzungen als nationalstaatliche und nur ungenügend transnational vernetzte Vorgehensweisen. 


Anmerkungen Kapitel 1.4.1.4

[1] Vgl. zum Aufbau durch die UN kontrollierter weltpolizeilicher Strukturen Kapitel 5.6.
[2] Vgl. zum Einsatz von CIA gesteuerten Geheimarmeen in Lateinamerika und in Europa Chomsky (1999, 24ff.) und zum detaillierteren Nachweis der Operation von Geheimarmeen in Westeuropa die Doktorarbeit von Ganser (2005/2016). Während Ganser später zum Teil ungesicherte Thesen, z.B. zu 9/11, formulierte, ist hier seine Vorgehensweise transparent und als wissenschaftlich angemessen anzusehen.
[3] Im Bosnienkrieg wurden 1995 400 Blauhelmsoldaten von den Serben als menschliche Schutzschilde gegen NATO-Angriffe missbraucht (vgl. z.B. die Dokumentation bei https://www.lr-online.de/nachrichten/hintergrund-menschliche-schutzschilde-sind-kriegsverbrechen_aid-2683689 vom 31.7.2006, 20.8.2018).

 

1.4.1.5 Die mediale Konstruktion von Feindbildern

Feindbilder werden medial konstruiert. Sie manipulieren Menschen und sind Teil einer sozialpsychologischen Kriegsvorbereitung. Dies lässt sich an aktuellen Beispielen zeigen. [1]

Was ist unter einem ‚Feindbild‘ begrifflich zu verstehen?

Unter dem Begriff des Feindbildes sollen alle sprachlichen Versuche bzw. sozialen Deutungsmuster verstanden werden, andere Personen, Menschengruppen, Ethnien oder Staaten mit Hilfe von Negativsymbolen bzw. negativ besetzten Metaphern extrem abzuwerten und ihnen ihre Menschenwürde zu nehmen. Diese Abwertung soll unangenehme Emotionen gegenüber diesen Personengruppen oder Staaten, wie z.B. Ekel, Hass oder Angst, auslösen. Hierbei wird eine vorurteilsbeladene Wirklichkeitswahrnehmung mit manipulativer Absicht benutzt, um die eigene Weltsicht als einzige Wahrheit auszuweisen und den Gegner so zu stigmatisieren, dass er nicht mehr zum Kreis einer akzeptierten Menschengemeinschaft gehört. [2]

Beispiele für die Entwicklung von Feindbildern

Bereits Caesar beschrieb die Gallier in der Mitte des ersten Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung als charakterlos, undiszipliniert und unberechenbar. Er wertete somit den Feind ab, um Tötungshemmungen zu beseitigen und die römischen Truppen zu motivieren.
Der berühmte Roman „Die Waffen nieder!“ (1889) der Friedensnobelpreisträgerin von 1905 und Friedensaktivistin Bertha von Suttner zeichnet die Sichtweise einer jungen Frau im Vorfeld des Krieges Österreich-Italien (1859) [3] nach, die sich kritisch mit Feindbildern in der österreichischen Gesellschaft befasst:
„Schlechte Eigenschaften, als da sind: Eroberungsgier, Rauflust, Haß, Grausamkeit, Tücke – werden wohl auch als vorhanden und als im Kriege sich offenbarend zugegeben, aber allemal nur beim ‚Feind‘. Dessen Schlechtigkeit liegt am Tage. Ganz abgesehen von der politischen Unvermeidlichkeit des eben unternommenen Feldzuges, sowie abgesehen von den daraus unzweifelhaft erwachsenden patriotischen Vorteilen, ist die Besiegung des Gegners ein moralisches Werk, eine vom Genius der Kultur ausgeführte Züchtigung ... Diese Italiener – welches faule, falsche, sinnliche, leichtsinnige, eitle Volk! Und dieser Louis Napoleon – welcher Ausbund von Ehrsucht und Intrigengeist! Als sein am 29. April publiziertes Kriegsmanifest erschien, mit dem Motto: ‚Freies Italien bis zum Adriatischen Meer‘ – rief das einen Sturm der Entrüstung bei uns hervor! Ich erlaubte mir eine schwache Bemerkung, daß dies eigentlich eine uneigennützige und schöne Idee sei, welche für italienische Patrioten begeisternd wirken müsse; aber ich ward schnell zum Schweigen gebracht. An dem Dogma ‚Louis Napoleon ist ein Bösewicht‘, durfte, solange er ‚der Feind‘ war, nicht gerüttelt werden; alles, was von ihm ausging, war von vornherein ‚bösewichterisch‘.“ [4]
Hier zeigt sich das Prinzip: Den Gegner mit negativen Zuschreibungen abwerten und ihm damit den Schutz der Humanität nehmen. Dies ist ein Prinzip, dass zu jeder Zeit angewendet wurde, um den Menschen die Skrupel des Tötens zu nehmen. Hitler entwarf das Bild des ‚slawischen Untermenschens‘, den es im ‚Kampf um Lebensraum für die arische Rasse‘ zu unterwerfen gelte. Kommunisten wurden als ‚Ungeziefer‘ bezeichnet, das ausgemerzt werden müsse. Kissinger bezeichnete Staaten, die sich von der Abhängigkeit zur USA lösen wollten als Viren, die abgetötet werden müssten. Bush jun. sprach von Schurkenstaaten und meinte Nordkorea, den Irak und den Iran. Die UDSSR setzte im Kalten Krieg US-Soldaten mit Mördern und Räubern gleich. Die Chinesische Polizei bezeichnete in Hongkong Protestierende als Kakerlaken.

Russlandphobien
 
Einerseits ist es nun angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine in 2022 fragwürdig, die Warnung vor russischer Aggression und vor der Persönlichkeit Putins als eine unberechtigte Konstruktion von Feindbildern zu bezeichnen.
Andererseits ist es auch schwierig, den Anteil der Wirkung einer Konstruktion des Feindbildes 'Russland' auf die Entscheidungen des russischen Präsidenten einzuschätzen.
Das Bild des Russens wurde in westlichen Spionage-Filmen als das Bild eines brutalen Menschen mit hässlichem Akzent gezeichnet, der skrupellos mordet und natürlich immer im Unrecht ist. Der ehemalige US-Präsident Ronald Reagan sprach dementsprechend von der ehemaligen UDSSR als dem „Reich des Bösen“.
Die nun wieder aktuelle Russlandphobie wurde zuvor von den USA und der NATO über sogenannte Experten in die Medien transportiert. Russland habe den Nachbarstaaten „wenig wirtschaftliche und technologische Entwicklungsimpulse anzubieten“ und könne daher den Einflussverlust nur mit der militärischer Gewalt bzw. deren Androhung kompensieren – so die FAZ-Redakteurin Kerstin Holm (2019). Auch die ehemalige US-Außenministerin  Madeleine Albright pflegte das Feindbild Russland über die Dämonisierung Putins als einen bösen Menschen („smart, aber ein wirklich böser Mensch“), als nationalistischen ehemaligen Geheimdienstoffizier mit Großmachtsphantasien. [5]  Im Zusammenhang mit dem NATO-Feindbild Russland ist dann auch ohne das Vorlegen von stichhaltigen Beweisen eines russischen Verstoßes gegen den INF-Vertrag zum Verbot von Mittelstreckenraketen die für Europa und Russland äußerst gefährliche Aufkündigung des INF-Vertrags von Seiten der Trump-Regierung im Jahr 2019 möglich gewesen.
Kaum von der Öffentlichkeit bemerkt wurde übrigens 2016 eine Task Force der EU gegründet, deren Begründung von Seiten des EU-Parlaments nicht unproblematisch ist. Hier heißt es in der Pressemitteilung des EU-Parlaments:
„Propagandistischer Druck auf die EU vonseiten Russlands und islamischer Terroristen wächst ständig. Dieser Druck zielt darauf, die Wahrheit zu torpedieren, Angst zu verbreiten, Zweifel zu provozieren und die EU auseinanderzudividieren.“ [6]
Hierbei wird also ein gemeinsames Feindbild Russland/islamistischer Terrorismus entwickelt, das diese beiden Einflüsse hinsichtlich ihres propagandistischen Drucks gleich behandelt. Sicherlich muss auch die aus Russland kommende Information und oftmals auch Desinformation kritisch beobachtet und begleitet werden. Allerdings erfolgt in dieser Aussage des obersten europäischen demokratisch gewählten Gremiums keine Differenzierung, und es erfolgt eine zusätzliche Herabsetzung Russlands über die parallele Nennung mit der Propagandatätigkeit des islamistischen Terrorismus. [7]
Doch Putin benutzte ebenso Feindbilder, um den Gegner herabzusetzen. Vor und während des russischen Überfalls auf die Ukraine wertete der russische Präsident Putin den demokratisch gewählten Präsidenten Selenskyj ebenfalls auf brutale Weise ab und bezeichnete ihn als einen drogenabhängigen Faschisten.  Die ukrainische Regierung bezeichnete Putin als "Bande von Drogenabhängigen und Neonazis" sowie als "Terroristen".  [8] 

Hierdurch wollte Putin die Mordanschläge auf den ukrainischen Präsidenten sowie die Invasion in die Ukraine als legitime Maßnahmen in der russischen Öffentlichkeit psychologisch vorbereiten. Putin war also Projektionsfläche für Feindbilder, bediente sich aber auch selbst der im russischen Staatsfernsehen medial vermittelten Feindbildkonstruktion, um aggressive und völkerrechtswidrige geostrategische Ziele durchzusetzen.

 
USA-Iran: Aufbau gegenseitiger Feindbilder
 
Ein zweites Beispiel ist in der westlichen Islamophobie sowie der iranischen USA-Phobie zu sehen. Es erfolgt in beiden Staaten ein medialer Aufbau gegenseitiger Feindbilder: USA: Der Iran als terroristisches Mullah-Regime, als Schurkenstaat, der als ein  Mitglied der „Achse des Bösen“ diskriminierend zu charakterisieren sei – so der damalige US-Präsident George W. Bush 2002 im Anschluss an 9/11. Hingegen beschimpft der Iran die USA als „großen Satan“, als „imperialistischen Teufel“, als „durch und durch verdorben“ (vgl. z.B. Roodsari 2019). Die gegenseitige Abwertung ist Ausdruck einer wechselseitigen historischen Einflussnahme, deren Eckpunkte durch den CIA- und britischen MI6-gesteuerten Sturz des demokratisch gewählten iranischen Premierministers Mohammed Mossadeq (1953), durch die Installierung des westlich orientierten Autokraten Schah Reza Pahlavi, den Sturz des Schahs durch die islamische Revolution (1979) angeführt durch Ajatollah Chomeini markiert sind. Im Gefolge kam es zur iranischen Besetzung der US-Botschaft in Teheran und zur Geiselnahme des Personals. Im Iran-Irak-Krieg tolerierte die USA den Giftgaseinsatz des Iraks und versorgte den Irak mit Plänen hinsichtlich der Aufstellung iranischer Truppen. Die Geschichte geht weiter mit heimlichen Waffenlieferungen der USA an den Iran; das Geschäft wollte man sich dann doch nicht entgehen lassen (ab 1985, Iran-Contra-Affäre). Die Schritte zur nuklearen Aufrüstung des Irans und die Provokationen gegenüber den USA spitzten sich mit der Wahl von Mahmud Ahmadinedschad zu, der auch gegenüber Israel eine äußerst feindselige Haltung einnahm. Seit dem 2015 ausgehandelten Atomabkommen, hielt sich der Iran – laut der Internationalen Atomenergiebehörde – an das Abkommen und verzichtete auf unzulässige Urananreicherungen. Bei Roodsari (2019) findet sich ein guter Überblick über die Chronik der Ereignisse, wie sie hier dargestellt wurden, und die durch wechselseitige Abwertungen und Vorwürfe gekennzeichnet sind. Derartig abgewertete Menschen bzw. Staaten werden auf diese Weise militärisch angreifbar. Die Abwertung dient der Enthumanisierung und dem Ausschluss aus dem (eigenen) humanen Wertekreis, wird zur ethischen bzw. moralischen Legitimation für alle folgenden Maßnahmen.
Nachdem nun von Seiten der USA und der Trump-Administration das Atomabkommen mit dem Iran einseitig aufgekündigt wurde, verschärfte sich wieder die abwertende Rhetorik zwischen beiden Staaten und führte zu einer gefährlichen Eskalation u.a. im Zusammenhang mit den Tankerangriffen in der Straße von Hormus sowie der Ermordung des Kommandeurs der Al Quds-Brigaden des Iran, Qasem Soleimani, in der irakischen Hauptstadt Bagdad durch US-Drohnen Anfang 2020.
Der gewalttätige Umgang des iranischen Regimes mit den Protesten iranischer Frauen, die die Unterdrückung durch den iranischen Staat und die männliche Herrschaft abschütteln wollten, trägt zum Aufbau eines Feindbildes bei.

Die Spannungen zwischen dem Iran und dem westlichen Lager verschärften sich in 2023/2024 durch die indirekte Kriegsführung des Iran über die Angriffe der Hamas und der Hisbollah auf israelisches Gebiet sowie die Raketen- und Drohnen-Angriffe der Houthis auf westliche Handelsschiffe – dreier Organisationen und Gruppierungen, die eng mit dem iranischen Regime verbündet und von diesem unterstützt werden. Durch die Unterstützung dieser militanten Maßnahmen wird der Iran sicherlich nicht seinen Feindbildstatus als Mitglied der ‚Achse des Bösen‘ verlieren können.

 
Chinaphobien: Die gelbe Gefahr
 
Ein drittes Beispiel ist mit der Chinaphobie zu nennen und soll hier ebenfalls etwas ausführlicher skizziert werden. In den sechziger Jahren warnte der damalige Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger – ein ehemals ranghohes NSDAP-Mitglied und nationalsozialistischer Propaganda-Funktionär – bereits vor der „gelben Gefahr“ aus dem fernen Osten. Mit der Betonung des fremdkulturellen und völlig andersartigen Charakter der Asiaten und insbesondere der Chinesen, werden diese in manchen Medien als gefährlich und barbarisch dargestellt. Der Chinese sei autoritätsfixiert, kollektivistisch, umweltfeindlich, betrügerisch, unbarmherzig, menschenrechtsfeindlich, aggressiv, hegemonial und konkurrenzorientiert – alles vorurteilsbeladene Stereotype, die pauschal dem Chinesen als solchen zugeschrieben werden.
Neuere ausschließlich negative Zuschreibungen, wie z.B. bei Kinkartz (2019), können hier wie folgt zusammengefasst werden:
•     Chinesische Headhunter jagen dem Westen Fachkräfte ab.
•     Chinesen stehlen westliches Know How über Cyberattacken.
•     China will sich hegemonial ausbreiten (Südchinesisches Meer, Taiwan).
•     China zerstört seine Umwelt und trägt massiv zur globalen CO2-Verschmutzung bei.
•     China unterdrückt brutal seine Minderheiten (z.B. Uiguren).
•     China ist ein totalitärer Überwachungsstaat (‚social credit system‘).
•     China zerstört die westliche Solarindustrie über staatlich subventionierte Dumping-Preise.
•     Das chinesische Seidenstraßen-Projekt ist der Versuch, die Ressourcen anderer Länder auszubeuten (Arbeitskräfte, Bodenschätze, Häfen).
Hier mag einiges Richtiges dabei sein. Verschwiegen aber werden allerdings positive Errungenschaften der chinesischen Gesellschaft, wie z.B. der wachsende Wohlstand des Bevölkerungsdurchschnitts, das politische Zusammenhalten eines derartig großen Staatsgebiets, die infrastrukturellen Leistungen, die höchste Quote an Solaranlagen in China oder auch die zunehmende technologische Innovationsfähigkeit.
Wenn man der Auffassung ist, dass Handelskriege die Vorstufe zu militärischen Auseinandersetzungen sein können, dann sind die Abwertung der Chinesen und der chinesischen Kultur in einen Zusammenhang mit den US-Schutzzöllen gegen China zu sehen. [9]

Die demokratischen Medien als Adressaten von Feindbildern
 
Ein weiteres Beispiel bezieht nun einen umgekehrten Standpunkt. Hier werden Medien selbst zum pauschalen Feindbild – die ‚Lügenpresse‘ bzw. die ‚Fake News‘. Feindbilder gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit gegen Migranten, gegen Muslime oder grundsätzlich gegen südländische Ausländer bewirken hierbei, dass Pressemedien, die nicht im Sinne dieser rechtsextremen Feindbilder agieren, als Lügenpresse diskreditiert werden. Journalisten werden mit Hass- und Drohmails oder entsprechenden Posts in den sozialen Medien überzogen, oder es wird ihnen das Wort bei Pressekonferenzen mit der Begründung entzogen: „You are fake news“ (Trump).
Der Druck auf die Presse, entsprechende Feindbilder zu produzieren bzw. sich einer Feindbildproduktion von Politikern gegenüber zumindest neutral zu verhalten, nimmt zu. Auf diese Weise wird eine Mainstream-Presse geformt, im Rahmen derer abweichende journalistische Einschätzungen zur Beendigung einer journalistischen Karriere führen können.
 
Sozialpsychologische Funktionen von Feindbildern
 
Die sozialpsychologische Bedeutung von Feindbildern soll nun anhand von vier Thesen skizziert werden, die auf die manipulative Verwendung von Feindbildern aus einem systemischen Interesse heraus verweisen:
These 1: Feindbilder werten ein Gegenüber maßgeblich mit Hilfe von falschen bzw. gefälschten Angaben über die Medien ab, erzeugen Aversion, Bedrohungsgefühle und Hass, um humane Skrupel im Umgang mit diesen Menschen zu überwinden.
These 2: Feindbilder sind die Voraussetzung dafür, derart abgewertete Menschen, Gruppen oder Gesellschaften als nicht-menschlich anzusehen, so dass deren Schädigung bzw. Vernichtung nicht als inhuman, sondern als ‚Akt gesellschaftlicher Hygiene‘ ausgewiesen werden kann.
These 3: Feindbilder haben die Funktion, von eigenen systemischen Schwächen abzulenken und die gesellschaftliche Aggression von ihren Ursachen weg auf äußere Gegner zu lenken. Dies kann zu einer systemischen Stabilisierung über die emotionalisierte Zuwendung auf einen äußeren Feind führen.
These 4: Über Feindbilder entstehen Hassgemeinschaften, deren destruktives emotionales Potenzial sich in gewalttätigen Ausbrüchen niederschlägt, die politisch instrumentalisierbar und lenkbar sind.
Der kritische Umgang mit Feindbildern bedeutet nun nicht, dass alle in der Begründung von Feindbildern enthaltenen nachprüfbaren Tatsachen abzuwehren bzw. zu verdrängen sind. Beispielsweise Russland, USA, Saudi-Arabien, Iran und China sind sicherlich durchaus als problematisch in Bezug auf ihre Rolle hinsichtlich internationaler Friedenssicherung und Kriegsprävention anzusehen. Aber die einseitig negative Zuordnung von Fakten in Verbindung mit abwertenden und diskriminierenden Zuschreibungen macht den Begriff des Feindbildes und seine destruktiven Wirkungen aus.
Daher ist es wichtig, auch die eigene Verstrickung in die Konstruktion von Feindbildern zu erkennen und an ihrer Destruktion zu arbeiten.
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 Jeder sollte sich auch persönlich fragen:
•       Was habe ich für Feindbilder?
•       Welche Vorurteile fließen dort ein?
•       Welche pauschalen Abwertungen anderer sind darin enthalten?
•       Wie sind diese Feindbilder entstanden?
•       Wie kann ich sie wieder auflösen?
•       Gibt es einen Weg, sie miteinander aufzulösen?
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Wenn sich gegen die pauschale Abwertung von Einzelnen, Bevölkerungsgruppen oder von Staaten in Form von Feinbildern gewendet wird, bedeutet dies nicht, dass nun alle Interessengegensätze und Gegnerschaften harmonisch übergangen werden sollen. Diese Interessengegensätze und Gegnerschaften gibt es, und sie sollten nicht verdeckt werden. Das Bewusstwerden von Feindbildern ermöglicht allerdings, dass durch Feindbilder hervorgerufene Spannungen zivilgesellschaftlich verhandelt werden und auch zu Kompromissen führen können. Manipulativ erzeugte und emotional verankerte Feindbilder jedoch zielen auf die Zerstörung und Vernichtung des anderen ab.

Konstruktion von Feindbildern als kriegsvorbereitender Akt
 
Hier gibt es bereits eine längere historische Tradition, mit falschen Angaben bzw. Fake-News Feindbilder zu konstruieren und Kriege zu legitimieren.
Hierbei werden mit der manipulativen, medialen Vorbereitung und auch offiziellen Verbreitung von Feindbildern politische, geostrategische und ökonomische Interessen verschleiert und durchgesetzt.
Der durch das Hitler-Regime fingierte Überfall von angeblich polnischen Soldaten auf einen deutschen Grenzposten, der erklärte, aber nicht stattgefundene (und damals nur als wahrscheinlich angenommene) zweite Angriff von Kanonenbooten des Vietcongs auf ein US-Kriegsschiff im Golf von Tonkin, das von einer Medienfirma inszenierte Herausreißen von Babys aus Brutkästen in Kuwait und die vom US-Außenminister Colin Powell vor dem UN-Sicherheitsrat vorgelegten gefälschten Dokumente zu Massenvernichtungswaffen des Iraks sind bekannte Beispiele gefälschter Kriegsgründe bzw. fingierter Gründe für die Verschärfung der militärischen Aktivitäten.
Hierbei ermöglichen die destruktiven Wirkungen von Feindbildern hohe Wachstumsraten und Renditen in der Rüstungsindustrie, einem Industriezweig, der Profiteur von ‚Feindbildern‘ und militärischen Konflikten ist. Ohne durch Feindbilder vorbereitete und erzeugte Kriege gäbe es keinen Absatzmarkt für die ‚Ökonomie des Todes‘. Oder anders ausgedrückt: Die Dämonisierung von Staaten als ‚Achse des Bösen‘ ist die Grundlage von Profiten, wie sie ansonsten nur in der Drogenindustrie möglich sind.
Werden Feindbilder als extreme Form kultureller Gewalt nach der Beendigung eines militärischen Konflikts nicht grundsätzlich mit Hilfe von Ritualen und Verfahren der Versöhnung aufgelöst, so existieren sie nach einem Krieg weiter fort und verhindern einen Frieden im umfassenden Sinne. Gesellschaften bleiben hierdurch kulturell kriegsbereit – so Johan Galtung (2004):
„Jedes Zeichen, das darauf hindeutet, dass der Feind noch am Leben ist, löst vorgefertigte Reaktionen aus; sind solche Zeichen nicht vorhanden, dann werden andere Feinde ausgemacht, um die Gestalt, die von diesem Typus kultureller Gewalt geformt wird, zu vollenden.“


Anmerkungen Kapitel 1.4.1.5

[1] Dieses Kapitel ist an Moegling (2019 d) orientiert, der Beitrag wurde aufgrund ergänzender Leserkommentierungen noch einmal überarbeitet und erweitert. Den entsprechenden Lesern_innen sei mein Dank für ihre Diskussionsbeiträge ausgesprochen, die zu einigen weiterführenden Überlegungen geführt haben.
[2] Ich habe mich hinsichtlich der hier vorgenommenen Definition auf eigene Überlegungen sowie u.a. auf entsprechende Gedanken bei Pörksen (2000) bezogen.
[3] Dies war der zweite italienische Befreiungskrieg.
[4] Aus: Suttner (1889), Kapitel 1.
[5] Vgl. Ultsch/Vieregge (2016).
[6] Pressemitteilung des EU-Parlaments zur Begründung der Task Force, nach Hofbauer (2019).
[7] Vgl. zur Herabsetzung Russlands in den Medien auch Trautvetter (2019b).
[8] https://www.sn.at/politik/weltpolitik/putin-ruft-ukrainische-armee-zur-machtuebernahme-in-kiew-auf-117604723, 25.2.2022.
[9] Vgl. Listl (2019).

(Die Literaturangaben finden sich zum Ende der Rubrik 'international edition' auf dieser Webseite) 


Video mit einer Diskussion im 'Politischen Salon Essen': 

Wenn der Frieden kippt, kippt auch das Klima.

 1.4.2  Friedensproteste und Friedensbewegung 

1.4.2.1  Ostermarschbewegung, Proteste gegen den Vietnam-Krieg und gegen den Nato-Doppelbeschluss 


Der erste Ostermarsch mit 10.000 Teilnehmer_innen fand 1958 in Großbritannien statt und bewegte sich von London zu einem Raketenforschungszentrum. Die Kampagne wurde von der britischen Friedens-NGO ‚Campaign for Nuclear Disarmament‘ (CND) initiiert. 1960 wurde die Idee des Ostermarsches in Deutschland aufgegriffen und er wurde zunächst als Sternmarsch von Hamburg, Bremen, Braunschweig und Hannover zum Truppenübungsplatz Bergen-Hohne durchgeführt. 

Vorläufer der deutschen Ostermarschbewegung waren pazifistische Proteste Ende der 50er Jahre gegen die Wiederbewaffnung und Aufrüstung der Bundesrepublik Deutschland und insbesondere gegen die Forderung des deutschen Bundeskanzlers Adenauer nach selbstständig einsetzbaren, nuklear bestückten Kurzstreckenraketen. 

Es entstand eine außerparlamentarische Basisbewegung, die unüblich für die frühen 60er Jahre der Bundesrepublik Deutschland war und im Laufe ihres Anwachsens den späteren Bürgerinitiativen sowie der außerparlamentarischen Protestkultur Ende der 60er Jahre den Weg bahnte. 

Begann der erste Ostermarsch in Deutschland mit 1200 Teilnehmer_innen, nahmen auf dem Höhepunkt der insbesondere gegen die nukleare Hochrüstung gerichteten deutschen Ostermarschbewegung 1968 ca. 300.000 Teilnehmer_innen teil. 

In diesen Jahren wurde der Protest gegen den Vietnam-Krieg der USA zum Fixpunkt des Protestes. Internationale Proteste ausgehend von den USA führten ab Mitte der 60er Jahre zu Massendemonstrationen, Kundgebungen, Hearings und Podiumsdiskussionen gegen den Vietnam-Krieg. Insbesondere der Einsatz von Napalm-Bomben und Bilder von brennenden Kindern, die Entlaubung der vietnamesischen Regenwälder mit dem naturzerstörenden und beim Menschen Krebs erzeugenden ‚Agent Orange‘ sowie Filmaufnahmen und Bilder von Flächenbombardements mit ihren verheerenden Folgen führten zu einem massiven Druck auf die Regierenden. Diese kritische Medienöffentlichkeit führte 1973 zum Waffenstillstandsabkommen und ab 1975 zur Einstellung des Vietnam-Kriegs und zum Rückzug der Amerikaner aus Vietnam. 

Dieser Versuch der USA, scheinbar westliche Interessen gegen den kommunistischen Einfluss zu wahren und ein korruptes Regime, das die auf der Indochinakonferenz (1954) vereinbarten freien Wahlen für ganz Vietnam verweigerte, an der Macht zu halten, kostete Millionen Menschen das Leben: 

„Insgesamt verloren auf amerikanischer Seite 58.000 Soldaten im Vietnamkrieg ihr Leben. In Süd- und Nordvietnam wurden rund eine Million Soldaten und zwei Millionen Zivilisten getötet. Dazu kamen noch mal zwei Millionen Kriegsversehrte und zwei Millionen Menschen, die durch den Einsatz giftiger Chemikalien bleibende Schäden davon trugen.“ [1] 

Nach einer Phase des Rückgangs der Teilnehmerzahlen an Friedensdemon-strationen in den 70er Jahren nach der Beendigung des Vietnam-Kriegs gab es dann wieder größere und druckvollere Demonstrationen im Zuge der Aufrüstung durch die Neutronenbombe und des NATO-Doppelbeschluss und der entsprechenden Stationierung von Atomraketen zur Grenze der Staaten des Warschauer Pakts. Aufgrund der Modernisierung ihrer Atomraketen (SS 20) wurde die UDSSR als wachsende Bedrohung von westlichen Politikern, wie z.B. Ronald Reagan oder Helmut Schmidt, wahrgenommen. Die NATO drohte damit, neue Atomraketen (Pershing II) an der Grenze zu den Warschauer-Pakt-Staaten zu stationieren, wenn es nicht zeitnah zu Abrüstungsverhandlungen käme. Insbesondere in Deutschland kam es Anfang der 80er Jahre wieder zu Massendemonstrationen gegen diese Logik der Abschreckung und ihre potenziell darin enthaltenen Gefahren. Die NATO plante eine etwaige sowjetrussische Invasion mit einem ‚begrenzten‘ Atomschlag in Deutschland zu stoppen. So demonstrierten im Oktober 1983 in Deutschland ca. zwei Millionen Menschen gegen das mögliche ‚Euroshima‘ in Europa und Deutschland. [2] 

Auch in England hatte die pazifistisch ausgerichtete ‚Campaign for Nuclear Disarmament‘ (CND) zur gleichen Zeit größere Erfolge – so Wernicke (1997): 

„Mit über 90.000 nationalen Mitgliedern und 250.000 in lokalen Gruppen Organisierten erlebte die CND 1984 ihren Höhepunkt, nachdem bereits ein Jahr zuvor Großbritannien die größte politische Demonstration seit 1909 gesehen hatte, ähnlich wie der im Bonner Hofgarten mit über einer Million 1983.“ 

Diese Massenproteste in verschiedenen europäischen Staaten hatten ihren Anteil an dem politischen Druck, der international zu Abrüstungsverhandlungen und entsprechenden Verträgen, wie z.B. dem START-Vertrag (1991), führen sollte. Natürlich trug auch dazu bei, dass das Sowjetsystem ökonomisch und politisch am Ende war und Michail Gorbatschow, der 1985 an die Macht kam, zu Reformen und Zugeständnissen gezwungen war. 

Noch immer finden Ostermärsche statt, die 2019 angesichts der weltweiten Krisen sowie des zunehmend ins Bewusstsein tretenden Zusammenhangs zwischen Umweltzerstörung, Militär und Krieg wieder auf eine größere Resonanz trafen. 2020 fielen die Ostermärsche dem Coronavirus zum Opfer. 

Auch bleiben die nukleare Aufrüstung, der Abzug der Atomraketen aus Deutschland (Fliegerhorst Büchel), das Beenden militärischer Angriffe im mittleren Osten über die Ramstein Airbase, der Protest gegen die Modernisierung der Nuklearwaffen sowie der geforderte Beitritt zum von ICAN in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen entwickelten Atomwaffenverbotsvertrag im Zentrum der Ostermarschbewegung. Ebenso das Verbot deutscher Rüstungsexporte, insbesondere in Spannungsgebiete, sowie die Abrüstung und Rüstungskonversion der Waffenindustrie in Friedenindustrien sind wichtige Forderungen. Hinzu kommen in den letzten Jahren auch der Widerstand gegen eine Militarisierung Europas sowie die Proteste gegen die völkerrechtswidrigen Interventionen westlicher Militärallianzen im Nahen und Mittleren Osten. 

Als zusammenfassende Einschätzung kann ein Zitat des Politikwissenschaftlers Christoph Butterwegge (1990) dienen, der die Ostermarschbewegung hinsichtlich des Stellenwerts ihres gesellschaftlichen Einflusses zu charakterisieren versucht: 

„Der Ostermarsch ist die erste organisch gewachsene Massenbewegung in der Geschichte der Bundesrepublik, die nicht von Parteien bzw. Organisationen vereinnahmt wurde, sondern bis zuletzt unabhängig und überparteilich blieb. Kennzeichnend für die Ostermarsch-Bewegung der 60er Jahre war, daß sie wichtige Entscheidungen in den örtlichen, regionalen und zentralen Beschlußgremien nach dem Konsensprinzip traf, ohne ihren Minimalkonsens (Ablehnung aller Nuklearwaffen) als Beschränkung auf einen Punkt zu empfinden. Minderheiten und Extrempositionen wurden nicht ausgegrenzt, sondern integriert, Heterogenität und Meinungspluralität als Gütezeichen einer neuen Protestkultur begriffen. Der Ostermarsch bewies, daß weltanschauliche, politische und ‚Kulturschranken‘ überwunden werden können und müssen, wenn das Gattungsinteresse (am Überleben der Menschheit) im Atomzeitalter die Zusammenarbeit aller Friedenskräfte gebietet.“ 

Da diese Einschätzung kurz nach den Erfolgen der Ostermarschbewegung in den 80er-Jahren vorgenommen wurde, ist sie für die 90er Jahre und die ersten zwei Jahrzehnte des 21. Jahrhundert wieder etwas zu relativieren. Trotz steigender Teilnehmerzahlen wartet die Ostermarschbewegung noch auf ihre Renaissance. Diese wird dann wohl eintreten, wenn einerseits die wieder wachsende Kriegsgefahr in das Bewusstsein der Menschen dringt und andererseits es gelingt, die Friedensbewegung mit verschiedenen anderen Protestrichtungen zu einer breiteren Protestkultur zu vereinen. [3] 

1.4.2.2    „Kein Blut für Öl!“ – Proteste gegen die Golf-Kriege 

Es wird in der Regel zwischen drei Golfkriegen unterschieden. Der erste Golf-Krieg (1980-1988) fand zwischen dem Iran und Irak anlässlich von Gebietsstreitigkeiten über den damit umstrittenen Zugang zu lokalen Ölquellen und auch aufgrund regionaler Hegemoniebestrebungen statt. 

Am 22.9.1980 marschierten irakische Truppen in die Erdölprovinz Khuzestan ein und bombardierten mit Flugzeugen Teheran. 
      Im Laufe des ersten Golfkrieges lieferten die Waffenproduzenten der Welt ungebremst Waffen unterschiedlichster Art an die beiden sich bekämpfenden Nationen. Insbesondere der Irak konnte sich aus westlichen Quellen fast unbegrenzt Waffen besorgen, die er mit Ölverkäufen und Krediten von Seiten eines Teils der arabischen Staaten finanzierte. Aber auch China und Russland lieferten den beteiligten Kriegsparteien Waffen. Dies führte eindeutig zu einer Verlängerung des Krieges. 

Es wurde hierbei von Seiten des Iraks vielfach das völkerrechtlich geächtete Giftgas mit verheerenden Folgen eingesetzt. Auch wurden die irakischen Kurdengebiete 1988 von der irakischen Regierung mit Giftgas angegriffen. Die Weltöffentlichkeit nahm Tausende vergiftete Kurden in Halabdsch eher beiläufig zur Kenntnis. Kinder wurden vom Iran vorangeschickt, damit keine ausgebildeten Soldaten von den irakischen Sprengstoffallen zerfetzt würden. Im Golf-Krieg starben 95.000 iranische Kindersoldaten. Die Umweltfolgen von zahllosen gegenseitigen Angriffen auf Öltanker und Ölplattformen waren erheblich. Die Angaben über die Zahl der Kriegstoten schwanken. Die höchsten Schätzungen gehen insgesamt von ca. 1 Million Kriegstoten aus. Zahlreiche Minen liegen heute noch im umkämpften Gebiet und fordern tägliche Todesopfer. 

1988 nahmen endlich beide Kriegsparteien den von der UNO vermittelten Waffenstillstand an. Saddam Hussein und der iranische Revolutionsführer Ayatollah Khomeini unterschrieben das Abkommen. Die Grenzen blieben unverändert. Der UN-Generalsekretär stellte nach Kriegsende fest, dass die Aggression vom Irak ausgegangen sei. [4] 

Der zweite Golfkrieg begann 1990 mit dem Überfall des Irak unter Saddam Hussein auf Kuwait und der Einnahme der dortigen Ölquellen. Die Kriegsschulden des Irak bei Kuwait und anderen arabischen Ländern waren derart hoch, so dass Saddam Hussein hierin die einzige Lösung sah. In diesem Zusammenhang gab es auch Streitigkeiten über die Ölforderung zwischen dem Irak und Kuwait sowie Gebietsforderungen von Seiten des Iraks. 

Nach der Besetzung des wesentlich kleineren Gebiets von Kuwait durch den Irak verhängte der UN-Sicherheitsrat Wirtschaftssanktionen gegen den Irak. 

Etwa sechs Monate später wurden die USA an der Spitze einer Koalition mit der UN-Resolution 678 ermächtigt, militärisch in den Konflikt einzugreifen und die Souveränität von Kuwait wiederherzustellen. Mit ihrer Luftüberlegenheit und dem Einsatz massiver Bodentruppen konnte die USA geführte Koalition innerhalb von ca. zwei Monaten den größten Teil der irakischen Militäranlagen und Kriegsmaschinen vernichten. Zehntausende irakische Soldaten und auch Zivilisten starben im ersten Irakkrieg. Auf Seiten der Alliierten starben ca. 350 Soldaten. Die Infrastruktur des Landes war weitgehend zerstört. Es entstanden massive Umweltschäden durch brennende Ölquellen, da der Irak bei seinem Rückzug über 700 Ölquellen angezündet bzw. gesprengt hatte, deren Löschung mehrere Monate benötigte. Aber auch die Umweltschäden insbesondere über den Einsatz von Uran-Munition waren immens. In diesem Zusammenhang wird die erhöhte Anzahl von missgebildeten Kindern im Südirak in der Nachkriegszeit mit dem Einsatz von Uranmunition in Verbindung gebracht. [5] 

Große Teile der aus Kuwait fliehenden irakischen Armee wurden wenig später im Irak eingekesselt und gefangen genommen. Auf einen Angriff auf Bagdad wurde verzichtet und Saddam Hussein wurde an der Macht gelassen. 

Während beim ersten Golfkrieg kaum Kundgebungen und Demonstrationen in westlichen Staaten stattfanden, fiel die Reaktion im zweiten Golf-Krieg (erster Irak-Krieg) deutlicher aus, ohne allerdings den Charakter einer Massenbewegung zu bekommen. Schüler verließen ihre Schulen, riefen dabei „Kein Blut für Öl!“, demonstrierten und besetzten spontan Hauptverkehrsstraßen. Mahnwachen standen in größeren Städten und forderten u.a. den Schutz der irakischen Zivilgesellschaft. Doch so schnell der zweite Golf-Krieg vorbei war, so schnell verebbten auch diese Proteste. 

Der dritte Golfkrieg fand im Jahr 2003 statt. Er schloss sich an die durch die UN verhängten Wirtschaftssanktionen gegenüber dem Irak an, da der Irak insbesondere aus der Sicht der USA immer wieder Waffenkontrolleure von militärischen Lagerstätten fernhalten bzw. Fristen zur Waffenkontrolle nicht einhalten würde. Als Folge dieser Wirtschaftssanktionen und auch des Blockierens von Lebensmittelimporten und Medizin starben Millionen Iraker, insbesondere Kinder, durch Mangelernährung und medizinische Unterversorgung. 

Hatte George Bush noch im ersten Irak-Krieg auf die Niederschlagung des Regimes von Saddam Hussein verzichtet, um noch ein regionales Gegengewicht zum Khomeini-Regime im Iran zu erhalten, setzte sich die Regierung seines Sohns George W. Bush über diese Bedenken hinweg. Vermeintlich gestützt von einer UNO-Resolution, die den Irak zum uneingeschränkten Zulassen der internationalen Waffenkontrollen aufforderte, griff die USA mit einer ‚Koalition der Willigen‘ im März 2003 mit der Bombardierung Bagdads den Irak an. 

Hierbei wurde diese militärische Intervention damit begründet, dass der Irak kurz davor sei, nukleare Waffen zu entwickeln, um die USA und Israel anzugreifen. Es wurden dem UN-Sicherheitsrat gefälschte Bilder von unterirdischen atomaren Abschussrampen durch den US-amerikanischen Außenminister Colin Powell vorgelegt. Der UN-Generalsekretär Kofi Annan stellte im Anschluss an den 2. Irak-Krieg fest, dass der Angriff nicht durch UN-Beschlüsse gedeckt und völkerrechtswidrig gewesen sei. 

Hier wurde mit gezielt eingesetzter Lügenpropaganda gearbeitet, um eine Koalition für den Angriff zusammen zu bekommen. Auch stand die Einschätzung der behaupteten Gefährlichkeit des Iraks gegen die Beurteilung der UN-Waffenkontrolleure, die von einem zu 90% abgerüsteten Irak ausgingen. Auch die unterstellte Verbindung Saddam Husseins zu Al Qaida und zu 9/11 konnte nicht bewiesen werden. [6] 

Dieses Mal wurde der Irak vernichtend geschlagen und das Hussein-Regime entmachtet. Die Destabilisierung des Iraks führte zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen, zahlreichen fürchterlichen Terroranschlägen im Irak und war letztendlich die Geburtsstunde der regionalen Terrororganisation ‚Islamischer Staat‘ (IS), der im Kern aus sunnitischen ehemaligen Militärs des Hussein-Regimes resultierte, die nach der Niederlage des Iraks in den Untergrund gegangen waren, und sich mit verschiedenen islamistischen Terrororganisationen verbündeten. 

Zwar hatte der US-Präsident George W. Bush medienwirksam am 1. Mai 2003 auf einem US-Kriegsschiff die Niederlage des Iraks und die Beendigung der Kriegshandlungen verkündet, dennoch zog sich die Besatzung des Iraks bis ins Jahr 2011 hin, begleitet von zahlreichen Anschlägen und Aufständen. Mehr als 100.000 Menschen kamen in dieser Zeit ums Leben. [7] 

Die durchsichtigen Propaganda-Manöver, der Verstoß gegen das Völkerrecht, Folterungen von Gefangenen und aggressive Verhörmethoden, das unterstellte US-Interesse an den irakischen Ölquellen sowie die beobachtbaren Gewinne des militärisch-ökonomischen Komplexes in den USA waren diesmal Anlass für eine größere Protestbewegung in den westlichen Staaten gegen den zweiten Irak-Krieg. Weltweit demonstrierten Hunderttausende Menschen gegen den Angriff auf den Irak. Russland und China wollten den Angriff im UN-Sicherheitsrat als völkerrechtswidrig einstufen lassen, wurden aber durch das Veto der ständigen Mitglieder, USA und Großbritannien, überstimmt. 

In Deutschland gab es ebenfalls Massenproteste gegen den zweiten Irak-Krieg. So protestierten etwa 40.000 Menschen in Berlin gegen die militärische Invasion – hier einige Auszüge über die Berichtserstattung: 

„Mit Plakaten wie ‚Krieg ist Massenmord‘ oder ‚Während Bagdad brennt, fliegt Georgie Boy ins Wochenend‘ und Sprechchören wie ‚Wir wollen euren Krieg nicht, Schröder mach den Luftraum dicht‘, protestierten die Demonstranten in Hamburg gegen die Angriffe auf Irak. An den Protesten nahmen auch irakische, kurdische und iranische Gruppen teil. Zu sehen waren außerdem viele Familien mit Kindern. 

In Frankfurt am Main forderten mehrere Redner auf der Kundgebung, zu der die Friedensbewegung, Parteien, Kirchen und Gewerkschaften aufgerufen hatten, ein Ende des Krieges und warnten vor einer humanitären Katastrophe im Irak. Harsche Kritik gab es an den US-Medien, die den Krieg ‚in eine glänzende Reality-TV-Show‘ verwandelten.“ [8] 

In Frankfurt/M. fanden Demonstrationen und Kundgebungen statt, zu denen Gewerkschaften, Friedensorganisationen und Kirchen aufgerufen hatten. Auch in London zogen mehrere hunderttausend Demonstranten durch den Hyde-Park. In Bern versammelten sich 20.000 Demonstranten vor dem Regierungsgebäude. Ebenfalls in Staaten des Nahen Ostens, aber auch in Asien kam es zu Protestaktionen. [9] 

Der Kasseler Politikwissenschaftler und Friedensaktivist Peter Strutynski fasste dementsprechend 2013 die durch den zweiten Irak-Krieg entstandene Situation äußerst kritisch zusammen: 

„Der Irak-Krieg 2003, der wie erinnerlich am 1. Mai 2003 mit dem Spruch des obersten US-Kommandeurs George W. Bush für beendet erklärt worden war (‚Mission accomplished‘), nahm erst danach so richtig Fahrt auf. Heute steht der Irak vor dem völligen Zerfall seiner staatlichen Einheit. Die nordirakischen Kurdengebiete sind de facto schon lange selbstständig; der Kampf zwischen Sunniten und Schiiten um die Verteilung der Ölrente nimmt selbstmörderische Züge an. Das einzig Tröstliche an der Situation ist die Tatsache, dass der Hauptkriegstreiber, die USA, aus diesem Krieg – ökonomisch gesehen – leer ausging.“ [10] 

1.4.2.3   Aktuelle Proteste gegen die Militarisierung der Welt:
 International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN), Global Partnership for the Prevention of Armed Conflicts (GPPAC), Peace Brigades (PB), Friedensappelle gegen den Krieg in der Ukraine
 

ICAN: Verhandlungsmacht gegen den Nuklearkrieg
Die Nicht-Regierungsorganisation ICAN wurde unter maßgeblicher Mitwirkung der IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhinderung des Atomkriegs) im Jahr 2007 in Wien gegründet und hat ihren zentralen Sitz in Genf. ICAN bekam 2017 den Friedensnobelpreis für ihr Engagement gegen die nukleare Bewaffnung und Aufrüstung im globalen Kontext. ICAN wird derzeit[11] von 541 NGO’s in 103 Ländern unterstützt. Nach zehnjähriger Vorarbeit gelang es ICAN, dass 122 Staaten der Vereinten Nationen dem ‚Nuclear Weapon Ban Treaty‘ zustimmten, verbunden mit der Aufforderung, dass die einzelnen Nationen ihn verbindlich unterzeichnen. 

„Since our founding, we have worked to build a powerful global groundswell of public support for the abolition of nuclear weapons. By engaging a diverse range of groups and working alongside the Red Cross and like-minded governments, we have helped reshape the debate on nuclear weapons and generate momentum towards elimination. 

We were awarded the 2017 Nobel Peace Prize for our ‚work to draw attention to the catastrophic humanitarian consequences of any use of nuclear weapons‘ and our ‚ground-breaking efforts to achieve a treaty-based prohibition of such weapons‘.“ [12] 

Der bei den Vereinten Nationen zur Unterzeichnung vorliegende ‚Vertrag zum völkerrechtlichen Verbot von Atomwaffen‘ muss von 50 Nationen unterzeichnet und ratifiziert werden, damit er in Kraft tritt. Er ist natürlich dann nur für die Staaten gültig, die unterzeichnet haben. In diesem Zusammenhang wird kritisiert, dass alle Staaten, die nukleare Waffen besitzen, sowie die meisten NATO-Staaten nicht an den Vertragsverhandlungen teilgenommen haben. 

Die Ratifizierung orientiert sich an den nationalen Gesetzgebungen und bedeutet die Aufnahme des Vertrags in das nationale Recht. Der Vertrag beinhaltet ein umfassendes die Nuklearwaffen betreffendes Verbot: 

„Der Vertrag verbietet Staaten Atomwaffen zu testen, zu entwickeln, zu produzieren und zu besitzen. Außerdem sind die Weitergabe, die Lagerung und der Einsatz sowie die Drohung des Einsatzes verboten. Darüber hinaus verbietet der Vertrag solche Aktivitäten zu unterstützen, zu fördern oder einen anderen Staat dazu zu bewegen, diese Handlungen zu unternehmen. Weiterhin wird den Staaten die Stationierung von Atomwaffen auf eigenem Boden verboten.“ [13] 

ICAN arbeitet inzwischen an der Ausweitung seiner Vernetzung auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Hierbei liegt ein Schwerpunkt auf der Überzeugungsarbeit, dass Staaten den Vertrag unterzeichnen und ratifizieren. 

Hierbei muss natürlich danach gefragt werden, wie es gelingen kann, insbesondere die Atomstaaten davon zu überzeugen, ihre Nuklearwaffen abzugeben und keine neuen Atomwaffen herzustellen und zu verbreiten. Welche Art des gesellschaftlichen Drucks durch welche Organisationen und gesellschaftliche Bewegungen ist notwendig, damit ICAN in seinen Bemühungen zur Anerkennung des Vertrags wirkungsvoll unterstützt wird? 

Global Partnership for the Prevention of Armed Conflicts (GPPAC) – eine wachsendes internationales Friedensnetzwerk 

Die GPPAC ist eine internationale zivilgesellschaftliche Organisation, die 2003 gegründet wurde und sich gewaltfrei für die Kriegsprävention und Friedenssicherung einsetzt. Sie besteht aus mehreren Hundert NGO’s, die in 15 transnationalen (regionalen) Netzwerken organisiert sind. 
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 „Vision: GPPAC seeks a world where violence and armed conflicts are prevented and resolved by peaceful means based on justice, gender equity, sustainable development and human security for all.
Mission: GPPAC is a global network that links civil society with relevant local, national, regional and international actors and institutions to collectively contribute to a fundamental change in dealing with violence and armed conflicts: a shift from reaction to prevention.“ [14]
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Die Arbeit von GPPAC wird von einer gemeinsamen Strategie getragen, die auf der ‚Global Action Agenda‘ (2005) basiert, die auf internationalen Konferenzen von über 1000 Friedensorganisationen entworfen wurde. Dies ist nun der dritte ‚Strategic Plan‘ (2015) für den Zeitraum von 2016-2020, der darauf basiert, dass die humanen Kosten von Kriegen nicht akzeptabel sind – ganz abgesehen von den ökologischen und volkswirtschaftlichen Kosten: 

„Violent conflict destroys lives, assets, infrastructure, ecosystems and social and economic capacities. It disrupts communities, leaving traumatised victims in situations requiring long-term, high investments to support reconstruction and rehabilitation. The global economic cost of violence in 2013 was estimated at US$9.8 trillion, which represents 11.3% of Gross World Product. Measuring the cost of violent conflict often involves analysing human rights violations and the resulting mortality, injury, displacement or disability rates. However, neither the value of human life, nor human suffering can be quantified in any meaningful way. From the outset, we take the normative position that the costs of violent conflict from a human perspective are simply unacceptable.“ [15] 

Mitglieder von GPPAC haben inzwischen in den ca. 15 Jahren ihres Bestehens in zahlreichen Interaktionen pazifistische Überzeugungsarbeit mit Regierungen und transnationalen Institutionen geleistet. Auch sind GPPAC-Mitglieder an kommunalen Mediationsverfahren beteiligt, leisten Friedenserziehung vor Ort, lenken die Aufmerksamkeit auf die Situation von Frauen in umkämpften Gebieten und versuchen insbesondere Kommunen Gehör zu verschaffen, die aufgrund von Kriegsereignissen massiv geschädigt wurden. 

Insbesondere mit dem Bezug auf UN-Sicherheitsrats- und UN-Generalversammlungsbeschlüsse [16] wird versucht an Regierungen und Kommunen heranzutreten, um sie für eine wirkungsvolle Kriegsprävention zu gewinnen. 

In dem aktuellen Fünfjahresplan (2016-2020) gelten drei zentrale Punkte für die GPPAC-Agenda: „enabling collaboration, improving practice and influencing policy“ [17]

Hierbei versucht GPPAC rechtzeitig vor entstehenden Konflikten die Öffentlichkeit zu informieren, Konfliktanalysen vorzunehmen, Solidaritätsaktivitäten zu entwickeln, das Wissen über kriegspräventive Strategien mit anderen Organisationen auszutauschen sowie politische Kontakte von der lokalen Ebene bis hin zu den Vereinten Nationen herzustellen. [18] 

Konkrete Maßnahmen von GPPAC sind beispielsweise: 

·       Berücksichtigung von Frauen bei Friedenserhaltungsprozessen auf der Grundlage der UN-Sicherheitsratsresolution 1325; 

·       In Kontakten zu Friedenspädagogen_innen und Kultusbehörden Überzeugungsarbeit, das Thema ‚Friedenssicherung und Kriegsprävention‘ in die Curricula aufzunehmen; 

·       Initiierung von intergenerativen Dialogen in Kolumbien, um auf Gewalt zu verzichten und eine Friedenskultur zu entwickeln; 

·       Beginn eines zivilgesellschaftlichen Dialogs für Frieden und gesellschaftliche Stabilität für Nordost-Asien in der Hauptstadt der Mongolei Ulaanbaatar; 

·       Friedenspädagogisches Videoprojekt mit Jugendlichen in Kyrgyzstan, um ihre Fähigkeiten als ‚Change Agents‘ für friedliche Konfliktlösungen zu fördern; 

·       In Zusammenarbeit mit dem holländischen Außenministerium Entwicklung von Strategien und Fortbildungen, um zivilgesellschaftliche Organisationen vor allen in den Regionen Ost- und Westafrikas, Europas und Südost-Asiens zu stärken; 

·       Unterstützung und lokale Umsetzung der UN-SDG’s [19] vor allem hinsichtlich der dort enthaltenen Friedensbezüge; 

·       ‚Peace Champions‘ in Uganda: Projekte mit Jugendlichen in ‚post conflict communities‘, um eine Re-Radikalisierung der Jugendlichen zu verhindern. [20] 

Es ist zu vermuten, dass GPPAC einer der zukünftigen Kandidaten für den Friedensnobelpreis sein wird. Die Frage ist dennoch, ob GPPAC genügend zivilgesellschaftliche Machtmittel zur Verfügung stehen, um auf gewaltbereite Regierende im Sinne von ‚Peace Keeping‘ einzuwirken und auch auf strukturelle Gewalt gewaltauflösend wirken zu können. 

Peace Brigades (PB): Friedens-Brigadisten an der Seite von Kriegsopfern und Friedensaktivisten 

Die Organisation ‚Peace Brigades‘ (PB) wurde bereits 1982 gegründet und ist ebenfalls eine internationale NGO, die sich dem Einsatz für Frieden und Menschenrechte verpflichtet sieht. Ihr besonderes Merkmal ist die Entsendung von Peace Brigadisten und die Unterstützung von lokalen Friedensarbeitern in Konfliktzonen: 

„We provide protection, support and recognition to local human rights defenders who work in areas of repression and conflict and have requested our support. We believe that lasting transformation of conflicts cannot come from outside, but must be based on the capacity and desires of local people. We avoid imposing, interfering or getting directly involved in the work of the people we accompany. Our work is effective because we take an integrated approach, combining a presence alongside human rights defenders on the ground with an extensive network of international support.“ [21] 

Die Peace Brigades haben in den Ländern Nicaragua, El Salvador, Sri Lanka, Nord America, Haiti, Nepal, in den Balkanstaaten, in Kolumbien, Guatemala, Honduras, Indonesien, Kenia, Mexico und Nepal gewirkt. Sie haben dort mit Menschenrechtsverteidigern zusammengearbeitet, um Räume für Friedensprozesse zu eröffnen, gewalttätige Konflikte zu transformieren, gezielte Rechtsberatung zu gewährleisten, Leben durch internationale Präsenz in Konfliktzonen zu retten. Ihre Arbeit ist im Sinne zivilgesellschaftlichen, friedlichen Engagements („non-violence“, „non-partisanship“) ausgerichtet .[22] 

Die Arbeit der Friedens-Brigadiers ist nicht ungefährlich, genauso wie die das Engagement der örtlichen Menschenrechtsaktivisten ein hohes Risiko in sich trägt: 

„In countries where communities are subject to violent conflict, intimidation or repression, human rights defenders can be key agents for resistance and change, whose work has the potential to bring about the long-term development of democratic civil society and ultimately peace. This often places them at risk, making them targets for threats, abductions, forced disappearance or assassination, and other insidious kinds of attack, including public stigmatisation, defamation or criminal proceedings on trumped up charges.“ [23] 

Die Idee der Peace Brigades ist bisher einmalig in diesem Umfang und dieser hochprofessionellen Weise, Friedensaktivisten und Menschenrechtler in Konfliktzonen zu unterstützen, für internationale Aufmerksamkeit zu sorgen und bedrohte Menschen zu schützen. 

Zusammenfassende Einschätzung: Mit den drei NGO’s International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN), Global Partnership for the Prevention of Armed Conflicts (GPPAC), Peace Brigades (PB) liegen drei internationale Organisationen vor, die mit friedlichen Mitteln Friedenssicherung und Kriegsprävention auf unterschiedliche Weisen erreichen wollen. ICAN kämpft in Zusammenarbeit mit der UN für ein internationales Atomwaffenverbot. GPPAC organisiert Projekte zur präventiven Friedenssicherung und PB unterstützt mit seinen Friedensbrigadisten lokale Friedensaktivisten und Menschenrechtler_innen. Ihnen ist eine aufmerksame Weltöffentlichkeit sowie finanzielle und politische Unterstützung für ihre wertvolle Friedensarbeit, für ihr Engagement und ihren Widerstand gegen gewalttätige Herrschaftsstrukturen zu wünschen. 

Öffentliche Denunzierung des Friedensanliegens - 

Zum gesellschaftlichen Umgang mit Friedensappellen zum Krieg in der Ukraine 

Unabhängig von der Frage, ob die Russische Föderation die Alleinschuld für die militärische Eskalation in der Ukraine trägt oder auch die NATO bzw. einflussreiche NATO-Staaten, wie die USA oder Großbritannien, eine Mitschuld an dem Ausbruch des Krieges tragen, versuchten verschiedene Friedensinitiativen mit Hilfe von Aufrufen und Appellen Unterstützung in der Friedensbewegung sowie in breiteren Kreise der Bevölkerung zu finden. Das Mittel hierzu waren insbesondere Unterzeichner_innen-Listen auf Internetplattformen oder Webseiten, z.T. verbunden mit Aufrufen zu Kundgebungen und Konferenzen. 

Zu nennen sind hier vor allem der von Alice Schwarzer offene Brief an den Bundeskanzler Olaf Scholz mit über 500.000 Unterzeichner_innen sowie das weitere gemeinsam von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht initiierte ‚Manifest für Frieden‘ mit fast 800.000 Unterzeichnungen auf der Internetplattform Change.org  (Stand: April 2023). 

Über die öffentliche Aufnahme dieser breitere Bevölkerungskreise erreichende Friedensaktion insbesondere von Vertretern_innen der Regierungspolitik, von Politikwissenschaftlern sowie in den Medien wird etwas weiter unten noch ausführlicher geschrieben. 

Zusätzlich gab es einen internationalen Aufruf vom International Peace Bureau (IPB) zu Weihnachten 2022/23, den nur wenige Tausend internationale Friedensfreunde_innen unterzeichnet hatten. Auch ein Peace Appeal mit Erstunterzeichner_innen aus 10 Staaten auf der Internetplattform ‚Action Network‘ fand bisher nur etwas über 3000 internationale Unterzeichner_innen (Stand: April 2023). 

Etwas mehr Unterzeichnungen im internationalen Kontext fand ein deutsch-österreichischer Aufruf, der ‚Appell für den Frieden‘, mit bis zum Sommer 2023 ca. 16.000 Unterzeichnungen. Er weist einen friedensökologischen Ansatz auf und enthält drei Forderungen: 

Nationale Regierungen und transnationale Institutionen sollten sich vor allem für drei friedenspolitische und -ökologische Maßnahmen stark machen: 

1.       Im Krieg in der Ukraine müssten spätestens ab jetzt diplomatische Initiativen Vorrang haben. Hierzu wird gefordert, dass eine durch den UN-Generalsekretär geleitete internationale hochrangige und hochlegitimierte Verhandlungskommission den Weg für Waffenstillstandsverhandlungen in der Ukraine als Voraussetzung für Friedensverhandlungen freimachen müsste. Die deutsche und die österreichische Bundesregierung sollten sich mit Nachdruck für eine derartige Friedensinitiative beim UN-Generalsekretär einsetzen. 

2.        Bei künftigen Klimaschutzverhandlungen sollten Regeln und Vorgaben für die verbindlichere Berücksichtigung militärisch bedingter CO2-Emissionen erarbeitet werden, die die einzelnen Staaten zu mehr Transparenz verpflichten. Hierbei sollten wirksame Kontrollen und strenge Sanktionen bei fehlender Berücksichtigung militärisch bedingter CO2-Emissionen im In- und Ausland im Rahmen der nationalen CO2-Bilanzen vorgesehen werden. 

3.        Der Krieg in der Ukraine wird derzeit für die internationale Aufrüstungsspirale instrumentalisiert. Zusätzlich sind fast alle wichtigen Rüstungskontroll- und Abrüstungsverträge von den USA und der Russischen Föderation gekündigt oder ausgesetzt worden. Im Gegensatz hierzu sind über die UN kontrollierte und koordinierte Abrüstungsverhandlungen zu fordern. Insbesondere sollte der Atomwaffenverbotsvertrag, der von ICAN erfolgreich in die Vereinten Nationen eingebracht wurde, von den anzusprechenden Staaten in einem miteinander koordinierten und überwachten Prozess unterzeichnet, ratifiziert und umgesetzt werden. (Österreich hat den Vertrag bereits ratifiziert.) 

Allen diesen verschiedenen Friedensaufrufen ist gemeinsam, dass derartige friedenspolitische Initiativen in den sozialen Medien, neben Unterstützungen, einem extremen ‚Shitstorm‘ ausgesetzt waren. Auch die Verfasser_innen mussten sich Schmähkritik und persönliche Beleidigungen sowie Drohungen anhören bzw. lesen. Hier lässt sich eine Verrohung der öffentlichen Auseinandersetzung nun auch um friedenspolitische Inhalte über die sozialen Medien, wie z.B. Facebook oder Twitter, feststellen. 

Auch hat man den Eindruck, dass hier organisierte Kräfte den Schutz der Anonymität und ihrer Decknamen nutzen, um für Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen plädierende Personen als Putinknechte, Verräter am ukrainischen Volk, bezahlt von Putin und Ähnliches zu diskreditieren. 
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Unterzeichnungsmöglichkeiten für einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen in der Ukraine:
 ·  Offener Brief an den Bundeskanzler  https://www.change.org/p/offener-brief-an-bundeskanzler-scholz
·  Manifest für Frieden  https://www.change.org/p/manifest-f%C3%BCr-frieden
·  Christmas Appeal  https://www.christmasappeal.ipb.org/german-de/ (Anfang 2023 beendet)
·  Peace Appeal   https://actionnetwork.org/petitions/appeal-for-peace/
·  deutsch-österreichischer-schweizerischer Appell für den Frieden: Das Töten in der Ukraine muss beendet werden!  https://chng.it/N2ggCS5Q

Des Weiteren sind ähnliche Friedensinitiativen u.a. in den Niederlanden, in Finnland, in Dänemark, in Mexiko, Brasilien, Tschechien und Italien bekannt. 
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Die jüngste Friedensinitiative stammt aus der Feder von SPD-Politikern, u.a. vom ältesten Sohn von Willy und Ruth Brandt, Peter Brandt (Historiker und Professor i.R.), Reiner Braun (Internationales Friedensbüro), Reiner Hoffmann (ehemaliger DGB-Vorsitzender) und Michael Müller (Bundesvorsitzender der NaturFreunde Deutschlands). In zwei deutschen Tageszeitungen wurde dieser Aufruf mit 200 Unterzeichnern_innen veröffentlicht, zu denen u.a. der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse, die Ex-Justizministerin Prof. Dr. Herta Däubler-Gmelin, Dr. Margot Käßmann, Theologin und ehem. Ratsvorsitzende der EKD, und EX-EU-Kommissar Günter Verheugen sowie mehrere Politikwissenschaftler_innen gehören. In diesem Aufruf wird Bundeskanzler Olaf Scholz aufgefordert, eine Verhandlungskommission zusammen mit Frankreich und  insbesondere mit Brasilien, China, Indien und Indonesien zu bilden, die einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen in der Ukraine bewirken sollten. In dem Text heißt es „ (…) Mit jedem Tag wächst die Gefahr der Ausweitung der Kampfhandlungen. Der Schatten eines Atomkrieges liegt über Europa. Aber die Welt darf nicht in einen neuen großen Krieg hineinschlittern. Die Welt braucht Frieden. Das Wichtigste ist, alles für einen schnellen Waffenstillstand zu tun, den russischen Angriffskrieg zu stoppen und den Weg zu Verhandlungen zu finden. 

Aus dem Krieg ist ein blutiger Stellungskrieg geworden, bei dem es nur Verlierer gibt. Ein großer Teil unserer Bürger und Bürgerinnen will nicht, dass es zu einer Gewaltspirale ohne Ende kommt. Statt der Dominanz des Militärs brauchen wir die Sprache der Diplomatie und des Friedens. (…)“ [24] 

Der frühere ukrainische Botschafter in Deutschland war bereits vorher durch seine drastischen Aussagen (über Bundeskanzler Scholz: „beleidigte Leberwurst“) und seine maßlosen mit großer Dreistigkeit vorgetragenen Forderungen nach Waffenlieferungen für die Ukraine aufgefallen. Er hat sich sofort auch hier per Twitter in einem Ton eingeschaltet, der sicherlich der Ukraine nicht weiterhilft. Der zum stellvertretenden Außenminister der Ukraine beförderte Andrij Melnyk, schrieb auf Twitter, Brandt und Co. sollten sich mit ihren „senilen Ideen“, einen „schnellen Waffenstillstand zu erreichen“ und „den Frieden nur mit Russland zu schaffen“ zum Teufel scheren. [25] Kein weiterer Kommentar hierzu ... 

Der propagandistische Feldzug gegen das ‚Manifest für Frieden‘ 

Die Kampagnen von Schwarzer und Schwarzer/Wagenknecht konnten auf große und über Jahre hinweg aufgebaute Netzwerke und Publikationsmedien zurückgreifen. Dies erklärt – neben dem Bekanntheitsgrad der beiden Persönlichkeiten – die hohe Unterzeichner_innenzahl dieser beiden Friedenstexte. 

Daher stand insbesondere das ‚Manifest für Frieden‘, das mit einer Großkundgebung am Brandenburger Tor verbunden war, im Mittelpunkt der öffentlichen Reaktionen. 

Das ‚Manifest für Frieden‘ sprach sich gegen eine eskalierende Fortführung des Kriegs in der Ukraine und für sofortige Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen aus. Es endet mit der Forderung an den deutschen Bundeskanzler: 

„Wir fordern den Bundeskanzler auf, die Eskalation der Waffenlieferungen zu stoppen. Jetzt! Er sollte sich auf deutscher wie europäischer Ebene an die Spitze einer starken Allianz für einen Waffenstillstand und für Friedensverhandlungen setzen. Jetzt! Denn jeder verlorene Tag kostet bis zu 1.000 weitere Menschenleben – und bringt uns einem 3. Weltkrieg näher.“ 

An vier Beispielen soll nun deutlich gemacht werden, wie versucht wurde, den Text und die Intentionen der beiden Initiatorinnen zu verfälschen und diese zu diskreditieren. 

1.       Es wurde den Verfasserinnen in den Medien und von führenden Politikern unterstellt, dass sie im Text des Manifests geschrieben hätten, sie seien grundsätzlich gegen Waffenlieferungen zur Unterstützung der Selbstverteidigung der angegriffenen Ukraine. [26] Der ehemalige ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, äußerte sich dementsprechend auch abwertend: „Hallo ihr beide Putinschen Handlanger:Innen @SWagenknecht & #Schwarzer, euer Manifest für Verrat der Ukrainer könnt ihr zusammenrollen & gleich in den Mülleimer am Brandenburger Tor werfen.“ [27] 

Fakt aber ist: Im Text wenden sich die Verfasserinnen gegen die „Eskalation von Waffenlieferungen“, was ein anderer Sachverhalt ist. Hierbei geht es um die Überschreitung ‚roter Linien‘, die zu einer unkontrollierbaren Eskalationsdynamik führen können. Jürgen Habermas hat dies mit seiner Benennung von Kipppunkten, einem ‚point of no return‘ angesprochen. [28] 

2.       Es wurde den Verfasserinnen eine Täter-Opfer-Umkehr vorgeworfen. Dieser Vorwurf wird zuerst vom deutschen Politikwissenschaftler Herfried Münkler vorgebracht [29] und anschließend von verschiedenen Politikern_innen mantraartig wiederholt. Es wird Schwarzer/ Wagenknecht hierbei vorgeworfen, sie würden primär die NATO und den Westen als Aggressor sehen und die Russische Föderation als Opfer. Auch dies ist eine Falschdarstellung, da im Text des Manifests der russische Aggressor klar benannt ist. Dort heißt es eindeutig: „Die von Russland brutal überfallene ukrainische Bevölkerung braucht unsere Solidarität.“ [30] 

Dennoch denunziert der Politologe Münkler den Text als „gewissenloses Manifest“  und Schwarzer/Wagenknecht  „betreiben mit kenntnislosem Dahergerede Putins Geschäft“. [31] [32] 

3.       Es wird Schwarzer/ Wagenknecht vorgeworfen, sie wollten die Ukraine über einen russischen Diktatfrieden an die Russische Föderation ausliefern. So Außenministerin Baerbock: „Ein Diktatfrieden, wie ihn manche jetzt fordern, das ist kein Frieden. Sondern das wäre die Unterwerfung der Ukraine unter Russland.“ [33] Fakt aber ist, dass im Manifest steht: 

„Verhandeln heißt nicht kapitulieren. Verhandeln heißt, Kompromisse machen, auf beiden Seiten. Mit dem Ziel, weitere Hunderttausende Tote und Schlimmeres zu verhindern. Das meinen auch wir, meint auch die Hälfte der deutschen Bevölkerung. Es ist Zeit, uns zuzuhören!“ [34] Eine derartige Formulierung ist aber weit weg von der Akzeptanz eines ‚Diktatfriedens‘. 

4.       Es wurde Schwarzer/Wagenknecht vorgeworfen, sie würden sich nicht zum Rechtsextremismus abgrenzen und billigend in Kauf nehmen, dass Rechtsextreme an der auf das Manifest bezogenen Kundgebung teilnehmen würden. [35] So urteilte auch der ‚Spiegel‘: „Bei der sogenannten Friedensdemonstration am Samstag in Berlin zeigten sich die Konturen dessen, was Sahra Wagenknecht in Wahrheit anstrebt: eine prorussische, antiamerikanische, national orientierte Sammlungsbewegung. Die AfD reagiert erfreut.“ [36] Abgesehen davon, dass man bei einer Kundgebung, an der mehr als 10.000 Personen teilnehmen, nicht verhindern kann, dass sich einzelne Rechtsextreme unter die Menge mischen, basiert aber auch dieser Vorwurf auf einer Falschaussage. So ist öffentlich per Videoaufnahme dokumentiert, dass sich Sahra Wagenknecht in ihrer Ansprache vor dem Brandenburger Tor sehr deutlich mit folgenden Worten von rechtsextremer Beteiligung distanziert: 

„Selbstverständlich haben Neonazis und Reichsbürger, die in der Tradition von Regimen stehen, die für die schlimmsten Weltkriege der Menschheitsgeschichte Verantwortung tragen, auf unserer Friedenskundgebung nichts zu suchen.“ [37] 

Auch der grüne Co-Parteivorsitzende Omid Nouripour grenzt sich demagogisch in diese Richtung ab und unterstellt, dass der Vorsitzende der AFD zu den Erstunterzeichnern des Manifests gehöre: „Der Vorsitzende der AfD ist einer der Erstunterzeichner des Manifests. Die Linkspartei muss sich fragen lassen, wie sie damit umgehen will, dass eines ihrer bekanntesten Gesichter zusammen mit AfD‑Vorsitzenden Papiere unterschreibt.“ [38] Auch diese Aussage ist falsch, da der AfD-Vorsitzende nicht zu den 69 Erstunterzeichnern__innen gehört, sondern sich unter die zahlreichen Mitunterzeichner_innen gemischt hatte, was sich sicherlich bei einer offenen Unterzeichnungssituation wie bei Change.org nicht verhindern lässt. 

Fazit 

Der Friedensaktivist Bernhard Trautvetter bringt die Kritik am gesellschaftlichen Umgang mit dem ‚Manifest für Frieden‘ und an der Kampagne gegen die Friedensbewegung insgesamt auf seine Weise auf den Punkt: 

„Die Kampagne gegen die Friedensbewegung stützt sich auf invalide Behauptungen, sie zersetzt demokratische Strukturen, indem sie Demokratinnen und Demokraten ausgrenzt, sie stärkt Kriegsgewinnler wie die Rüstungskonzerne in den Nato-Staaten sowie Nationalisten wie jene in der AfD, der sie mit der Behauptung, es gebe ein Bündnis unter ihrer Beteiligung Aufmerksamkeit zukommen lässt, sie wertet den Militarismus auf, indem sie seine Narrative aufgreift; die Kampagne gegen die Friedensbewegung widerspricht den Lebensinteressen der Menschen nicht nur in unserem Land, da sie die Spannungen und die Risiken steigert,  die mit der Eskalation der Gewalt verbunden sind. Und sie lenkt von vielen weltweiten  Völkerrechtsbrüchen  ab, in die Nato-Staaten aktiv verwickelt sind, etwa mit der Formulierung, man sei gegen den Krieg, so als gäbe es keine anderen Kriege etwa in der weiteren Golf-Region oder in Afrika.“ [39] 

Trotz des mehrfachen Dementis von Wagenknecht/ Schwarzer und anderer Erstunterzeichner_innen des ‚Manifests für Frieden‘ werden die hier angesprochenen vier Falschaussagen von maßgeblichen Politikern, Politikwissenschaftlern und Medien permanent wiederholt. Insbesondere die Berichterstattung des angesprochenen Teils der der bürgerlichen Presse ist kein Ausdruck einer unabhängigen und kritischen Berichterstattung, sondern weckt eher Erinnerungen an einen ‚eingebetteten Journalismus‘. Im Gegensatz hierzu ist von den Medien als selbsternannte vierte Instanz in der Demokratie zu verlangen, dass sie Argumente konträrer friedenspolitischer Positionen unabhängig und kritisch abwägen. Alle Formen des ‚eingebetteten Journalismus‘ mit Elementen der Kriegspropaganda und der Verunglimpfung der Andersdenkenden stehen in einem Widerspruch zum medialen Selbstanspruch als vierte Gewalt in einer Demokratie – im Gegenteil, dies stellt einen Beitrag zur Aushöhlung vorhandener demokratischer Strukturen dar. [40]  [41] 



Anmerkungen Kap. 1.4.2

[1] In: https://rp-online.de/politik/proteste-in-den-usa_aid-8308577, 30.4.2000, 29.10.2019.
[2] Vgl. u.a. Vensky (2009).
[3] Neben eigenen Beobachtungen und Einordnungen zur Ostermarschbewegung wurden folgende Quellen verwendet: Butterwegge (1990), https://de.wikipedia.org/wiki/Ostermarsch, 13.8.2019, 28.10.2019 u. https://www.atomwaffena-z.info/initiativen/geschichte-der-anti-atom-bewegung/artikel/f2082e13bb/die-ostermarsch-bewegung.html, 2019, 28.10.19 sowie http://archiv.friedenskooperative.de/netzwerk/omhist.htm, o.D., 28.10.2019.
[4] Vgl. zu den verwendeten Zahlen https://www.deutschlandfunk.de/der-erste-golfkrieg.871.de.html?dram:article_id=127099, 22.9.2010, 29.10.2019, https://de.wikipedia.org/wiki/Erster_Golfkrieg#cite_note-92, 14.10.2019, 29.10.2019 u. https://www.dw.com/de/vor-20-jahren-endete-der-erste-golfkrieg/a-3577432, 20.8.2008, 29.10.19.
[5] Vgl. zu den verwendeten Fakten https://pauls-domain.de/Medinfos_1984-1993/1992-02%20%20Irak-%201%20Jahr%20nach%20dem%20Golfkrieg.pdf, Feb. 1992, 29.10.2019, https://de.wikipedia.org/wiki/Zweiter_Golfkrieg, 19.5.2005, 29.10.2019 u. https://www.faz.net/aktuell/politik/irak-der-golfkrieg-1991-116582.html, 24.2.2001, 29.10.2019.
[6] Vgl. Vgl. Bittner/Drieschner (2003).
[7] Vgl. https://www.lpb-bw.de/irak_krieg.html, o.D., 30.10.2019.
[8] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/krieg-ist-massenmord-zigtausende-protestieren-in-ganz-europa-a-241716.html, 22.3.2003, 30.10.2019.
[9] Vgl. https://www.spiegel.de/politik/deutschland/krieg-ist-massenmord-zigtausende-protestieren-in-ganz-europa-a-241716.html, 22.3.2003, 30.10.2019.
[10] Strutynski (2017b, 177).
[11] Datenentnahme aus der englischsprachigen ICAN-Homepage (https://www.icanw.org/campaign/campaign-overview/), o.D., am 30.10.2019.
[12] In: https://www.icanw.org/campaign/campaign-overview/, o.D., 30.10.2019.
[13] In: https://www.icanw.de/grunde-fur-ein-verbot/verbotsvertrag/, o.D., 30.10.2019.
[14] GPPAC (2015, 4).
[15] GPPAC (2015, 6).
[16] Z.B. UN Security Council Resolution 2171 on Conflict Prevention, UN General Assembly Resolution 66 /290 on Human Security.
[17] GPPAC (2015, 11).
[18] Vgl. GPPAC (2015, 11ff.).
[19] SDG = Sustainable Development Goals.
[20] Vgl. zur umfassenderen Darstellung dieser GPPAC-Aktivitäten https://www.gppac.net/what-we-do, o.D., 30.10.2019.
[21] In: https://www.peacebrigades.org/en/about-pbi, o.D., 30.10.2019.
[22] Vgl. https://www.peacebrigades.org/en/about-pbi, o.D., 30.10.2019
[23] In: https://www.peacebrigades.org/en/people-we-protect, o.D., 30.10.2019.
[24] https://www.naturfreunde.de/frieden-schaffen-waffenstillstand-und-gemeinsame-sicherheit-jetzt, o.D., 1.4.2023.
[25] https://www.deutschlandfunk.de/peter-brandt-initiiert-friedensappell-prominente-spd-mitglieder-unterschreiben-100.html, 1.4.2023, 1.4.2023. 
[26] Vgl. z.B. https://www.rnd.de/politik/manifest-fuer-frieden-junge-politiker-kontern-petition-von-wagenknecht-und-schwarzer-LDP5L5PETFBXJOEEHGMT4HSCY4.html, 24.2.2023, 31.3.2023 oder https://www.berliner-zeitung.de/open-source/kommentar-meinung-krieg-waffenlieferungen-ukraine-konflikt-ist-das-manifest-fuer-frieden-ein-manifest-der-unterwerfung-li.321476, 25.2.2023.
[27] https://www.berliner-zeitung.de/news/annalena-baerbock-schmettert-ukraine-vorstoss-von-wagenknecht-und-schwarzer-ab-manifest-fuer-frieden-li.316625,11.2.2023, 30.3.2023.
[28] Siehe sein Interview in der Süddeutschen Zeitung, wo er sich für die Parallelität der politischen, humanitären und militärischen Unterstützung der Ukraine und für die Forcierung von Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen im Sinne einer Doppelstrategie einsetzt: https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/kultur/juergen-habermas-ukraine-sz-verhandlungen-e159105/?reduced=true, 14.2.2023, Zugriff: 6.3.2023, (hinter einer Bezahlschranke).
[29] Vgl. https://rp-online.de/politik/deutschland/herfried-muenkler-nennt-wagenknecht-schwarzer-manifest-verlogen_aid-84912697, 14.2.2023, 31.3.2023.
[30] https://www.change.org/p/manifest-f%C3%BCr-frieden
[31] https://www.berliner-zeitung.de/news/gewissenloses-manifest-berliner-politologe-herfried-muenkler-verurteilt-friedensaufruf-von-alice-schwarzer-und-sahra-wagenknecht-li.317574, 14.2.2023, 30.3.2023
.[32] Mit den Thesen Herfried Münklers setzt sich Matthias Kreck kritisch auseinander und kommt abschließend zu folgender zusammenfassender Einschätzung:  „Die Kritik von Herrn Münkler hält einer wissenschaftlichen Analyse nicht stand. Und wenn er dem hochverehrten Kollegen Habermas als Reaktion auf dessen sehr nachdenklichen Artikel in der Süddeutschen Zeitung wünscht, dass er „etwas mehr Politikwissenschaftler“ wäre, dann stellt sich angesichts der wissenschaftlichen Fehler, auf die ich in diesem Artikel hinweise, die Frage, ob Kollege Münkler den Grundkurs über gute wissenschaftliche Praxis besuchen sollte.“ , in: https://www.berliner-zeitung.de/open-source/eine-kritik-an-der-kritik-von-herfried-muenkler-an-dem-manifest-fuer-frieden-li.320045, 21.2.2023, 2.4.2023.
[33] https://www.berliner-zeitung.de/news/annalena-baerbock-schmettert-ukraine-vorstoss-von-wagenknecht-und-schwarzer-ab-manifest-fuer-frieden-li.316625, 10.2.2023, 30.3.2023.[34] https://www.change.org/p/manifest-f%C3%BCr-frieden
[35] Vgl. hierzu https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/politik/wagenknecht-schwarzer-manifest-frieden-afd-100.html., 4.3.2023, 31.3.2023.
[36]  https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/kundgebung-in-berlin-querfront-ja-aber-bitte-diskret-kolumne-a-9abaaaab-c006-4cca-947a-f81465217086 26.2.2023, 31.3,2023.
[37] Zitat nach der YouTube-Originalaufnahme: https://www.google.com/search?q=Sarah+Wagenknechts+Rede+am+Brandenburger+Tor+2023+Abgrenzung+gegen+Rechtsextreme&oq=Sarah+Wagenknechts+Rede+am+Brandenburger+Tor+2023+Abgrenzung+gegen+Rechtsextreme&aqs=chrome..69i57.19759j0j7&sourceid=chrome&ie=UTF-8#fpstate=ive&vld=cid:7c9181da,vid:I0AwgCYNz5s, 25.3.2023, 30.3.2023.
[38] https://www.rnd.de/politik/omid-nouripour-die-aeusserungen-von-frau-wagenknecht-wirken-in-der-ukraine-wie-hohn-E6KEVS7BMNAN5ABYGVOUZY4KIQ.html , 24.2.2023, 31.3.2023.
[39] Zitat aus einem noch unveröffentlichten Manuskript von Bernhard Trautvetter (3/2023): Die Strategische Kommunikation der Militärlobby und die Kampagne gegen die Friedensbewegung.
[40] Positiv zu nennen ist im Gegensatz hierzu der journalistische Ansatz bei Malte Lehming im Tagesspiegel, der jeweils fünf wichtige Fragen an die friedenspolitischen Kontrahenten stellt, die es abzuwägen gelte. Vgl. https://www.tagesspiegel.de/internationales/deutschland-streitet-uber-den-richtigen-weg-zum-frieden-beide-seiten-mussen-funf-fragen-beantworten-9359345.html, 16.2.2023, 31.3.2023.
[41] Der Abschnitt zum gesellschaftlichen Umgang mit der Friedensbewegung ist an Moegling (2024c) orientiert. 

1.5 Ökologische Krisen 

1.5.1  Die geschundene Biosphäre wendet sich gegen den Menschen

Die Resilienz des planetaren Ökosystems, d.h. seine Widerstandsfähigkeit und Belastbarkeit, wird seit dem 19. Jahrhundert in nie dagewesener Weise angegriffen. Zwar gab es auch früher Klimaschwankungen, doch so schnell wie in den letzten 200 Jahren hat sich das Klima noch nie verändert. Dies ist ein deutlicher Indikator dafür, dass die Klimaerwärmung durch menschlichen Einfluss erzeugt wurde. Es besteht zunehmend die Gefahr, dass von außen an die ökologischen Wirkungszusammenhänge herangetragene Störungen die Verarbeitungsfähigkeit des Ökosystems und der Biosphäre überfordern, wobei zwar ernstzunehmende Warnzeichen und eintretende ökologische Krisen registrierbar sind, aber der ‚point of no return‘ nicht genau bestimmbar ist. [1]

Die planetare Ökologieproblematik ist sehr vielschichtig und facettenreich. Der Kampf um das Wasser führt zu vermehrten Ressourcenkonflikten, die gewaltsam ausgetragen werden. Die Klimakrise zeigt ihre ersten verheerenden Auswirkungen. Die Überdüngung landwirtschaftlicher Flächen mit den Ausscheidungsprodukten aus der Massentierhaltung führt zur Vergiftung landwirtschaftlicher Böden und zur Belastung des Grundwassers. Die weitgehend unregulierte weltweite Müllentsorgung sorgt z.B. für die Plastikvermüllung der Meere bis hin zu bereits ökologisch abgestorbenen Meereszonen. Die auf Verbrennungsmotoren basierenden Antriebestechniken von Fahrzeugen sorgen nicht nur für die klimabelastende Anhebung der CO2-Emissionen, sondern auch für die Emission von gesundheitsschädlichen Stickoxiden. Insbesondere die Feinstaubbelastung der Mega-Städte überschreitet alle vernünftigen Grenzen. Das Sterben von Insekten, gefährdet die Bestäubung von Pflanzen. Die Überfischung der Meere durch multinationale Fischereikonzerne raubt den einheimischen Fischern ihre Existenzmöglichkeit. Die Bodenerosion durch Abholzung der Wälder und landwirtschaftliche Übernutzung schreitet fort.

Die Bearbeitung dieser – sicherlich noch nicht vollständig aufgelisteten – ökologischen Probleme würde ein eigenes Buch erfordern. Daher soll sich im Folgenden auf einige wenige und besonders drängende Problemstellungen fokussiert werden.

Klimaentwicklung: Ökologische Kipppunkte und Rückkoppelungseffekte

In diesem Zusammenhang darf man nicht von einem langsamen und damit möglicherweise über begleitende Anpassungsmaßnahmen kontrollierbaren Anstieg des Klimas ausgehen. Ökologische Kipp-Punkte und ökologische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Rückkoppelungseffekte werden zu einer sich abrupt beschleunigenden Dynamik der krisenhaften Klimaentwicklung führen. Unter ökologischen Kipppunkten versteht man nicht mehr steuerbare klimatische Veränderungen, wenn ein bestimmter Punkt der Klimaschädigung erreicht ist:

„Bei großer globaler Erwärmung im Bereich jenseits von 2-3°C entsteht [...] ein wachsendes Risiko von qualitativen Änderungen im Klimasystem. Derartige stark nichtlineare Reaktionen von Systemkomponenten werden häufig als ‚Kipppunkte‘ des Klimasystems bezeichnet. Gemeint ist dabei ein Systemverhalten, bei dem nach Überschreiten einer kritischen Schwelle eine kaum noch steuerbare Eigendynamik des Systems einsetzt. Großskalige Teile des Erdsystems, die einen Kipppunkt überschreiten können, bezeichnet man als ‚Kippelemente‘.“ [2]

Es gibt eine Reihe bekannter Kippelemente, die derzeit aufgrund der menschengemachten Klimagasemissionen in einer äußerst problematischen Veränderung begriffen sind.
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Kipp-Punkte und entsprechende Rückkoppelungseffekte können im Zusammenhang mit folgenden Veränderungen stattfinden:
·        „Schmelzen des Meereises und Abnahme der Albedo in der Arktis
·        Schmelzen des Grönländischen Eisschildes und Anstieg des Meeresspiegels
·        Instabilität des westantarktischen Eisschildes und Anstieg des Meeresspiegels ·        Störung der ozeanischen Zirkulation im Nordatlantik
·        Zunahme und mögliche Persistenz des El-Niño-Phänomens
·        Störung des Indischen Monsunregimes
·        Instabilität der Sahel-Zone in Afrika
·        Austrocknung und Kollaps des Amazonas-Regenwaldes
·        Kollaps der borealen Wälder
·        Auftauen des Permafrostbodens unter Freisetzung von Methan und Kohlendioxid ·        Schmelzen der Gletscher und Abnahme der Albedo im Himalaya
·        Versauerung der Ozeane und Abnahme der Aufnahmekapazität für Kohlendioxid
·        Freisetzung von Methan aus Meeresböden.“ [3]
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Die ökologische Entwicklung im ‚Holocene‘, dem Zeitabschnitt von ca. 10.000 Jahren vor dem Industriezeitalter, konnte als relativ stabil für menschliche Entwicklungsmöglichkeiten angesehen werden. Das ‚Holocene‘ war durch die ökologische Selbstregulation des Planeten gekennzeichnet. Mit dem Industriezeitalter ist das ‚Anthropocene‘ angebrochen, im Rahmen dessen der Mensch zunehmend zur dominanten planetaren Gestaltungskraft geworden ist – so Röckström/Steffen/Noone (2009, 472):

“During the Holocene, environmental change occurred naturally and Earth’s regulatory capacity maintained the conditions that enabled human development. Regular temperatures, freshwater availability and biogeochemical flows all stayed within a relatively narrow range. Now, largely because of a rapidly growing reliance on fossil fuels and industrialized forms of agriculture, human activities have reached a level that could damage the systems that keep Earth in the desirable Holocene state. The result could be irreversible and, in some cases, abrupt environmental change, leading to a state less conducive to human development. Without pressure from humans, the Holocene is expected to continue or at least several thousands of years.”

Aufgrund der bisher vorwiegend nur plakativen, weil sanktionsfreien, Klimapolitik der Vereinten Nationen und dem Versuch einzelner Nationalstaaten, sogar die UN-Minimalziele zu unterlaufen bzw. abzulehnen, kann eine an ‚sustainable development‘ orientierte Klimapolitik nicht umgesetzt werden, deren Ziel die Verhinderung irreversibler sozialökologischer Folgen ist. Plakativ ist die UN-Klimapolitik, da die Vereinten Nationen sich nicht auf effektive Sanktionen für das Verfehlen von Klimaschutzzielen einigen können. Es ist daher zu befürchten, dass die Menschheit erst ernsthafte Maßnahmen zum Schutz des Klimas ergreifen wird, wenn die bereits beobachtbaren ersten sozialökologischen Katastrophen zur Regel und für alle bedrohlich geworden sind. 

Erste – durch den zivilgesellschaftlichen Druck erzeugte – ökologische Anpassungsmaßnahmen auf der nationalstaatlichen und internationalen Ebene reichen noch nicht aus, um die Klimaerwärmung unter 2 Grad Celsius oder gar unter 1.5 Grad Celsius zum Ende des 21. Jahrhunderts in Beziehung zur vorindustriellen Zeit zu belassen. Auch wenn die klimapolitischen Maßnahmen der Europäischen Union im internationalen Maßstab sehr weitestgehend und auch am verbindlichsten sind, reichen auch sie nicht aus um die notwendigen Schritte von Seiten Europas zu ergreifen. Der europäische Green Deal, der 2022 vom EU-Parlament beschlossen wurde, wird bereits massiv kritisiert - so Schöneberg (2022):

„Mit dem Klimavotum haben die EU-Parlamentarier in diesem Fall aber nicht nur Halbgares, sondern auch den Klima-Offenbarungseid absegnet: Die Treibhausgasemissionen zwischen Lissabon und Tallinn sinken damit zwar – ohne neue Katastrophen – um über 3 Prozent im Jahr. Aber das ist schlicht zu wenig, um die Erderhitzung bei 1,5 Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit abzubremsen.“
So stellt der EU-Klimawandeldienst Copernicus für 2024 das wärmste, seit der vorindustriellen Zeit gemessene Jahr fest. Für 2023 wurde von Copernicus ein Durchschnittswert von 1,48 Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit gemessen. Der Februar 2024 war 1,77 Grad wärmer als der vorindustrielle Referenzzeitraum von 1850 bis 1900. (Blume 2024)

Doch die Biosphäre ist nachtragend, sie wartet nicht auf die menschlichen Korrekturmaßnahmen, wenn die Klimakatastrophe bereits im Anrollen ist. Stürme und Unwetter gigantischen Ausmaßes, Verwüstung weiter planetarer Regionen und damit verbundene Massenfluchten, Überflutung ganzer Meeres naher Regionen, Hitze, Dürre und unkontrollierbare Waldbrände sowie Vernichtung von Ernten durch Hagel und Dauerregen sind nur einige Reaktionen auf die derzeit beobachtbare Menschen verursachte Erderwärmung.
Die World Meteorological Organization (WMO) (2024) stellte ebenfalls für 2023 mit ca. 1,45 Grad das heißeste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen fest und machte deutlich, dass hierdurch nicht nur Umweltzerstörungen, Vertreibungen von Menschen, militärisch ausgetragene Konflikte sondern auch Milliarden Dollar Schäden und Hungerkrisen für besonders betroffene Regionen entstehen würden. WMO-Chefin Celeste Saulo macht dementsprechend deutlich, dass es sich bei der Klimakrise nicht nur um eine Wetteränderung handele: 

“The climate crisis is THE defining challenge that humanity faces and is closely intertwined with the inequality crisis – as witnessed by growing food insecurity and population displacement, and biodiversity loss” 

Die damaligen Appelle von Jonas [4], präventive Verantwortung für denkbare Negativszenarien zu übernehmen, erhalten hier nochmals eine Unterstützung von den weltweit führenden Klimaexperten. Noch ist nach dem IPPC-Bericht noch eine Umsteuerung möglich, wenn Intensität der klimapolitischen Maßnahmen eine enorme Steigerung erfahre. Ansonsten muss die Menschheit wohl erst durch eine äußerst schwierige Entwicklungsgeschichte hindurch, um endlich die Biosphäre achten zu können und den Vorrang ökonomischer Verwertungsinteressen, die Profitgier als Maßstab für ökologisches Verhalten, den Vorrang der Benzin betriebenen Verbrennungsmotoren und der Kohleverstromung, die Vermüllung der Meere sowie umweltfeindlichen Massenkonsum zu überwinden. 

Auch in der Energieversorgung durch Atomkraftwerke kann keine Lösung gesehen werden. Die planetare Gefährdung durch Atomkraftwerke wurde lange Zeit heruntergespielt. Doch mit den schrecklichen Reaktorunfällen (GAU) und Maximalschäden u.a. in Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima, deren Folgen bis heute nicht beseitigt werden konnten, zeigte sich, dass die zivile Nutzung der Atomkraft nicht sicher beherrschbar ist. Hinzukommen die massiven Umweltschäden bei der Gewinnung des Urans und die ungelöste Entsorgungsproblematik. Noch immer kann der giftigste Stoff auf der Erde für die Energiegewinnung und den Bau von Nuklearwaffen verwendet werden, ohne dass hier die Entsorgungsfrage gelöst ist. Das Problem wird auf die kommenden Generationen verschoben. Der Versuch der EU-Kommission, die Energiegewinnung in Atomkraftwerken auch noch als nachhaltig auszugeben, versucht die zukünftigen Finanzströme in das Überleben der Kernkraft zu lenken und würde die notwendige Eenergiewende massiv behindern (vgl. zum Versuch des 'Greenwashing' durch die EU-Kommission dem im Anschluss and ieses Kapitel angefügten Beitrag zur EU-Taxonomie).
Der Krieg in der Ukraine zeigt des Weiteren eine weitere Gefährdungslage auf, wenn russisches Militär Atomkraftwerke besetzt, dort militärisches Gerät und Waffen lagert und das technische Personal drangsaliert. Gleichzeitig wird die Gefahr durch Artilleriebeschuss von ukrainischer Seite gesteigert. Hierbei muss überhaupt nicht das AKW selbst getroffen werden, sondern es reicht die Unterbrechung der Kühlkette oder der Stromversorgung aus, so dass ein Super-GAU eintreten kann. Der deutsche Naturwissenschaftler und Autor Karl-W. Koch (2023) warnt daher eindringlich vor einer kriegsbedingten Kernschmelze in der Ukraine: 

„Ein mittlerweile sehr deutlich erkennbares Kriegsziel ist dabei die Vernichtung der technischen Infrastruktur der Ukraine, maßgeblich der elektrischen Infrastruktur. Die ist am einfachsten zu zerstören, wenn die Knotenpunkte der Hochspannungsfernleitungen zerstört werden und die Einspeisungsstellen in die Netze mittlerer Spannungen. Ein Hauptproblem dabei: Die nötigen Transformatoren liegen weder in der Ukraine noch in Rest-Europa in Mengen als Reserve herum. Sie müssen im Gegenteil aufwendig, auf die jeweilige Stelle genau zugeschnitten neu gebaut werden, und das dauerte jeweils mehrere Monate. 

An diesen Knotenpunkten und Transformatoren hängen aber AUCH die Atomkraftwerke der Ukraine. Werden sie vom Stromnetz getrennt, dann muss das AKW zur Kühlung auf Notstromaggregate (Diesel) umgestellt werden. Diese haben eine Laufzeit von maximal 3 bis 10 Tage, für den Dauerbetrieb sind sie nicht ausgelegt. Versagen auch sie, fällt die Kühlung der Reaktoren aus. Und diese MÜSSEN AUCH gekühlt werden, wenn die Reaktoren herunter gefahren wurden. Und die Lagerbecken der ausgetauschten Brennstäbe bei den AKWs (und in Tschernobyl, das große Zwischenlager der Ukraine) müssen dauerhaft gekühlt werden. Sonst droht jeweils eine Kernschmelze mit der Freisetzung riesiger Mengen an Radioaktivität.“


Tierquälerei und Fleischvermarktung

Wie der Mensch zerstörerisch und ausbeuterisch mit der ihn umgebenden Natur umgeht, so verhält er sich zu den Tieren. Die Vielfalt der frei lebenden Tierarten ist extrem rückläufig. Die meisten der von Menschen gefangen gehaltenen und für den Fleischkonsum eingesperrten Tiere werden im Rahmen industrieller Massentierhaltung auf vielfältige Weise gequält, bevor sie geschlachtet werden. Schweine und Kühe stehen dort zwischen Metallgittern gehalten und ohne Bewegungsspielraum eingepfercht, werden mit Hormonspritzen und Antibiotika zum ungestörten und schnellen Fleischwachstum manipuliert, ihre Güllefluten werden dann auf den Feldern entsorgt, wodurch wiederum das Trinkwasser mit Nitraten vergiftet wird. Insbesondere die Menschen in den reichen Ländern des Nordens konsumieren in einem erschreckenden Ausmaß Fleischprodukte, so dass ein großer Prozentsatz buchstäblich seinen Leib aufbläht und krankhaft übergewichtig wird. Gleichzeitig fehlt vielen Menschen in den ärmeren Ländern die Möglichkeit, genügend Kalorien über die Ernährung aufzunehmen, so dass der Hunger in der Welt noch keineswegs besiegt ist.[5] Es existiert hinsichtlich der industriellen Massentierhaltung, der damit verbundenen Tierquälerei und des durchschnittlichen Fleischkonsums sowie der dadurch ausgelösten Umweltvergiftung, insbesondere der Belastung des Trinkwassers und des Ausstoßes von Kohlenstoffdioxid und Methan, ein verhängnisvoller ökologischer Zusammenhang. Auch das Abbrennen des ökologisch wertvollen Regenwaldes ist in einer Verbindung mit dadurch entstehenden Weideflächen für Rinder, dem Futtermittelanbau für Rinder (Soja) und dem Fleischkonsum zu sehen.

So fasst der Weltklimarat (IPCC 2019, 17) die entsprechenden Forschungsergebnisse wie folgt zusammen:

„The level of risk posed by climate change depends both on the level of warming and on how population, consumption, production, technological development, and land management patterns evolve (high confidence). Pathways with higher demand for food, feed, and water, more resource-intensive consumption and production, and more limited technological improvements in agriculture yields result in higher risks from water scarcity in drylands, land degradation, and food insecurity (high confidence).“

Ökologische Schwellenwerte für den Planeten

V. Weizsäcker/Wijkman (2017) verwenden den Begriff der planetaren Grenzen[6], der sich auf ökologische Schwellenwerte der Erde bezieht. Wenn diese Grenzen überschritten seien, bestehe die Gefahr einer unumkehrbaren Umweltveränderung.

Hinsichtlich folgender neun Faktoren lässt sich eine krisenhafte Entwicklung feststellen, wobei vor allem die genetische Vielfalt sowie der Stickstoff- und Phosphorkreislauf sich bereits im Hochrisikobereich, also jenseits des Unsicherheitsbereichs, befinden. Die komplexeste Gefahr mit Folgen für das gesamte ökologische System gehe vom Klimawandel aus, der ebenfalls schon seine planetaren Grenzen überschritten habe. [7]
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Neun ökologische Faktoren planetarer Grenzen [8]
·        „Stratosphärischer Ozonabbau
·        Verlust der Biodiversität und Artensterben
·        Chemische Verschmutzung und Freisetzung neuartiger Verbindungen
·        Klimawandel
·        Ozeanversauerung
·        Landnutzung
·        Süßwasserverbrauch und der globale hydrologische Kreislauf
·        Stickstoff und Phosphor fließen in Biosphäre und Ozeane
·        Atmosphärische Aerosolbelastung“ [9]
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Hierbei muss festgestellt werden, dass einzelne Faktoren nicht isoliert betrachtet werden dürfen, da sie miteinander, sich wechselseitig beeinflussend, vernetzt sind. Nur über eine ganzheitliche Sichtweise, die sowohl Komplexität als auch Differenziertheit ermöglicht, kann die Tragweite des bereits entstandenen ökologischen und gesellschaftlichen Schadens verstanden werden:

 “Although the planetary boundaries are described in terms of individual quantities and separate processes, the boundaries are tightly coupled. We do not have the luxury of concentrating our efforts on any one of them in isolation from the others. If one boundary is transgressed, then other boundaries are also under serious risk. For instance, significant land-use changes in the Amazon could influence water resources as far away as Tibet. The climate-change boundary depends on staying on the safe side of the freshwater, land, aerosol, nitrogen-phosphorus, ocean and stratospheric boundaries. Transgressing the nitrogen-phosphorus boundary can erode the resilience of some marine ecosystems, potentially reducing their capacity to absorb CO2 and thus affecting the climate boundary.” [10]

Die Zerstörung der Wälder – die Lunge der Erde

Die Studie des Weltklimarats (IPCC 2019, 3) macht die Dringlichkeit einer Umsteuerung auch in dem forst- und landwirtschaftlichen Umgang mit der Biosphäre deutlich („loss of natural ecosystems (e.g. forests, savannahs, natural grasslands and wetlands) and declining biodiversity (high confidence)“). Durch Besiedlung und agrarindustrielle Nutzung gehen zunehmend Flächen für CO2 absorbierende und Sauerstoff erzeugende Waldflächen verloren. So stellt der von den UN beauftragte IPCC fest:

„Land use change and rapid land use intensification have supported the increasing production of food, feed and fibre. Since 1961, the total production of food (cereal crops) has increased by 240% (until 2017) because of land area expansion and increasing yields. Fibre production (cotton) increased by 162% (until 2013).“ [11] 

Die unter dem rechtspopulistischen brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro massiv beschleunigte Abholzung des Regenwaldes, der Lunge der Erde, zugunsten von Sojaanbauflächen, Rinderweiden und Bodenspekulation verstärkt die Klimakrise. Hierbei werden durch das bevorzugte Mittel der Brandrodung zusätzlich noch erhebliche Klima schädliche Mengen Kohlendioxids freigesetzt. Auch die Anbaustandards, z.B. hinsichtlich des Einsatzes von Pestiziden, entsprechen dort in der Regel nicht den Ansprüchen einer ökologisch ausgerichteten Landwirtschaft. Erhebliche Teile des brasilianischen Regenwaldes werden mit der ausschließlichen Perspektive der Bodenspekulation gerodet bzw. abgebrannt, um später einmal dieses Gelände als Anbaufläche oder sogar als Bauland vermarkten oder für die Ausbeutung von Bodenschätzen nutzen zu können. [12]  Hierbei förderte der 2022 abgewählte brasilianische Präsident Bolsonaro in verhängnisvoller Weise diese Entwicklung: 
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 „Bolsonaro hat sich in seinen Ansprachen immer wieder zu Goldgräbern und Holzfällern bekannt, aber er äußert sich abfällig über indigene Völker (‚wie im Zoo‘) und die staatseignen Umweltschutzbeamten (‚Strafzettelindustrie‘). Am Amazonas wurde das wie eine Aufforderung verstanden, noch bevor er mit Dekreten die Gesetzeslage veränderte. Erst vor zwei Wochen machte der Mord am Häuptling des Waiãpi-Volks internationale Schlagzeilen. An einigen Orten sind Gebäude der Indianerschutz- und der Umweltschutzbehörde in Flammen aufgegangen, Unbekannte schossen in einem Abholzungs-Hotspot auf einen Behördenhubschrauber. Keine Woche vergeht mehr ohne Meldungen von Invasionen in Indianergebiete, von Vertriebenen oder gar Toten. Ergebnis: Vorläufige amtliche Satellitendaten zeigen, dass im Juni das Tempo, mit dem am Amazonas Bäume gefällt werden, um 88 Prozent über dem des Vorjahresmonats lag, im Juli waren es sogar 212 Prozent. Aktuell liegt die Abholzungsrate bei drei Fußballfeldern pro Minute. Seit den Siebzigerjahren, als die Abholzung im großen Stil unter der Militärdiktatur (1964–1985) begann, sind etwa 20 Prozent des gesamten brasilianischen Amazonaswaldes verschwunden, eine Fläche, zweimal größer als Deutschland.“ [13]
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Anstelle nun mit einer höheren Besteuerung von Rindfleisch- und Sojaexporten in die EU zu reagieren, wenn diese aus gerodeten Regenwaldflächen resultieren, beschließt die EU das Gegenteil: Es wird ein internationales Freihandelsabkommen zwischen den MERCOSUR-Staaten (Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay) und der EU auf den Weg gebracht, das ohne derartige Beschränkungen auskommt bzw. den zwischenstaatlichen Handel mit Rindfleisch und Sojaprodukten generell deutlich erleichtert. Dies bedeutet eine direkte Aufforderung, den Regenwald weiter zu vernichten und die Klimakatastrophe zu beschleunigen – ganz zu schweigen von den verstärkt notwendig werdenden interkontinentalen Warentransporten auf dem See- und dem Luftweg, die zusätzlich die Biosphäre belasten. [14]

Derartige Maßnahmen stehen eindeutig den ökologischen Beteuerungen der EU entgegen und gegen die Klimaziele der Vereinten Nationen. Solange hier nicht eine andere Handels- und Umweltpolitik von Seiten der EU erfolgt, werden deren ökologische Ansprüche als hohle Phrasen entlarvt.

Aufgrund des Postulats nationalstaatlicher Souveränität sind die UN derzeit nicht in der Lage, intervenierend einzugreifen. Hierzu müsste es zu einer Änderung der UN-Charta kommen, so dass für den Fall einer massiven ökologischen Schädigung mit Folgen für das Weltklima ein international gesteuertes Eingreifen, z.B. in Form von Wirtschaftssanktionen, möglich wäre. 

‚Responsibility to Protect‘ wäre hier um das verantwortliche Eingreifen durch die Vereinten Nationen zu erweitern. Dies müsste zunächst mit diplomatischen Mitteln erfolgen, dann mit wirtschaftlichen Druck und im Falle der Erfolglosigkeit dieser Maßnahmen mit weltpolizeilichem Eingreifen unter Vorrang ziviler Mediationsmethoden und ‚Just Policing‘ im Kontakt mit einheimischen Bürgerinitiativen und indigenen Bevölkerungsgruppen durchgeführt werden. Wenn dies alles nichts nutzt, müssten im Falle einer massiven Beschädigung auch UN-Militär mit einem robusten Mandats des ökologischen Peacebuildings eingesetzt werden.

Die Atmosphäre, die schmale Gashülle, welche die Erde umgibt, ist derart dünn und verletzlich, bereits massiv beschädigt, so dass hier eine zukünftige Toleranz nicht mehr möglich ist. Man muss hierbei bedenken, dass die Troposphäre, die erdnaheste und für unsere Fortexistenz besonders bedeutsame atmosphärische Schicht, nur ein paar Kilometer hoch ist und dementsprechend kaum noch Kompensationsmöglichkeiten besitzt. Eine Milliarden Jahre umfassende Entwicklung ist in wenigen Jahrzehnten durch die menschliche Zivilisation und ihr ungebremstes ökonomisches Wachstumsdenken an die Grenze ihrer ökologischen Resilienz gebracht worden.

Auch die Versuche, zu multilateralen oder bilateralen Handelsabkommen zu gelangen, wie z.B. TTIP oder JEFTA [15], zeigen, dass es hierbei um eine ungebremste Steigerung des Wirtschaftswachstums geht, ohne Rücksicht auf natürliche Ressourcen zu nehmen. Es geht um die Einrichtung von internationalen ‚Freihandelszonen‘, die zu einem erhöhten Verbrauch natürlicher Ressourcen über die damit eintretende Produktionserhöhung sowie über den ansteigenden Transport von Waren zwischen den Kontinenten führen wird. Auch besteht die Gefahr der Absenkung internationaler Standards im Bereich des Umweltschutzes. 

Die Neoliberalisierung der Wirtschaft verstärkt die bereits historisch durch die Kolonalisierung und die postkoloniale Zeit entstandene globale Ungerechtigkeit zwischen dem reicheren und dem ärmeren Teil der Welt, auch mit dem Blick auf die Klimaentwicklung. Während die reichen Länder sich über die Externalisierung der Klimaschäden weiter bereichern konnten, konnten die ärmeren Länder diese Entwicklung aufgrund der ungerechten Welthandelsverhältnisse selbst nicht vollziehen. Die reichen und industrialisierten Regionen belasteten über zwei Jahrhunderte die Erdatmosphäre mit CO2-Emissionen, wobei insbesondere die ärmeren Regionen die Folgen der Klimakatastrophe nun erleiden müssen. Diese kritische Einschätzung muss dann natürlich auch Konsequenzen für die Forderungen zur zukünftigen Finanzierung der notwendigen Klimaschutzmaßnahmen haben.
Auch der Weltklimarat (2023, 5) machte in seinem zusammenfassend analysierenden Synthebericht die doppelte Ungerechtigkeit im globalen Kontext anhand klimawissenschaftlicher Daten deutlich: 

„Widespread and rapid changes in the atmosphere, ocean, cryosphere and biosphere have occurred. Human-caused climate change is already affecting many weather and climate extremes in every region across the globe. This has led to widespread adverse impacts and related losses and damages to nature and people (high confidence). Vulnerable communities who have historically contributed the least to current climate change are disproportionately affected (high confidence).“

Geschäfte mit dem Wasser

Des Weiteren existiert der Versuch einer weiteren Privatisierung natürlicher Ressourcen im Rahmen dieser Abkommen, insbesondere der Privatisierung des Trinkwassers, die nachweisbar zu Preiserhöhung und zur Absenkung der Trinkwasserqualität führt. [16]

Über die multilateralen Handelsverträge versucht sich der Weltkapitalismus auf der Vertragsebene abzusichern und sich möglichst günstige Bedingungen für den Raubbau an den natürlichen Ressourcen und der Inwertsetzung von Natur zu verschaffen. Aber auch transnationale Institutionen, wie z.B. IWF, Weltbank und WTO, arbeiten an den Voraussetzungen einer neoliberal orientierten Privatisierung von Ressourcen, wie z.B. der für die Erzeugung von Trinkwasser zur Verfügung stehenden Süßwasserquellen. Der Konflikt um den Zugang zu Trink- und Brauchwasser verschärft sich durch die Klimaveränderungen und das Anwachsen der Weltbevölkerung, so dass durch internationale Vereinbarungen multinationale Konzerne zukünftig privilegiert werden sollen:
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 „Wasser – von der Quelle des Lebens zur Quelle von Profiten
Zurückzuführen ist diese Politik auf den Washington Consensus (1990), der eine Reihe wirtschaftspolitischer Maßnahmen zur weltweiten Förderung von wirtschaftlicher Stabilität und Wachstum beinhaltet, in welchem Wirtschaftsprozesse liberalisiert und die Wirtschaftstätigkeit weitgehend privatisiert werden sollten. Dadurch, so der wirtschaftsliberale Gedanke, werde die Grundlage dafür geschaffen, dass Ressourcen besser alloziiert und effizienter verwendet werden. Das Konzept des Washington Consensus wird von IWF und Weltbank vorangetrieben. Dazu gehören unter anderem die Liberalisierung der Handelspolitik und die Privatisierung öffentlicher Einrichtungen. Der IWF fungiert als Kreditgeber für die Zentralbanken, die Weltbank übernimmt diese Funktion für Privatbanken. Darüber hinaus ist ein internationales Netzwerk regionaler Entwicklungsbanken mit IWF, Weltbank und WTO verbunden, wie die European Investmentbank, Inter-American Development Bank, Asian Bank, Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung und die Islamic-Development Bank. Global agierende Wasserkonzerne, der Weltwasserrat und Global Water Partnership arbeiten eng mit WTO, Weltbank und IWF zusammen. Sie verbindet das Ziel, Wasser als Wirtschaftsgut einzustufen, damit es dementsprechend frei vermarktet werden kann. Offiziell wird die Politik der Wasserprivatisierung und – damit verbunden – der Bau von Staudämmen mit der Armutsbeseitigung begründet. Dass diese Argumentation nur vorgeschoben ist, zeigt sich etwa daran, dass sich die involvierten Organisationen und Konzerne nicht für dezentrale Lösungen, wie beispielsweise die Nutzung von Regenwasser einsetzen. Vielmehr werden Großstaudämme und kapitalintensive Infrastrukturprojekte propagiert, zu deren Realisierung oft sogar Entwicklungshilfeorganisationen als Geldgeber eingespannt werden. Ein Hand in Hand arbeitendes Netzwerk aus Lobbyisten und Branchenverbänden steht hinter dieser Ausrichtung der weltweiten Wasserpolitik.“[ 17]
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Die hinter den aus dem ‚Washington Consensus‘ heraus angeregten Beschlüsse stehenden Lobbyisten, Politiker, Gruppierungen und Konzerne, wie z.B. Coca Cola oder PricewaterhouseCoopers, arbeiten größtenteils verdeckt und intransparent, um Störungen dieses Prozesses, etwa über zivilgesellschaftlichen Widerstand, zu vermeiden. 

Ressourcenkonflikte sind hinsichtlich des Wassers unvermeidlich. Der Konflikt zwischen den Ex-Sowjetrepubliken Tadschikistan und Kirgistan, an der chinesischen Grenze gelegenen Staaten, um den Zugang und die Kontrolle einer Wasserverteilstelle ist exemplarisch für diese Problematik:
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Kampf um Trinkwasser „Das kirgisische Gesundheitsministerium in Bischkek teilte übereinstimmenden Berichten zufolge mit, bei den Kämpfen seien 31 Menschen getötet und 154 verletzt worden. Auf tadschikischer Seite war von 10 Toten und etwa 90 Verletzten die Rede, wie das Internet-Portal Asia-Plus meldete. Eine Bestätigung der Zahlen gab es in dem autoritär geführten Land zunächst nicht. Der Konflikt eskalierte Mitte dieser Woche, als tadschikische Beamte eine Videokamera in der Nähe einer Wasserverteilerstation installieren wollten. Kirgisische Bürger wehrten sich dagegen. Sie warfen zunächst mit Steinen, wie Medien berichteten. Dann verstärkten beide Seiten ihre Grenztruppen, die dann aufeinander schossen. Die Wasserverteilstelle liegt auf von Kirgistan kontrolliertem Gebiet an einem Kanalausgang, der einen Stausee in der Region Batken befüllt. Für die Menschen dort ist dies der wichtigste Zugang zu Trinkwasser. Tadschikistan erhebt unter Berufung auf ältere Karten Anspruch auf das Gebiet.“ [18]
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Die Auseinandersetzungen in Zentralasien sind ein Beispiel für zwischenstaatliche Wasserkonflikte. Ein weiteres Beispiel ist der Konflikt zwischen Ägypten und Äthiopien um das Nilwasser. Hier hat Ägypten bereits mehrfach Äthiopien mit Krieg gedroht. Ägypten bezieht 90% seines Trinkwassers aus dem Nil und sieht die Trinkwasserversorgung durch die Planung von Staudämmen durch Äthiopien bedroht. Auch Israel hat beispielsweise im Zuge der verschiedenen militärischen Auseinandersetzungen es geschafft, dass inzwischen 90% des Jordanwassers nach Israel umgeleitet werden, die nun in einer sehr regenarmen Region in Jordanien, Syrien und in den Palästinensergebieten fehlen. So wird palästinensischen Bauern verboten, neue Brunnen zu bohren, während israelische Siedler in palästinensischen Gebieten hierfür ohne Schwierigkeiten die Genehmigung zu einer Brunnenbohrung erhalten. [19]

Doch auch innerstaatlich kommt es zu Kämpfen um die Ressource Wasser. Mehr als eine Milliarde Menschen haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser. So versiegen Quellen und fallen vermehrt Niederschläge aufgrund der klimatischen Verschiebungen aus. Des Weiteren beanspruchen agrarindustrielle Großprojekte sowie der Abbau von Rohstoffen, wie z.B. für die Gewinnung der seltenen Erden für die Batterienherstellung in Chile, riesige Wasserressourcen, die den einheimischen Bauern fehlen und ihnen die Existenzgrundlage rauben. 

Innerstaatliche Auseinandersetzungen in Kenia beispielsweise zeigen die Dynamik einer solchen Problematik. Hier kämpfen nomadisierende Viehzüchter gegen die Export orientierte und hierfür ehemalige Weideflächen beanspruchende Landwirtschaft. Sowohl der zunehmende Bevölkerungsdruck als auch die durch klimatische Verschiebungen sich verzögernden Regenfälle verschärfen diesen Konflikt. Konflikte im Norden Kenias werden inzwischen nicht mehr mit Speeren, sondern mit aus Somalia importierten Kalaschnikows ausgetragen und führen zu steigenden Opferzahlen in diesem Konflikt um die kostbare Ressource. So intensivieren westliche Konsumbedürfnisse, wie z.B. die steigende Nachfrage nach Rosen und Tulpen, innerstaatliche Konflikte in einem afrikanischen Staat. Zusätzlich wird diese Problematik von ethnischen Spannungen überlagert. [20] 

Am Beispiel des Nestlé-Konzerns soll nun die Problematik der internationalen Versuche der Wasserprivatisierung exemplarisch entfaltet werden.

Nestlé – „Sie sind Raubtiere und Wasserjäger“ (Maude Barlow)

Der multinationale Schweizer Konzern Nestlé ist – so die eigene Darstellung – das weltweit größte Unternehmen für Lebensmittel und Getränke, das Niederlassungen in 189 Ländern besitzt. Zur Nestlé-Unternehmensgruppe gehören u.a. Marken wie MAGGI, Thomy, Nescafé, Nesquick, Kitkat, Smarties, After Eight, Bübchen sowie u.a. das in Flaschen verkaufte Wasser, wie z.B. die Marken S. Pellegrino, Vittel und Nestlé Pure Life. [21]

Eine zentrale Geschäftsidee Nestlés ist das Bohren von Tiefbrunnen und die Vermarktung von in Plastikflaschen portioniertem Trinkwasser. Denn Nestlé habe, so der Konzern in der Selbstdarstellung, seine Verantwortung hinsichtlich der ökologischen Bedeutung des Wassers erkannt:

„Wasser ist Leben. Es ist unentbehrlich, aber an vielen Orten der Welt – bereits jetzt – knapp. Wir bei Nestlé sind der festen Überzeugung, dass der Zugang zu Wasser ein grundlegendes Menschenrecht ist. Jeder Mensch, überall auf der Welt, hat das Recht auf sauberes, sicheres Trinkwasser und sanitäre Einrichtungen.“ [22]

Damit hat Nestlé eine Geschäftsidee, die zukunftsträchtig scheint, denn es droht in der Zukunft in vielen Regionen ein dramatischer Wassermangel. Das Aufkaufen von Wasserquellen und das Erkaufen von Bohrgenehmigungen für Tiefbrunnen, um mit Wasser gefüllte Trinkflaschen portionsweise zu vermarkten, verspricht ungeahnte Profite, auch wenn dann die Wasserquellen von militärischen Sicherungsdiensten vor den Einheimischen zu bewachen sind.

Im Jahr 2012 erschien der Film des Schweizer Filmemachers Urs Schnell und des aus der Schweiz stammenden Journalisten Res Gehriger mit dem Titel „Bottled Life“, der sich mit dem Wassergeschäft von Nestlé kritisch auseinandersetzt. Die Schweizer Zeitschrift ‚Tagesanzeiger‘ schreibt hierüber:
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 „Journalist Gehriger liess sich nicht abwimmeln. In Äthiopien besuchte er ein Flüchtlingslager, für das Nestlé 2003 mit 750.000 Dollar die Wasserversorgung erstellt hatte. Zwei Jahre später zog sich der Konzern zurück, seither funktioniert die kaum noch gewartete Anlage mangelhaft, Wasserknappheit ist wieder Alltag. In Nigerias Hauptstadt Lagos erfährt Gehriger, dass Familien die Hälfte ihres Budgets für Wasser in Kanistern aufwenden. Wer es sich leisten kann, trinkt Pure Life von Nestlé. Oder die Dorfgemeinschaften im US-Bundesstaat Maine, die gegen das Abpumpen von Grund- und Quellwasser durch Nestlé kämpfen. Es gilt das Recht der stärksten Pumpe: Wer Land besitzt, darf darauf so viel Wasser pumpen, wie er will. Nestlé schöpft jährlich mehrere Millionen Kubikmeter ab und transportiert das Wasser per Tanklastwagen zu den Abfüllanlagen. ‚Die wollen mit unserem Wasser Profit machen, zahlen pro Liter den Bruchteil eines Cents‘, empört sich eine Kleinunternehmerin. ‚Die verkaufen das Wasser, das wir fürs WC und zum Händewaschen verwenden, als teures Quellwasser‘, höhnt ein anderer. Doch weil Nestlé den Gemeinden Steuern bringt, empfangen viele Behörden den Konzern, der von einer Armada von Anwälten und PR-Beratern unterstützt wird, mit offenen Armen. Im Film läuft der Kampf zwischen David und Goliath auf ein Patt hinaus: Am einen Ort gewinnt Nestlé, am anderen die lokale Opposition.“ [23]
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Nestlé selbst ist auf seiner Homepage um eine Imageverbesserung bemüht und spricht von nachhaltiger Wasserbewirtschaftung, ökologischer Verantwortung und seinem Einsatz für Humanität in den armen und von Trockenheit bedrohten Gebieten der Welt.

Die ehemalige UN-Chef-Beraterin für Wasserfragen und kanadische Wasseraktivistin Maude Barlow entlarvt diesen PR-Anspruch des Konzerns allerdings als Medien-Propaganda, um die hochproblematische Aktivität des Konzerns zu verbergen. In ihrem Buch ‚Blaue Zukunft. Das Recht auf Wasser und wie wir es schützen können‘ analysiert Maude Barlow (2014) die an Profitmaximierung orientierten Aktivitäten der Wasserkonzerne, wie z.B. Nestlé. Im Film ‚Bottled Life‘ bringt sie ihre Kritik an Nestlé auf den Punkt:

„Nestlé ist ein Wasserjäger, ein Raubtier auf der Suche nach dem letzten sauberen Wasser dieser Erde.“ [24]

Nestlé macht einem Umsatz mit Flaschenwasser von sieben Milliarden Euro und ist in diesem Segment Weltmarktführer. Die Journalistin Rabea Weihser (2013) der Zeitschrift ‚Die Zeit‘ rekonstruiert die Kritik der Produzenten des Films ‚Bottled Life‘ und charakterisiert den ausbeuterischeren Charakter der Nestlé-Aktivitäten:

„Sie zeigen, wie dessen Marke Pure Life durch gezielte Werbung in Pakistan zum Statussymbol und in Nigeria zu einer der wenigen zuverlässig sauberen Trinkwasserquellen wurde. Kein Getränk ist so stark verbreitet wie Pure Life. Es besteht in 27 Ländern aus gefiltertem, mit künstlichen Mineralien versetztem Leitungswasser und schmeckt überall gleich. Wo korrupte Regierungen die öffentliche Wasserinfrastruktur verrotten lassen, schließt Nestlé eine Marktlücke und scheffelt das Geld der Ärmsten.“ [25]

Der Verkauf von Trinkwasser verspricht wachsende Profite in der Zukunft. Solange der rechtliche Rahmen und das damit verbundene Verständnis von Ökonomie das Geschäft mit der – neben der Luft – wichtigsten Ressource, dem Wasser, ermöglicht, wird sich hier zukünftig ein wachsendes Geschäftsfeld mit überdurchschnittlichen Renditen erschließen. Die Absenkung des Grundwasserspiegels sowie die Exklusion weiter Teile der Bevölkerung von sauberer Wasserversorgung wird hierbei wirtschaftspolitisch über die Befolgung des ‚Washington Consensus‘ – und wenn es sein muss – mit militärischer Absicherung betrieben werden.


Der ‚Washington Consensus‘ als Hindernis ökologischer Steuerung

Der ‚Washington Consensus‘, der für die Privatisierung, Deregulierung und Steuersenkung für Unternehmen steht, ist Ausdruck eines neoliberalen Kapitalismus-Verständnisses. Der neoliberalisierte Kapitalismus ist ein Haupthindernis hinsichtlich der auf massive Regulation angewiesenen, bereits eintretenden Klimakrise bzw. die Voraussetzung für eine noch extremere Ausbeutung der natürlichen Ressourcen.

Die kanadische Aktivistin und Autorin Naomi Klein (2019, 30) macht den fatalen Zusammenhang zwischen der historischen Durchsetzung eines neoliberal deregulierten Kapitalismus und der gleichzeitig verschärft eintretenden Notwendigkeit, regulierend gegen die Naturzerstörung einzugreifen, deutlich:
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„Wir haben nicht die notwendigen Dinge getan, um die Emissionen zu reduzieren, weil diese Dinge in fundamentalem Widerspruch zum deregulierten Kapitalismus stehen, der herrschenden Ideologie, seit wir uns um einen Weg aus der Krise bemühen. Wir kommen nicht weiter, weil die Maßnahmen, die am besten geeignet wären, die Katastrophe zu verhindern – und die dem Großteil der Menschen zugutekommen würden –, eine extreme Bedrohung für eine elitäre Minderheit darstellen, die unsere Wirtschaft, unseren politischen Prozess und unsere wichtigsten Medien im Würgegriff hat. Zu einem Zeitpunkt der Geschichte wäre das Problem vielleicht nicht unüberwindbar gewesen. Wir haben jedoch als Gemeinschaft das große Pech, dass die Wissenschaft ihre eindeutige Diagnose einer Klimabedrohung ausgerechnet in dem Augenblick stellte, als diese Eliten eine uneingeschränkte politische, kulturelle und intellektuelle Macht genossen wie seit den 1920er Jahren nicht mehr.“

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Warschauer Pakt-Staaten fiel die Systemkonkurrenz für den kapitalistischen Westen weg. Der Kapitalismus gab sich als das überlegene System aus und ließ seine sozial-ökologische Maske fallen. Mit der eintretenden Klimareaktion entwickelte sich der Kapitalismus in eine neoliberale Richtung, die das ungehinderte Profitdenken und die zunehmende Ausbeutung der Ressourcen begünstigte sowie eine Bewusstseinsindustrie installierte, die hiervon ablenken sollte.
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Leugnung des anthropogenen Teils der Klimakrise als Geschäft

 

Entgegen der früheren Veröffentlichungen des IPCC und des 2023 veröffentlichten IPCC-Synthesebericht, bei dem die führenden Klimawissenschaftler_innen über 9000 wissenschaftliche Studien zur Klimaentwickelten analysierten und auf ihre Konsequenzen hin beurteilten, leugnen Politiker, wie z.B. Trump, Putin oder Bolsonaro die Existenz der Klimakrise und können sich hier u.a. auch auf gekaufte wissenschaftliche Gutachten stützen. 

Die wissenschaftliche Leugnung der Klimakrise bzw. der eintretenden Klimakatastrophe wird von Teilen der Fossilindustrie, wie z.B. Öl- und Gas-Konzernen, gut bezahlt. Einige korrupte Wissenschaftler lassen sich nicht nur das ‚Greenwashing‘ von Konzernen bezahlen, sondern auch die Leugnung der menschengemachten Klimakrise, damit die Ausbeutung der Ressourcen fortgesetzt werden kann. Im Gegensatz zu 97% der Wissenschaftler, die die Fakten zur Klimasituation aufgrund der wissenschaftlich korrekt ermittelten Datenlage analysieren würden, werden z.B. US-amerikanische Think Tanks von interessengeleiteter Seite mit Millionen Dollar bezahlt, die von einer Klimahysterie und den natürlichen Klimaschwankungen sprechen und den Menschen verursachten Teil an der Klimaentwicklung abstreiten. [26]

So wird beispielsweise behauptet, dass die Klimaerwärmung nicht anthropogen verursacht sei, sondern mit der gesteigerten Sonnenaktivität zusammenhänge. Aber genau das Gegenteil ist der Fall: Messungen u.a. des ‚Wold Radiation Center‘ sowie des ‚Laboratory for Atmospheric and Space Physics‘sind zum Ergebnis gekommen, dass in den letzten 35 Jahren die Sonneneinstrahlung auf die Erde sogar abnahm, während wir in dieser Zeit den schnellsten Anstieg der Klimaerwärmung seit dem Beginn der Industrialisierung hatten. [27]

Auch wird von interessierten Klimaskeptikern behauptet, dass die derzeit zu beobachtende terrestrischer Erwärmung um 1oC überhaupt kein Problem sei, da es schon immer Klimaschwankungen gegeben habe, mit denen die Erde fertig werden musste. Auch sei bei solchen Wärmeperioden keine erhöhte CO2-Konzentration vorhanden gewesen. Die Erwärmung sei eine natürliche Tendenz nach einer kleineren Eiszeit und sei nicht menschengemacht.

Hiergegen lässt sich zunächst einwenden, dass die gegenwärtige schnelle Erwärmung nicht vergleichbar mit der nach Eiszeiten viel langsamer erfolgenden Erwärmung ist. Auch ist untersucht worden, dass bei allen klimatischen Veränderungen, die abrupt, z. B. bei Vulkanausbrüchen größeren Ausmaßes, erfolgten, der massive Ausstritt von Klimagasen, wie Kohlenstoffdioxid oder Methan beteiligt waren. So die Einschätzung der Scientists for Future:

„But there have been several times in Earth’s past when Earth's temperature jumped abruptly, in much the same way as they are doing today. Those times were caused by large and rapid greenhouse gas emissions, just like humans are causing today.

Those abrupt global warming events were almost always highly destructive for life, causing mass extinctions such as at the end of the Permian, Triassic, or even mid-Cambrian periods. The symptoms from those events (a big, rapid jump in global temperatures, rising sea levels, and ocean acidification) are all happening today with human-caused climate change.

So yes, the climate has changed before humans, and in most cases scientists know why. In all cases we see the same association between CO2 levels and global temperatures. And past examples of rapidcarbon emissions (just like today) were generally highly destructive to life on Earth.“ [28]

Die Natur ist für den Kapitalismus nur interessant, wenn sie in Wert gesetzt wird.

Daher sind weltweite Gegenbewegungen und Initiativen, wie über die NGO’s Attac, Transparency International, World Commission on Dams (WCD), Lobby Control oder Water Aid dabei, über die Zusammenhänge zwischen Raubbau an Ressourcen, Privatisierungstendenzen, transnationalen Vereinbarungen und kapitalistischer Profitmaximierung aufzuklären. Auch stellt sich die Frage, ob nicht gerade dieser Zusammenhang zwischen neoliberalisiertem Kapitalismus und drohender zivilisatorischer Vernichtung der Menschheit durch die einsetzende Umweltkatastrophe doch zu einem radikaleren Umlenken und einer systemischen Neuordnung führen wird.

Zwar hat auch der Staatssozialismus sowjetischer Prägung die Natur auf das Äußerste ausgebeutet und ökologische Grenzen verantwortungslos überschritten, doch scheint genauso ein Zusammenhang zwischen Naturausbeutung und Kapitalismus zu bestehen. Die Natur ist für den Kapitalismus nur interessant, wenn sie in Wert gesetzt wird. Hierbei herrscht eine Mentalität vor, dass die Natur unerschöpflich, umsonst verfügbar und ohne Beachtung der Folgen für die Wertschöpfung nutzbar ist. Der Raubbau an der Natur entspricht der sich im Kapitalismus auslebenden menschlichen Gier nach Reichtumsanhäufung. Daher ist es trotz aller gutgemeinten internationalen Beschlüsse fraglich, ob sich in einem rigorosen weltkapitalistischen System tatsächlich einschneidende Maßnahmen zur Erhaltung der Biosphäre umsetzen lassen.

Die historische Entwicklung zur Entbettung der Ökonomie (Polanyi, 1957) führte zu einer Verselbstständigung der Wirtschaft und einer Loslösung von humanen Bedürfnissen zugunsten einer Dominanz der Ökonomie über das gesellschaftliche Leben. Die ‚große Transformation‘ bedeutete dann auch die Transformation der Natur zu einem ökonomisch eingeengten und anthropozentrischen Mensch-Natur-Verhältnis. Dieser sich über ca. zwei Jahrhunderte sich beschleunigt entwickelnde Prozess müsste nun wieder verlangsamt und dort umgekehrt werden, wo er die ökologischen Voraussetzungen des Lebens auf der Erde vernichtet.

Oftmals stehen vor allem die Emissionen aus industrieller Produktion und Verkehr im Vordergrund der Klimadiskussion. Daher seien auch den Skeptikern gegenüber dem negativen anthropogenen Einfluss auf die Klimaentwicklung abschließend noch einmal die zusammenfassenden Ergebnisse des Weltklimarats hinsichtlich des allein durch die agrar- und forstwirtschaftliche wirtschaftliche Nutzung ausgelösten Greenhouse Gas (GHG) in seinem 2019 erschienen Klimareport dargestellt. Der in Kooperation mit den Vereinten Nationen aus Wissenschaftlern_innen aller Weltregionen bestehende und der weltweit vorliegenden Forschungsergebnisse zur Klimaentwicklung analysierende und bewertende Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) fasst für den Zeitraum von 2007-2016 den menschlichen Einfluss der Landnutzung auf das Klima zusammen. Wenn man weiß, wie z.B. die Emissionen von Kohlenstoffdioxid und Methan in landwirtschaftlichen Produktionsprozessen sowie die Verminderung des Waldbestandes auf den Umfang der Waldaktivität im Sinne einer CO2-Senke sowie der Sauerstoffproduktion wirken, müsste man durch die folgenden Ergebnisse des IPCC erschrecken – es sei denn, man vertritt rücksichtslos die Interessen der Fossilindustrie oder ist einfach nicht bereit, gesicherte wissenschaftliche Ergebnisse zur Kenntnis zu nehmen:

„Agriculture, Forestry and Other Land Use (AFOLU) activities accounted for around 13% of CO2, 44% of methane (CH4), and 82% of nitrous oxide (N2O) emissions from human activities globally during 2007-2016, representing 23% (12.0 +/- 3.0 GtCO2e yr-1) of total net anthropogenic emissions of GHGs21 (medium confidence). The natural response of land to human-induced environmental change caused a net sink of around 11.2 GtCO2 yr-1 during 2007-2016 (equivalent to 29% of total CO2 emissions) (medium confidence); the persistence of the sink is uncertain due to climate change (high confidence). If emissions associated with pre- and post-production activities in the global food system are included, the emissions are estimated to be 21-37% of total net anthropogenic GHG emissions (medium confidence).“[29]

 

Fünf Konstellationen in Ostafrika

Welchen Einfluss klimatische Veränderungen auf das Leben der Menschen hat, soll nun anhand von Konfliktsituationen und gewalttätigen Auseinandersetzungen in Ostafrika beschrieben werden.

Die SIPRI-Forscher Malin Mobjork und Sebastian van Baalen (2016, 1 ff.) entwickeln am Beispiel Ostafrikas fünf Konstellationen, bei denen der Klimawechsel zu gewalttätigen Ausschreitungen bzw. mit Waffengewalt ausgetragenen Konflikten unterschiedlicher Art führt:

·        „Worsening livelihood conditions“: Dürren, massiver Dauerregen, zerstörte Böden und Vegetation aufgrund des Klimawechsels führen zu schlechteren sozialen Lebensbedingungen in einer Region und erhöhen die Anfälligkeit dafür, auf gewalttätigem Wege zu überleben bzw. sich die Existenz zu sichern. Dies führe zur Beteiligung an Aktionen bewaffneter Gruppen und zu chronischer Unsicherheit in einer von Naturkatastrophen heimgesuchten Region.[30] 

·        „Increasing migration“: Wenn Menschen in großer Anzahl von einer verwüsteten Region in eine andere Region auswandern, die verbesserte ökologische und auch ökonomische Bedingungen aufweist, kann es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Einheimischen und Migranten im Kampf um die Ressourcen kommen. Insbesondere wenn Bevölkerungen eine starke kulturelle Identität haben, könne diese ihre Mitglieder besser zum Einsatz von Gewalt mobilisieren. Oft handelt es sich hierbei um eine Vermischung ökologischer, ökonomischer, sozialer und kultureller, auch religiöser, Faktoren.

 

·        „Changing pastoral mobility patterns“: Wenn sich die Wege der mit ihren Herden herumziehenden Hirten, z.B. in Kenia, Äthiopien oder dem Sudan, aufgrund von Dürre und damit verbundener Wasserknappheit deutlich verändern, führt dies zu einem Verdrängungswettbewerb zwischen auf diesen Wegen angestammten Hirtengruppen und zum Einsatz von Gewalt, um die angestammten Routen gegen die Neuankömmlinge zu verteidigen.

 

·        „Tactical considerations“: Wetter und kurzfristige klimatische Veränderungen können das Verhalten von bewaffneten Gruppen beeinflussen, z.B. bei Viehdieben. So lässt sich beobachten, dass in Regenzeiten in bestimmten Regionen Ostafrikas der Viehdiebstahl durch organisierte Gruppen zunimmt. In dieser Zeit haben die gestohlenen Viehherden während des illegalen Transports genügend Nahrung und Wasser. Auch bietet die in dieser Zeit üppige Vegetation einen verbesserten Schutz vor Entdeckung.

 

·       „Exploitation by elites“: Im Sudan und ähnlich in Kenia, Äthiopien, Uganda und Ruanda lässt sich beobachten, wie herrschende Eliten den Kampf um Ressourcen zwischen unterschiedlichen Gruppen ausnutzen, um sich selbst über Korruption zu bereichern, politische Gegner zu beseitigen und die eigene Macht über kaum beachtete Verfassungsänderungen zu festigen.

Die SIPRI-Forscher fassen ihre Analyse zwischen Klimaentwicklung und gewalttätigen Konflikten zusammen:

“The relationship between climate-related environmental change and violent conflict does not exist in a political and social vacuum. Political processes permeate every link in the causal chain from environmental change to an increased risk of violent conflict. A group’s access to natural resources or vulnerability to climate change is determined by both political and biophysical processes.” [31]

Dies bedeutet, dass eine Klimapolitik auch gleichzeitig eine Friedenspolitik ist. Die klimatische Veränderung raubt den Menschen, hier am Beispiel Ostafrikas verdeutlicht, ihre Existenzgrundlagen und führt zu Verdrängungskonflikten und Kriegen.

Zusammenfassend lässt sich feststellen:  In seinem im März 2023 veröffentlichten Synthesebericht macht der Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC 2023) eindeutig den menschlichen Einfluss für die gegenwärtige Klimakrise verantwortlich. Der menschliche Einfluss habe die Atmosphäre, die Ozeane und das Land erwärmt, eine Entwicklung, die nur durch drastische und sofort einzuleitende Maßnahmen eingedämmt werden könne. 

Daraus folgt: Ein Frieden mit der Biosphäre im globalen Maßstab wird sich erst dann realisieren lassen, wenn der Zusammenhang von Ökologie und Ökonomie einen Paradigmenwechsel erfährt. Das ungebremste Wirtschaftswachstum ist zugunsten einer gemeinschaftlichen und demokratischen Kontrolle über die wichtigsten Produktionsmittel und der damit verbundenen Unternehmensformen im Sinne einer gemeinwohlorientierten und insbesondere ökologischen Neuordnung des Produzierens und Konsumierens grundlegend umzustrukturieren. Unternehmen und kollektive Produktionsstätten müssen sich für die Bewahrung der Biosphäre in einem an Nachhaltigkeit orientierten Sinne verantwortlich fühlen und hieran durch einen entsprechend strukturierten und verbindlichen internationalen Beschluss- und Sanktionsrahmen gebunden sein. Staatliche Lenkungs- und Steuerungsaktivitäten müssen einen kalkulierbaren Planungsrahmen für landwirtschaftliche und industrielle Aktivitäten innerhalb eines derart eingehegten marktwirtschaftlichen Szenarios eröffnen.

Die Voraussetzung auf der sozioökonomischen Ebene ist ein über weltweiten zivilgesellschaftlichen Druck bewirktes Revidieren der Privatisierungs- und Deregulierungstendenzen des neoliberalisierten Kapitalismus, der systemisch gegen die notwendigen Interventionen und Regulierungen zum Zwecke der Bekämpfung der Umweltkrise steht. Ein auf neoliberalen ökonomischen Grundannahmen und auf das Vertrauen in den sich selbstregulierenden, ungesteuerten Markt basierendes System ist nicht geeignet für ökologische Regulierungen, die das Eintreten von Kipp-Punkten und Rückkoppelungseffekten noch verhindern bzw. wirksam vermindern können. Die notwendigen globalen ökologisch orientierten Maßnahmen zur Vermeidung der Klima-Katastrophe in einem für die menschliche Zivilisation und die Biosphäre zerstörerischen Ausmaß müssen daher mit dem Umbau des wirtschaftlichen und politischen Systems in grundlegender Weise einhergehen.

Am Beispiel des Konzerns Nestlé wurde die Kritik am profitorientierten Umgang mit der lebenswichtigen Ressource des Wassers entwickelt und die Gefahren veranschaulicht, wenn Unternehmensaktivitäten nicht reguliert und eingehegt werden.

Am weiteren Beispiel von Konfliktsituationen und der Störung des gesellschaftlichen Friedens durch klimatische Veränderungen in Ostafrika wurde deutlich, dass Klimaentwicklung und gesellschaftlicher Frieden zusammenhängen. Dies lässt sich natürlich auch auf den Zusammenhang zwischen Klimaflucht, Migrationsbewegungen und den daraus resultierenden gesellschaftlichen Konflikten in den reichen Ländern des Nordens übertragen.

Ein globales Wirtschaftssystem, das durch fehlende Reglementierung und ungehemmtes Profitdenken gekennzeichnet ist, entzieht den Menschen weltweit ihre Existenzgrundlagen.

Allerdings ist nicht nur die systemische und strukturelle Ebene zu betrachten, sondern auch das Bewusstsein der systemisch Handelnden. Die Voraussetzung hierfür auf der Persönlichkeitsebene ist, dass der Mensch wieder lernt, sich als Bestandteil der Natur zu begreifen und für sich die gleichen Gesetze zu beachten, denen auch die Natur um ihn herum unterworfen ist. Es reicht nicht, notwendige Veränderungen auf der strukturellen Ebene erreichen zu wollen, wenn das individuelle auf das Klima bezogene Verhalten den Anforderungen widerspricht, denen sich andere auszusetzen haben und die an strukturelle Veränderungen gestellt werden.

Dies bedeutet, dass den Veränderungen auf der Makroebene auch vorherlaufend und damit verbunden Veränderungen auf der Mikroebene entsprechen müssen. Persönliche Veränderungen im Bewusstsein zur Mitwelt und Weiterentwicklungen im persönlichen Lebensstilverhalten müssen mit strukturellen Veränderungen einhergehen.



Anmerkungen Kap. 1.5.1.:

[1] Vgl. hierzu Wuppertaler Institut für Klima, Umwelt, Energie (2006, 33 ff.).
[2] WBGU (2007, 77).
[3] Umweltbundesamt (2008, 4f.).
[4] Jonas (1979/2015, 64).
[5] Vgl. zum Ausmaß des Welthungers u.a. Ziegler (2015), der in diesem Zusammenhang von einer kannibalischen Weltordnung spricht.
[6] Vgl. Zur Entwicklung dieses Begriffs Rockström/Steffen/Noone et al. (2009).
[7] Vgl. Röckström/Steffen/Noone (2009, 473).
[8] Die deutschsprachige Übersetzung der Faktoren in Anlehnung an Rockström/Steffen/Noone et al. (2009, 472) bei V. Weizsäcker/Wijkman (2017, 44f.).
[9] = Luftverschmutzung über z.B. CO2- oder SO2-Emissionen.
[10] Röckström/Steffen/Noone (2009, 474).
[11] IPCC (2019, 4).
[12] Vgl. Fischermann (2019).
[13] Fischermann (2019).
[14] Das MERCOSUR-Abkommen ist bereits von der EU beschlossen; es fehlen allerdings die notwendigen Beschlüsse auf der nationalen Ebene.
[15] TTIP = Transatlantic Trade and Investment Partnership, JEFTA = Japan-EU Free Trade Agreement.
[16] Vgl. weitergehende Ausführungen und Belege hierzu bei Lieb (2009).
[17] Lieb (2009).
[18] https://www.zeit.de/news/2021-04/30/kampf-um-wasserressourcen-mehr-als-40-tote, 30.4.2021, 1.5.2021.
[19] https://www.planet-wissen.de/natur/umwelt/wassernot/pwiekonfliktstoffwasser100.html, o.D., 1.5.2021
[20] Vgl. https://www.epo.de/index.php?option=com_content&view=article&id=9223:kenia-zunehmende-konflikte-um-kostbares-wasser&catid=99:topnews&Itemid=100028, o.D., 1.5.2021.
[21] Vgl. https://www.nestle.de/unternehmen/struktur/marken, o.D., 23.9.19.
[22] In: https://www.nestle.de/wasser, o.D., 23.9.19.
[23] In: https://www.tagesanzeiger.ch/kultur/kino/Dokufilm-uebt-massiv-Kritik-an-Nestle/story/31103319, 17.1.2012, 23.9.2019.
[24] In: https://www.zeit.de/kultur/film/2013-08/bottled-life-nestle-wasser-film/seite-2, 12.9.13, 23.9.19.
[25] Weihser (2013).
[26] Vgl. detaillierter hierzu bei Klein (2019, 61ff.) und Rahmstorf (2016).
[27] Vgl. hierzu https://skepticalscience.com/solar-activity-sunspots-global-warming.htm, o.D., 24.10.19.
[28] Zitat entnommen aus der Faktensammlung der Scientists for Future: https://skepticalscience.com/climate-change-little-ice-age-medieval-warm-period.htm, Verfasser Howard Lee; o.D., 1.11.2019.
[29] IPCC (2019, 7).
[30] Dies gilt m.E. nicht nur für Länder bzw. Regionen, die ohnehin mit Armut zu kämpfen haben. Auch in reichen Staaten können Naturkatastrophen zu einer Zunahme von Kriminalität und Gewalttätigkeit führen, z.B. die Überflutung New Orleans im Jahr 2005 in Zusammenhang mit massiven Plünderungen von Geschäften und Häusern:„Das überflutete New Orleans droht in Anarchie zu versinken: Schüsse auf einen Militärhubschrauber und Brandstiftungen verzögerten am Donnerstag die Evakuierung des Superdomes. Bürgermeister Ray Nagin zog angesichts immer hemmungsloserer Plünderungen die Polizisten vom Rettungseinsatz ab und wies sie an, stattdessen für Ordnung zu sorgen. Weitere 10.000 Soldaten der Nationalgarde wurden in das Katastrophengebiet abkommandiert.“  (https://www.stern.de/panorama/weltgeschehen/nach--katrina--new-orleans-versinkt-in-wasser-und-anarchie-3290996.html, 1.9.2005 19.1.2019).
[31] Mobjork/van Baalen (2016, 2).

(ausführliche Literaturangaben zum Ende der Webseite  'International edition')

1.5.2  Widerstand und Proteste gegen die ökologische 
 Zerstörung


1.5.2.1   Der Widerstand der indigenen Völker

Indigene Völker haben im Zuge der Kolonialisierung in den letzten Jahrhunderten erfahren müssen, was es heißt, wenn eine zerstörerische zivilisatorische Macht in ihr Lebensumfeld eindringt, die mit überlegener Waffengewalt ihre Interessen durchzusetzen versucht. Die Versklavung afrikanischer Menschen und deren Deportation und Ausbeutung in den Ländern der Kolonialmächte, der Genozid an den Mayas und Azteken, die durch die eingeschleppten Pocken, durch Massenhinrichtungen und Kämpfe oder die zerstörerische Arbeit in den spanischen Goldminen umkamen, die Ermordung des größten Teils der indigenen Urbevölkerung Nordamerikas durch das US-Militär und Siedlermilizen sowie die Jagd auf die australische Urbevölkerung der Aborigines sind kennzeichnend hierfür. Die heutige ökologische Verwüstung der indigenen Heimat durch riesige Bohrlöcher, durch Kohletageabbau hervorgerufene Verwüstungen, nach dem Goldtagebau hinterlassene und Quecksilber vergiftete Mondlandschaften, die Vergiftung des Grundwassers durch Fracking, die naturzerstörende Ölgewinnung aus Teersand, der Grundwasser verschlingende Lithium-Abbau sowie die Brandrodung zusammenhängender Regenwaldgebiete stellen die moderne Fortsetzung der kolonialen ökologischen und humanitären Zerstörung der Lebensgrundlagen indigener Völker dar. 

Für ökonomische und geopolitische Interessen wurde die Unterlegenheit indigener Rassen proklamiert, die zu ‚Tieren‘ und ‚Wilden‘ abgewertet wurden, so dass ihnen daher keine Menschenrechte zugestanden werden brauchten.

Die indigenen Völker wurden ermordet, ihre Frauen vergewaltigt, Arbeitskräfte versklavt, ihr natürliches Lebensumfeld zerstört und dies alles noch mit einer religiösen Legitimation versehen bzw. mit kirchlicher Missionstätigkeit verschleiert. Viele indigene Gemeinschaften wurden durch eingeschleppte Krankheiten, wie z.B. Cholera und Pocken, vernichtet. Ihr Widerstand wurde durch die überlegene Waffentechnik der weißen Eindringlinge brutal niedergeschlagen.

Indigene Völker wurden später z.T. in Reservate abgedrängt, es wurden ihnen die Kinder weggenommen, deren Identität in christlichen Internaten und Schulen geraubt wurde. Die Folgen der kulturellen und lebensweltlichen Entwurzelung waren dann eine hohe Selbstmordrate oder auch Alkoholismus und anderer Drogenmissbrauch sowie eine deutlich geringere Lebenserwartungen unter den indigenen Menschen. Einigen indigenen Gemeinschaften insbesondere in Nordamerika gelang es jedoch, sich vertragliche Rechte für die Nutzung ihres natürlichen Lebensumfeldes zu sichern. Möglicherweise wurden diese ihnen gewährt, um sie zu beschwichtigen, ohne dass man damals glaubte, dass sie eingehalten werden müssten.

Seit einigen Jahrzehnten beginnen nun verbliebene indigene Völker sich auf ihre kulturelle Identität zu besinnen, Protest- und Widerstandsformen der modernen Gesellschaft aufzugreifen und vor allem ihre einst vertraglich zugesicherten Rechte einzuklagen – so die kanadische Umweltaktivistin und Autorin Naomi Klein:

„Viele Nicht-Ureinwohner erkennen allmählich, dass indigene Rechte – wenn sie aggressiv durch juristische Klagen, Protestkundgebungen und Massenbewegungen unterstützt werden, die ihre Einhaltung fordern – heute die wirksamste Barriere darstellen, um uns alle vor dem Klimachaos zu schützen.“ [1]

Naomi Klein beschreibt, wie insbesonders die indigenen Gemeinschaften in Nordamerika und Kanada, wie die Althabasca Chipewyan First Nation, die Gemeinschaft der Mi’kmaq, der Stamm der Lower Elwha Klallam, die Lakota Nation oder die Elsipogtog First Nation, einen langen Kampf um ihre Rechte gegen die Profitgier der Fossilindustrie begannen. Hierbei kämpfe im wahrsten Sinne des Wortes David gegen Goliath, wenn die indigene Bevölkerung mit ihren Anwälten gegen die juristischen Abteilungen großer Konzerne mit gewaltigen finanziellen Möglichkeiten antreten würden. Doch die Unterstützung der Indigenen durch Nicht-Ureinwohner-Initiativen aus der Umweltschutzbewegung stärkte diese in ihrem z.T. durchaus erfolgreichen Kampf gegen die Unternehmen aus der Erdöl-, Gas- und Kohlebranche.[2]


Der Kampf der Sioux gegen Pipelines in Nord-Dakota: Standing Rock

Insbesondere ein in der Medienöffentlichkeit sehr beachteter Konflikt in Standing Rock (North Dakota, USA) zwischen Ureinwohnern und Aktivitäten der Fossilindustrie kann die komplexe Problematik und die Heftigkeit des Konflikts deutlich machen. Dort kämpften die Sioux mit der Unterstützung anderer Stämme gegen ein fossiles Projekt, bei dem Öl-Pipelines (Dakota Access Pipeline, Keystone Pipelines) durch ihr Stammesgebiet geführt werden sollten. Der Betreiber des Milliarden-Projekts ist ein Öl-Unternehmen, hinter dem das Kapital zahlreicher international tätiger Banken steht, z.B. Goldmann Sachs, Wells Fargo, Bayern LB, Bank of Tokyo Mitsubishi oder die Bank of America. [3] Die Sioux befürchteten eine Umweltverschmutzung ihres Gebietes durch das in vergleichbaren Fällen häufig auftretende Herausströmen von Öl aus Leitungslecks und die Beeinträchtigung ihrer heiligen Stätten, z.B. Grabstätten und Friedhöfe, aufgrund des Baus der Pipelines. [4]

Die indigenen Einwohner errichteten auf dem für die Installation der Dakota Access-Pipeline vorgesehenen Gebiet ein Protestlager mit Zelten, in dem sich eine Zeit lang mehrere Tausend Protestierende aufhielten, bevor das Lager von der Polizei geräumt wurde. Immer wieder kam es zu Besetzungen von Baugeräten durch die dort lebenden ‚Native Americans‘ und zu Auseinandersetzungen mit dem Wachpersonal. Die Nationalgarde wurde aktiviert und es kam zu Verhaftungen. Die Protestierenden unternahmen einen Marsch zum Weißen Haus, um vor Präsident Obama gegen die Pipeline zu demonstrieren.

Die indigene Aktivistin Eryn Wise berichtet von ihrem Widerstand: „Es war Krieg. Sie ließen tagelang Hubschrauber über unserem Camp kreisen, installierten Stadionscheinwerfer in der Nacht, schleusten Spitzel ein. Sie brachten Waffen, um uns zu verletzen. Menschen wurden schwer verletzt und mussten mitansehen, wie die Knochen ihrer Vorfahren von Baggern ausgehoben wurden. Als wir Standing Rock verließen, war es nicht so, als hätten wir einen Protestmarsch verlassen, sondern so, als wären wir aus dem Krieg gekommen – den wir leider nicht gewonnen haben. Viele leiden unter posttraumatischen Belastungsstörungen. Die werden dadurch verstärkt, dass die Attacken auf unser Land andauern. (…) Es wurden erneut Stereotype und Lügen über uns verbreitet. So wurde etwa behauptet, dass wir mit Pfeil und Bogen und Tomahawks auf die Behörden geschossen hätten. Wir hatten zu keinem Zeitpunkt irgendwelche Waffen bei uns. Es ist demoralisierend, nicht nur physisch attackiert zu werden, sondern auch mental und seelisch geprügelt zu werden – von Menschen, die uns wie Cartoon-Charaktere stilisieren.“ [5]

Während der frühere US-Präsident Obama aufgrund der Proteste der Ureinwohner und ihrer Unterstützer sich schließlich gegen den Bau der Pipelines entschied, hat dies der gegenwärtige US-Präsident Trump bereits an seinem zweiten Amtstag wieder zurückgenommen und den Bau der Pipeline Keystone XL und der Dakota-Access-Pipeline gestattet. Hierbei wird ihm vorgeworfen, dass es hier zu einer Interessensverschmelzung kommt. Er selbst sei an der Pipeline-Betreiberfirma Energy Transfer Partners (ETP.N) und an der Holding Phillips 66 mit eigenen Investitionen beteiligt. [6]

Die Stämme der Sioux, Gros Ventre und Assiniboine haben daraufhin Klagen vor mehreren US-Bundesgerichten vorbereitet, um die Rücknahme der Genehmigung und des Stopps des Pipeline-Baus zu bewirken. [7] Zwar wurden die Pipelines gebaut, dennoch fand eine enorme Politisierung indigener Stämme und ihrer Unterstützer statt, wobei vielen protestierenden Menschen der Zusammenhang zwischen kapitalistischer Fossilwirtschaft, staatlich abgesicherter Umweltzerstörung und Klimakrise am eigenen Leib erfahrbar wurde. Vielen Menschen ist klar geworden, dass der Kampf um die Umwelt und um das Klima gegen die Interessen der Fossilindustrie in eine entscheidende Phase eingetreten ist, die – trotz der einstweiligen Niederlage – noch nicht beendet ist. So noch einmal vorerst abschließend die bei den Auseinandersetzungen verletzte indigene Aktivistin Eryn Wise, die ihre ungebrochene humanistische und ökologische Grundhaltung eindrucksvoll deutlich macht:

 | „Aber ich denke, der breite Widerstand in der gesamten Gesellschaft wird unterschätzt. Die Menschen haben es schon seit Jahrzehnten satt, welche Bilder die Vereinigten Staaten vermitteln. Polizeigewalt gegen Minderheiten, ungebremste Investitionen in die Rohstoffindustrie, der alltägliche Rassismus. All das wurde durch Standing Rock sichtbar. Nun muss etwas dagegen getan werden. (…) Alles, was ich mache, ist eine Hommage an meine Vorfahren. Sie haben viel mehr durchgemacht als ich. Als Laguna-Pueblo-Frau ist es meine Verpflichtung, mich für die kommenden sieben Generationen einzusetzen. Ich muss sicherstellen, dass Hoffnung und ein Heim für die Kinder da ist, die noch nicht einmal auf der Welt sind.“ [8] 

1.5.2.2   Fridays for Future (F4F)

Die Umweltschutzbewegung hat eine lange Tradition, doch noch nie waren weltweit so viele junge Menschen auf der Straße, die gegen die Zerstörung des Planeten Widerstand zu leisten versuchen.
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 |  „What is Fridays for Future? #FridaysforFuture is a peoples movement following the call from @GretaThunberg to school strike. Why are kids striking? School children are required to attend school. But with the worsening climate destruction this goal of going to school begins to be pointless.
- Why study for a future, which may not be there?
- Why spend a lot of effort to become educated, when our
   governments are not listening to the educated?“ [9]
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Begann die Fridays for Future-Bewegung mit der damals 15-jährigen Schwedin Greta Thunberg, die im August 2018 für sich den Klimastreik ausrief und freitags mit ihrem Sperrholzschild ‚Skolstrejk för Kilimatet‘ vor dem schwedischen Parlament stehend ihren Schulbesuch aussetzte, so hat sich, orientiert an diesem Vorbild, inzwischen eine internationale Schulstreikbewegung entwickelt. 

In unterschiedlichen Rhythmen streiken Schüler_innen freitags, setzen den Schulbesuch aus und treten mit ihren Forderungen in die Öffentlichkeit.

Fridays for Future ist eine Graswurzelbewegung, die vorwiegend örtlich organisiert ist, aber durch verschiedene bekanntere jugendliche Persönlichkeiten in die Medienöffentlichkeit tritt, allen voran Greta Thunberg. Die Organisationsform ist nicht repräsentativ-demokratisch, sondern eine Mischung aus Basisdemokratie und überregionalen Vernetzungen, die jeweils angesichts größerer und internationaler Protestaktivitäten gebildet werden.

Aus diesen örtlichen Bewegungen, die Demonstrationen, Sit-Ins, Platzumzingelungen und Kundgebungen organisieren, entstehen begleitend internationale Protestaktivitäten mit insgesamt mehreren Millionen Teilnehmern_innen, bei denen der Kontakt über Homepages, Blogs, Twitter-meldungen etc. hergestellt wird. So wird auch zum Eintragen der verschiedenen Aktivitäten auf der F4F-Homepage weltweit aufgerufen.

Die klimapolitischen Forderungen von F4F wurden z.B. in Deutschland in Zusammenarbeit mit den Scientists for Future (S4F) konkretisiert und sind auf wissenschaftlicher Grundlage an der Durchsetzung des 1,5oC-Ziels der Pariser UN-Klimakonferenz von 2015 orientiert:
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  „Fridays for Future fordert die Einhaltung der Ziele des Pariser Abkommens und des 1,5oC-Ziels. Explizit fordern wir für Deutschland:
·         Nettonull 2035 erreichen
·         Kohleausstieg bis 2030
·         100% erneuerbare Energieversorgung bis 2035 Entscheidend für die Einhaltung des 1,5oC-Ziels ist, die Treibhausgasemissionen so schnell wie möglich stark zu reduzieren. Deshalb fordern wir bis Ende 2019:
·         Das Ende der Subventionen für fossile Energieträger
·         ¼ der Kohlekraftwerke abschalten
·         Eine Steuer auf alle Treibhausgasemissionen. Der Preis für den Ausstoß von Treibhausgasen muss schnell so hoch werden wie die Kosten, die dadurch uns und zukünftigen Generationen entstehen. Laut UBA sind das 180€ pro Tonne CO2.“ [10]
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„How dare you?!“

Inzwischen wurde Greta Thunberg von vielen Regierungschefs empfangen und konnte vor internationalen Konferenzen ihre klimapolitischen Forderungen erheben. Unvergessen bleibt ihre Rede im September 2019 vor den Vereinten Nationen, in der sie emotional den dort versammelten Delegierten und Staatenlenkern die Leviten las („How dare you?!“) und ihnen die Mitschuld an der Zerstörung des Planeten vorwarf. Ihr wurde der Alternative Nobelpreis (‚Right Livelihood Award‘) verliehen und für den Friedensnobelpreis selbst war sie aussichtsreich nominiert.

Nationale Regierungen begannen im Zuge der Jugendproteste wieder das Thema ‚Klima‘ auf die Tagesordnung zu nehmen; es kam zu ersten klimapolitischen Beschlüssen, die allerdings noch weit von den F4F-Forderungen entfernt sind.

Mit ihrem Erfolg und mit dem zumindest partiellen Erfolg der Fridays for Future-Bewegung entstanden natürlich auch Gegenbewegungen, die die Bewegung versuchen zu diffamieren, die Klimakrise leugnen und Greta Thunberg persönlich aber auch insgesamt die F4F-Bewegung angreifen.

„Unite behind the science!“: Scientists for Future (S4F)

Vor diesem Hintergrund war es wichtig, dass Wissenschaftler_innen von den Schüler_innen für eine unterstützende Zusammenarbeit angesprochen wurden. In Resonanz zur F4F-Bewegung gründete sich daher eine internationale klimapolitisch engagierte Wissenschaftler_innen-Bewegung: Scientists for Future – ausgehend von Österreich, der Schweiz und Deutschland.

 | „Scientists for Future (S4F, auch Scientists4Future) ist ein überinstitutioneller, überparteilicher und interdisziplinärer Zusammenschluss von Wissenschaftler*innen, die sich für eine nachhaltige Zukunft engagieren. Scientists for Future reagiert auf die historisch beispielslose Klima-, Biodiversitäts- und Nachhaltigkeitskrise, welche die Menschheit vor globale Herausforderungen stellt. Die notwendigen Wandlungsprozesse erfordern entschlossenes und unverzügliches Handeln auf der politischen, wirtschaftlichen und technischen, sozialen und kulturellen, wissenschaftlichen sowie der privaten Ebene. Denn die Zeit drängt. Als Wissenschaftler*innen sehen wir uns deshalb in der Pflicht, öffentlich und proaktiv die Stimme zu erheben.“ [11]

Perspektiven der Klimaprotestbewegung F4F

Im weiteren Verlauf der Klimaproteste wird es darauf ankommen, ob die Bewegung ‚Fridays for Future‘, den bereits begonnen Prozess konsequent fortsetzt und Kontakt zu weiteren Themen, wie z.B. der Friedenspolitik und der Frage der sozialen Gerechtigkeit, bekommt. Dementsprechend wären eine Vernetzung mit anderen Protestbewegungen und die Öffnung zu anderen Generationen die Voraussetzung, dass es zu einer internationalen Protestbewegung kommt, die nicht nur die Klimafrage, sondern auch die Systemfrage stellt. Der Widerstand gegen die planetare Zerstörung durch die Fossilindustrie greift das weltweite Wirtschafts- und Handelssystem an, das auf der Grundlage fossiler Energiebewirtschaftung basiert. Die Fossilindustrie wird sich nicht so leicht und ohne Widerstand die ökonomische Verwertung von Öl, Gas und Kohle aus der Hand nehmen lassen. Daher wird es darauf ankommen, dass durch politische Vernetzung, auch mit den Gewerkschaften, und internationale politische Organisationstätigkeit insgesamt der systemische Einfluss von Konzernen eingedämmt und in seiner ökonomischen und politischen Macht maßgeblich eingehegt wird.

Wichtig ist natürlich in diesem Zusammenhang auch die Bedeutung der politischen Erfahrungen für die Jugendlichen. Der Austausch mit ähnlich gestimmten Kindern und Jugendlichen, die Anfertigung von Transparenten und Schildern mit klimapolitischen Forderungen, die Entwicklung und das Erleben von Sprechchören, das Hören von Vorträgen und der Austausch hierüber sowie die örtlichen und überregionalen Organisations- und Vernetzungsaktivitäten werden ein wirksamer Einschnitt im Rahmen der politischen Sozialisation der Kinder und Jugendlichen sein, den sie so leicht nicht vergessen werden und der Auswirkungen für die nächste biografische Phase des politischen und beruflichen Engagements haben dürfte.

Nicht zuletzt sind neben den ‚Scientists for Future‘ weitere Unterstützungsbewegungen zu nennen, wie z.B. die ‚Students for Future‘, die ‚Teachers for Future‘ sowie die ‚Parents for Future‘, die deutlich machen, dass der Jugendprotest erfolgreich dabei ist, das Engagement weiterer Generationen zu erreichen.

1.5.2.3    Extinction Rebellion (XR)

Extinction Rebellion („Rebellion gegen das Aussterben“) ist ebenfalls wie Fridays for Future eine internationale Klimaprotest-Bewegung, aber mit einer deutlich geringeren Aktivistenzahl. XR-Aktivisten arbeiten z.T. bei F4F mit, halten dort auf Kundgebungen Reden und beteiligen sich an den F4F-Aktionen. Allerdings hat XR einen eigenen Bewegungskern und eine eigene Handschrift hinsichtlich ihrer Aktivität. XR unterscheidet sich des Weiteren von F4F durch das höhere Durchschnittsalter ihrer Akteure_innen. Auch die Aktionen von XR sind geplanter, ritualisierter und einstudierter. Ebenfalls zeichnen sich die Aktionen des XR-Widerstands gegen die Klimakrise durch eine Verbindung aus einer verschärft wahrgenommenen klimatischen Drohkulisse, einer Warnung vor dem klimatisch bedingten Untergang der humanen Zivilisation und größerer Emotionalität aus und bewegen sich z.T. bewusst am Rande der Legalität. Dennoch ist XR zumindest im eigenen, öffentlich immer wieder dargestellten Anspruch im Sinne friedlichen zivilgesellschaftlichen Protests konzipiert:

„Extinction Rebellion (XR) macht mit friedlichem Ungehorsam auf den drohenden Klimakollaps und das massive Artensterben aufmerksam.“ [12] Und weiter:

„Wir wollen weder in Aktionen noch anderswo verbale oder physische Gewalt anwenden. Unsere strikte Gewaltfreiheit gilt sowohl online als auch offline. Diskriminierendes Verhalten, Beschimpfungen und jegliche Art menschenfeindlicher Äußerungen und Aktionen sind für uns inakzeptabel.“ [13]

Extinction Rebellion geht ursprünglich von Organisationen in Großbritannien aus, ist inzwischen – trotz des Versuchs der Einflussnahme aus Großbritannien – vorwiegend dezentral und basisdemokratisch in Ortsgruppen weltweit organisiert. Dort wird letztendlich vor Ort bestimmt, wie eine Aktion ablaufen wird. Über internationale Kommunikation werden allerdings zentrale Aktivitäten vereinbart, wie z.B. die beiden internationalen Aktionswochen zur Blockade verschiedener Hauptstädte im Oktober 2019.

Die ökologischen und politischen Zielsetzungen von XR werden über folgendes Zitat aus der XR-Homepage deutlich:
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 „Wir sind eine internationale gesellschaftspolitische Bewegung. Unser Ziel ist es, den für das Klima nötigen umfassenden und tiefgreifenden Wandel herbeizuführen. Damit wollen wir das Risiko der Auslöschung der Menschheit und des Kollapses unserer Ökosysteme verkleinern. Mit gewaltfreiem zivilem Widerstand wollen wir unsere Regierungen dazu bewegen, den ökologischen Notstand zu erklären und den gesetzlichen Rahmen zur Umsetzung unserer Forderungen zu schaffen. Wir handeln aus Liebe zum Leben und für eine lebenswerte Zukunft aller Lebewesen auf diesem Planeten. Wir rufen alle auf, sich der Rebellion für das Überleben anzuschließen, unabhängig von Religion, Herkunft, Klasse, Alter, Sexualität, Geschlecht sowie politischer Neigung.“ 14]
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Die Aktionen von XR werden innerhalb der eher traditionalistisch orientierten Politikwissenschaft bzw. politischen Szene in der Hinsicht kritisiert, dass sie irrational legitimiert seien und auch auf Verlustängste und Trauer aufbauen sowie lediglich auf Emotionen abzielen würden. [15]

Schaut man genauer hin, entdeckt man, dass XR versucht, rationale Argumentationsmuster und den Einbezug von Emotionen in einem ganzheitlichen Sinne miteinander zu verbinden. Hierbei werden tatsächlich drastische Weltuntergangsszenarien bemüht, von denen man natürlich nicht weiß, ob sie wann und in dieser Form eintreten werden. Dennoch kann es im Sinne eines durchdringenden und auch emotional wahrnehmbaren Warnsignals durchaus sinnvoll sein, ökologische Negativszenarien für den Fall zu beschreiben, dass die Klimapolitik versagt. Es sollen nun einige typische Aktionsformen anlässlich der internationalen Klimaaktionswochen im Oktober 2019 beispielhaft skizziert werden, die über die Selbstdarstellung der Aktionen von XR deutlich machen, dass es sowohl um Information und Reflexion als auch um mehr emotionale, kreative und sinnlich erfahrbare Erlebnisse geht, wie z.B. Singen, Tanzen, Yoga, Sitzmeditation oder Pflanzen von Bäumen:

·         London: „Many trees were plantend in Westminster today.“

·         London: „instead of car engines, choirs and samba bands; instead of throngs of busy strangers, free food and open dialogue“;

·         Paris: „occupation at the Place de Chatelet“: „hold free classes on climate change by experts, and hold debates on solutions to combat our climate and ecological crisis. And of course, Parisians gather to dance“;

·         Paris: „Gazette d’Extinction Rebellion which appears almost four centuries after the first newspaper, the Gazette de France“: „revives rebels’ spirits and conversations at the end of the day, and the beautifully designed paper is enthusiastically distributed and shared around campsite“;

·         Dublin: „Stop the Shannon LNG Terminal[16] plus any new fossil fuel infrastructure!“, „a symbolic funeral of the Earth, a samba parade with a pink ‘Tell the Truth’ boat, a planting of seeds, and some passionate speeches;

·         New York: „They blocked the entrance to City Hall by staging a seated meditation, a peaceful act of resistance rooted in historic acts of civil disobedience“;

·         Berlin: „Sagt endlich die Wahrheit! War das Hauptthema am Freitag, als sich ca. 3500 Rebell*innen vor dem Bundesumweltministerium versammelt haben, um unsere erste Forderung, den „Klimanotstand. Jetzt!“ durchzusetzen. Wir haben einen Brief an das Bundesumweltministerium verlesen und das Ministerium aufgefordert, Stellung zu beziehen.“;

·         Buenos Aires, Santiago, Islamabad, Dublin, Cape Town, London: „Last year, 164 activists were killed in the Global South for trying to defend their lands from corporate extractivism. Yesterday, rebels all over the world held vigils to honour them, coming together in a global solidarity action“;

·         Santiago:Chilean rebels held a family friendly die-in at Persa Bío Bío, a blockade at Alameda Av., one of the busiest streets of the city, and a protest against the fast fashion industry in Costanera Centre Mall“;

·         Capetown: „XR Cape Town and XR Winelands took non-violent direct action yesterday against the ‘Africa Oil and Power’ conference. The die-in performance involved rebels suffocating in vibrant clouds of ‘toxic’ gas, and was staged to draw attention to the crimes against humanity and the ecocide that the conference is facilitating.“ [17]

Auch diese Aktionsformen, die – neben Kundgebungen, Blockaden, Flugblättern und Demonstrationen – durch Tanz, Yoga, Qigong, Theatersituationen und verunsichernde Rollenspiele, Verkleidungen, symbolische Handlungen wie Die-Ins und gemeinsam gesungene Lieder gekennzeichnet sind, werden von der traditionellen politischen Kaste und den mit ihr verbundenen Medien kritisch und abwertend betrachtet. Aber sollte Protest nicht auch von derjenigen Qualität getragen sein, für die man sich für die Zukunft einsetzt? Sollten Widerstand und Protest nicht auch durch Freude, sinnliche Erfahrung und Kreativität bestimmt sein? Der Transformationsdesigner und Autor Harald Welzer fordert in diesem Sinne:

„Eine soziale Bewegung für eine andere Gesellschaft muss – fast hätte ich gesagt: rocken. Nein, das ist antiquiert, das stammt aus meiner Generation, mit ‚Street fighting man‘ und so. Jetzt kommt eine neue politische Generation, eine neue Bewegung. Die wird einen neuen Sound des Politischen entwickeln, sich nach Spaß im Widerstand anfühlen, irritierend sein und insgesamt so, dass man zu denen gehören will, die diese Utopie zur Wirklichkeit machen. Sie wird selbst schon ein Vorschein jener anderen Wirklichkeit sein, die sie erreichen will. So geht’s. Und wie!“ [18]

Aktivisten von XR zeigen – parallel zu den kreativen Aktionen und z.T. verbunden damit – einen erheblichen Einsatz für die Klimaproteste und riskieren auch z.B. aufgrund von Straßenblockaden, Aktionen vor Parlamenten oder Platzbesetzungen Verhaftungen. So wurden nach eigenen Angaben von XR im Rahmen der beiden Klimaaktionswochen im Oktober 2019 ca. 550 XR-Aktivisten in London verhaftet.

Fazit: Inwieweit die Bewegung Extinction Rebellion sich nun hin zu einer basisdemokratischen und größere Teile der Bevölkerung einbeziehenden Klimaschutz-Bewegung entwickelt, ist noch nicht entschieden und bleibt abzuwarten. XR als eine „Weltuntergangssekte“ mit „Hierarchie, Intransparenz, Gurus und esoterische Ideologie satt“ (Dittfurth 2019) zu bezeichnen, scheint mir überzogen und verfehlt. Auf jeden Fall gelingt es XR, Menschen für ein z.T. auch unkonventionelles, sinnlich erfahrbares und kreatives sowie entschiedenes Engagement für den Klimaschutz zu gewinnen, das an dem Prinzip des gewaltfreien zivilen und kollektiven Widerstands orientiert ist.

1.5.2.4   Professionalisierte Umwelt-NGO’s: Greenpeace und Mighty Earth

Die längst professionalisierte NGO Greenpeace dürfte die weltweit bekannteste Umweltschutzorganisation sein. Greenpeace wurde 1971 gegründet, ist in 26 Ländern vertreten und in 55 Ländern aktiv. Greenpeace hat weltweit drei Millionen Fördermitglieder. [19]

Typisch für Greenpeace sind gewaltfreie Blockadeaktionen im Zusammenhang mit massiven Umweltschäden, die durch Konzerne oder Regierungen verursacht werden: 
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 „Gewaltfreie Aktionen gegen Umweltverbrechen
Um Probleme aufzuzeigen, auf Missstände aufmerksam zu machen und positive Veränderungen einzufordern und herbeizuführen ist für Greenpeace die gewaltfreie direkte Aktion neben anderen Formen der Öffentlichkeitsarbeit ein wichtiges Mittel. Greenpeace konfrontiert mit gewaltfreien Mitteln diejenigen, die Umweltschäden verursachen oder zu verantworten haben – wenn möglich am Ort des Umweltverbrechens. Der provozierende, kämpferische und wenn nötig konfrontative Charakter, das kompromisslose, mutige aber stets gewaltfreie Vorgehen unter vollem persönlichen Einsatz und Risiko ist das Ungewöhnliche an Greenpeace.“ [20]
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Besonders die Aktionen gegen die Atomversuche Frankreichs in der Südsee, gegen die Versenkung von Ölplattformen im Nordostatlantik, gegen das Abschlachten von Robbenbabies, gegen den Walfang und gegen das Patentieren menschlicher embryonaler Stammzellen zeigten Wirkungen und brachten Greenpeace vielfältige gesellschaftliche Anerkennung ein.

Einerseits kämpft also Greenpeace mit gewaltfreien, oftmals spektakulären Aktionen gegen Umweltzerstörung und für Klimagerechtigkeit, andererseits werden von der NGO auch technologische und konzeptionelle Vorschläge zur Verbesserung der ökologischen Situation vorgelegt:

- Greenpeace entwickelte 1993 einen FCKW-freien Kühlschrank (‚Greenfreeze)‘;
- Im Jahr 1996 zeigte Greenpeace anhand eines umgebauten serientauglichen Renault Twingo, dass die Entwicklung eines PKWs mit einem Benzinverbrauch von unter drei Litern auf 100 Kilometer möglich ist (Sparauto ‚SmILE‘);

- Greenpeace legte 2015 einen Fahrplan zur Klimaneutralität am Beispiel Deutschlands vor, ohne dass es hierbei zu Versorgungsengpässen komme (‚Der Plan‘).

‚Der Plan‘ besteht aus einem Energieszenario, in dem berechnet wird, wie aus einer Kombination aus Energieeinsparung, regenerativer Energieversorgung, verbesserten Stromnetzen und Speichermöglichkeiten bei gleichzeitigem Ausstieg aus der Atomkraft und der Fossilindustrie bis 2050 eine vollständige Versorgung mit Strom und Wärme klimaneutral gewährleistet werden kann. [21]

Obwohl Greenpeace damit wirbt, unabhängig von Konzernen zu sein, wurde Greenpeace dafür kritisiert, mit einem Teil ihrer jährlich eingenommenen Millionen Euro Fördergelder auf den Finanzmärkten zu spekulieren. Es wird daher gefordert, das überschüssige Geld verstärkt in ökologische Projekte zu investieren. [22]

Den einen geht Greenpeace nicht radikal genug vor, so dass es zu Abspaltungen kam (z.B. ‚Robin Wood‘ oder ‚Sea Shepherd Conservation Society‘), anderen geht Greenpeace mit ihren Aktionen zu weit. Auch wird von fossilindustrieller Seite versucht mit der diffamierenden Öffentlichkeitsarbeit einer eigens hierfür gegründeten NGO, der von ExxonMobil gegründeten Organisation ‚Public Interest Watch‘, Greenpeace den Status der steuerlichen Begünstigung abzuerkennen.

Kritik entwickelt sich auch an den als undemokratisch empfundenen Greenpeace-Strukturen, im Rahmen derer die weltweit 2400 Mitarbeiter_innen aktiv sind. Wichtige Entscheidungen würden vor allem in einem kleinen nicht gewählten Führungszirkel gefällt, die Aktivisten vor Ort hätten zu wenig Mitbestimmung. Greenpeace hält dagegen, dass die Greenpeace-Aktivitäten schnelle Entscheidungen und ein hohes Maß an Geheimhaltung im Vorfeld der Aktion benötigen würden.[23]

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Greenpeace – trotz der an der NGO geübten Kritik – im Rückblick ein wichtiger Faktor im Kampf gegen Umweltverbrechen von Konzernen und Staaten war. Ohne die Aktivitäten von Greenpeace wäre der kommerzielle Walfang nicht weitgehend beendet worden, würden Ölplattformen weiterhin ungehindert im Atlantik versenkt werden, würden Atomwaffentests in einem größeren Ausmaß durchgeführt werden oder würde die Einleitung von Textilchemikalien in Gewässer ärmerer Weltregionen unentdeckt bleiben. Auch haben sicherlich Bewegungen, wie z.B. Extinction Rebellion oder Foodwatch, hinsichtlich ihrer Aktionsformen von der direkten und wirksamen Aktivitätskultur der NGO Greenpeace gelernt.

Mighty Earth

Insbesondere in den USA haben sich viele ehemals durchaus im Sinne des Schutzes der ökologischen Lebensgrundlagen engagierten Umweltschutz-NGOs von ihren ursprünglichen Zielen weit entfernt. Naomi Klein berichtet detailliert von den finanziellen Zuwendungen insbesondere von Seiten der Fossilindustrie, die hierzu geführt hätten. Nicht nur würden einige Umweltorganisationen das Greenwashing, also die ökologische Etikettierung für umweltschädliches Verhalten, von zahlenden Konzernen betreiben, sondern sie würden selbst zum Teil in die Fossilindustrie investieren. Hier geht es also um Posten, Einnahmen und verfügbares Kapital. [24]

Im Gegensatz hierzu stellt die NGO ‚Mighty Earth‘ eine sehr wirksam arbeitende amerikanische Umweltschutzorganisation dar, die sich thematisch umfassend ökologischen Problemstellungen engagiert annimmt:

„Mighty Earth is a global campaign organization that works to protect the environment. We focus on the big issues: conserving threatened landscapes like tropical rainforests, protecting oceans, and solving climate change.“ [25]

Mit ihren kritischen Reportagen deckt Mighty Earth schonungslos ökologische Missstände auf, die durch internationale Konzerne verursacht wurden:

·         Soziale und ökologische Probleme bei dem Betreiben von Gummi-Plantagen im südlichen Kamerun;

·         Die Analyse und Kennzeichnung des Konzerns ‚Cargill‘ als „worst company in the world“;[26]

·         Die Fortsetzung der Entwaldung in Westafrika für Kakao-Plantagen;

·         Der ökologische Kohle-Fußabdruck in der Stahlproduktion;

·         Das Versagen der Lebensmittelindustrie in Bezug auf die Klimakrise;

·         Entwaldung, Brandstiftung und Verstoß gegen die Menschenrechte in Argentinien und Paraguay für die Fleischproduktion;

·         Kritik an der Erzeugung von Biodiesel. [27]

Hierbei versucht das von einem CEO und einem Chairman geleitete Team von Mighty Earth oftmals zunächst nach der Erstellung eines kritischen Reports den betroffenen Akteur über das Ergebnis seiner Recherchen zu informieren. Gleichzeitig wird eine Frist angegeben, das schädigende Verhalten einzustellen. Erfolgt dies nicht, wird der Bericht international mit allen Imagefolgen für den betroffenen Konzern veröffentlicht – wohl fair genug …

Zusammenfassung: Professionalisierte NGO`s, wie z.B. Green Peace oder Mighty Earth, stellen ein notwendiges Kontrollorgan und Regulativ dar, um in der Weltgemeinschaft einen sozialökologischen Weg einschlagen zu können. Insbesondere ihr Mut und ihr ethisch fundiertes Reflexionsniveau verbunden mit in der Öffentlichkeit wahrgenommenen Aktionen gegen die Verursacher sozialökologischer Schäden – seien es Regierungen oder multinationale Konzerne – sind positiv zu bewerten. Besonders wichtig ist ihre finanzielle Unabhängigkeit von Unternehmen der Fossilindustrie, die bereits so manche Umweltschutzorganisation, insbesondere in den USA [28], okkupiert und zu einem angepassten Verhalten und zu einer durch ‚Greenwashing‘ eintretenden Verlängerung des ökologischen Extraktivismus instrumentalisiert haben.



Anmerkungen Kap. 1.5.2.1 - 1.5.2.4

[1] Klein (2019, 457).[
2]
Vgl. Klein (2019, 454ff.).
[3] Vgl. die Aufstellung der NGO ‚Food & Water Watch‘ zu den Bankenbeteiligungen unter https://www.foodandwaterwatch.org/news/who's-banking-dakota-access-pipeline, 9.6.2016, 18.11.2019.
[4] Vgl. https://www.tagesspiegel.de/politik/donald-trump-der-stille-weltkrieg-gegen-die-indianer/19303758.html, 25.1.2017, 18.11.2019.[
5]
Eryn Wise im Gespräch mit Jutta Schilly: https://www.derstandard.de/story/2000078640313/anti-pipeline-aktivistin-als-waeren-wir-aus-dem-krieg-gekommen, 26.4.2018, 18.11.2019.
[6] Vgl. hierzu https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-02/dakota-access-pipeline-oel-north-dakota-proteste-standing-rock-raeumung, 23.2.2017, 18.11.2019.
[7] In: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-09/keystone-xl-usa-indigene-staemme-pipeline-klage-sioux, 11.9.2018, 18.11.2019.
[8] Eryn Wise im Gespräch mit Jutta Schilly: https://www.derstandard.de/story/2000078640313/anti-pipeline-aktivistin-als-waeren-wir-aus-dem-krieg-gekommen, 26.4.2018, 18.11.2019.
[9] In: https://www.fridaysforfuture.org/, o.D., 21.10.19.
[10] https://fridaysforfuture.de/forderungen/, o.D., 21.10.19.
[11] In: https://www.scientists4future.org/about/charta/, 9/2019, 23.9.19.
[12] Leitsatz auf der Homepage von XR: https://extinctionrebellion.de/, o.D., entnommen 13.10.2019.
[13] In: https://extinctionrebellion.de/wer-wir-sind/, o.D., entnommen 13.10.2019.
[14] In: https://extinctionrebellion.de/wer-wir-sind/, o.D., 13.10.2019.
[15] Vgl. z.B. die Auseinandersetzung um den TAZ-Beitrag von Anke Richter (2019) über XR und die dazu online veröffentlichten Kommentare in: https://taz.de/Klimaproteste-als-Befreiung/!5629071/, 12.10.19, 14.10.19 sowie Ditfurth (2019).
[16] Die irische Regierung hat vor, ein Fracking-Terminal an der Flussmündung des Shannon zu bauen, um US-Fracking-Gas beziehen zu können.
[17] Vgl. die E-Mails von XR versendete Info-Mails vom 12. u. 13.10.19 sowie auf der XR-Homepage https://rebellion.earth/act-now/events/news/, o.D., 16.10.19.
[18] Melzer (2019, 294).
[19] Vgl. https://www.greenpeace.de/ueber-uns/greenpeace-stellt-sich-vor, o.D., 25.10.19.
[20] In: https://www.greenpeace.de/ueber-uns/greenpeace-stellt-sich-vor, o.D., 25.10.19.
[21] Vgl. Greenpeace (2015).
[22] Vgl. https://web.archive.org/web/20140628121202/http://www.ndr.de/kultur/
Greenpeace-rettet-Geldverbrennungsanlagen,dunkelkammer164.html; 16.6.2014, 25.10.2019.[23] Vgl. zum Überblick der Kritik an Greenpeace mit differenzierten Quellenbelegen https://de.wikipedia.org/wiki/Greenpeace#cite_note-77, 18.10.2019, 25.10.2019.
[24] Vgl. Klein (2019).
[25] http://www.mightyearth.org/, o.D., 23.10.19.[
26]
Vgl. hierzu im vorliegenden Buch das Kap. 1.1.1 mit dem Report über den multinationalen Konzern Cargill.
[27] Vgl. die ausführlichen Berichte auf http://www.mightyearth.org/reports/, o.D., 23.10.19.[28] Vgl. die Beispiele korrupter Umwelt-NGO‘s, die Naomi Klein aufführt (Klein 2019, 233ff.).

1.5.2.5  Die Letzte Generation

 

Kriminalisierung von Protest. Angesichts der vorgenommenen Razzien und des Vorwurfs der Bildung einer kriminellen Vereinigung gegen die Letzte Generation stellt sich die Frage, ob sich der Staat nicht in seinen Maßnahmen selbst delegitimiert.

Die Letzte Generation ist eine Umweltorganisation in Deutschland und Österreich, die aufgrund der fortschreitenden Klimazerstörung und anderer Umweltbelastungen nicht mehr bereit war, traditionelle Formen des Protests wahrzunehmen, wie z.B. Demonstrationen und Kundgebungen, sondern für die Gesellschaft unangenehmere Protestformen entwickelte. Sie sind der Auffassung, dass sie die letzte Generation seien, die noch etwas gegen die bereits eintretende Klimakatastrophe und gegen weitere Formen der Umweltzerstörung unternehmen könnten. Sie wurden insbesondere bekannt durch die Behinderung des Nahverkehrs durch das Hinsetzen auf die Verkehrswege und das Ankleben der Hände. Wenn Autofahrer sie nicht überfahren wollten, mussten sie ihr Fahrzeug anhalten. Es kam zu Staus, zu langen Wartezeiten und zum Teil wütenden Reaktionen der Autofahrer bis hin zu Gewalttätigkeiten der Aufgehaltenen. 
Die Polizei brauchte jeweils eine längere Zeit, um die Handflächen wieder von dem Asphalt zu lösen und die Protestierenden der Letzten Generation wegzutragen, bis die Sitzblockade beendet war und sich die Staus wieder auflösten. 
Auch wurden Gemälde in Kunstgalerien mit Farbattacken auf die Glasscheiben symbolisch beschmutzt. Ein Hungerstreik wurde erfolglos abgebrochen. 

Razzien gegen die Letzte Generation 

Waren es anfangs nur wenige jüngere Menschen, denen die Proteste von Fridays for Future nicht mehr ausreichten, so wurden es immer mehr Protestierende, die sich dieser Bewegung anschlossen, entstanden Büros und finanzielle Unterstützungssysteme.
Wurden bislang nur vereinzelte ordnungs- und strafrechtliche Maßnahmen gegen aktive Mitglieder der Letzten Generation verhängt, wird nun, z.B. von der bayrischen Landesregierung und der nachgeordneten Strafverfolgungsbehörden der Staatsanwaltschaft sowie in Brandenburg und Thüringen, erwogen, gegen Mitglieder der Letzten Generation Anklage mit dem Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung zu erheben. [ 1] In diesem Kontext erfolgten bereits Ende Mai 2023 unter Leitung der bayrischen Staatsanwaltschaft Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmungen von Bankkonten,  Sperrung der Homepage, Beschlagnahmung von Computern und Datenmaterial in sieben Bundesländern, was wiederum Protestaktionen, wie Protestmärsche von Unterstützern, in mehreren Städten auslöste. So fand Ende Mai 2023 ein Protestmarsch von ca. 400 Unterstützern der Letzten Generation in Berlin statt. Der Protest verlief durchweg friedlich und es wurden Briefe an das Kanzleramt überreicht. Zwei ältere an der Kundgebung Teilnehmende trugen ein Plakat mit der Aufschrift „Unsere Kinder sind keine Verbrecher“. [2]  In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass die Linkspartei in Bayern Strafanzeige gegen Mitglieder der bayrischen Landesregierung und der bayrischen Staatsanwaltschaft gestellt hat. Es handele sich hierbei um den Tatbestand der Verleumdung und Beleidigung, wenn z.B. die Homepage der Letzten Generation mit dem Vorwurf der Bildung einer kriminellen Vereinigung gesperrt werde. [3]
Auf einen Spendenaufruf im Anschluss an die Razzien beteiligten sich spontan  6000 Menschen an der Aktion und spendeten innerhalb von zwei Tagen 300.000€ an die Organisation Letzte Generation. [4]
58 Prozent der deutschen Bevölkerung halten hingegen in einer Umfrage die Razzia gegen die Letzte Generation für richtig, immerhin 37 Prozent fanden das Vorgehen für überzogen. [5] 
Carl-Christian Porsch, ein Aktivist der Letzten Generation, kritisiert die Razzien gegen Mitglieder der Letzten Generation mit folgenden Worten: 

„Polizisten und Polizistinnen standen morgens mit Waffen in ihrer Wohnung. Ich empfinde das als sehr unverhältnismäßig. Ich verstehe nicht, warum wir kriminalisiert werden. Wir setzen uns doch nur für den Planeten ein. Andere, die unsere Zukunft verheizen, kommen ungeschoren davon.“  [6] 

Zur Frage des strafrechtlichen Vorgehens gegen Klimaproteste 

Der Vorwurf einer kriminellen bzw. sogar terroristischen Vereinigung stellt m.E. eine Zuspitzung der Auseinandersetzungen dar, die hochproblematisch ist. Vorwiegend jüngere Menschen, deren Zukunft offensichtlich bedroht ist, versuchen auf die eintretende Klimakatastrophe mit immer noch friedlichen Mitteln und der Verneinung von Gewalt aufmerksam zu machen und werden von denen, die interessengeleitet nicht die notwendigen Maßnahmen hiergegen ergreifen, möglicherweise als Terroristen eingestuft und verfolgt. Handelt es sich nicht eher um den Terrorismus der die Umwelt zerstörenden Generationen, die gegenwärtig an der Macht sind und generationenegoistisch handeln? Müssten nicht Fossilkonzerne, umweltzerstörende Staaten und Institutionen,  Kriegswaffen produzierende und an hegemoniale Kriege führende Staaten Waffen ausliefernde Konzerne und dies befürwortende Politiker vor Gericht gestellt werden? Handelt es sich hier nicht um eine Umkehrung der Verhältnisse – die Opfer werden verfolgt, die eigentlichen Täter stellen sich als moralisch in Talkshows hin, wenn sie rechtsstaatliche Strukturen für die Zerstörung der Biosphäre missbrauchen.
Es ist des Weiteren sicherlich nicht abwegig, die nun gerade von der bayrischen Landesregierung und insbesondere dem bayrischen Ministerpräsidenten Söder geforderte rechtsstaatliche Strenge gegen die Letzte Generation in einem Zusammenhang mit den am 8.10.2023 stattfindenden Landtagswahlen zu betrachten. Es wäre ein weiterer rechtsstaatlicher Skandal, wenn regierende Politiker mit eher populistisch konnotierten Forderungen Wählerstimmen zu Lasten einer angemessenen Einordnung rechtswidriger aber auch an einem übergeordneten, durchaus vertretbaren Ziel orientierter Aktionen junger Menschen zu gewinnen suchen.
Sicherlich ist es fraglich, ob durch massive Verkehrsbehinderungen und der damit verbundenen Belastungen für die Verkehrsteilnehmer Unterstützer für das ökologische Anliegen gewonnen werden können. Aber vergreift sich der Staat nicht in den Mitteln, wenn er Ordnungswidrigkeiten und Straftaten, wie das friedliche Blockieren einer Straße, die im Interesse zukünftiger Generationen als Form des politischen Protests begangen werden, mit Aktivitäten einer kriminellen Vereinigung gleichsetzt? So stellt der Soziologe und Rechtsextremismusforscher Matthias Quent fest, dass die Mitglieder der Letzten Generation „auffällig friedlich“ seien und sich nicht einmal wehren würden, wenn sie von aufgebrachten Autofahrern körperlich angegriffen und verprügelt würden.
Des Weiteren sind die Verkehrsblockaden auch nicht so weit von den Streikmaßnahmen einzelner Eisenbahngewerkschaften oder der Flugpiloten entfernt -  ohne dies gleichsetzen zu wollen. Einerseits geht es dort um das gesetzlich verbriefte Streikrecht. Andererseits werden hier Verkehrsblockaden mit durchaus vorhandener Nötigung der Passagiere u.a. zur Steigerung der eigenen materiellen Vergütungsoptionen genutzt, während die Letzte Generation nicht für einen höheren eigenen Lohn den Verkehr blockiert, sondern ihre ebenfalls friedlichen Aktionen im berechtigten Interesse ihrer und kommender Generationen an einem zu erhaltenen Planeten durchführt.
Auch geraten Landesregierungen, wie z.B. in Bayern, in Verdacht mit der übertriebenen Strenge gegen Klimaschützer von ihrer eigenen Vernachlässigung des Klimaschutzes abzulenken zu wollen. So ist liegt Bayern hinten beim derzeitigen Bau von Windrädern. Im ersten Quartal des Jahres 2023 (Stand: Mitte März) wurde beispielsweise dort noch kein einziges Windkraftwerk genehmigt. Im flächenmäßig halb so großen Nordrhein-Westfalen lagen im gleichen Zeitraum bereits 20 Genehmigungen vor. Gleichzeitig kehrt Bayern zunehmend zu Kohle und Gas zurück und die Landesregierung fordert den Weiterbetrieb der Atomkraftwerke. [7] 


Gewünschte Radikalisierung? 

Und: Wenn tatsächlich der Versuch die Letzte Generation als kriminelle oder sogar terroristische Organisation einzustufen und deren Mitglieder und Unterstützer in schwerster Form zu kriminalisieren sich durchsetzen würde, würde nicht möglicherweise ein Teil der Mitglieder – in dieser Weise kriminalisiert -  in den Untergrund gehen und beginnen tatsächlich umweltterroristische Handlungen zu begehen? In diesem Fall hätte der Staat durch ein strafrechtliches Überreagieren sich seine eigene ökoterroristische Organisation geschaffen. In diesem Sinne formuliert Quent:
„Soziale Bewegungen radikalisieren sich häufig, wenn sie sich isoliert und in den Untergrund gedrängt fühlen. Razzien dieser Art können dazu führen, dass künftig klandestine Aktionen durchgeführt werden. Es ist gut möglich, dass die Kriminalisierung innerhalb der Klimabewegung zu Radikalisierung führen kann und dass diese auch im Interesse ihrer politischen Gegner ist.“ [8]
Hier könnte somit von interessierten Kreisen versucht werden, ein Exempel zu statuieren, das dann auch für Klima-Bewegungen wie Fridays for Future und Extinction Rebellion einschüchternd wirken soll. Hierbei sollte man bedenken, dass eine derartige Wirkung durchaus bereits eintreten kann, wenn man bedenkt, dass beispielsweise in Bayern eine Teilnahme an Klebeaktionen bereits zu 30 Tagen Präventivgewahrsam im Gefängnis führen kann, bevor eine ordentliche Anklageerhebung oder gar ein ordentlicher Prozess stattfindet. 

Auch der Rechtswissenschaftler Robin Mayer hält die staatlichen Maßnahmen und den Vorwurf einer kriminellen Vereinigung für völlig überzogen und sie würden vor allem verfassungsrechtlichen Urteilen widersprechen:
„Das Bundesverfassungsgericht hat Blockadeaktionen als zulässige Demonstrationsform und von der Versammlungsfreiheit geschütztes Verhalten bestätigt. Und zwar selbst dann, wenn die Blockade beabsichtigt und nicht nur Nebenfolge ist. Es steht dem Staat nicht zu, von diesem geschützten Verhalten durch Repressionen abzuschrecken, indem er sie als Zweck zur Begehung von Straftaten wertet. Die Wahrnehmung eines Grundrechts kann nicht gleichzeitig einen Straftatbestand verwirklichen. Nach wie vor zeigt sich, dass das Strafrecht als Antwort auf zivilen Ungehorsam völlig ungeeignet ist.“ [9]
Hier gerät der Staat in den begründeten Verdacht sich selbst zu delegitimieren, wenn er rechtsstaatlich widersprüchlich und unangemessen hart reagiert und der Letzten Generation die Bildung einer kriminellen Organisation vorwirft sowie Mitglieder nachts mit vorgehaltenen Waffen aus ihren Betten holt. Dieses überharte Reagieren ist vielleicht politisch opportun und bringt Wählerstimmen. Aber die politischen Schäden sind groß, ohne dass dies im Kontext einer politischen Ordnung mit einem demokratischen Anspruch notwendig wäre. 

Lösungsperspektiven

Wäre es daher nicht so viel richtiger – anstatt zivilgesellschaftlichen Klimaprotest zu kriminalisieren -,  in vernünftiger Reaktion auf die Proteste und das Anliegen der Letzten Generation zu reagieren und mit ihren Mitgliedern und Sprechern wiederholt und auch auf Augenhöhe zu sprechen und gemeinsame Wege aus der eintretenden Klimakatastrophe zu suchen? Die jungen  Menschen, die sich dort zivilgesellschaftlich organisieren und engagieren, sind gesprächsbereit und haben konkrete ökologische Forderungen. Sie fordern z.B. im direktdemokratischen Sinne in einem offenen Brief an den deutschen Bundeskanzler einen – zufällig gelosten – Gesellschaftsrat, der über geeignete Maßnahmen gegen die Klimakatastrophe und die Umweltzerstörung berät.  Dann würden sie ihren Protest beenden. [10]  Auch fordern sie entschiedenere Maßnahmen zur Reduktion von Klimagasen und zur Verkehrswende, wie z.B. ein Tempolimit oder ein 9-Euro-Ticket für die Bahn. Ein paar Milliarden weniger für die Anschaffung von Waffen könnten dies sicherlich finanzieren.
Auf ihrer inzwischen wieder freigeschalteten Homepage schreibt die Letzte Generation selbst: 

„Die Regierung hat sich in den Koalitionsvertrag geschrieben: ‚Wir werden Bürgerräte zu konkreten Fragestellungen durch den Bundestag einsetzen und organisieren.‘ Wir nehmen sie beim Wort, denn Vorbilder aus Frankreich, Irland, Belgien zeigen, dass das Format Menschen in ihrer Anstrengung vereint und konstruktive Ansätze hervorbringt. 

Wir fordern die Bundesregierung auf, einen Gesellschaftsrat einzusetzen und seine Beschlüsse umzusetzen. Wir fordern, dass wir, die 99 Prozent, endlich mitentscheiden dürfen über den Erhalt unserer Lebensgrundlagen. Denn es hat sich gezeigt: immer da, wo Bürger:innen informiert über ihr Schicksal mitentscheiden dürfen, wartet eine bessere, sicherere, gerechtere Welt auf uns.“  [11] 

Vielleicht hört man daher ihnen einmal zu und korrigiert ggf. dann auch staatliches, ökonomisches und auch individuelles Verhalten, das die Biosphäre dieses Planeten und die Lebensbedingungen der nächsten Generationen zerstört. Immerhin waren in einer 2022 durchgeführten repräsentativen Umfrage von Infratest dimap 82 Prozent der deutschen Bevölkerung der Auffassung, dass es einen großen oder sogar sehr großen Handlungsbedarf hinsichtlich des Klimaschutzes gäbe. Nur 4 Prozent waren der Auffassung, dass die bisherigen Klimaschutzaktivitäten nicht verändert werden müssten. [12]
Bedenkenswert ist auch die Forderung nach dem Schutz von Klimaaktivisten im Anschluss an die Razzien bei der Letzten Generation von Seiten der UN. Antonio Gutèrres ließ seinen Sprecher ausrichten, Klimaschützer müssten sich einerseits an staatliche Gesetze halten, andererseits seien sie aber auch zu schützen - so der Sprecher des UN-Generalsekretärs:
"Klimaaktivisten – angeführt von der moralischen Stimme junger Menschen – haben ihre Ziele auch in den dunkelsten Tagen weiterverfolgt. Sie müssen geschützt werden und wir brauchen sie jetzt mehr denn je." [13]
Die Soziologie-Professorin Gesa Lindemann ordnet die Aktivitäten der Letzten Generation oder von Ende Gelände als den legitimen Versuch junger Menschen ein, für ihre Zukunft gegen ökologische Gewalt, die strukturell verankert sei, zu kämpfen. Es handele sich bei den massiven Verfolgungen der Letzten Generation um eine völlig überzogene staatliche Reaktion, die gegen das die ökologische Arbeitsverweigerung der Bundesregierung anprangerte BVerG-Urteil stehe und somit eine Täter-Opfer-Verkehrung darstelle:

„Die Aktionen von Letzte Generation oder Ende Gelände tun nichts anderes, als die deutsche Politik daran zu erinnern, dass das BVerfG sie dazu verpflichtet, der ökologischen Gewalt nach innen und in der internationalen Politik entgegenzutreten. Diese Aktivist:innen kämpfen nicht nur für den Schutz des Klimas, sondern faktisch auch für den Schutz der Verfassung. Nur, wenn die ökologische Gewalt wirksam bekämpft wird, lässt sich die moderne verfassungsbasierte Ordnung des Vertrauens in Gewaltlosigkeit erhalten.“  [14]
Sie fordert dementsprechend den zivilgesellschaftlichen Widerstand innerhalb des Nationalstaats gegen derartige Täter-Opfer-Verkehrungen und illegitime staatliche Übergriffe und den damit verbundenen Versuch, diesen auch international gegen alle Formen ökologischer Gewalt zu mobilisieren, ein.
Inzwischen (Stand 2024) hat die Letzte Generation ihre Agenda umgestellt. Aufgrund der zunehmenden Kriminalisierung und Strafverfolgung aufgrund der Klimaklebe-Aktionen, will die Organisation zukünftig über andere Formen zivilgesellschaftlichen Ungehorsams auf die Klimasituation und die ungenügenden Maßnahmen der Politik aufmerksam machen. Auf X postete die Letzte Generation die neue Agenda [15] :

·         „Ungehorsame Versammlungen statt Kleben&Straßenblockaden;

·         Proteste an Orten der Zerstörung, direkte Konfrontationen mit Politiker:innen"

 


Anmerkungen Kap. 1.5.2.4:

[1] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/letzte-generation-umfrage-kriminelle-vereinigung-100.html, 25.5.2023, 1.6.2023.
[2] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2023-06/klimaschutzbewegung-letzte-generation-demonstriert-in-mehreren-staedten?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F, 1.6.2023, 1.6.2023.
[3] https://www.sueddeutsche.de/bayern/letzte-generation-anzeige-razzia-soeder-linke-1.5892616, 31.5.2023, 1.6.2023.
[4] https://www.telepolis.de/features/Letzte-Generation-Mehrheit-findet-Razzien-richtig-9092956.html, 31.5.2023, 1.6.2023.
[5] https://www.telepolis.de/features/Letzte-Generation-Mehrheit-findet-Razzien-richtig-9092956.html, 31.5.2023, 1.6.2023.
[6]  Aus einem Interview in der Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen (HNA), vom 3.6.2023, S.7.
[7] Vgl. https://www.erneuerbareenergien.de/technologie/onshore-wind/2023-noch-keine-einzige-genehmigung-fuer-neue-windturbine-bayern, 17.3.2023, 3.6.2023.

[8] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/letzte-generation-razzia-radikalisierung-soziologe-quent-100.html, 24.5.2023, 1.6.2023.
[9] https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/letzte-generation-die-friedlichen-kriminellen, o.D., 1.6.2023.
[10] https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/klimaschutzgruppe-letzte-generation-demonstrationen-klima-100.html, 31.5.2023, 1.6.2023.
[11]  https://letztegeneration.org/erklaerung/, o.D., 5.6.2023. 

[12] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1252503/umfrage/umfrage-zum-handlungsbedarf-im-klimaschutz/, 5.5.2023, 1.6.2023.
[13] https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-05/razzia-klimaschuetzer-un-schutz-antonio-guterres#:~:text=Die%20Welt%20brauche%20Klimasch%C3%BCtzer%20mehr,Er%20forderte%20friedlichen%20Protest, 26.5.2023, 1.6.2023.
[14] Gesa Lindemann: Die ökologische Gewalt fordert längst ihre Opfer. In: https://www.zeit.de/kultur/2022-11/klimawandel-oekologische-gewalt-aktivismus-klimaschutz, 11.11.2022, S.8.
[15] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/letzte-generation-klimakleber-wollen-nicht-mehr-kleben-a-2bd07ac8-52a6-4f00-abca-207a5c63d530, 29.1.2024, 2.4.2024. 



 
 

Extra:

Über den Versuch der EU-Kommission, Atomkraftwerke und mit fossilem Gas betriebene Kraftwerke grün zu waschen bzw. als nachhaltig auszuweisen.

Ist der Slogan "Atomkraft? – Nein danke!" jetzt zukunftsfeindlich? 

In Telepolis: https://www.heise.de/tp/features/Ist-der-Slogan-Atomkraft-Nein-danke-jetzt-zukunftsfeindlich-6346228.html, 3.2.2022, 5.2.2022 .

Video zu 10 kontroversen Aspekten gesellschaft-licher Neuordnung im selbstdialogischen Verfahren

1.6      Kulturelle Krisen

1.6.1 Kultur und Kunst im Kapitalismus


Zum Begriff der Kultur

Etymologisch kann der Begriff ‚Kultur‘ aus dem Lateinischen abgeleitet werden (colere = pflegen). Das hiervon abgeleitete ‚Cultura‘ bezieht sich auf die Pflege einer landwirtschaftlichen Fläche und die Viehzucht. Letztendlich bezieht sich dieser Begriff daher auf das, was den Menschen in seiner Lebenserhaltung und dem gesellschaftlichen Umgang mit der Natur von den Tieren unterscheidet. Kultur bezieht sich auf die vergesellschaftete Menschwerdung, auf Produktion und Reproduktion. Auch heute noch spricht man von der Kultivierung einer natürlichen Fläche und meint z.B. das Entfernen von Steinen und das Herausreißen von Wurzeln, so dass dort Ackerbau möglich wird. Erst im 17. Jahrhundert wandelte sich die Verwendung des Kulturbegriffs. ‚Cultura animi‘ meinte dann auch die „Erziehung zum geselligen Leben, zur Kenntnis der freien Künste und zum ehrbaren Leben“. [1]

Bereits dieser Bedeutungswandel zeigt die Doppeldeutigkeit des Kulturbegriffs, die zu einer Unterscheidung dann zwischen einem engen und einem weiten Kulturbegriff führt.

Kultur in einem erweiterten Sinne bezieht sich nicht nur auf das klassische Segment, wie z.B. Theater, Musik und bildende Kunst, sondern umfasst alle gesellschaftlichen Leistungen, die vergangene, gegenwärtige und zukünftige Generationen hervorbringen. Hierzu gehören neben der Kunst u.a. die Sprache, alle Wissenschaften, die Pädagogik und Didaktik, die Religionen, die beruflichen Fähigkeiten und Fertigkeiten in verschiedenen Berufsfeldern, die Technikentwicklung, die Kultur der Konfliktaustragung, der kulturelle Umgang mit natürlichen Ressourcen, aber auch die digitale Kommunikation und der Umgang mit Künstlicher Intelligenz (KI).

Was Natur aus sich heraus hervorbringt soll nicht als Kultur verstanden werden. Kultur entsteht erst durch den menschlichen Zugriff auf die Natur im Versuch immer besser zu überleben (erweitertes Kulturverständnis) und künstlerisch zu gestalten (enges Kulturverständnis).

Der kulturelle Zugriff des Menschen auf die Natur ist längst an seine Grenze gekommen. Vor allem zwei Tendenzen führen zu einem Umgang des Menschen mit der Natur, welche die Lebensvoraussetzungen des Menschen auf der Erde zerstören. Es ist zum einen der gierige extrahistische Zugriff des Menschen auf die natürlichen Ressourcen und zum anderen die gleichzeitige Vermehrung seiner Gattungsart. Die Kombination aus weitgehend ungebremster kapitalistischer Inwertsetzung von Natur und wachsendem Bevölkerungsdruck überfordert die Resilienz des Planeten und ist dabei, die Zukunftschancen der nächsten Generationen zu gefährden bzw. bereits zu vernichten.

Es stellt sich daher die zentrale Frage, wie es gelingen kann zu einer kulturellen Umkehr in Produktion und Reproduktion zu kommen, welche die zukünftigen Generationen vor der Extrahismus-Kultur der gegenwärtig lebenden Generationen schützt.

Das vorliegende Buch versucht hier ausgehend von einer kritischen Analyse zahlreiche Antworten auf die Frage nach einer neuen präventiven und heilenden Kultur des Schutzes zukünftiger Generationen vor dem Generationenegoismus gegenwärtig lebender Menschen zu geben.

Wir befinden uns in einer schweren kulturellen Krise, die sich aufgrund der Merkmale eines die Natur in Wert setzenden und verwertenden privatwirtschaftlichen Systems zunehmend auf eine globale Situation hin bewegt, die nicht mehr lebensweltlich kontrollierbar ist.

Dies ist der zentrale Aspekt der kulturellen Menschheitskrise, die es in der Zusammenarbeit der Völker und über das zivilgesellschaftliche Engagement von Milliarden Menschen zu lösen gilt. Die Rolle der Vereinten Nationen hierbei im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Bewegungen und Organisationen wird ausführlich im Kapitel 5 dieses Buches bearbeitet.

Im Folgenden soll nun auf einige Aspekte im engeren kulturellen Verständnis hingewiesen werden: 


Zu den gesellschaftlichen Voraussetzungen der Kultur als Kunst

Kultur in einem engeren Sinne ist in einer Gesellschaft, in der kulturelle Leistungen einem Verwertungszwang unterworfen sind, von einem Anpassungsdruck an den durchschnittlichen Publikumsgeschmack unterworfen. Wenn kulturelle Leistungen im klassischen kulturellen Segment von Theater und Film, Konzerten, Dichtung und Schriftstellerei, Musik, Tanz und Bewegungskultur, bildender Kunst erst dann zur Existenzsicherung für die Künstler_innen werden können, wenn ihre Performanz zur Ware wird und sie finanziell verwertbar ist, sind dieser Art von Kultur ihre systemischen Grenzen gesetzt. Kunst wird erst dann anerkannt, wenn sie im Kapitalismus als Ware einen möglichst hohen Preis erzielen kann. Auch wird Kunst auf dem Kunstmarkt zum Investment und Spekulationsobjekt. Bilder, die Preise über 100 Millionen Euro oder Dollar erzielen, sind Ausdruck dieser kulturellen Fäulnistendenz.

Horkheimer/ Adorno entwickeln 1944 eine radikale Kritik der Kultur- und Unterhaltungsindustrie, die in einigen Elementen noch heute aktuell ist. Sie sehen die Verbindung von Arbeit und Freizeit, von Produktion und psychischer Reproduktion im Zuge kultureller Angebote. Kultur im Spätkapitalismus habe die Funktion, die Entfremdung der Arbeitsprozesse auszuhalten und am nächsten Tag sich durch Ausbeutung gekennzeichneten Arbeitsstrukturen erneut – abgelenkt und erholt –  auszusetzen.

Die Kultur im Sinne eines engen Kulturbegriffs ist dem Warencharakter und dem Verwertungszwang von Qualifikationen und Kompetenzen im Kapitalismus unterworfen.

Den_die ‚freien Künstler_in‘ in diesem Sinne gibt es nicht, da alle, die sich über ihre Kunst ernähren wollen, Kunden finden und ihre Qualifikation erfolgreich verkaufen müssen. Hierbei ist die kulturelle Kompetenz den Strukturen und Zwängen unterworfen, die inzwischen in einer weitgehend neoliberalisierten Gesellschaft gelten.

Auch unterliege die Kultur einer zum Teil offenkundigen, z.T. subtilen Uniformierung – so Horkheimer Adorno (1944/ 1996, 148):

„Der Filmstar, in den man sich verlieben soll, ist in seiner Ubiquität [2] von vorneherein seine eigene Kopie. Jede Tenorstimme klingt nachgerade wie eine Carusoplatte, und die Mädchengesichter aus Texas gleichen schon als naturwüchsige den arrivierten Modellen, nach denen sie in Hollywood getypt würden. Die mechanische Reproduktion des Schönen, der die reaktionäre Kulturschwärmerei in ihrer methodischen Vergötzung der Individualität freilich um so unausweichlicher dient, läßt der bewußtlosen Idolatrie [3], an deren Vollzug das Schöne gebunden war, keinen Spielraum mehr übrig.“

So einleuchtend manches an den Aussagen von Horkheimer/ Adorno auch heute noch ist, scheint dies doch sehr schablonenhaft. Die Ausprägung und Variabilität von Kunst und Kultur hängt von der durchaus unterschiedlichen politischen Verfassung von Gesellschaften ab – selbst wenn alle Gesellschaften dem vergleichbaren (kapitalistischen) Wirtschaftssystem unterworfen wären.

Je freier und demokratischer eine Gesellschaft ist, desto größer ist der inhaltliche Spielraum für die darstellende Kunst. Innovative und gesellschaftsverändernde Impulse, die von Künstlern wie Schauspielern, Sängern, Malern, Tänzern oder Dichtern gesetzt werden, können sich besonders in historischen Phasen entfalten, in denen der systemische Zugriff auf die Kultur sich lockert bzw. in seinem Durchgriff abgeschwächt ist. Dies ist besonders in Zeiten der Fall, wenn sich in einem Gesellschaftssystem strukturelle Umbrüche zeigen, die dann auch von kulturellen Neuerungen unterstützt werden können. Manchmal läuft auch der kulturelle Aufbruch den Umbrüchen in Ökonomie und Politik voraus und bietet damit einen wichtigen Beitrag zu einer gesellschaftlichen Veränderung. 

So kann hierfür beispielhaft der ästhetische Ansatz des Düsseldorfer Künstlers Joseph Beuys gesehen werden, der die revolutionäre und wirklichkeitsverändernde Kraft der Kunst betonte und lebte. Er prägte den Begriff der ‚sozialen Plastik‘ in der Kunst und versuchte über seine Projekte gesellschaftliche Umgestaltung als Kunst umzusetzen bzw. zu betrachten. Seine Kasseler Raum-Zeit-Skulptur ‚7000 Eichen – Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung‘ zeigt diesen Ansatz idealtypisch. Sein Team und er veränderten das Stadtbild und auch dessen Ökologie, indem sie 7000 Bäume gepaart mit einem Basaltblock in der Stadt Kassel anlässlich der documenta 1982 positionierten. [4] Aber auch das öffentliche Umschmelzen einer goldenen Zarenkrone in einen Friedenshasen gehörte zu diesen ästhetischen Aktionen, die in das gesellschaftliche und politische Leben eingreifen wollten. Er verkaufte seine Kunstwerke teuer, nutze den Kunstmarkt aus, um weitere Projekte und soziale Skulpturen zu finanzieren.

So zeigen sich oftmals kommende gesellschaftliche Veränderungen bereits Jahre oder sogar Jahrzehnte vorweg in den künstlerischen Darbietungen oder in der Literatur, die sich kritisch mit sozialen Zuständen auseinandersetzen und gesellschaftliche Entwicklungen vorwegdenkt. So schreibt z.B. das ‚Organ krtitischer Kunst‘ auf seiner Webseite:

“Wir verstehen Kunst als Pflug zur Bearbeitung des gesellschaftspolitischen Ackers im Sinne einer zivilen, autonomen Gesellschaft, gegen reaktionäre Tendenzen wie Rassismus, Militarismus, Sexismus, Dogmata und Faschismus und alle ihre inhumanen Ausdrucksformen!” [5]

Autoritäre Systeme haben die gesellschaftsprägende und verändernde Kraft der Kultur erkannt und versuchen kritische Kunstansätze zu verbieten und eine ideologische und der Stabilisierung des autoritären Regimes dienenden Kunst zu etablieren und zu subventionieren. Dies ist dann der Niedergang der kulturellen Substanz von Kunst. Systemkritische Kunst wird dann als ‚entartet‘ oder ‚verdorben‘ verfolgt. Künstler werden eingesperrt, gefoltert und z.T. ermordet. Dies war im ‚Dritten Reich‘ der Nazis, genauso wie im Stalinismus, als auch in Chile der Fall, als dort das Militär mit CIA-Unterstützung putschte. Dem Sänger und Dichter Viktor Jara wurden nach seiner Verhaftung durch das faschistische chilenische Militär von seinen Folterern die Fingernägel herausgerissen, die Finger gebrochen und er wurde danach kurz vor seiner dann folgenden Ermordung noch gezwungen, Gitarre zu spielen.  

Kultur und Kunst in pandemischen Krisenzeiten

Hier soll auf den gesellschaftlichen Umgang mit Kunst und Kultur in der Corona-Pandemie eingegangen werden. 

Sicherlich ergeben sich sinnvolle Einschränkungen für Live-Veranstaltungen von Künstlern aus der viralen Gefährlichkeit der Pandemie. Dennoch wird deutlich, dass die Kultur im engeren Sinne – die Kunst – nicht systemrelevant zu sein scheint. Künstler_innen, z.B. in Deutschland, sind so ziemlich die letzte Gruppe, die eine Möglichkeit zur Impfberechtigung gegen den Corona-Virus bekommen. Auch ist die staatliche Unterstützung von Künstlern_innen gering und äußerst schleppend, wo sie denn überhaupt im Zuge umständlicher bürokratischer Verfahren gewährt wird. Zahlreiche künstlerische Existenzen und Tätigkeiten wurden unverhältnismäßig eingeschränkt oder sogar zerstört.

In pandemischen Krisenzeiten scheint die Kunst, als Schauspielkunst, musikalische Darbietung, Kabarett oder als Zurschaustellung bildender Kunst, wenn sie auf Präsenz abzielt, verzichtbar zu sein. Sie wird im Zuge pandemischer Vorsichtsmaßnahmen pauschal blockiert, ohne nach Live-Alternativen zu suchen und zu erlauben, wie z.B. Konzerte im Freien unter Wahrung der Hygieneregeln. Künstler_innen werden des Weiteren zu einer eher überflüssigen und marginalisierten Gruppe erklärt, die auf Almosen von Seiten der Gesellschaft, z.B. familiärer Zuwendungen, angewiesen sind.

Auch hier im gesellschaftlichen Umgang mit der Kunst zeigt die Pandemie schlaglichtartig auf, wie auch in anderen Bereichen, wo es Mängel in der gesellschaftlichen Prioritätenliste gibt. Während die beispielsweise die Automobilproduktion ungestört fortgesetzt werden konnte, wurde die physische Zuschauerpräsenz erfordernde künstlerische Veranstaltungsform rigoros verboten.

Die sogenannten ‚sozialen Medien‘

Digitale Medien, wie z.B. Facebook, Twitter, Instagram, YouTube, deutsche Online-Zeitschriften wie ‚Telepolis‘, 'Rubikon', die 'NachDenkseiten‘ oder ‚Der Freitag‘, bieten einen noch relativ freien Einblick in das Niveau des in der Gesellschaft vorhandenen kulturellen Austauschs. Einerseits gibt es nun die Möglichkeit, innergesellschaftlich und auch international in eine Kommunikation über zentrale Fragen kultureller Entwicklung einzutreten, sich etwa über Möglichkeiten gesellschaftlicher Neuordnung auszutauschen und zu beraten. Dieses kulturelle und politische Potenzial digitaler Medien ist nicht zu unterschätzen. Andererseits bieten die digitalen Medien auch Menschen den Zugang zur Kommunikation, die lügen, diskriminieren, manipulieren, mobben und drohen.

Insbesondere durch die Möglichkeit zur Anonymität zeigen sich das wahre Gesicht und die unter ethischen Gesichtspunkten noch unterentwickelte psychische und soziale Verfassung eines Teils der Menschheit. Wenn bestimmte Personengruppen sich öffentlich äußern können, ohne damit rechnen zu müssen, identifiziert zu werden, verlieren sie jeglichen Respekt, jede Achtung vor dem Kommunikationspartner und vor der Gesellschaft.

Das Internet hat somit negative und positive Seiten zugleich. Entsprechende Regeln und Sanktionen müssen für eine menschenwürdige und ethisch vertretbare Kommunikation sorgen, damit die positiven Seiten hier dominieren können. Dies ist ein schwieriger Balanceakt zwischen Presse- und Medienfreiheit und notwendiger Regulierung.

Wenn aber das Internet von staatlichen Verfolgungsinstanzen in schwachen Demokratien oder Autokratien und Diktaturen benutzt wird, um oppositionelle Kräfte zu verfolgen, dann wird diese Errungenschaft zu einem Teil eines repressiven Systems. Dies zeigt sich, wenn Menschen, die z.B. auf Facebook eine kritische Bemerkung, die sich auf das autoritäre Regime in der Türkei bezieht, liken oder positiv kommentieren, bei ihrem nächsten Besuch in der türkischen Heimat bereits am Flughafen verhaftet, ohne ein ordentliches Gerichtsverfahren eingesperrt und dem Terrorismusverdacht ausgesetzt werden. Auch sogenannte IMSI-Catcher sorgen dafür, dass die Polizei in solchen Staaten Teilnehmer_innen an (legitimen und absolut friedlichen) Demonstrationen ermitteln und deren Daten herausfiltern kann. Am nächsten Tag findet dann die Verhaftung statt.

Auch das Einbauen von Schwachstellen in Software sowie die Möglichkeit gezielter Hacker-Angriffe dienen in repressiven Gesellschaften der Unterdrückung einer kulturellen Entwicklung, die eine Gesellschaft zu mehr Demokratie und mehr Freiheit hin verändern möchte. In diesen Fällen verstärken digitale Medien die kulturelle Krise einer Gesellschaft und werden von polizeistaatlicher Seite als unterdrückendes Medium eingesetzt.

Das negativste Beispiel bietet die Volksrepublik China, die ihre 1,4 Milliarden Menschen umfassende Bevölkerung über ein umfassendes digital verankertes ‚social-credit-system‘ zu bespitzeln versucht. Millionen digitaler Kameras mit Gesichtserkennung und künstlicher Intelligenz ausgestattet identifizieren Menschen, bewerten sie und bewirken positive und negative Sanktionen des menschlichen Verhaltens. Dies führt zu einer Kultur der Ängstlichkeit und des angepassten Verhaltens.

Die Erzeugung von Angst über Filme und Videospiele

Zur Kultur einer modernen Gesellschaft gehören die Qualität von audiovisuellen Medien und der soziale Umgang hiermit. Eine Gesellschaft mit einer friedensorientierten Kultur wird auf gewaltverherrlichende Filme und Videospiele verzichten wollen. Doch die kulturelle Krise der Gesellschaft zeigt sich gegenwärtig genau in einem umgekehrten Trend: Die Filme, ‚gestreamten‘ Serien und die Videospiele werden zunehmend gewalttätiger. Hierbei wird das Töten und Quälen von Menschen immer detaillierter und ausgedehnter gezeigt, gewalttätige Konfliktlösungen – auch von als positiv dargestellten Heldengestalten – werden als legitimes und sogar zu verherrlichendes Mittel sozialer Interessensdurchsetzung dargestellt. Die brutalsten Szenen werden mit einer entsprechend bedrohlichen Musik unterlegt, die direkt das menschliche Gehirn erreicht, ohne dass man sich dagegen wehren könnte. Menschen zerstörende Gewaltmittel in Kombination mit bedrohlicher Musik, z.T. auch unterschwellig angelegt, stumpfen einerseits insbesondere junge Menschen gegen Gewalteinsatz ab, andererseits erhöhen sie das Angstpotenzial im Menschen. Beides – die Abstumpfung und die latente Angst – führen zu einer Anfälligkeit von Menschen gegenüber gewalttätigen Konfliktlösungen. Die Hemmschwelle zur Gewalttätigkeit wird kleiner, und Angst oder auch fehlende Sensibilität können zu einem Einsatz von Gewaltmitteln führen.

Gerade die heroischen Kriegsfilme auch in den modernen Varianten, in denen sich die Akteure im Einsatz für vermeintlich bessere gesellschaftliche Werte und Systeme in Kriegen gegen ‚Schurken- und Gaunerstaaten‘ über das Völkerrecht hinwegsetzen und auch zivile Kollateralschäden für die gute Sache in Kauf nehmen, bauen Friedfertigkeit unter den Völkern ab. ‚Schurken‘ werden oft charakterisiert durch Menschen mit russischen, osteuropäischen oder arabischen Akzenten. Derartige Filme gehen vom Menschenbild eines besseren (westlichen) Menschen und eines negativen (Un)Menschen aus einer anderen Kultur aus Hier werden die Zuschauer in Feindbilder eingeübt, welche die psychische Voraussetzung für die Kriegsführung gegen andere Nationen und Kulturkreise sind. [6]

Unabsehbar sind hierüber hinaus die Folgen, wenn junge Menschen an Virtual-Reality-Spielen teilnehmen und einen größeren Anteil ihrer Zeit nicht unter den Bedingungen und Begrenzungen realer Handlungsabläufe leben. Das Sich-Aufhalten in einer virtuellen Realität erzeugt intensivere Eindrücke und Gefühle, als dies ohnehin bei den üblichen Filmen und Videospielen der Fall ist. Was macht dies mit einem Menschen, wenn er regelmäßig in der virtuellen Realität tötet und vergewaltigt? Ist eine normative Beschränkung im richtigen Leben noch durchgehend möglich, wenn die virtuelle Realität das Erleben eines entgrenzten Verhaltens ermöglicht? [7]

Welchen Einfluss haben Gewalt verherrlichende Filme und der Aufenthalt in gewalttätigen virtuellen Realitäten auf junge Menschen, die wild um sich schießend als Attentäter in Schulen und Geschäften auftauchen und Menschen ermorden oder schwer verletzen?

 

1.6.2   Zur kulturellen Problematik von Kirchen und Religionen

Religionen sind im Zuge historisch vermittelter Konstruktionsleistung ausgearbeitete kulturelle Wege, die Welt im dem Versuch wahrzunehmen und zu deuten, sich eine Sicherheit in der Auseinandersetzung mit den Gefährdungen des Lebens zu verschaffen. 

Welchen kulturellen Beitrag können nun Religionen aktuell zur Lösung von Krisen leisten, wie z.B. die ökologische Krise, die Krise der Demokratien oder die Krise völkerrechtlich abgesicherter Konfliktkultur verschärft durch die Neoliberalisierung kapitalistischer Systemstrukturen?

Im Zuge kultureller Krisen, die mit dem Wegfall tradierter Identifikationen und mit erheblicher Identitätsverunsicherung verbunden sind, neigen viele Menschen zur Unterwerfung unter politische und religiöse Ideologien, die gesellschaftliche Verhältnisse vereinfachen. Dies findet über den politischen Extremismus statt aber auch über religiöse Bewegungen, die ein soziales Auffangbecken, eine spirituelle Identifikationslogik und eine Unterordnung unter eine religiöse Instanz anbieten. 

Es muss hierbei allerdings zwischen Ethik, Philosophie und Religion unterschieden werden.

Religionen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie auf einen Gott oder mehrere Götter fixiert sind, mit denen der Anhänger einer Religion sich im direkten Gespräch befindet bzw. der/die durch ihn angebetet wird/werden. Religiöse Praktiken werden ritualisiert in einem institutionellen Kontext angeboten, der sich in der Regel verselbstständigt und die innere Herrschaft über das Denken und Fühlen der Menschen zum Vorteil der religiösen Institution im Sinne gesellschaftlicher Macht- und Reichtumsanhäufung ausnutzt.

Religionen in Verbindung mit politischer und ökonomischer Macht behinderten in allen Weltregionen die Ausbreitung eines aufgeklärten Wissens und Denkens. Die religiöse Hingabe an eine überirdische Macht, deren Stellvertreter auf Erden, seien es in der Geschichte der Menschheit Päpste, Imame, Tennos oder Könige, die den Kriegseintritt als ‚heilige Pflicht‘ deklarieren, ist durch rationale Argumentation kaum erreichbar. Kriege jeder Art wurden von den jeweiligen Vertretern der Religionen abgesegnet und legitimiert. Selbst der gleiche Gott wurde dazu angefleht, beiden Seiten der Kriegsgegner Schutz zu gewähren. Die Menschen marschierten im Namen des gleichen Gottes bzw. Allahs in den Tod, warfen Bomben auf Zivilbevölkerung, setzten Giftgas und Tellerminen ein, sprengten sich in die Luft bzw. töteten im Rahmen symmetrischer und asymmetrischer Kriegsführung.

Die Kennzeichnung der verschiedenen Richtungen des Christentums, des Islams, des Schintoismus, des Judentums oder des Hinduismus als Religionen ist ohne Schwierigkeiten möglich, da im Zentrum des Glaubens Gott, Götter oder das Göttliche steht. Der Gedanke der Aufklärung, der den selbstbewussten und mündigen Menschen anstrebt, der ohne die Führung durch eine andere transzendente Instanz selbstständig denken und handeln kann, steht gegen die religiöse Anmaßung, der Mensch sei unfrei und grundsätzlich in Sünde, einem Gott oder Göttern unterworfen sowie kirchlichen Institutionen zum Gehorsam verpflichtet.

Der gegenwärtige Dalai Lama und Friedensnobelpreisträger, geboren unter dem Namen Lhamo Dhondrub, kritisiert schonungslos die Rolle von Religionen in historischer und globaler Hinsicht:

„Seit Jahrtausenden wird Gewalt im Namen von Religionen eingesetzt und gerechtfertigt. Religionen waren und sind oft intolerant. Um politische oder wirtschaftliche Interessen durchzusetzen, wird Religion oft missbraucht oder instrumentalisiert – auch von religiösen Führern. Deshalb sage ich, dass wir im 21. Jahrhundert eine neue Ethik jenseits aller Religionen brauchen.“ [8]

Jiddu Krishnamurti, ursprünglich als religiöser Führer und Weltenretter von der theosophischen Gesellschaft aufgebaut, distanzierte sich in seinem dritten Lebensjahrzehnt bewusst von allen Religionen, religiösen Hierarchien und religiösen Führern. Religiöse Führer und Institutionen seien Hindernisse auf dem Weg zur Selbsterkenntnis. Nur vorurteilsfreies Hinschauen führe zur inneren Entwicklung, die nicht vom Äußeren zu trennen ist – so Krishnamurti (1972/1995, 52):

„Aber um ganz tief nach innen gehen zu können, müssen wir auch das Äußere verstanden haben. Und je besser Sie das Äußere verstehen – nicht bloß die Fakten wie die Entfernung zwischen uns und dem Mond oder die technologischen Kenntnisse, sondern die Bewegungen draußen vor der Tür, die sozialen und nationalen Geschehnisse, die Kriege, den Haß allüberall –, je besser Sie das verstehen, um so tiefer können Sie nach innen vordringen. Und diese innere Tiefe kennt keine Begrenzung. Da werden Sie nicht sagen: ‚Jetzt bin ich ans Ende gelangt, dies ist die Erleuchtung.‘ Erleuchtung kann uns ohnehin nicht von jemand anders gegeben werden; Erleuchtung kommt, wenn die Verwirrung begriffen worden ist; und um die Verwirrung zu begreifen, müssen wir sie betrachten.“

Die traditionellen Religionen, wie z.B. Islam, Hinduismus, Katholizismus, Judentum, Schintoismus sowie Protestantismus, sind bereits hinlänglich analysiert und hinsichtlich ihres antiaufklärerischen Gehalts sowie ihrer Machtansprüche und Ideologien kritisch analysiert worden. [9]

Zur Rolle und Krise der religiösen Institutionen

Der monotheistische Zugriff auf die Wirklichkeit hat die Herausbildung mächtiger gesellschaftlicher Institutionen in fast allen Kulturkreisen gefördert. Dies führte hierbei zu einer Konkurrenz um die kulturelle Deutungshoheit der verschiedenen Kirchen und religiösen Kulturen, was für den Weltfrieden eher hinderlich war. Beispiele religiös unterlegter gewaltsam ausgetragener kultureller Konflikte in der Vergangenheit, die bis in die Gegenwart reichen: Christliche Kreuzzüge und Abschlachtung und Unterjochung der muslimischen Bevölkerung, brutal geführte muslimische Eroberungskriege, der religiös konnotierte 30-jährige Krieg, die mörderische Auseinandersetzung zwischen Hindus und Muslime in Indien, die zur Gründung zweier getrennter Staaten führte, das menschenfeindliche System des IS, terroristisch islamistische Anschläge, die Vernichtung der muslimischen Rohingyas durch die buddhistischen Machthaber in Myanmar ….

Auch die christlichen Kirchen haben in der Vergangenheit in der Regel Kriege in ihrer Verquickung von Krieg führenden Staaten und national-kirchlicher Organisation abgesegnet – von den kirchlichen Spitzen bis hin zu dem militärischen Seelsorgern. Negativer Höhepunkt war das Stillhalteabkommen des Papstes mit Hitler bis hin zur Fluchthilfe führender Nationalsozialisten nach dem 2. Weltkrieg (‚rat line‘). [10]

Doch muss man vorsichtig sein und nicht alle kirchlichen Gruppen und Initiativen dieser schonungslosen Kritik unterwerfen. Man würde hier vielen sich engagierenden Kirchenmitgliedern, die sich – auch oft gegen den Widerstand ihrer Kirchen – für gesellschaftliche Veränderung engagieren, nicht gerecht werden. 

Die ursprünglich katholische, inzwischen ökumenisch orientierte Bewegung ‚Pax Christi’ nimmt hier beispielsweise eine gewisse Ausnahmestellung ein. Zwar ist sie immer noch der Kirche und einem monotheistischen Gottesbild verpflichtet, dennoch fand sie nach dem 2. Weltkrieg trotz dieser Voraussetzungen zu friedensstiftenden Aktivitäten und einer Kritik der gesellschaftlichen Grundlagen des Krieges. Im Jahr 2017 wurde ‚Pax Christi‘ allerdings vom Verband der Diözesen Deutschlands die Förderungsfähigkeit abgesprochen, so dass der Zuschuss aus Kirchensteuermitteln zukünftig entfallen soll. [11] Es fragt sich auch, ob viele der sich ohne Zweifel bei ‚Pax Christi‘ friedenspolitisch engagierenden Menschen nicht in anderen Zusammenhängen der Friedensbewegung wirkungsvoller – und ohne die Konflikte mit der Kirche – arbeiten könnten und dort besser aufgehoben wären.

Auch die friedenspolitische Initiative der protestantischen Kirche ‚Sicherheit neu denken‘ nimmt eine weitere Ausnahmestellung ein. Hier wird Sicherheit nicht mit Aufrüstung und militärischem Engagement gleichgesetzt. Im Mittelpunkt steht eine neue Sicherheitsordnung, über die mit Hilfe politischer Diplomatie, zivilgesellschaftlichem Engagement und weltpolizeilicher Tätigkeit Kriege möglichst präventiv verhindert und Frieden gesichert bzw. hergestellt werden sollte. [12]

Trotz dieser positiven aus kirchlichen Bewegungen stammenden Ansätze müssen vor allem der Missbrauch von (vor allem männlicher) Macht und sexuelle Übergriffe und Vertuschungen im kirchlichen Kontext gegenübergestellt werden. Dies betrifft z.B. beide christlichen Kirchen weltweit. Aber die findet sich beispielsweise auch bei den überwiegend buddhistischen Soldaten in Myanmar, die Vergewaltigungen weiblicher Rohingyas als Waffe einsetzen oder bei dem sogenannten islamischen Staat in Syrien und Irak, der Menschen im Missbrauch des Namens Allahs töteten oder versklavten.

Völlig verfehlt und moralisch nicht gerechtfertigt ist es des Weiteren, die Mehrheit der Muslime unter einen terroristischen Generalverdacht zu stellen. Hierhinter steht der Versuch nationalistischer und rassistischer politischer Gruppierungen, die Menschen gegen eine andere Bevölkerungsgruppe im Sinne gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit[13] aufzuhetzen, um sie für die eigenen rechtspopulistischen oder sogar rechtsextremistischen Ziele zu gewinnen. Allerdings sind die islamistischen Aufrufe unterschiedlicher Gruppierungen und Organisationen in Gegenwart und Vergangenheit zum ‚Heiligen Krieg‘ und dem damit verbundenen Hegemoniestreben natürlich kein Ausdruck von Friedfertigkeit und Toleranz, sondern der Versuch, Aktivisten für eine kriegerische Auseinandersetzung zu rekrutieren, deren Kriegsmotivation über religiöse Beherrschung bis zur Selbstaufgabe in die angestrebte Richtung gelenkt werden kann. Dahinter stehen – neben kulturellen Vorurteilen – letztendlich politische Machtinteressen und ökonomische Interessen im Rahmen von Konflikten im Kampf um Rohstoffquellen, Absatzmärkten und zu besteuernde bzw. auszubeutende Bevölkerungsgruppen. Die Hingabe an eine Religion wird hier mit kühlem Kalkül von profitierenden Gruppen und Personen ausgenutzt.

Die kulturelle Bedeutung von Philosophien für eine gesellschaftliche Neuordnung

Philosophien sind kognitive Systeme, kulturelle Errungenschaften, die sich auf die Analyse und Deutung von Welt beziehen und hierbei zentral die Frage nach dem Sinn des Lebens thematisieren. Zur Unterscheidung von Philosophien und Religionen soll hier, wie gesagt, die Existenz und die Verwendung eines Gottes-Begriffs gesehen werden. Für Religionen ist es essentiell, dass religiöse Menschen sich in einer Mensch-Gottesbeziehung sehen. Sie beten einen Gott oder mehrere Götter an mit dem Ziel, zumindest als Seele unsterblich zu werden. Eine übergeordnete allmächtige Göttlichkeit und das Versprechen eines Paradieses bzw. eines ewigen Lebens in kulturell unterschiedlicher Form – von der Reinkarnation bis hin zur Gemeinschaft mit Gott nach dem Tod stellt die Essenz jeder Religion dar.

Philosophien gehen über diese enge kulturelle Konstruktion von Transzendenz hinaus, die letztendlich aus Unsicherheit gegenüber den weltlichen Gefahren, dem Unverständnis gegenüber den Naturphänomenen und aus der Angst vor dem eigenen Ableben geboren wurde. So bietet gerade die griechische Philosophie des Sokrates, seines Schülers Platon und dessen Schüler Aristoteles tiefer gehender Reflexionen zur Wahrnehmung und Deutung von Wirklichkeit an, die vielfältige Interpretationen von Lebenssinn zulassen.

Allein das berühmte Höhlengleichnis von Platon, bereits Jahrtausende vor unserem philosophischen Kulturbetrieb erdacht, bietet uns die zentralen Grundlagen der heute aktuellen konstruktivistischen Philosophie. In einem genial erdachten Beispiel macht Platon deutlich, wie Menschen sich kulturelle Fesseln bei der Wahrnehmung der Welt anlegen, die ihnen Sicherheit geben und mit denen sie sich letztendlich identifizieren. Sie haben gelernt, dass ihre eingeengte und zugeschnittene Wahrnehmung der Welt die wirkliche Welt sei. Sie fühlen sich in dieser Beschränkung wohl und sicher, indem sie auf die Schatten, der hinter der hinter ihnen vorbeigetragenen und durch ein Feuer illuminierten Figuren schauen, die sie hieran gefesselt und unbeweglich an der gegenüberliegenden Wand betrachten. Dann wird es auch gefährlich für diejenigen, die sich von den Fesseln befreien, aus der Höhle kultureller Dunkelheit hinaustreten und ihre neuen Erfahrungen und Erkenntnisse den kulturell Gefesselten mitteilen, sie von ihren inneren Fesseln befreien möchten.

Die antike Philosophie war konstitutiv für das Denken im westlichen Kulturraum, insbesondere für die kulturelle Leistung der Aufklärung. Sie ist eine Erkenntnisquelle, die wieder stärker im Fokus schulischer Bildung stehen müsste, da hier die Möglichkeit kultureller Selbstreflexivität und der Bildung einer reflexiven Identität angelegt ist.

Im Zuge einer gesellschaftlichen Neuordnung wäre es daher erstrebenswert, wenn die traditionellen Religionen zugunsten philosophischer Selbstreflexivität abgelöst würden, da nur hier ein kulturelles Empowerment zu sehen ist, das die Menschen von übergeordneten und von gesellschaftlichen Institutionen leicht missbrauchbaren Mächten unabhängig werden lässt. Diese Unabhängigkeit und Autonomie von der inneren Fesselung und der Unterwerfung unter göttliche Autorität ist die Voraussetzung der kulturellen Befreiung der Menschheit, die zu einer grundlegenden gesellschaftlichen Neuordnung führen kann.

Es sollen hier neben den vorgenommenen Verweis auf die Leistungen der griechischen, antiken Philosophie des Weiteren zwei Philosophien aus dem fernöstlichen Kulturkreis angesprochen werden, von denen auch die westliche Philosophie lernen kann: der Daoismus (und zwar der Daoismus in seiner hochkulturellen Form wie bei Laodse, Dschuangdse oder Liädse) und die zenbuddhistische Form des Buddhismus – nicht zu verwechseln mit den Hauptströmungen des religiösen Buddhismus. Hier kann man nicht mehr von religiösen Strömungen sprechen, da ihre Grundierung vorwiegend philosophisch ist, sie in ihrer philosophischen Hochphase im 7./6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung so angelegt wurden, ohne ein Gottesbild und einen Gott bzw. mehrere Götter und ein Jenseitsversprechen auszukommen. [14] Im Mittelpunkt ihrer spirituellen Intention steht das Heranreifen des Menschen zu Achtsamkeit, Bewusstheit und Friedfertigkeit – ein Bildungsprozess, der wiederum nicht nur individualistisch verstanden, sondern auch wieder zurück in die menschliche Gemeinschaft führen soll. [15]

Daher sind zumindest diese beiden traditionellen und philosophischen Weltanschauungen in ihrer Reinform bedeutsam für eine Kultur der bewussten Friedfertigkeit, die eine kulturelle Neuorientierung im Westen und in Asien eine kulturelle Rückbesinnung auf ihr eigenes philosophisches Erbe bedeutet – ohne sich gleich wieder einem spirituellen Übervater und seinem weltlichen Vertreter zu unterwerfen und sich entsprechend repressiven sozialen Strukturen auszuliefern.

Religionsersatz in monetär ausgerichteten spirituellen Bewegungen

Nun ist es aufschlussreich, verschiedene soziale Bewegungen bzw. Gruppierungen zu betrachten, die vorgeben, dem Weltfrieden zu dienen, eine ausgeprägte Philosophie, eigene Bewusstseinspraktiken und eine öffentlich zugängige Ethik besitzen. 

Hierbei sind spirituelle Bewegungen zu nennen, die zwar Wurzeln in alten religiösen Systemen besitzen, aber entweder organisatorische Neugründungen sind und/oder auf neuere gesellschaftliche Entwicklungen zu reagieren versuchen. Auch wenn beispielsweise die Self-Realization Felloship nach Paramahansa Yogananda anders zu bewerten ist als etwa die Scientologen, haben sie doch einige Gemeinsamkeiten.

Gemeinsam ist Organisationen, wie z.B. der Scientology, der Self-Realization-Fellowship- oder der Baghwan (Osho)-Bewegung, dass sie von einem als charismatisch empfundenen spirituell-religiösen Führer konzeptionell entwickelt und organisatorisch begründet wurden.

In diesem Zusammenhang sind sie hierarchisch aufgebaut und nicht demokratisch organisiert. Hierdurch geraten diese Bewegungen bzw. Organisationen im Kern ihres Denkens in einen Gegensatz zur Anforderung der Aufklärung, die eigene Mündigkeit im Sinne von innerer Unabhängigkeit und Selbstständigkeit des Denkens zu entfalten. Ihre Anhänger werden auf spirituelle Führer eingeschworen, geraten zu diesen in eine innere Abhängigkeit, was wiederum ein freies Wahrnehmen und Denken blockiert. Von ihnen kann daher nicht der entscheidende Beitrag zu einer gesellschaftlichen Transformation erwartet werden, welche an Mündigkeit, Kritikfähigkeit und Demokratiefähigkeit gebunden ist.

Auch ist bei derartigen Organisationen, so unterschiedlich sie auch in Einzelaspekten sind, oftmals nicht hinreichend geklärt, inwieweit eine Verbindung von spirituell vorgegebenen Zielen und ökonomischen Motiven gegeben ist und wo hierbei die Prioritäten eigentlich gesetzt werden. Diese Organisationen verlangen einen erheblichen ökonomischen Beitrag ihrer Mitglieder und besitzen z.T. ein hohes Stammkapital, mit dem sie sich an der kapitalistischen Ökonomie beteiligen.

Hier zeigen sich dann auch Parallelen zu den traditionellen Kirchen, die in Vergangenheit und Gegenwart immer wieder raffinierte Wege entdeckten, Kapital aus den Menschen zu ziehen, vom Ablasshandel bis hin zur Beteiligung der katholischen Kirche an der Rüstungsindustrie und zumindest indirekt an den damit verbundenen Waffenexporten. [16]

Zusammenfassend lässt sich daher feststellen: Obwohl sowohl die traditionellen Religionen und religiösen Organisationen als auch die genannten spirituelle Bewegungen und Organisationen gern für sich vertreten, zur Friedfertigkeit ihrer Mitglieder und damit zum Weltfrieden einen Beitrag zu leisten, ist dieser Anspruch jedoch kritisch zu hinterfragen. Bei den alten Religionen stehen ihre historische Rolle, die hierarchische Organisation und das allmächtige Gottesbild einer aufgeklärten Friedfertigkeit und einem demokratischen Engagement entgegen. Bei den angesprochenen neueren Bewegungen sind es ebenfalls die hierarchische Organisationsformen, oftmals die Abhängigkeit von einem spirituellen Führer und die Existenz fragwürdiger Geschäftspraktiken.
Es zeigt sich hierbei ein zunehmender Einfluss kirchlich-orthodoxer Kreise auf die in den verschiedenen Staaten herrschenden politischen ‚Eliten‘. So kann man in vielen Staaten den Machtzuwachs christlich-nationalchauvinistischer Bewegungen und Institutionen erkennen, z.B. die evangelikalen Kirchen und viele ihrer Mitglieder in den USA, die skrupellos den rechtspopulistischen Ex-Präsidenten und Präsidentschaftskandidat Donald Trump unterstützen, oder die russisch-orthodoxe Kirche, die auf ihrem ‚Weltrat des russischen Volkes‘ im Jahr 2024 zum ‚heiligen Krieg‘ in der Ukraine und zum Sieg über den Westen, der dem „Satanismus verfallen“ sei, aufruft (Focus 2024). Hiermit reihen sich die orthodoxen Christen in die Reihe kriegstreibender orthodoxer Religionsvertreter ein, wo sich u.a. bereits orthodoxe Muslime und orthodoxe Anhänger des jüdischen Glaubens befinden.  


Universalistische Ethik an die Stelle von Religionen

Doch wenn religiöse Motive wegfallen, was tritt dann an die Stelle möglicher Identifikationen? Der Philosoph Friedrich Voßkühler stellt daher in diesem Zusammenhang kritisch die Frage:

„Was also ist, wenn die ‚Gemeinde-stiftende‘ Liebe Gottes nicht angenommen wird, wenn seine Erlöserkraft nichts mehr gilt? Was ist, wenn demzufolge dem ‚Mut‘ zur ‚Transzendenz zum Anderen‘ die Stütze fehlt? Reichen dann die Liebe und das Vertrauen nicht hin, um die zwischenmenschlichen Beziehungen davor zu bewahren, dem ‚Krieg’ anheimzufallen und die Zukunft der Erde und unserer Nachfahren zu verwüsten?“ [ 17]

Schwer sei es für den Menschen auszuhalten, dass nicht die große Sinnstiftung am Anfang allen Seins stand, sondern auf der Suche „nach dem göttlichen Auge“ die Welt den Menschen „nur mit einer leeren Augenhöhle“ anstarrte (Jean Paul). [ 18]

Eine neue Ethik einer verantwortlichen Neuordnung sollte eine derartige psychologische und philosophische Attraktivität und Ausstrahlungskraft besitzen, dass sie zur Identifikation in freier Entscheidung – und dies nach gründlicher und kritischer Prüfung – geeignet ist. Diese auf eine friedliche, ökologische, demokratische und sozial gerechte Neuordnung abzielende Ethik muss genauso stark und eindrucksvoll wie eine Religion sein, aber ohne ein Gottesbild, religiöses Führertum, spirituelle Programmierung, ökonomische Ausbeutung und innere und äußere Unterwerfung auskommen.

Die Faszination dieser universalistischen Ethik muss sich über die Motivation und Identifikation hinsichtlich eines gesellschaftspolitischen Engagements erschließen, das an einer sinnvollen und verantwortlichen Zukunft im globalen Kontext orientiert ist, gleichzeitig das gegenwärtige Verhalten mit einer positiven Vision menschlicher Zukunft in Verbindung bringt. Eine derartige Ethik gibt den sich in ihrem Sinne engagierenden Menschen die Kraft, selbstständig und miteinander vernetzt zivilgesellschaftlichen Widerstand gegen die Zerstörung unseres Planeten, gegen die zunehmende soziale Ungerechtigkeit, gegen den Abbau demokratischer Strukturen und gegen die kriegstreibenden gesellschaftlichen Mächte zu leisten.

Angesichts der Zerstörungsmentalität gegenwärtiger menschlicher Zivilisation fordert der US-amerikanische Journalist und Buchautor Roy Scranton (2015, 19), dass die Zivilisation des Raubtierkapitalismus‘ lernen müsse zu sterben, so dass die Menschen zu einer neuen Lebenshaltung hin befreit würden. Hierzu bedürfe es eines neuen philosophisch fundierten Humanismus’:

„In order for us to adapt to this strange new world, we’re going to need more than scientific reports and military policy. We’re going to need new ideas. We’re going to need new myths and new stories, a new conceptual understanding of reality, and a new relationship to the deep polyglot traditions of human culture that carbon-based capitalism has vitiated through commodification and assimilation. Over and against capitalism, we will need a new way of thinking our collective existence. We need a new vision of who ‘we‘ are. We need a new humanism – a newly philosophical humanism, undergired by renewed attention to the humanities.“

Es geht also um eine philosophisch begründete Ethik, hinter der eine positive und radikale Vision der Menschheitsentwicklung im ökologischen und gesellschaftlichen Kontext steht. Es geht um die Überwindung des ‚Macht euch die Erde untertan.‘ zugunsten einer friedvollen, gerechten, demokratischen und ökologischen Weltordnung.

Monotheistische Religionen müssen zwar im Sinne religiöser Toleranz und der notwendigen Religionsfreiheit ausgehalten werden, wenn sie nicht aggressiv und menschenfeindlich werden. Sie stehen allerdings in der Regel der notwendigen gesellschaftlichen Transformation entgegen und repräsentieren vergangene vordemokratische Epochen und die Natur ausbeutende Zeiten. Historisch gesehen, aber auch in aktueller Perspektive ist hierüber hinaus mit orthodoxen Auslegungen der Religionen die Gefahr eines religiösen Rassismus verbunden, der zur Abwertung, Exklusion und manchmal auch Vernichtung anders- oder nichtreligiöser bzw. säkular orientierter Menschen führt.

Allerdings können die reflexive Auseinandersetzung mit der antiken Philosophie, der philosophischen Leistung der Aufklärung, z.B. Immanuel Kants bis hin zu den heutigen Vertretern der Kritischen Theorie sowie Erfahrungen mit durchaus geistige Transformationspraktiken, die in traditionellen Kulturen, wie z.B. Daoismus oder Zen-Buddhismus wurzeln, auf dem zivilisatorischen Weg hilfreich sein, die verhängnisvolle kulturelle Mentalität zu überwinden, die durch Egozentrismus, Gier und Begierde gekennzeichnet ist. Meditieren bedeutet hier, auch wach gegenüber zu eng gezogenen Grenzen des Egos zu sein. Aufklärung, Säkularismus und Meditation könnten in diesem Sinne zu einer sinnvollen und ethisch vertretbaren Ergänzung finden. [19]


1.6.3   Kulturelle Umbrüche [20]

Das Aufwachsen in einem Kulturraum kann von einer Herausbildung kultureller Identifikationen und einer Herausbildung von Werten begleitet sein, die zur Abwehr von kulturellen Neuerungen führen. Genauso aber kann dies in sein Gegenteil umschlagen, wenn die traditionelle Kultur und die darin transferierten Werte keine Antworten mehr auf die von der gesellschaftlichen Entwicklung gestellten Fragen bieten können.

Kulturelle Sichtweisen und Praktiken können ein Potenzial zum Strukturkonservatismus, zum Reaktionären aber genauso zur Strukturveränderung in sich tragen. So haben dominante religiöse Kulturen, sind sie einmal etabliert, in der Regel die Strukturbewahrung zum Ziel, während Veränderungskulturen, wie z.B. im Rahmen des gesellschaftlichen Umbruchs 1968/ 69 in den westlichen Industriestaaten oder bei demokratischen Milieus des ‚arabischen Frühlings‘, starke Tendenzen zu struktureller Veränderung in sich trugen. Alle kulturellen Leistungen mit einem Kunstbezug, die sich gesellschaftskritisch verstehen, haben oft eine Tendenz zur Veränderung, wenn sie einen kreativen Kern haben, der sich über die Erzeugung und Entwicklung neuer und origineller Ideen definiert. Verbindet sich Kreativität mit Innovation, dann kommt es zu gesellschaftlichen Veränderungen, wenn diese Verbindung Identifikationen, sinnstiftende Wertesysteme und auch existenzielle Vorteile und Perspektiven eröffnet. Eine Wirksamkeit kultureller Umbrüche, die z.B. eine Transformation von materiellen zu postmateriellen Werten oder von religiös bestimmten zu säkularen Werten beinhalten, stellt sich allerdings erst ein, wenn sie den gesellschaftlichen Mainstream bzw. maßgebliche hierfür aufgeschlossene Teile meinungsführender und oftmals auch herrschender Milieus erreichen bzw. mitreißen können.

Die Begriffe Kultur und Gesellschaft sollen als nichts Starres, Festes angesehen werden, sondern werden als in ständiger Bewegung befindlich aufgefasst. Kulturelle Transfers – als intra- und interkulturelle Transfers – sorgen für die Verflüssigung verfestigter gesellschaftlicher Strukturen und stellen natürlich in ihrem Zusammenwirken eine Bedrohung für strukturkonservative gesellschaftliche Kräfte dar, die eher auf der Existenz einer einheimischen Leitkultur bestehen und diese vor ‚fremdkulturellen‘ Einflüssen ‚schützen‘ wollen.

 "Kulturelle Transfers finden zu allen historischen Zeiten statt, aber es lassen sich Konjunkturen und Epochen unterscheiden. Erst durch solche Transfers kann Geschichte europäisch (oder auch global) werden. Teilsummen oder Akkumulationen dieser Transfers lassen sich als transkulturelle Geschichte Europas und, eher im Sinne eines Fazits, als Europäisierung verstehen. Die Transfereinheiten sind konkret als Kultureme und Struktureme definierbar. Vielfach sind unterschiedlichste kulturelle Referenzen abrufbereit vorhanden, die konkrete Transfers erleichtern und effizient machen. Durch kulturelle Transfers entstehen unablässig neue Kohärenzen, die sich in bestimmten Fällen weiträumig miteinander verbinden – zu Makrokohärenzen oder Clustern von Kohärenzen, wie man sie im Rahmen der Prozesse, die Europäisierung genannt werden, findet. Diese Kohärenzen können aber genauso gut lokal limitiert bleiben, ohne zu weiteren „Ansteckungen“ (contagions) zu führen. Die Kulturtransferforschung macht die Momente des Starren, linear Begrenzten, des streng Systemischen durchlässig und das Hybride und Komposite eines jeden kulturellen Phänomens sichtbar." (Schmale 2012)

Die Aufgabe eines kulturellen Transfers beispielsweise über die Schulen ist nicht nur für eine Gesellschaft eine existenzielle Aufgabenstellung, sondern hat auch eine fundamentale Bedeutung für die Orientierung des einzelnen Menschen in einer Gesellschaft – Fend (2008) beschreibt dies wiederum mit dem Bezug zum Aspekt der Enkulturation eindrucksvoll:

„Die zentrale Aufgabe der Schule ist dabei dafür zu sorgen, dass heranwachsende Menschen in ihrer Kultur keine Fremden bleiben, dass sie in ihr ‚zu Hause‘ sind.

Der aufgetürmte Schatz von in Symbolsystemen festgehaltenem Wissen, von Fähigkeiten und von Kulturprodukten ist auf die Resubjektivierung, auf die Entschlüsselung und Verlebendigung in der neuen Generation angewiesen. Wer je in einer arabischen Bibliothek stand und unfähig zur Entschlüsselung war, erlebt die Wucht der Aufgabe, den Code zu erwerben, um die in Jahrhunderten entstandenen Symbolstrukturen einer Kultur zu entschlüsseln.“

(Fend 2008, 48)

Allerdings ist die Resubjektivierung von Kultur nur die eine Perspektive auf den notwendigen Transfer zentraler Kultureme in einer Gesellschaft bzw. einer gesellschaftlichen Hemisphäre, wie z.B. der „Westen“, der „Ferne Osten“ oder der „Arabische Raum“: Systeme, die längerfristig überleben wollen, müssen sowohl ein gewisses Maß an Strukturkonservatismus aufweisen als auch innovationsfähig sein. Hierbei geht es um die richtige Balance zwischen systemischer Festigkeit und Flexibilität. Wenn beispielsweise Demokratien sich unter den Bedingungen einer rasant fortschreitenden Globalisierung und den Verwerfungen einer sich beständig verändernden Ökonomisierung gesellschaftlicher Verhältnisse erhalten wollen, müssen sie sich permanent (und auch wehrhaft) verändern, ohne ihren an der Aufklärung orientierten Wertekern zu verlieren. Hierzu bedarf es der Struktursicherung, insbesondere der Orientierung an den Menschenrechten und verfassungsgemäß garantierten Grundrechten, sowie der Innovationsfähigkeit der in der Demokratie lebenden Bürger, oftmals durch eine Verbindung aus lebensgeschichtlichen Erfahrungen und institutionalisierten Bildungsprozessen ausgelöst. 

Zusammenfassende Überlegungen. Kultur ist in einem weitergehenden Sinne als die Gesamtheit gesellschaftlicher Leistungen zu begreifen, die essentiell für die Menschheitsentwicklung sind. Hierzu gehören auch die verschiedenen Religionen sowie der Versuch, Religionen im Sinne einer erweiterten Aufklärung und Kritischer Theorie zu überwinden. In einem engeren Sinne ist hier unter Kultur vor allem die Kunst zu begreifen. Kultur im engeren Sinne bildet einen kulturellen Raum, in dem zukünftige Entwicklungen und Problemlösungen vorausgedacht und ästhetisch dargestellt werden können. Kritische Kunst versucht in die gesellschaftliche Entwicklung verändernd einzugreifen. Genauso kann hingegen die Kunst als Staatspropaganda missbraucht werden.

Die digitalen Medien sind hinsichtlich der Kultur der Kommunikation ambivalent zu betrachten. Sie können der totalitären Überwachung des Menschen dienen. Genauso aber können sie eine Kommunikation, Beratung und politische Aktivierung über regionale und nationale Grenzen hinweg ermöglichen.

Film und Fernsehen zeigen Phänomene einer kulturellen Krise, wenn sie die kollektive Ängstlichkeit erhöhen, indem zunehmend Gewaltszenen und bedrohliche Situationen in den Fokus von Sendungen und Filmen geraten, die immer detaillierter und eindringlicher dargeboten werden. Virtual-Reality-Spiele als Unterhaltungskunst sind als höchst problematisch einzustufen, da hier die Gefahr einer psychischen Manipulation und Enthemmung besteht.

Religiosität und Kirche sind im Kern als vorrationale kulturelle Phänomene zu verstehen, auf die Menschen insbesondere in Krisenzeiten zurückgreifen, um die Konfrontation mit einer überfordernden gesellschaftlichen Wirklichkeit verarbeiten zu können. Trotz einiger kirchlicher Ansätze, wie z.B. die kirchlichen Initiativen Pax Christi oder ‚Sicherheit neu denken‘, sind in den Kirchen und in den Religionen Hemmnisse auf dem Weg einer an Emanzipation, innerer Befreiung und Kritikfähigkeit orientierten Epoche einer erweiterten Aufklärung zu sehen, die erst ideengeschichtlich im Werden begriffen ist. Hierfür wäre es hilfreich und förderlich, wenn Religionen mehr und mehr zugunsten einer universalen Ethik der Verantwortung für Mensch und Natur weichen würden.

Die Bewegung hin zu einer gesellschaftlichen Neuordnung baut auf einer gesellschaftlichen Kulturfähigkeit auf, die durch kritische Analyse, selbstständige Urteilskraft und selbstbewusstes Handeln im solidarischen Kontext gekennzeichnet ist. Hierzu gehört auch eine Kulturentwicklung im künstlerischen Bereich, die nicht durch repressive staatliche Eingriffe behindert wird, sondern die gerade in Demokratien von der staatlichen Förderung eines weitgefächerten kreativen Potenzials profitieren kann. Daher gilt es z.B. die Diskussion über staatliche Kontrollen eines Verhaltenskodexes der in Kassel stattfindenden größten internationalen Schau moderner Künste, der Documenta, genau zu verfolgen (Küster 2024). 

Dennoch ist die kulturelle Eiungebundenheit der bildenden und darstellenden Kunst in die Mechanismen eines kapitalistischen Kunstmarktes nicht zu übersehen. Daher ist die Fixierung auf den Kunstmarkt sowie auf einzelne vom Markt anerkannte Kunstprodukte abzulösen zugunsten einer Demokratisierung der Kunst, die insbesondere das kreative Potenzial des einzelnen Menschen sieht, ihn_sie als Künstler_in, als kreativen Schöpfer seiner gesellschaftlichen und ästhetisch gestaltbaren Welt begreift.


Anmerkungen 1.6.1 - 1.6.3


[1] Kluge (1989, 492)
[2] Unabhängigkeit von einem Standort
t[3] Bilderverehrung
[4] Vgl. ausführlicher https://www.7000eichen.de/index.php?id=2, o.D., 12.5.2021
[5] http://www.kritische-kunst.org/, o.D., 12.5.2021
[6] Vgl. ausführlicher zur Feindbildthematik Kapitel 1.4.1.5
[7] Vgl. ausführlicher Kapitel 2.4.
[8] Dalai Lama (2015, 9).
[9] Vgl. u.a. zur Kritik des Christentums und der christlichen Kirchen aus unterschiedlichen Perspektiven z.B. Weber (1904/2006), Moser (1980), Flasch ( 2013), Drewermann (1990).
[10] Vgl. die Analyse der kirchlichen Unterstützung der Flucht von NS-Verbrechern ‚Exodus der Massenmörder‘ in: https://www.spiegel.de/geschichte/rattenlinie-nazis-und-kriegsverbrecher-auf-der-flucht-a-1032156.html, 9.8.2017, 11.5.2021
[11] Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Pax_Christi, 1.11.2019, 20.11.2019.
[12] Vgl. ausführlicher hierzu https://www.sicherheitneudenken.de/, o.D., 12.5.2021
[13] Zum Syndrom gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit vgl. u.a. Heitmeyer (2012).
[14] Dies hat sich dann später im Daoismus geändert, der sich dann zum Teil im Sinne eines philosophischen Niveauabfalls transformierte und auf ‚Götter, Klingelchen und Glöckchen‘ Wert legte.
[15] Vgl. ausführlicher Kapitel 3.4.
[16] „Die Zeit“ berichtet über Aktivitäten der katholischen Pax-Bank in den vergangenen Jahren: „Dem Bericht zufolge hatte die Bank fast 578.000 Euro in Aktien des Rüstungskonzern BAE Systems investiert. Das Unternehmen produziert unter anderem Raketensysteme und Kampfflugzeuge.“ (https://www.zeit.de/online/2009/32/katholisch-pax-bank-wertpapiere, 26.7.2018).
[17] Voßkühler (2017, 42).
[18] Vgl. Voßkühler (2017, 45).
[19] Vgl. hierzu ausführlicher in Kap. 3.4.
[20] Dieser Abschnitt ist in etwas modifizierter Form meinem Buch ‚Kultureller Transfer und Bildungsinnovation‘ entnommen worden (Moegling 2017, 26f.).

1.7 Psychische Krisen: Durchsetzung instrumenteller Vernunft und Massenneurose


Gesellschaft und psychische Strukturen

Bereits Marx/Engels ziehen eine deutliche Verbindung zwischen psychischen Strukturen, Denkweisen und gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen:
„Bedarf es tiefer Einsicht, um zu begreifen, daß mit den Lebensverhältnissen der Menschen, mit ihren gesellschaftlichen Beziehungen, mit ihrem gesellschaftlichen Dasein auch ihre Vorstellungen, Anschauungen und Begriffe, mit einem Worte auch ihr Bewußtsein sich ändert?
Was beweist die Geschichte der Ideen anders, als daß die geistige Produktion sich mit der materiellen umgestaltet. Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse.“ [1]
Mit der sich entwickelnden Industriegesellschaft – und dies gilt noch viel stärker in der digitalen Gesellschaft – wird ein Menschentypus hervorgebracht, der durch eine Formung der Weltwahrnehmung gekennzeichnet ist, die Horkheimer (1947/1986) als instrumentelle Vernunft kennzeichnet. Die Ausschaltung von empathischen Gefühlen und die Einengung des Denkens orientiert an instrumenteller Effizienz bedeutet, die natürliche und soziale Mitwelt nur daraufhin zu betrachten, inwieweit sie der egoistischen Interessensdurchsetzung von Nutzen ist. Hierbei liegt der Maßstab im wirkungsvollen Einsatz von Mitteln, um einen Zweck, z.B. eine angemessene Rendite, zu erzielen. Alle Überlegungen und eingesetzten Mittel werden diesem Zweck untergeordnet. Störende Gedanken und Gefühle werden verdrängt, z.T. ins Unterbewusste abgeschoben.
Die Anwendung der Rational-Choice-Theorie in den Wirtschaftswissenschaften zeigt idealtypisch, wie diese instrumentelle Vernunft zu funktionieren hat. Handlungsmöglichkeiten werden danach ausgewählt und rational abgewogen, inwieweit sie die optimalen Möglichkeiten zur Nutzenmaximierung bieten, ohne dass die persönlichen Kosten den Nutzen übersteigen. Hierhinter steht das Menschenbild des ‚homo oeconomicus‘, der eigennützig, selbstzentriert und unter Verdrängung der Emotionalität handelt. Persönlicher Nutzen wird maximiert, Kosten werden möglichst auf die anderen abgewälzt. Die Interpretation von Situationen und die selektive Wahrnehmung einer Situation richten sich also danach, welche Wahrnehmung den größten Nutzen bietet. [2] Im Mittelpunkt des in diesem Sinne rational handelnden und entscheidenden ‚homo oeconomicus‘ steht der persönliche ökonomische Erfolg. Er versucht soziale Situationen so zu kontrollieren, dass seine eigene Interessensdurchsetzung und Bedürfnisbefriedigung nicht gefährdet ist. Er ist in erster Linie konkurrenzorientiert, ist aber auch in der Lage, mit anderen zu kooperieren, wenn dies seiner persönlichen Nutzenmaximierung dient. Er – der ja genauso eine Frau sein kann – kann sogar empathisch sein, wenn dies seinen Interessen dient. Er ist macht sich höchstens dann um gesellschaftliche Probleme Sorgen, wenn dies seine Rendite gefährdet. Er ist der Globalisierungsgewinnler, dessen imperiale Lebensweise den Planeten zugrunde richtet. Der ‚homo oeconomicus‘ ist der Prototyp des kapitalistisch sozialisierten Menschen.
Marx/Engels beschreiben bereits für das 19. Jahrhundert, dass das kapitalistische Gesellschaftssystem alle bisherigen Verhältnisse und Bindungen brutal zerreißen und einen bestimmten Menschentypus hervorbringen würde. Die Klasse, die vom Kapitalismus vor allem ökonomisch und politisch profitiert, die Klasse der Kapitaleigentümer, würde das Denken der Menschen dominieren und:
„kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriglassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ‚bare Zahlung‘. (…) Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst. (…) Sie hat mit einem Wort an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt.“ [3]
Instrumentelles Denken hat – nach Horkheimer – einen subjektiven Vernunftbegriff zum Hintergrund, also wie das einzelne Individuum im Rahmen des Zweck-Mittel-Denkens in optimierter Weise handeln kann. Hingegen sind seiner begrifflichen Unterscheidung nach objektive Vernunftentwürfe auf als wertvoll erachtete Ziele einer Kultur gerichtet. Das individuelle Verhalten hierbei ist – im Gegensatz zum technisch-instrumentellen Denken – an einem Denken orientiert, das diese Ziele versteht, kritisch durchdenkt und im Falle positiver Akzeptanz zur Richtschnur des eigenen Handelns macht. Das entwickelte und gereifte Humane bildet sich daher nicht ausschließlich in einem technisch-instrumentellen Verständnis von Vernunft ab, sondern zeigt vor allem in einer Vernunft, die auf das kritische und unabhängige Durchdenken von Zielen des Zusammenlebens gerichtet ist und an der Verantwortlichkeit für das übergeordnete Ganze orientiert ist.
Max Horkheimer zieht die Verbindung zwischen technischer Entwicklung und Entmenschlichung, die nun durch die Digitalisierung und ein hybrides Mensch-Technik-System noch eine aktuelle Variante erhalten hat:
„Das Fortschreiten der technischen Mittel ist von einem Prozess der Entmenschlichung begleitet. Der Fortschritt droht das Ziel zunichte zu machen, das er verwirklichen soll – die Idee des Menschen.“ [4]
Hier kann es natürlich nicht um ein Plädoyer gegen technischen Fortschritt generell gehen, nämlich dann nicht, wenn er dem Humanen oder auch der Mensch-Umwelt-Beziehung dient. Es geht allerdings um die Verhinderung einer Überwältigung des Menschen (und seiner Umwelt) durch die von ihm eingesetzte menschliche Technik und um die Kritik einer Vernunft, deren Grundlage nicht kritisches und theoriegeleitetes Denken sondern eine Unterwerfung unter ein rigoroses Zweck-Mittel-Denken ist – so Horkheimer:
„Als die Idee der Vernunft konzipiert wurde, sollte sie mehr zustande bringen, als bloß das Verhältnis von Mitteln und Zwecken zu regeln; sie wurde als das Instrument betrachtet, die Zwecke zu verstehen, sie zu bestimmen.[5]
Eine objektive Vernunft im von Horkheimer gemeinten Sinne ist dementsprechend eine Vernunft, die aus sich heraus zielgerichtet mit bestimmten Werten verbunden ist, wie z.B. Gerechtigkeit, Toleranz und Glück.
Herbert Marcuse verweist in diesem Sinne auf die Verbindung von Gesellschaftsstruktur und Individualität. Gesellschaft werde mehr und mehr eindimensional und forme entsprechend die Bedürfnisstrukturen des Individuums. An die Stelle kritischen Denkens und befreiten sowie der Befreiung dienenden Handelns würde eine psychische Unterwerfung unter die Bedürfnisformierung der Gesellschaft treten. Derartige Bedürfnisse sind vor allem Konsum- und Statusbedürfnisse, deren Durchgängigkeit an die Stelle brutaler Unterwerfung im Sinne einer subtilen sozialen Kontrolle treten würden:
„Die Menschen erkennen sich in ihren Waren wieder; sie finden ihre Seele in ihrem Auto, ihrem Hi-Fi-Empfänger, ihrem Küchengerät. Der Mechanismus selbst, der das Individuum an seine Gesellschaft fesselt, hat sich geändert, und die soziale Kontrolle ist in den neuen Bedürfnissen verankert, die sie hervorgebracht hat. (…)
Es ist daher kein Wunder, dass die sozialen Kontrollen in den fortgeschrittensten Bereichen dieser Zivilisation derart introjiziert worden sind, daß selbst individueller Protest in seinen Wurzeln beeinträchtigt wird. Die geistige und gefühlsmäßige Weigerung ‚mitzumachen‘ erscheint als neurotisch und ohnmächtig. Das ist der sozialpsychologische Aspekt des politischen Ereignisses, von dem die gegenwärtige Periode gekennzeichnet ist: das Dahinschwinden der historischen Kräfte, die auf der vorhergehenden Stufe der Industriegesellschaft die Möglichkeit neuer Daseinsformen zu vertreten schienen.“ [ 6]
Wenn sich nun instrumentelles Denken mit autoritären Persönlichkeitsstrukturen verbindet, entsteht ein Persönlichkeitstypus der von Theodor W. Adorno u.a. beschriebenen autoritären Persönlichkeit, die gern nach oben buckelt und nach unten tritt, Minderheiten diskriminiert, ganze Menschengruppen abwertet. [7] Dieser Persönlichkeitstypus fügt sich funktional in hierarchische Strukturen ein und ist das Produkt von Unterdrückung und Unterwerfung in den gesellschaftlichen Sozialisationsprozessen sowie entsprechend hierarchischen Strukturen in Politik und Wirtschaft. Gesellschaftliche Strukturen setzen sich in Charakterstrukturen um und haben einen Bezug zu psychoanalytisch zu betrachtenden Persönlichkeitsprozessen:
„Um die ‚Internalisierung‘ des gesellschaftlichen Zwangs zu erreichen, die dem Individuum stets mehr abverlangt als sie ihm gibt, nimmt dessen Haltung gegenüber Autorität und ihrer psychologischen Instanz, dem Über-Ich, einen irrationalen Zug an. Das Individuum kann die eigene soziale Anpassung nur vollbringen, wenn es an Gehorsam und Unterordnung Gefallen findet; die sadomasochistische Triebstruktur ist daher beides, Bedingung und Resultat gesellschaftlicher Anpassung.“ [ 8]

Zur psychischen Situation in herrschaftsbesetzten Strukturen

Die Identifikation mit der Entfremdung kann auch durchaus für formal demokratische Gesellschaften gelten, welche die Demokratie im fassadenhaften Anspruch zum Verfassungsprinzip erklären, die aber in der Realisierung, z.B. in den Familienstrukturen, den Unternehmen, den Schulen oder in dem Parteiensystem, nur verdeckt-autoritäre Gesellschaften darstellen.
Dieter Duhm zeigt in seinem 1972 erschienenen ‚linken Bestseller‘ (‚Angst im Kapitalismus‘) wie Realangst, die durch körperliche Gewaltausübung z.B. im Elternhaus entsteht, sich im Laufe der menschlichen Sozialisation in neurotische Angst umwandelt. Neurosen seien die „konservierte Realangst“ (Duhm 1972, 35), bei der die eigenen Bedürfnisse ins Unterbewusstsein verdrängt und dort neurotisch festgehalten würden. Dies sei eine psychologische Anpassungsleistung, so dass der Mensch in hierarchischen Strukturen von sich aus funktioniere und in der Regel auf offene Gewaltausübung verzichtet werden könne.
Duhm analysiert fast 50 Jahre später, dass gerade in Corona-Zeiten noch einmal die Angstdosis erhöht und das globale Angstpotenzial gesteigert werde. Und: Corona verschärft die psychischen Probleme von Angst, Depression und Vereinsamung, erhöht den ohnehin vorhandenen psychischen Druck. – „Corona is the condensation of a latent field of fear through which all of humanity is moving today.“ [9]
Der Psychologe und Kognitionsforscher Rainer Mausfeld (2019a) macht ebenfalls deutlich, dass der Aufbau latenter Angst ein effektives Machtinstrument der jeweils Herrschenden ist:
„Macht und Angst gehören in der politisch-gesellschaftlichen Welt eng zusammen. Macht bedeutet das Vermögen, seine Interessen gegen andere durchsetzen zu können und andere dem eigenen Willen zu unterwerfen. Macht hat also für den, der sie hat, viele Vorteile und für diejenigen, die ihr unterworfen sind, viele Nachteile. Macht löst bei den ihr Unterworfenen häufig Gefühle aus, von der Macht überwältigt und ihr gegenüber ohnmächtig zu sein. Macht erzeugt also Angst. Da Angst selbst wiederum Macht über die Geängstigten ausübt, haben diejenigen, die es verstehen, Angst zu erzeugen, eine sehr wirkungsvolle Methode, auf diese Weise ihre Macht zu stabilisieren und zu erweitern.“
Mit ängstlichen Menschen ist es schwierig, eine echte Demokratie aufzubauen. Allerdings könne eine „kapitalistischen Demokratie“ unter den Bedingungen einer subtil verinnerlichten Ängstlichkeit ihrer Bürger durchaus funktionieren. Kapitalismus und Demokratie würden sich in einem Grundwiderspruch befinden und können nur durch die neurotische Angst ihrer Bürger funktionieren, die es nicht wagen würden, die Eigentumsfrage, d.h. die Frage nach der Abschaffung der privaten Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel, zu stellen. [10]
Natürlich stellt sich hierbei sofort auch die Frage, ob dies tatsächlich ein psychisches Phänomen ist, das nur spezifisch für den Kapitalismus gilt. In den realsozialistischen Ländern wurde ebenfalls aus einer Kombination aus Realangst sowie aus neurotischen Ängsten gearbeitet. Die Realangst, verhaftet, eingesperrt, gewalttätig verhört, umgebracht zu werden, entwickelte sich zu einer latent neurotischen Angst, zur psychischen Ausrichtung und auch dort in Richtung auf eine Systemanpassung.
Angst ist für alle hierarchischen Herrschaftsformen ein geeignetes Mittel ihrer Machtsicherung, solange hier keine echte Demokratie, also eine maßgebliche Partizipation in allen gesellschaftlich wichtigen Fragen für die Mehrheit der Gesellschaft vorhanden ist.
Mit ängstlichen Menschen, die zudem bemüht sind, selbst Amtsautorität und Angstinduktion in den gesellschaftlichen Institutionen aufzubauen, ist es problematisch, eine echte Demokratie aufzubauen und weiterzuentwickeln. Mit autoritär sozialisierten und neurotischen Persönlichkeiten ist es zudem sowohl schwierig, eine friedliche Gesellschaft aufzubauen, als auch den Frieden in der Welt zu bewahren.
Hierbei stellen insbesondere die militärisch gedrillten und national eingeschworenen jungen Menschen in den Armeen der Welt ein hochproblematisches Potential autoritär disziplinierter Persönlichkeiten und instrumenteller Vernunft dar, die es gewohnt sind, ohne Zweifel äußern zu dürfen, Gehorsam zu leisten und Befehle auszuführen, die über Tod oder Leben entscheiden.
Die Zunahme instrumentell und autoritär sozialisierter Menschen soll als psychisches Krisenphänomen angesehen werden. Hierbei sind auch die Analysen von Adorno zur sexuell frustrierten autoritären Persönlichkeit zu berücksichtigen, deren Frustration und Triebstau sich in Gewalteruptionen niederschlagen.
Auch neuere Arbeiten von Hans-Joachim Maaz zur narzisstischen Persönlichkeit und ihrem überhöhten Wunsch nach Anerkennung machen deutlich, dass bei der aufgrund defizitärer Kleinkind-Erfahrungen narzisstisch gestörten Persönlichkeit – insbesondere auch bei verantwortlichen Politikern – der Versuch vorliegt, ihre eigentliche Verunsicherung mit Machtstreben und kriegerischem Gebaren bis hin zur „Kriegslust“ zu kompensieren (Maaz 2023).

Wilhelm Reich: „ein hochproblematisches Potential autoritär disziplinierter Persönlichkeiten“

In seiner Rede an den ‚kleinen Mann‘ charakterisiert der österreichische Arzt, Psychoanalytiker und Soziologe Wilhelm Reich 1948 den ‚kleinen Mann‘ als einen autoritär sozialisierten kranken Menschen, der solange Schreckliches anrichten wird, bis es ihm gelingt, sich selbst zu erkennen und zu entwickeln:
„ …du warst ein wenig betrunken, und du warst gerade von Übersee heimgekehrt, aus dem Kriege, und ich hörte dich die Japaner als ‚häßliche Affen‘ bezeichnen. Und dann sagtest du mit dem bestimmten Ausdruck im Gesicht … ‚Wißt ihr, was man mit diesen Japs an der Westküste machen sollte? Jeden einzelnen aufknüpfen sollte man, aber nicht rasch, sondern ganz langsam, indem man alle fünf Minuten die Schlinge am Hals um eine Windung enger dreht‘ … Hast du jemals ein neugeborenes japanisches Baby in den Armen gehalten, kleiner Patriot? Nein? Du wirst Jahrhunderte japanische Spione und amerikanische Flieger und russische Flieger und russische Bäuerinnen und deutsche Offiziere und englische Anarchisten und griechische Kommunisten aufknüpfen, erschießen, mit Elektrizität verbrennen, in den Gaskammern ersticken, doch an deiner Verstopfung des Darmes und des Verstandes, an deiner Liebesunfähigkeit, an deinem Rheumatismus und an deiner Geisteskrankheit wird sich nicht das geringste ändern. Keine Schießerei und keine Hängerei wird dich aus dem Dreck ziehen, in dem du steckst; sieh dich selbst an, kleiner Mann! Es ist deine einzige Hoffnung!" [11]
Eine erst in den letzten Jahrzehnten häufiger thematisierte psychische Erkrankung liegt im Narzissmus begründet. Narzissmus ist eine Form übertriebener und extremer Selbstliebe. Natürlich sollte eine psychisch gesunde Persönlichkeit sich selbst akzeptieren und sich selbst zugeneigt sein. Dennoch gibt es eine Grenze bedingungsloser Selbstakzeptanz. Wenn diese überschritten wird, zählen nur noch egozentrisch die eigenen Bedürfnisse und Interessen. Hiermit verbunden ist die Unfähigkeit zu lieben, sich einem/r Partner_in in achtungsvoller Verbundenheit zuzuwenden, eine tragfähige Verbindung über einen längeren Zeitraum einzugehen.

Verbunden mit dem Narzissmus ist der Wunsch nach beständiger Bestätigung und der beständigen Spiegelung des Selbst in den Augen der anderen. Das US-amerikanische DSM (Diagnostical and Statistical Manual of Mental Disorders) führt für die narzisstische Persönlichkeitsstörung folgende Merkmale auf: Allwissens- und Allmachtsphantasien, Anspruchsdenken, Mangel an Empathie und Neid, leicht gekränkt.  Um Kränkungen zu verarbeiten und das innere Gleichgewicht wieder zu erlangen neigen narzisstisch gestörte Persönlichkeiten häufig entweder zu autoaggressivem Verhalten oder zu Aggressivität gegenüber anderen (Milch 2009).

Wenn Kinder im Säuglingsalter – so die Psychoanalytikerin Benigna  Gerisch  – nicht die nötige Zuwendung der Mutter bekämen, würde dies sich für sie traumatisch auswirken. Dann würden sie ihr Leben lang hinter dieser Zuwendung hinterherlaufen, indem sie sich diese Zuwendung und die Bestätigung ersatzweise im Rahmen des sekundären Narzissmus beständig besorgen müssen (vgl. (Hasel 2024).

Gefährlich wird es, wenn narzisstische Persönlichkeiten Macht in Partnerschaftsbeziehungen oder in der Gesellschaft bekommen. Probleme und Konflikte werden nicht verantwortlich gelöst, sondern vor allem aus der eigenen egozentrischen und affektiv beeinflussten Bedürfnislage heraus, ohne die Bedürfnisse und Interessen der anderen zu sehen. Narzisstische Verhaltensweisen und Störungen in dem vorhandenen Umfang sind allerdings auch Ausdruck gesellschaftlicher Veränderungen. Während in konventionellen Gesellschaften der Einzelne hinter der Gesellschaft zurückzutreten hat, ist die individualisierte und vermarktbare Persönlichkeit in postkonventionellen Gesellschaften das über Sozialisationsprozesse vermittelte Idealbild gesellschaftlicher Entwicklung.
Wilhelm Reich sieht den Ausweg zu Recht in einer Bewusstwerdung („sieh dich selbst an“). Erst, wenn sich Menschen zum Bezugspunkt ihres kritischen Nachdenkens machen, haben sie die Chance, aus den vorgegebenen normativen Grenzen herauszutreten und auch psychisches Neuland zu betreten. Hier müssen sich strukturelle Veränderung und (auch z.T. professionell unterstützte) Selbstarbeit wechselseitig entwickeln und ergänzen. 

 

Fazit: Menschen, die sich psychisch den auf Ausbeutung, Entfremdung, Gewalttätigkeit und Kriegstreiberei ausgerichteten Strukturen über Identifikationsprozesse unterwerfen, können nicht zum historischen Subjekt friedfertiger Welt- und Gesellschaftsentwicklung werden. Erst Menschen, die ihr humanes Potenzial zu entdecken und entfalten gelernt haben, können letztendlich Träger einer auf Emanzipation und Friedfertigkeit gerichteten gesellschaftlichen Bewegung werden.

Insbesondere die neurotische psychische Struktur erscheint als Hindernis für eine echte Demokratisierung von Gesellschaft, die mehr als eine Schein- bzw. eine Fassadendemokratie ist. Auch das die Psyche dominierende instrumentelle Denken und der damit verbundene Habitus des ‚homo oeconomicus‘, der prioritär im Sinne seiner egozentrischen Nutzenmaximierung entscheidet, stellen ein Hindernis für eine gesellschaftliche Neuordnung dar, die an Solidarität, Ökologie und Gemeinwohl orientiert ist. Auch die narzisstische Persönlichkeitsstörung stellt ein Hindernis für solidarisches und verantwortungsvolles Verhalten dar.
Die zunehmende Remilitarisierung der Welt und die Wiederkehr soldatischer Disziplin und nationalchauvinistischen Denkens durch die wieder anwachsenden nationalen Armeen und militärischen Koalitionen prägen wieder vermehrt die Jugend der Welt. Dies hängt – neben den davon Überzeugten und Freiwilligen – vor allem entweder mit staatlicher Repression, mit psychischer Manipulation oder mit gesellschaftlicher Perspektivlosigkeit zusammen. Wo Jugendliche sich in wohlhabenden Gesellschaften frei entscheiden können, z.B. in Deutschland, haben Armeen Rekrutierungsprobleme.
Militär benötigt autoritär sozialisierte Persönlichkeiten, die sich bereitwillig unterwerfen, wirkt aber auch in diese Richtung hin. Eigenart und Kritikfähigkeit sind in der Befehlssituation nicht gefragt. Der Soldat im Einsatz wird gezwungen, seine Individualität aufzugeben und zu einem Rädchen im militärischen Getriebe zu werden. Soldaten müssen sich zum Instrument in der Befehlskette degradieren lassen. Sie müssen bereit sein zu töten, aber auch das Risiko einzugehen, sich erschießen, verbrennen oder in die Luft sprengen zu lassen. Der Preis, den sie für ihre militärische Existenz zu zahlen haben, ist hoch. Die Folgen ihres Verhaltens für andere sind ebenfalls tödlich.


Anmerkungen Kapitel 1.7

[1] Marx/Engels (1848/1983, 44).
[2] Vgl. Hill (2015, 29ff.)
[3] Marx/Engels (1848/1983), 26.
[4] Horkheimer (1947/1986, 13).
[5] Horkheimer (1947/1986, 21).
[6] Markuse (1964/1980, 29).
[7] Der Untersuchungsansatz von Adorno ähnelt hier dem theoretischen Ansatz ‚gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit‘ bei Heitmeyer (2012).
[8] Adorno (1950/1996, 323).
[9] https://verlag-meiga.org/corona-and-the-other-reality/, 11.2.2021, 4.5.2021.
[10] Vgl. Mausfeld (2019 a u. b).
[11] Reich (1948/2013, 104f.).


1.8      Die Krise der Männlichkeit

Seit Vinnais Buch „Das Elend der Männlichkeit“ (1977) sowie dem Buch „Jungen – Kleine Helden in Not – Jungen auf der Suche nach Männlichkeit.“ (Schnack/Neutzling 1990), Theweleits zweibändigem Werk über die Männerphantasien (1977/ 1978) sowie vergleichbaren internationalen Publikationen ist zumindest in den Mittelschichten der westlichen Länder deutlich geworden, dass patriarchalische Verhältnisse nicht nur ungerecht, sondern auch gefährlich für den Weltfrieden sind. [1]

Patriarchalische Strukturen sind durch das Wirken autoritärer Persönlichkeiten, durch Anpassung nach oben und Unterdrückung nach unten, männliche Aggressivität, Dominanzverhalten, Muskelverpanzerung, Rigidität im Denken und Fühlen, zwanghafte Charakterstrukturen sowie maskulinen Größenwahnsinn gekennzeichnet. Dies können natürlich sowohl Männer als auch Frauen realisieren, aber zumeist waren es die Herrenmenschen, die Millionen junger Menschen in den Tod führten. Bei klugen Frauen war im Durchschnitt die Hemmschwelle wesentlich höher, junge Männer in den Krieg zu schicken, wenn es doch auch die Frauen früher in der Regel waren, die Kinder vornehmlich gewindelt, gefüttert, bei den ersten Schritten an der Hand gehalten, das Rechnen, Schreiben und Lesen beigebracht sowie sie in die Pubertät begleitet haben. Wenn jetzt zunehmend auch Männer diese Aufgaben im Zuge der Gleichberechtigung übernehmen, ist zu hoffen, dass auch hier diese hemmende Wirkung eintritt. Andererseits sind Frauen, die sich unter patriarchalischen Verhältnissen hochgedient haben und entsprechend sozialisiert wurden, oftmals ebenfalls durch männlich-aggressives Dominanzverhalten gekennzeichnet. Entsprechend sozialisierte Frauen können sich genauso patriarchalisch, dominant und aggressiv verhalten, wie dies Männer praktizieren. Sie übernehmen dann einfach die negativen Aspekte der traditionellen Männerrolle, da sie erfahren haben, dass dies in einer männlich dominierten Hierarchie positiv konnotiert wird.

Auch noch immer gibt es Frauen in verschiedenen Teilen der Welt, die ihre Kinder zum ‚Dienst am Vaterland‘ und im Sinne einer militärischen Sozialisation erziehen. Wilhelm Reich verschont daher auch nicht die ‚kleine Frau‘, die den ‚kleinen Mann‘ heranzieht, ihn von seinen Bedürfnissen fernhält, ihn psychisch klein werden lässt, so dass er für die Gesellschaft brauchbar, einsetzbar und gefährlich für die Mitwelt wird – an die ‚kleine Frau‘ gerichtet:

„Du hast das Glück der Menschen in deinen Händen gehabt, und du hast es verspielt! Du hast Präsidenten geboren, und du hast sie mit Kleinlichkeiten ausgestattet! … Du hast die Welt in Händen gehabt, und am Ende hast du deine Atombomben über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen; dein Sohn, meine ich, hat sie abgeworfen, als Probe aufs Exempel! … du hattest nicht die Menschlichkeit, die Männer und Frauen und Mädchen und Jungen in Hiroshima und Nagasaki zu warnen! Du brachtest nicht die Größe auf, menschlich zu sein. Deshalb wirst du untergehen, lautlos, wie ein Stein im Meer versinkt. Es ist nicht wichtig, was du nun denkst und sagst, kleine Frau, die idiotische Generäle gebar. In 500 Jahren wird man über dich lachen und staunen. Daß man nicht schon jetzt staunt und lacht, ist ein Stück der Misere der Welt!“ [2]

Patriarchalische Strukturen sind durchaus noch in ernstzunehmenden Residuen in westlichen Ländern vorhanden, verstärken sich z.T. wieder aufgrund der Identitätsprobleme insbesondere von ungebildeten Menschen, welche die komplexen Prozesse der Globalisierung und der internationalen Beziehungen nicht verstehen. Männliche Verunsicherung und Überforderung führt zur Komplexitätsreduktion psychischer Strukturen und zum Rückfall in eine längst überholte Männerrolle – autoritär, kommunikationsunfähig und gewalttätig, manchmal auch rechtsextrem. Maskulinätsbilder einer militanten Männlichkeit werden beim Militär erwünscht und gestärkt, auch wenn man sich hier etwas mehr Intelligenz wünschen würde.

In kriegerischen Auseinandersetzungen insbesondere im afrikanischen und asiatischen Raum werden die Mädchen und Frauen dann oft auch zum Opfer männlicher sexueller Gewalt. Gezielte Massenvergewaltigungen werden dann zum militärischen Mittel, um eine Gegenpartei – oft auch in asymmetrischen Konflikten – zu demütigen und zu demotivieren.

 | „Die Erinnerung lässt Schmerz und Demütigung wieder aufleben: Wie Soldaten die Frauen und Mädchen zusammentrieben, um sie zu vergewaltigen. Wie Müttern vor den Augen ihrer Kinder die Kleider vom Leib gerissen wurden und sie ihre Töchter nicht vor der Gewalt schützen konnten. Diese und andere Gräuel schilderten Rohingya-Flüchtlinge, die vor Myanmars Armee nach Bangladesch flohen. Das brutale Vorgehen wurde laut der UN-Sonderbeauftragten für sexuelle Gewalt in Konflikten, Pramila Patten, vom Militär befohlen, organisiert und verübt. Auch Grenzpolizisten und Milizen seien an Verbrechen wie Gruppenvergewaltigungen oder sexueller Versklavung beteiligt gewesen. Für diesen Dienstag hat die Bundesregierung den Schutz von Frauen in Konflikten auf die Agenda des UN-Sicherheitsrats gesetzt, in dem Deutschland momentan den Vorsitz hat.“ [3]

Patriarchalische Strukturen sind ebenfalls noch in zahlreichen Kulturen und Religionen ausgeprägt, in denen eine massive Unterdrückung der Frauen und Mädchen stattfindet bis hin zur Geschlechtsverstümmelung, der erlaubten Prügelstrafe durch Männer und dem sogenannten ‚Ehrenmord‘ an Frauen in traditionellen muslimischen Familien.

Die Frauen leisten Widerstand

Insbesondere in den westlichen Ländern hingegen sind viele Frauen bereits seit langer Zeit aufgebrochen, gegen männliche Gewalt und die massive Benachteiligung der Frauen aufzubegehren und gesellschaftliche Beteiligung in einem emanzipativen Sinne zu erringen. In vielen Bereichen – insbesondere dort, wo es auf Sozialität und Kommunikation ankommt – haben sie vor allem diejenigen Männer überholt, die dem traditionellen, autoritären, wenig flexiblen und diskursunfähigen Männerbild entsprechen.

Aber auch heute noch dürfen in der katholischen Kirche Frauen keine Priesterinnen werden, geben manche orthodoxe Juden, bestimmte Vertreter eines erzkonservativen Christentums oder salafistische Muslime Frauen prinzipiell keine Hand, dürfen Frauen in konservativen muslimischen Gesellschaften ihr Gesicht nicht in der Öffentlichkeit zeigen. Widerstand hiergegen wird brutal unterdrückt; die Männer kämpfen in diesen Institutionen und Gesellschaften einen Geschlechterkampf gegen ihre Frauen um die gesellschaftliche Macht.

Doch die Frauen wehren sich auch hier. Im Rahmen der kirchlichen Bewegung Kirche 2.0 setzen sie zivilgesellschaftliche Zeichen des Protests gegen die traditionelle Auslegung der katholischen Religion. Sie fordern ein Ende des Zölibats sowie die Berücksichtigung von Frauen bei allen Kirchenämtern, auch hinsichtlich der Positionen von Priesterinnen und Bischöfinnen. Auch am patriarchalischen Gottesbild wird im Rahmen von Ansätzen feministischer Theologie gerüttelt.

Frauen wehren sich auch vermehrt gegen autokratische bzw. diktatorische Regime. Insbesondere der Widerstand der Frauen gegen den belarussischen Diktator Lukaschenko war über Monate im Fokus der medialen Öffentlichkeit, bis die männlichen Sicherheitskräfte die Anführerinnen und weitere Frauen massenhaft unter Einsatz brutaler Gewalt verhaftete und ihrer Freiheit beraubte.

So gibt es auch beispielsweise in Finnland eine Gruppierung ‚Women for Peace‘, die sich gegen die destruktive Verwendung gesellschaftlicher Ressourcen für militärische Aufrüstung und Krieg wendet. Diese Gruppe finnischer Frauen fordert u.a. die Abschaffung des Verteidigungsministeriums zugunsten eines Ministeriums für Frieden und nachhaltiger Entwicklung. [4]

Bei Fridays for Future und Black Lives Matter sind es vor allem Frauen, die in diesen Bewegungen aktiv sind und ihre Lebenskraft in diese Bewegungen zusammen mit ähnlich gestimmten Männern einbringen.

Nicht nur in der Kirche sondern auch in der Politik ist in einem globalen Kontext vielerorts die Emanzipation nicht durchgesetzt, dominieren Männer die politischen Institutionen, kommen Frauen in zu wenige wichtige politische Ämter. Entsprechend stellte Michelle Bachelet, Under-Secretary-General und Executive Director of UN Women, folgende drei Forderungen auf, damit männlich dominierte politische Systeme verhindert werden:

„First, we have to remove the obstacles that keep women from participating effectively: mobility, finances, access to information, lack of public safety, and coercion, intimidation and violence.

Second, we must recognize that participation is one thing but real voice is another. Are women able to articulate and voice their rights, needs and preferences? How far are political parties internally democratic? Have women in civil society had the opportunity to debate common positions on the constitution, electoral law, safety during campaigns, and other issues?

Third and finally, democratic institutions have to be held accountable to women, and held accountable for meeting commitments to women's rights.

If a democracy neglects women's participation, if it ignores women's voices, if it shirks accountability for women's rights, it is a democracy for only half its citizens.“ [5]

Nicht nur zwischen Männern und Frauen sondern auch zwischen den Männern ist ein heimlicher und z.T. offener Kampf entbrannt, überall dort, wo es um die Konkurrenz um gesellschaftliche Positionen geht. Es stehen Männer mit höherer Sensibilität, intellektueller Kritikfähigkeit und diskursiven kommunikativen Fähigkeiten denjenigen Männern konflikthaft gegenüber, die ihre gesellschaftliche Position und ihre Interessen (oft verdeckt) gewalttätig und autoritär durchzusetzen versuchen. Diese Konflikte sind in allen gesellschaftlichen Bereichen wie z.B. der Wirtschaft oder auch in der internationalen Politik zu beobachten.

Zusätzlich ist zu bedenken, dass die ausschließliche Unterteilung der Menschheit in Männer und Frauen, verbundenen mit den entsprechenden Rollenzwängen, Menschen ausschließt, die sich weder als Mann oder Frau sehen, trans- und intersexuelle Menschen. In vielen Kulturen sind zudem Menschen von Stigmatisierung und Strafverfolgung bedroht, deren sexuelle Orientierung auf gleichgeschlechtliche Partner und Partnerinnen ausgerichtet ist. 


Die Chancen einer veränderten Rollenzuschreibung


In einer freien und toleranten Gesellschaft wird zunehmend weniger Wert auf die Einhaltung der Geschlechtsrollendisziplin und auf die Normierung von sexueller Orientierung gelegt. Je autoritärer die Gesellschaften sind und/oder je zwingender ihr Selbstverständnis an traditionellen Religionen ausgerichtet ist, umso deutlicher lässt sich ein Rassismus in diesen Gesellschaften gegenüber sexuellen Abweichungen bzw. sexueller Freiheit beobachten.

Eine in die Krise geratene traditionelle Männlichkeit sollte die Chancen ergreifen, die in der Emanzipation der Geschlechter angesiedelt sind. Die Neuinterpretation der Männerrolle ermöglicht auch ein emotionales Verhalten, z.B. Weinen vor einem anderen Menschen. Männer lernen kochen und sich intensiver der Kindererziehung widmen, ohne ihr berufliches Engagement aufzugeben. Die neue Männerrolle ermöglicht, dass auch Männer gern tanzen oder Yoga praktizieren und doch auch noch gern Fußball spielen. Die veränderte Männerrolle sieht ein partnerschaftliches Verhältnis den Frauen gegenüber vor. Solche Männer haben eine höhere Sensibilität für die Probleme anderer und sind empathischer. Sie stehen weniger unter geschlechtsbezogenen Rollenzwängen und sind freier in ihrer geschlechtlichen Rolleninterpretation.

Eine gesellschaftliche Neuordnung geht von der Chancengleichheit von Männern und Frauen, natürlich auch von der gleichen Bezahlung für die gleiche Arbeitstätigkeit, aus. Sie ermöglicht auch dazwischen liegenden und neuen Geschlechtsidentitäten Anerkennung und bietet die Voraussetzung für eine gerechte Partizipation von Menschen mit unterschiedlichen Geschlechtsidentitäten an den gesellschaftlichen Lebenschancen.

Piccone (2017) fasst dementsprechend Forschungsergebnisse zum Zusammenhang zwischen Gleichberechtigung der Geschlechter und der Qualität von Demokratie zusammen:

„Overall, research shows that democracy and gender equality form a mutually reinforcing relationship in which higher levels of liberal democracy are a necessary but not sufficient condition for higher levels of gender equality and physical security of women. In addition, higher levels of gender equality are strongly correlated with a nation’s relative state of peace, a healthier domestic security environment, and lower levels of aggression toward other states. Strategies to strengthen democracy and human rights, therefore, should emphasize women’s empowerment, accountability for violence against women and girls, and closing the political and economic gender gap. Similarly, efforts aimed at achieving gender equality should emphasize more inclusive societies, including attention to such factors as race, age, ethnicity, religion, and sexual orientation“

Natürlich liegt auch in der an Emanzipation orientierten Neustrukturierung der Geschlechterrollen eine Bedeutung für die Friedfertigkeit des männlichen Teils der Menschheit begründet: Wen auch zunehmend Männer ihre Babies wickeln, sie füttern, sie durch Kitzeln zum Lachen bringen, ihnen die ersten Worte beibringen, mit ihnen als Kinder spielen und sie verantwortlich über das Kindesalter zum Jugendalter begleiten, werden sie nachdenklich, wahrscheinlich widerständig werden, wenn nationalchauvinistisch zum Krieg gehetzt wird und die von ihnen zusammen mit ihrer Partnerin bzw. ihrem Partner geliebten, erzogenen und geförderten Kinder in den Krieg ziehen sollen.

Zukünftig dürfte die Kategorie Geschlecht bzw. Gender zunehmend eine geringere Rolle spielen, wenn gesellschaftlich eine demokratische Neuordnung unter einer emanzipatorischen Perspektive eintreten würde. Hierbei würde dann auch eine bereits jetzt aussagekräftige intersektionale Betrachtungsweise noch an Bedeutung gewinnen, bei der die Verbindung der Gender-Thematik und der Zusammenhang zu anderen sozialen Merkmalen für die analytische Einordnung hinsichtlich sozialer Chancen eine Rolle spielen wird – so die Bildungswissenschaftlerin Katharina Walgenbach (2012, 81):

„Unter Intersektionalität wird dabei verstanden, dass soziale Kategorien wie Gender, Ethnizität, Nation oder Klasse nicht isoliert voneinander konzeptualisiert werden können, sondern in ihren ‚Verwobenheiten’ oder ‚Überkreuzungen’ (intersections) analysiert werden müssen. Additive Perspektiven sollen überwunden werden, indem der Fokus auf das gleichzeitige Zusammenwirken von sozialen Ungleichheiten gelegt wird. Es geht demnach nicht allein um die Berücksichtigung mehrerer sozialer Kategorien, sondern ebenfalls um die Analyse ihrer Wechselwirkungen.

Im Zuge einer gesellschaftlichen Neuordnung wird noch weniger isoliert danach zu fragen sein, welches Geschlecht jemand hat, sondern wie sein Mann-Sein und ihr Frau-Sein bzw. was dazwischen liegt oder sich neu herausformt mit anderen sozialen Merkmalen, wie z.B. soziale Lage, Gewalt oder Sprache, korrespondiert.

Eher traditionell und autoritär strukturierte Gesellschaften werden die konservativen Geschlechterrollen streng aufrechterhalten und mit aller ihnen zur Verfügung stehenden Macht gegen die anders strukturierten LSBTIQ-Entwürfe verteidigen wollen. In innovativen und freien Gesellschaften wird die Krise der Männlichkeit eher konstruktiv genutzt und führt zu einer Neuinterpretation der Geschlechterrollen, die diese bei einer intersektionalen Betrachtungsweise unterschiedlicher und miteinander in Verbindung stehender Diskriminierungsmerkmale weniger bedeutsam erscheinen lassen.

Insbesondere der Ansatz einer feministischen Sicherheitspolitik fordert daher ein intersektionales und inklusives Verständnis von Friedenspolitik ein, das die Kriege aber auch das Sicherheitsdenken im Rahmen patriarchalischer Strukturen überwinden hilft. [6]

Die russische Politikwissenschaftlerin Ekaterina Schulmann, die im April 2022 Russland verlassen musste, fasst den Zusammenhang zwischen Geschlecht und Friedenspolitik aus einer feministischen Perspektive zusammen:

„Trotz aller Fortschritte des Feminismus wird das Schicksal der Welt also immer noch von alten Männern entschieden, die die ethnische Mehrheit ihrer Länder vertreten: sowohl in den USA als auch in China und in Russland. Wir sollten in Zukunft wirklich für mehr Vielfalt optieren. Oder zumindest verhindern, dass Männer das Entscheidungsmonopol haben, denn das ist zu gefährlich.“ [7]
Die Dominanz älterer Männer in zentralen politischen Entscheidungspositionen ist sicherlich zu kritiseren. Aber auch das Hineinkommen von Frauen in zentrale Positionen allein sorgt noch nicht für mehr Sicherheit und Friedfertigkeit. Margaret Thatcher (Falkland-Krieg), Maria Sacharowa (Kiewer Regime wird „bald im All verschwinden“), Victoria Nuland („Fuck the EU“) und Annalena Baerbock („Wir führen einen Krieg mit Russland“) zeigen, dass auch Frauen zum Bellizismus in der Lage sind, wenn sie männliche Attribute übernehmen.
Unabhängig davon ist selbstverständlich zu fordern, dass niemand wegen seines Geschlechtes benachteiligt werden darf. Männer und Frauen sind gleichberechtigt an Entscheidungspositionen zu beteiligen, sind gleichwertig auszubilden, haben gleichen Lohn für dieselbe Arbeit zu bekommen und müssen gleich von dem Gesetz und den Exekutivorganen geschützt werden.
Menschen, die sich zwischen den Geschlechtern oder queer verorten, darf dies nicht zu einem existenziellen Nachteil gereichen. Eine Gesellschaft ist so frei, wie sie die Freiheit auch auf sexuelle Minderheiten ausdehnt.



Anmerkungen Kapitel 1.8

[1] Ich bedanke mich sehr herzlich für das Proofreading insbesondere dieses Kapitels durch die internationale Friedensaktivistin Ulla Klötzer. Ihre kluge Übersetzung und ihre ergänzenden Hinweise haben das Kapitel sehr bereichert.
[2] Reich (1948/2013, 96).
[3] In: https://www.welt-sichten.org/artikel/36048/vergewaltigung-als-kriegswaffe, 23.4.2019, 20.11.2019.
[4] http://www.naisetrauhanpuolesta.org/ministry-for-peace-and-sustainable-development/, 3/ 2021, 28.3.21
[5] https://www.unwomen.org/en/news/stories/2011/5/democracy-and-gender-equality, 5.5.2011, 21.4.2020
[6] Vgl. z.B. Lunz (2022)
[7] Vgl. Schulmann (2022)

2 Drohende globale Szenarien – Unordnung als Ordnungs-       prinzip

Die Weiterentwicklung der soeben analysierten krisenhaften Zustände in der Gegenwart hin zu negativ ausfallenden Zukunftsszenarien muss in dieser Form nicht eintreten. Allerdings besteht eine reale Möglichkeit, dass sie eintreten können, wenn die Menschheit zu keinem Paradigmenwechsel kommt und ihr Destruktionsverhalten fortsetzt.

Die schnelle weltweite Verbreitung des Coronavirus im Frühjahr 2019 machte eins deutlich: Die Welt ist aufgrund der immer leistungsfähiger werdenden Verkehrsverbindungen und der damit verbundenen Reisetätigkeit zu einem globalen Dorf geworden. Eine Gefahr bzw. eine Fehlentwicklung an einem globalen Ort kann auch in kurzer Zeit eine Gefährdung für Menschen bedeuten, die eigentlich weit entfernt leben. Gleichzeitig macht der Umgang mit dem Coronavirus deutlich, wie schnell Freiheitsrechte eingeschränkt werden können, und wie wichtig es ist, danach wieder gemeinsam darauf zu achten und auch durchzusetzen, dass dies kein Dauerzustand bleibt.

Der Philosoph Hans Jonas entwickelte eine sogenannte ‚Heuristik der Furcht‘ und meinte hiermit, dass mögliche Fehlentwicklungen in aller Schärfe und Bedrohlichkeit beschrieben werden müssen, um den potenziellen Risiken direkt ins Auge zu sehen und um sich zu entschließen, die eigene Verantwortung für den Planeten und das Schicksal zukünftiger Generationen zu erkennen – so Jonas (1979/2015, 7):

„Was kann als Kompaß dienen? Die vorausgedachte Gefahr selber! In ihrem Wetterleuchten aus der Zukunft, im Vorschein ihres planetarischen Umfanges und ihres humanen Tiefgangs, werden allererst die ethischen Prinzipien entdeckbar, aus denen sich die neuen Pflichten neuer Macht herleiten lassen.“

Natürlich muss diese Negativvision anschlussfähig an die bereits analysierten Entwicklungen sein, darf nicht aus der Luft gegriffen sein. Auch sollte über Jonas Forderung einer Heuristik der Furcht hinaus im Anschluss hieran eine positive Vision humaner Entwicklung im Sinne einer Neuordnung vorgestellt werden. Natürlich kann die Furcht vor einem katastrophalen planetaren Szenario zum globalen Umsteuern motivieren. Doch die genaue Richtung einer globalen Umsteuerung und konstruktive Impulse für eine Identitätsbildung können nur durch eine positive Vision vermittelt werden, die aus dem Zusammenspiel gesellschaftstheoretischer Analyse, wissenschaftlicher Untersuchung, ethischer Reifung und den Erfahrungen alternativ gelebter politischer Praxis sowie veränderten Arbeitens und Zusammenlebens generiert wird.


 

2.1  Das militärische Vernichtungsszenario 

Gelingt es nicht, in einem globalen Maßstab ernsthaft abzurüsten und werden militärische Atom- und Wasserstofftechnologie sowie biologische und chemische Kampstoffe weiterverbreitet, so ist die Menschheit vor einer Apokalypse nicht mehr zu schützen. Über Hunderte von Generationen hinweg wird der Planet Erde in weiten Teilen unbewohnbar sein. 

Abrüstungsverhandlungen über nukleare Waffentechnologien sind derzeit für die existierenden Atommächte kein ernst zunehmendes Thema mehr. Im Gegenteil: Alle Atommächte sind dabei, ihre Nuklearwaffen zu modernisieren und für flexible Situationen einsetzbar zu machen. Wenn gegenwärtig und in der Zukunft tatsächlich alle nuklearen Abrüstungsverträge bzw. nuklearen Entwicklungsverbote aufgekündigt werden, ist der Einsatz von Nuklearwaffen absehbar. Hiervon wird keine Weltregion verschont bleiben. 

Der Einsatz biologischer und chemischer Waffen kann unabsehbare Folgen für das Leben auf diesem Planeten haben. Werden schädliche Bakterien und Viren erst einmal entwickelt und freigesetzt, wird es schwierig sein, diese wieder zu vernichten bzw. Gegenmittel zu entwickeln. Die Ausbreitung des Coronavirus zeigt die Gefährlichkeit einer Verseuchung durch Viren, auch wenn hier noch wesentlich gefährlichere Viren als der Coronavirus denkbar sind. 

Die Ereignisse in Syrien zeigen, wie schwierig es ist, den Einsatz von Chemiewaffen in einem umkämpften Gebiet überhaupt nachzuweisen bzw. einer kriegführenden Partei nachweisbar zuzuordnen. 

Waffen aus dem 3D-Drucker stellen eine noch kaum einzuschätzende Bedrohung für den innergesellschaftlichen Frieden und den Weltfrieden dar. Hier ist dann keine Registrierung und Waffenkontrolle mehr möglich. 

Alle Großmächte arbeiten zurzeit intensiv an der Entwicklung von Killer-Robotern, die mit künstlicher Intelligenz ausgestattet, autonom entscheiden können, ob sie Menschen töten wollen oder nicht. Auch die Auswahl der zu tötenden Menschengruppen bleibt ihnen überlassen. Wird die Menschheit zukünftig von mit künstlicher Intelligenz ausgestatteten Maschinen bedroht werden? Die Genfer Konvention und die Haager Landkriegsordnung sowie weitere Festlegungen des internationalen Kriegsrechts werden im Zuge des Einsatzes von Killerrobotern obsolet. Hier wird auf alles geschossen, was sich bewegt, ist es einmal als feindlich identifiziert. 

Warum arbeitet man hieran? Gibt es denn überhaupt keine Grenze und ethische Leitlinie mehr, welche die Menschen vor der technologisch gesteuerten Selbstvernichtung schützt? Sind die machthabenden Menschen denn wahnsinnig geworden? 

Des Weiteren werden die Mittel hybrider Kriegsführung zu einer sich zuspitzenden Dimension der Kriegsführung führen, wenn hier nicht rechtzeitig entgegengesteuert wird. Unausdenkbar sind die Folgen, wenn Cyber-Angriffe zum Hacken von Atomtechnologie führen oder atomare Erstschläge auslösen. 

Auch die Verbreitung von Propaganda und Fake News über das Internet, Cyber-Angriffe zur Lahmlegung nationaler Infrastrukturen, gezieltes Eindringen terroristischer Gruppen sowie der nachfolgende Einsatz von Mitteln konventioneller Kriegsführung dürften über die Krim und die Ostukraine hinaus öfters angewendet werden, wenn es zu keinen internationalen Friedensbeschlüssen mit geeigneten Sanktionen kommt. 

Der Krieg zwischen Aserbeidschan und Armenien hat gezeigt, dass zukünftige Kriege nur noch mit dem massiven Einsatz von Drohnen gewonnen werden können. Kamikaze-Drohnen stürzen sich auf Kampfpanzer. KI-gesteuerte Drohnenschwärme (‚Loitering Weapons‘) halten sich stundenlang in der Luft auf und greifen dann im nicht mehr abzuwehrenden Schwarm ausgespähte Ziele an. 

Wenn es den UN nicht gelingt, weltweit hinsichtlich der verschiedenen Konfliktregionen handlungsfähig zu werden, werden Großmächte mit hegemonialen Ambitionen sich in dem vorhandenen Machtvakuum durchsetzen und die globalen Einflusssphären wieder unter sich aufteilen. Dies dürften die USA, China, Russland und möglicherweise auch Saudi-Arabien sein. 

Solange die Vereinten Nationen unzulängliche Strukturen besitzen, im Rahmen derer sie nicht wirksam gegen illegale Kriege, Geheimarmeen, Menschenrechtsverletzungen und inszenierten Terror vorgehen können, solange muss mit einer Destruktion der von der UN-Charta angestrebten Friedensordnung gerechnet werden. 

Es wird zunehmend zur Bildung von ‚Failed States‘ kommen, zu vermehrten Stellvertreterkriegen von Großmächten bzw. deren Allianzen. So sind die NATO-Länder seit einiger Zeit dabei, die Grundsätze und die Institutionen der UN zunehmend zu schwächen – so der NATO-Gegner und umstrittene Schweizer Friedensforscher Daniele Ganser (2017, 328): 

„Die historischen Fakten der letzten 70 Jahre zeigen deutlich, dass NATO-Länder wiederholt andere Länder angegriffen und das in der UNO-Charta verankerte Gewaltverbot verletzt haben. Die NATO ist keine Kraft für Sicherheit und Stabilität, sondern eine Gefahr für den Weltfrieden.“ 

Doch – so muss entgegengehalten werden – nicht nur die NATO-Aktivitäten sind problematisch. China versucht seinen hegemonialen Einfluss im südchinesischen Meer zu stärken, stellt eine Bedrohung für Taiwan dar, hat Tibet längst eingenommen und als eigenständigen Staat vernichtet. Die Russische Föderation führt einen brutalen Angriffskrieg in der Ukraine mit weltweiten Folgen. Russland unterstützt des Weiteren militärisch den syrischen Diktator, während die USA die oppositionellen Syrischen Streitkräfte sowie einen Teil der Kurden unterstützte. Das NATO-Mitglied Türkei fällt in Syrien ein und bekämpft die kurdischen Regionen völkerrechtswidrig. Israel vertreibt die Palästinenser aus den ihnen zugesprochenen Gebieten, die Palästinenser schießen Raketen auf Israel. Saudi-Arabien und der Iran führen unter Mitwirkung westlicher Staaten einen Stellvertreterkrieg im Jemen. Indien und Pakistan befinden sich im militärischen Konflikt hinsichtlich der Bombardierung von Terrorcamps in Pakistan und der umkämpften Provinz Kaschmir. Im westafrikanischen Mali kämpfen deutsche und französische Truppen gegen den dortigen islamistischen Terror. Die Situation in Venezuela wird bald zeigen, ob es dort zu einer Intervention US-geführten Militärs kommen wird. 

Auch ist das Entstehen einer neuen Blocksituation bereits jetzt absehbar. Das vom Westen abgewiesene Russland wendet sich zunehmend der VR China zu und schließt hier wirtschaftliche und militärische Abkommen. Zukünftig stehen sich dann USA/ Europa/ NATO auf der einen Seite und Russland/ China sowie verbündete Staaten auf der anderen Seite feindlich gegenüber. Eine derartige Konfrontation und die damit verbundene militärische Disruption sind dann im Interesse der jeweiligen militärisch-ökonomischen Komplexe sowie der in den jeweiligen Staaten vorhandenen aggressiv-nationalistischen Kräfte. 

Gelingt es nicht, die UN zu stärken und gleichzeitig zu demokratisieren, dann ist zukünftig ein chaotischer Zustand absehbar, wo nationalistische Staaten sowie an regionaler Hegemonie orientierte Staatenverbünde zur Durchsetzung ihrer Interessen permanent Kriege führen. Hierbei wird die modernste und effektivste Kriegstechnologie eingesetzt werden. Vor allem die Zivilbevölkerung wird Schaden nehmen. Ein nuklear ausgetragener Konflikt ist absehbar – selbst wenn die nukleare Kettenreaktion durch einen Hackerangriff oder versehentlich ausgelöst würde.
Abgesehen hiervon stellen die global aufgestellten Atomkraftwerke eine latente Bedrohung dar. Nicht nur durch die mit ihrem Betrieb verbundenen Unsicherheit eines GAU, sondern auch über die Möglichkeit terroristischer Anschläge oder der Gefährdung des Betriebs in Kriegszonen, wie z.B. in der Ukraine. [1] 


Beispiel für die Gefahr eines versehentlich ausgelösten  Nuklearkrieges 

Das vorliegende Ereignis lag in einer Zeit wachsender politischer und militärischer Anspannung und könnte auch für ein militärisches Zukunftsszenario von Bedeutung sein. [2] 

Im Januar 1981 trat Präsident Ronald Reagan, der damals die UDSSR als „Reich des Bösen“ beschimpfte, sein Amt als US-Präsident an. Während die Sowjetunion die SS-20-Atomraketen in Osteuropa aufgebaut hatte, wollten die Amerikaner im Sinne des NATO-Doppelbeschlusses (verabschiedet Dezember 1979) in Westeuropa Pershing-II-Raketen stationieren. Eine militärische Eskalation war dann im Bereich des Möglichen, als am 1. September 1983 ein südkoreanisches Passagierflugzeug von der Flugabwehr der Sowjetunion abgeschossen wurde. Alle 269 im Flugzeug befindlichen Personen kamen ums Leben. 

In dieser historisch angespannten Situation nimmt der 44 Jahre alte Oberstleutnant Stanislaw Petrow, ein Ingenieur, am Abend des 25. Septembers 1983 seinen Dienst in einer Satellitenüberwachungsanlage der UDSSR, 100 Kilometer südlich von Moskau, auf. Kurz nach Mitternacht, um 0:15 Moskauer Zeit, geht ein Raketenalarm los. Es wird vom computergesteuerten Frühwarnsystem ein Start einer US-Interkontinental-Rakete in Nordamerika in Richtung UDSSR gemeldet. Da Petrow weiß, dass die antizipierten Angriffsszenarien von einem Raketenhagel von verschiedenen Raketenbasen aus ausgehen, entscheidet er sich, einen Fehlalarm zu melden. 

Doch während seines Telefonats mit dem Generalstab sieht er, dass der Computer vier weitere Raketenstarts anzeigt. Er muss sich nun wieder entscheiden, ob er einen echten Angriff meldet. Dies würde eine sofortige massive nukleare Gegenreaktion der UDSSR auslösen, die wiederum nuklear bestückte Raketen in Richtung USA schicken würde. Petrov ist sich zwar nicht ganz sicher, aber entscheidet wiederum, dem Generalstab mitzuteilen, dass es sich um einen erneuten Fehlalarm handele und er die Ursachen herausfinden wolle. 

Hiermit hat er Millionen Menschen das Leben gerettet. Es zeigt sich danach, dass seine Entscheidung richtig war und hier ein Fehler im computergesteuerten Frühwarnsystem vorlag. Das System hatte Reflexionen des Sonnenlichts an Wolken über einer US-amerikanischen Luftwaffenbasis als Raketenstarts gedeutet. 

Erst nach dem Niedergang der UDSSR wurde dieser nukleare Risikofall bekannt. Stanislaw Petrow machte später die Brisanz der damaligen Situation 2006 in seiner Rede vor den Vereinten Nationen deutlich: „Das Schlimmste in dieser Nacht war, dass ich massive Zweifel hatte, ob meine Entscheidung richtig war. Aber zum Glück war sie es.“ 

Auch in der Zukunft ist ein Atomschlag aus Versehen möglich, der entweder durch technisches oder menschliches Versagen ausgelöst werden kann. Wenn zukünftig die Nukleararsenale weiterhin aufgerüstet werden, wenn weitere Staaten Nuklearwaffen bekommen, dann steigt auch die latente Gefahr eines versehentlich ausgelösten Nuklearkriegs. 

Petrow warnte bis zu seinem Tod 2017 vor dem Ausbruch eines Atomkriegs, der die Menschheit auslöschen würde. 

Fazit: Die Welt kommt zunehmend in Unordnung bzw. ökonomische, politische und kulturelle Interessensunterschiede werden zunehmend mit Gewalt und militärischen Mitteln ausgetragen. 

Findet die UNO nicht zu ihrer eigentlichen Bestimmung, wird die internationale Situation der Zukunft vor allem durch Krieg, militärische Vernichtung von Menschen, Umweltzerstörung und Massenfluchten bestimmt sein. Das militärische Negativszenario wird für Milliarden Menschen apokalyptische Ausmaße annehmen, wenn nicht mehr beherrschbare Massenvernichtungswaffen zum Einsatz kommen. Es wird eine Spirale der Gewalt entstehen, die kaum noch kontrollierbar sein wird.


Anmerkungen zu Kapitel 2.1


[1]  Vgl. zur Gefahr eines Nuklearkriegs Trautvetter (2023) und zur Gefahr einer Kernschmelze in der Ukraine Koch (2023).
[2] Die Rekonstruktion der Ereignisse orientiert sich an https://www1.wdr.de/stichtag/stichtag-stanislaw-petrow-verhindert-atomkrieg-100.html, 26.9.19, 1.10.19 sowie an https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/held-des-kalten-krieges-stanislaw-petrow-verhinderte-einen-atomkrieg-15206332.html, 19.9.17, 1.10.19.

2.2      Das ökologische Verwüstungsszenario

„People are suffering. People are dying. Entire ecosystems are collapsing. We are in the beginning of a mass extinction. And all you can talk about is money and fairy tales of eternal economic growth. How dare you?!”

Greta Thunberg (2019) vor der UN-General-Versammlung

Wenn es nicht gelingt, die Erwärmung der Erdatmosphäre zum Ende des 21. Jahrhunderts unter 1,5 Grad Celsius zu halten oder sogar um zwei Grad Celsius und mehr zu verhindern, sind gravierende Folgen für das Leben auf dem Planeten Erde zu erwarten. [1]

Bereits 2008 warnte das deutsche Umweltbundesamt mit dem differenzierten Verweis auf ökologische Kipp-Punkte und Rückkoppelungseffekte auf die drohende Klimakrise:

 | „Kipp-Punkte bergen die Gefahr drastischer, teilweise abrupter Klimaänderungen. Als Folge könnten Maßnahmen zur Anpassung nicht rechtzeitig ergriffen werden, oder mit sehr hohem Aufwand und extrem hohen Kosten verbunden sein. Deshalb müssen zwingend die anthropogenen Emissionen von Treibhausgasen gemindert werden. Der Mensch macht mit dem anhaltenden Ausstoß von Treibhausgasen ein globales Experiment mit der Lufthülle seines Planeten, von dem er nicht genau weiß, wie es ausgehen wird. Bereits in diesem Jahrhundert können Kipp-Punkte im Klimasystem eintreten. Das ist Anlass zu schnellem und gezieltem Handeln.“ [2]

Wie wenig ist seitdem geschehen. Die Gefahr eines abrupten Auslösens von Kipp-Punkten mit den komplexen und dramatischen Auswirkungen ist nun deutlich nähergekommen. Und der 6. Assessment Report des Weltklimarats (IPPC 2021a) stellt zusammenfassend die Langfristigkeit der bereits eingetretenen Umweltschäden fest:

"Many changes due to past and future greenhouse gas emissions are irreversible for centuries to millenia, especially changes in the ocean, ice sheets and global sea level."

Unterschiedliche Klimaszenarien

Hierbei gehen die Einschätzungen über das Ausmaß z.B. des Temperaturanstiegs in den nächsten Jahrzehnten sowie bis zum Ende des Jahrhunderts oder die Analysen hinsichtlich des zu erwartenden Anstiegs des Meeresspiegels zwischen den Einschätzungen des Weltklimarats (IPCC) und anderen Klimaforschern auseinander – so der Klimawissenschaftler David Spratt und der Spezialist für Emissionshandel Ian Dunlop (Spratt/Dunlop 2019, 5) in der Einordnung unterschiedlicher Forschungsergebnisse:

„In one example, the IPCC’s Fifth Assessment Report in 2014 projected a sea-level rise of 0.55-0.82 metre by 2100, but said ‚levels above the likely range cannot be reliably evaluated‘. By way of comparison, the higher of two US Department of Defence scenarios is a two-metre rise by 2100, and the ‚extreme‘ scenario developed by a number of US government agencies is 2.5 metres by 2100.

Another example is the recent IPCC 1.5°C report, which projected that warming would continue at the current rate of ~0.2°C per decade and reach the 1.5°C mark around 2040. However the 1.5°C boundary is likely to be passed in half that time, around 2030, and the 2°C boundary around 2045, due to accelerating anthropogenic emissions, decreased aerosol loading and changing ocean circulation conditions.“

Wenn es gelingt – so der IPPC (2021 b, 18) – bis 2040 die Klimaerwärmung unter 1,5 Grad C zu halten, dann wäre dies auch bis zum Ende des 21. Jahrhunderts möglich, wenn die richtigen für das Klima relevanten Entscheidungen getroffen werden. Wenn jedoch nicht die richtigen klimapolitischen Entscheidungen getroffen werden, ist laut IPPC mit einer eskalierenden globalen Erwärmung mit apokalyptischen Folgen zu rechnen (siehe Tabelle 6):

Table 6: Der beste Verlauf und die sehr wahrscheinliche Bandbreite im negativsten Klimaszenario (IPPC 2021b, 18), in Grad Celsius.
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 Scenario | Near term 2021-2040       | Mid-term 2041-2060             | Long-term 2081-2100
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best estimate very likely range  best estimate  very likely range  best estimate  very likely range
         1.60C.       | 1.30C. – 1.90C.     | 2.40C.          |1.90C.-3.00C.        | 4.40C | 3.30C -5.70C.

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Determinanten eines klimatischen Negativszenarios

Diese Differenzen können hier natürlich nicht entschieden werden. Allerdings soll im Rahmen eines Negativszenarios die pessimistischere Einschätzung verwendet werden. Hieraus können sich dann folgende Entwicklungen aus einer holistischen Perspektive, die das Denken in Verbindungen und Zusammenhängen betont, ableiten lassen:

Eine Folge des menschengemachten Klimawandels ist das bereits aktuell beobachtbare Abschmelzen der Pole und der Gletscher, die Erwärmung der Meere und die beginnende Überflutung der Küstengebiete, der Flussufer sowie der tiefer gelegenen Regionen insbesondere in den ärmeren Weltregionen, denen die Mittel für ökologische Anpassungsmaßnahmen fehlen, wie zum Bauen von Dämmen oder zur Veränderung der Baunormen. 
So fasst die World Meteorological Organization (2024) für 2023/2024 diese Entwicklung alarmierend zusammen: 

„Weather hazards continued to trigger displacement in 2023, showing how climate shocks undermine resilience and create new protection risks among the most vulnerable populations.“

Es wird hierbei, wenn diese Entwicklung sich fortsetzt, mit einer weitgehenden Unbewohnbarkeit der tiefer liegenden Regionen der Erde zu rechnen sein. Unbestritten wird sich durch das Abschmelzen der Pole und das sich erwärmende Meereswasser der Meereswasserspiegel erhöhen. 

Die durchschnittliche mögliche Erhöhung um 2,5 Meter bis 2100 bildet aber nicht die Extrempunkte des Wasserstandes ab. Insbesondere bei Sturmfluten kann die Erhöhung des Meereswasserspiegels um ein Mehrfaches dieses Wertes betragen und zu einer Überflutung bis tief in die Kontinentalbereiche hineinführen. 

Inseln und Küstenregionen sowie tieferliegende Binnenflächen werden überflutet werden, die dortigen Lebensbedingungen vernichtet und wiederum Migration ausgelöst werden. Nicht nur Inselgruppen werden verschwinden, sondern auch Länder, wie z.B. Bangladesch und Indien, werden in weiten Teilen überschwemmt werden und Massenfluchten auslösen. Hierbei wirkt sich der Anstieg des Meereswasserspiegels in Verbindung mit dem in dieser Region bereits derzeit zunehmend verheerenden Monsunregen besonders gefährdend aus. [3]

Auch die Verschiebung der klimatischen Verhältnisse hin zu Dürren, Flächenbränden, gewaltigen Stürmen und massiven Regenfällen führt zu einer Veränderung des Lebens auf der Erde. Weite Regionen werden unbewohnbar. Es wird mit zukünftigen Durchschnittstemperaturen von 50-60 Grad am Persischen Golf gerechnet, so dass hier für den Durchschnitt der Bevölkerung kein menschliches Leben mehr möglich bzw. nur noch in künstlich gekühlten Räumen möglich sein wird. [4]

Spratt/Dunlop (2019, 6) sagen voraus, dass selbst wenn die Pariser Klima-Verträge eingehalten werden würden, noch keine stabile Klimaentwicklung zu erwarten sei. Insbesondere klimatische Rückkoppelungseffekte würden die Erde für die menschliche Zivilisation bis zum Ende des Jahrhunderts weitgehend unbewohnbar machen:

„With the commitments by nations to the 2015 Paris Agreement, the current path of warming is 3°C or more by 2100. But this figure does not include “long-term” carbon-cycle feedbacks, which are materially relevant now and in the near future due to the unprecedented rate at which human activity is perturbing the climate system. Taking these into account, the Paris path would lead to around 5°C of warming by 2100. Scientists warn that warming of 4°C is incompatible with an organised global community, is devastating to the majority of ecosystems, and has a high probability of not being stable.“

Ein Negativszenario einer derart sich zunehmend erhitzenden Biosphäre muss mit zunehmenden Waldbränden rechnen. Große Flächen der Erde werden zu brennen beginnen. Durch massive Sturmböen angetriebene Feuerwalzen werden alles verschlingen, was sich ihnen in den Weg stellt: Bäume und Büsche, Häuser, Tiere und Menschen. Derartige Feuerstürme sind für den Menschen nicht mehr zu kontrollieren und zu bekämpfen und sind auf massive Regenfälle angewiesen, von denen man nicht weiß, ob sie gerade in den brennenden Regionen aufgrund der Klimaverschiebung fallen werden. Die Verödung ganzer Landstriche ist die Folge mit humanitären, ökologischen und finanziellen Problemen in einem globalen Maßstab.

Das Auftauen des arktischen und sibirischen Permafrostbodens wird durch das damit verbundene Freisetzen von Kohlendioxid und Methan zu einem massiven Anstieg der Klimaerwärmung führen und alle damit in Wechselwirkung stehenden Prozesse abrupt verstärken.

Wenn es einer zu stärkenden UN nicht gelingt, skrupellose Regierungen von der generationenegoistischen Vernichtung des Regenwaldes für Zwecke der Viehzucht, des Sojaanbaus oder der Bodenspekulation abzubringen, dann wird auch hierdurch nicht nur die Lunge der Erde vernichtet, sondern auch eine einschneidende Klimaverschiebung bewirkt.

Global tobende Kriege und Emissionen durch Explosionen und Brände verschärfen die klimatische Entwicklung und verhindern gleichzeitig, dass wirkungsvolle Maßnahmen gegen die Dystopie des Klimas von den betroffenen Regionen getroffen werden können.

Katastrophaler Einfluss auf die gesellschaftliche und politische Entwicklung im globalen Maßstab

Massive Migration im Sinne von Massenfluchten bzw. Völkerwanderungen werden durch die Klimaverschiebung ausgelöst werden. Die bisherige Migration ist in diesem Sinne allenfalls als die Spitze des Eisbergs anzusehen, wenn im Falle weiterer ungehinderter Klimaerwärmung sich Milliarden Menschen flüchtend auf den Weg machen. Es ist unschwer vorstellbar, welche konflikthaften und auch militärischen Auseinandersetzungen sich aus diesen Verwerfungen im Kampf um die ökologisch noch intakten Regionen ergeben werden – so das internationale Friedensinstitut SIPRI:

„Climate Change poses a new class of security challenges that is confronting societies worldwide. Increased risk of famine, destroyed infrastructure, houses and shelter, and violent conflicts might all be consequences of climate change through gradual changes to ecosystems and extreme weather events.” [5]

Die Klimaerwärmung wird zu massiven Ernteausfällen und damit verbundenen Hungersnöten führen. Das globale landwirtschaftliche Ernährungssystem wird kollabieren. Der Kampf um Lebensmittel und das Überleben wird zu massiven Preissteigerungen, Plünderungen und militärischen Auseinandersetzungen führen.

Der Kampf um Trinkwasser wird sich einerseits aufgrund der zunehmenden Dürreperioden und andererseits aufgrund der sich durchsetzenden profitorientierten Privatisierung von Wasserquellen verschärfen. Privatisierte Wasserquellen werden von militärisch organisierten Sicherheitsdiensten gegen Überfälle von Gruppen durstiger Menschen bewacht werden. In den Dürregebieten wird es zum Verdursten insbesondere von Menschen kommen, die nicht mehr die finanziellen Mittel haben, das knappe und damit verteuerte Gut Wasser zu kaufen.

In anderen Teilen der Welt führt die Klimaverschiebung zum Aufeinanderprallen von Luftmassen mit extrem unterschiedlichen Temperaturen und zu entsprechend verheerenden Stürmen in Form von Tornados und Hurrikans. Häuser, Autos, Tiere und Menschen werden durch die Luft gewirbelt und zerschmettert. Hochhäuser stürzen ein, die Infrastruktur von Elektrizität, Wasser- und Gasleitungen, Internet wird irreparabel zerstört. Aus zerstörten Atomkraftwerken wird Radioaktivität freigesetzt, die in der Atmosphäre um die Erde zieht, abregnet und zu erhöhten Krebsraten und Missbildungen bei Menschen und Tieren führen wird.

Hierbei sind bisher nur einige Entwicklungen angesprochen. Gefahren, wie z.B. die Temperaturveränderung und die dadurch bedingte Umlenkung des Golfstroms, die Herauslösung des im Meeresboden gebundenen Methans, das Insektensterben durch den vermehrten Einsatz von Pestiziden in der Landwirtschaft, die Vernichtung sauberen Trinkwassers durch die Überdüngung der Felder, sowie die Plastikvermüllung der Meere und das Absterben allen Lebens in zunehmend größer werdenden Meeresregionen dürften zusätzliche Negativ-Szenarien darstellen, die die angesprochenen massiven Probleme noch verschärfen werden.

Die Frage ist, wann der Punkt erreicht ist, an dem es keine Rückkehr zur ökologischen Balance über viele Generationen hinweg geben wird. Hier gehen die wissenschaftlichen Einschätzungen sicherlich auseinander, ob dieser Punkt bereits erreicht ist oder erst nach einigen Generationen eintreten wird. So schreiben die renommierten Wissenschaftler und Club-of-Rome-Präsidenten Weizsäcker/Wijkman (2017, 194) in der Studie des Club of Rome vor allem hinsichtlich der Verbindung von ökologischem Desaster, Bevölkerungswachstum und unverantwortlichem militärischen und ökonomischen Verhalten zusammenfassend:

 „Es eilt sehr. Ein Systemkollaps ist eine reale Gefahr. Der Beweis für menschliche Auswirkungen auf den Planeten ist offenkundig. Radioaktive Reste von atmosphärischen Atombombentests findet man heute allenthalben. Das CO2 aus der fossilen Verbrennung hat die Chemie der Atmosphäre und der Ozeane verändert: (…) machen wir uns nichts vor. Wir stehen vor gewaltigen Herausforderungen bedingt durch das rasante Bevölkerungswachstum, die Übernutzung der Ressourcen und die damit einhergehende Verschmutzung, den Verlust der Biodiversität, und insgesamt erleben wir einen schleichenden Verlust der Lebensgrundlagen. Ihre Zuspitzung erfährt die Krise durch den ideologischen Glauben, dass der Verlust von hohem BIP-Wachstum zu einem ökonomischen Kollaps führen werde.“

Das Fortschreiten der Überbevölkerung bei ungebremstem Wachstumsdenken und Konsumverhalten führt zu einer verstärkten ökologischen Ausbeutung des Systems Erde unter den Bedingungen eines zunehmend überfüllten Planeten. Hierbei fallen jegliche Skrupel, auch klimaschädliche und gefährliche Ressourcen der Erde, wie z.B. Braunkohle, Öl oder radioaktives Material, zu verwenden. Ansätze biologischer Landwirtschaft und artgerechter Tierhaltung werden aufgrund des Bevölkerungsdrucks durch eine gesteigerte Massentierhaltung, also das massenhafte Quälen von Tieren, sowie die damit verbundene Nitratvergiftung der Böden und des Grundwassers, zurückgedrängt. 

Hierbei ist allerdings zu erwarten, dass nicht der Bevölkerungsdruck primär für die Umweltzerstörung verantwortlich ist, sondern insbesondere der unverantwortliche Verbrauch der Ressourcen durch den reicheren Teil der Weltbevölkerung.

Das reichste Prozent der Weltbevölkerung wird im Jahr 2030 – so eine in die Zukunft berechnende OXFAM-Studie – 30-mal soviel CO2 im Jahr 2030 in die Umwelt emittieren als es dies für die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels dürfte. Die ärmsten 10% der Weltbevölkerung hingegen werden einen äußerst geringen ökologischen Fußabdruck haben (vgl. Tab. 7).

Tab. 7: (zusammengestellt nach Roettig 2021)

 | Globale Einkommensgruppen/ Jahreseinkommen in Kaufkraftparität in US-Dollar | Projizierte Pro-Kopf-CO2-Emissionen im Jahr 2030 | Faktor in Bezug auf die für das 1,5-Grad-Ziel notwendigen maximalen CO2-Emissionen (2.3 Tonnen pro Kopf)
| Reichste 1%/ mehr als 172.000 | 70 | x 30
| Reichste 10%/ 55.000-172.000 | 21 | x 9
| Mittlere und untere Einkommen, 40%/ mehr als 9.800-55.000 | 5 | x 2
| Ärmste 50%/ weniger als 9.800 | 1 | x 0,43

Tab. 8:  

Einkommensgruppen und Klimaemissionen

(zusammengestellt nach Roettig 2021)
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Global income groups/              Projected per capita CO2 emissions            required for the 

annual income in purchasing    in 2030 Factor in relation to the                    1.5 degree target 

power parity in US dollars          maximum CO2 emissions                              (2.3 tons per capita)

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Richest 1%/                                                       70                                                                x 30    

more than 172,000 

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Richest 10%/                                                      21                                                                x 9

55.000-172.000 
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Middle and lower incomes, 40%/                      5                                                                 x 2

more than 9,800-55,000 

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Poorest 50%/                                                        1                                                                 x 0,43

less than 9,800
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Diese Entwicklung lässt sich voraussagen, wenn keine einschneidende Klimaschutz-maßnahmen und insbesondere keine Einschränkung des aufwändigen Lebensstils des reicheren Teils der Weltbevölkerung erfolgt.

Die gewalttätige Konkurrenz um die Nutzung der Ressourcen nimmt zu, je mehr Menschen in ihren Grundbedürfnissen aber auch insbesondere in ihren Luxusbedürfnissen zu befriedigen sind. Nicht nur der Kampf um sauberes Trinkwasser und Lebensmittel, auch der Kampf um Lithium und vergleichbare Rohstoffe, führen zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Menschengruppen und Regionen – so Hans-Jürgen Burchardt:

 | „Naturkatastrophen und Umweltschäden standen bei den Fluchtursachen in den letzten Jahren an erster Stelle und viele Prognosen gehen davon aus, dass die Zahl der Klimavertriebenen stark ansteigen wird. Auch hier wird deutlich: Die Industrienationen als Hauptverursacher des Klimawandels tragen Mitverantwortung dafür, dass Menschen flüchten. Dennoch wird weiter versucht, Fortschritt und Wohlstand auf Kosten der Natur zu erlangen. Besonders perfide ist dies in den Nord-Süd-Beziehungen, wo Natur nicht selten im Namen des Umweltschutzes zerstört wird. So wird nach dem Atomausstieg die deutsche Energiewende auch über billige Steinkohleimporte aus Kolumbien ermöglicht. Dort wird im stark umweltbelastenden Tagebau gefördert, ganze Gemeinden werden dafür gewaltsam vertrieben, Menschenrechtverletzungen sind an der Tagesordnung. Auch die vielgepriesene grüne Ökonomie, die auf Elektromobilität setzt, wäre ohne die Lithiumvorräte in den Anden nicht möglich. Vor Ort raubt die Lithiumförderung den Anwohnern aber ihre Lebensgrundlagen.“ [6]

Auch Spratt/Dunlop (2019, 9) beschreiben die gesellschaftlichen Konsequenzen einer Klimaverschiebung auf dem 3-Grad-Niveau. Staaten und Gesellschaften werden überfordert werden und unter extremen kollektiven Stress geraten:

„Massive nonlinear events in the global environment give rise to massive nonlinear societal events. In this scenario, nations around the world will be overwhelmed by the scale of change and pernicious challenges, such as pandemic disease. The internal cohesion of nations will be under great stress, including in the United States, both as a result of a dramatic rise in migration and changes in agricultural patterns and water availability. The flooding of coastal communities around the world, especially in the Netherlands, the United States, South Asia, and China, has the potential to challenge regional and even national identities. Armed conflict between nations over resources, such as the Nile and its tributaries, is likely and nuclear war is possible. The social consequences range from increased religious fervor to outright chaos. In this scenario, climate change provokes a permanent shift in the relationship of humankind to nature.“

Zusammenfassend lässt sich feststellen: Neben dem militärischen Bedrohungsszenario ist das ökologische Bedrohungsszenario am nahesten und am greifbarsten, welches sich über das sich rasant entwickelnde Bevölkerungswachstum noch verschärfen wird. Besonders bedrohlich erscheint hierbei, dass die negativen Folgen des Klimawandels sich hinsichtlich ihrer Verursachung zeitverzögert einstellen. Die Faktoren dieser Negativentwicklungen lassen sich hierbei ebenfalls nur zeitverzögert wieder zum Positiven verändern. Die Trägheit der Klimaveränderung lässt somit weniger die verursachenden Generationen die Folgen spüren sondern erst ihre Enkel- und Urenkelgenerationen. Diese wiederum werden ebenfalls aufgrund der planetaren Klimaträgheit die einschneidenden positiven Veränderungen ihres möglicherweise veränderten Verhaltens nicht mehr erleben. Dies begünstigt einen klimaschädlichen Generationenegoismus und hebt noch einmal die Notwendigkeit einer vorausschauenden Verantwortung der aktuell lebenden Generationen für die zukünftigen Generationen hervor. Diese Verantwortung kann durch die Analyse von wahrscheinlichen Negativszenarien bei fehlender radikaler Umsteuerung und Neuordnung in die Aufmerksamkeit gerückt werden.

Wie können Politiker und Gesellschaften noch über die Aufstockung der für Rüstung und Militär sowie der Förderung des Wirtschaftswachstums vorgesehenen Budgets nachdenken, wenn doch zukünftig derartige ökologische Herausforderungen drohen? Wie kurzsichtig und generationenegoistisch muss man sein, wenn man nicht alle Kräfte und Ressourcen so schnell wie möglich bündelt, um dem drohenden ökologischen Kollaps zu entgehen?

Wie stark müssen die agrarindustriellen Lobbys und Interessen sein, dass von der EU sogenannte Freihandels- und Investitionsschutzabkommen, wie z.B. mit den MERCOSUR-Staaten oder auch mit Kanada (CETA), abgeschlossen werden, die – trotz gegenläufiger Beteuerungen – de facto einen Freibrief zur Schädigung der Biosphäre darstellen?

Und aus einer friedensökologischen Perspektive: Wie viel Zeit bleibt noch, einen neuen Weltkrieg bzw. den permanenten Krieg im Rahmen ökologischer Verdrängungskonflikte zu verhindern? Werden Kriege im Rahmen symmetrischer und asymmetrischer Konflikte zunehmend bedrohlicher in Bezug auf den Kampf gegen die eintretende Klimakatastrophe?

Wie viel Macht werden die globalen Gegenkräfte haben, einem derartigen Wahnsinn noch wirkungsvoll zu begegnen?

Es zeigt sich, dass der holistisch zu begreifende Zusammenhang, wenn er im Rahmen einer Negativentwicklung zur Anwendung kommt, leider genauso effektiv in einem negativen Sinne systemisch wirkt, wie dies beim Zusammenwirken von Einflüssen hin zu einer positiven Entwicklung der Fall ist. Auch im Negativszenario wirkt alles miteinander verbunden und entfaltet daher eine sehr wirkungsvolle und globale Entwicklungsdynamik.
Nach dem Lesen dieses Kapitels werden vielleicht die Verzweiflung und die Ängste sowie die übernommene Verantwortung in den Aktionen der 'Letzten Generation' verständlicher - auch wenn man ihre Aktionsformen nicht billigen will.



Anmerkungen zu Kapitel 2.2

[1] Teile dieses Negativszenarios sind am Klima-Szenario von Spratt/Dunlop (2019) sowie am aktuellen Weltklimabericht des UNO-Weltklimarats (IPCC) orientiert, für den Fall, dass das 1.5 Grad-Ziel nicht erreicht wird und es zu einer Klimaerwärmung um zwei Grad und mehr kommen sollte, vgl. http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/klimawandel-ipcc-bericht-zum-1-5-grad-ziel-vorgestellt-a-1231805.html, vom 8.10.2018, 6.4.2019 und IPCC (2018, 2019).
[2] Umweltbundesamt (2008, 22).
[3] Vgl. u.a. Germund (2017).
[4] Vgl. u.a. Läubli (2015) und Stoller (2015).
[5] Vgl. hierzu Dellmuth/Gustafsson/Bremberg/Mobjörk (2017, 1).
[6] Burchardt (2017).

2.3  ‚Failed States‘ und die Hilflosigkeit der 

       internationalen Gemeinschaft

Es mehren sich zunehmend die Beispiele zusammenbrechender staatlicher Systeme. ‚Failed States‘ bzw. ‚Collapsed States‘ entstehen vor allem zunächst in den Peripherien bzw. den wirtschaftlich armen Ländern im globalen Kontext. Hussein M. Adam beschreibt am verheerenden Beispiel Somalias zu Beginn der 90-er Jahre die Merkmale eines ‚Failed States‘:

“The visible collapse of the Somali state has lasted half a decade. In some aspects the country appears to have reverted to its status of the nineteenth century: no internationally recognized polity; no national administration exercising real authority; no formal legal system; no public service; no educational and reliable health system; no police and public security services; no electricity or piped water systems; weak officials serving on a voluntary basis surrounded by disruptive, violent bands of armed youth.” [1]

In derart kollabierten Staaten bricht das staatliche Gewaltmonopol zusammen, und Gewalt wird dezentral durch unterschiedliche Gruppen ausgeübt. Das Vertrauen der eine Gesellschaft zusammenhaltenden Gruppierungen in die Regulationsfähigkeit des Staates ist aufgrund dessen längerfristigen und strukturell angelegten Verwerfungen, wie z.B. Korruption, Diktatur und extreme soziale Unterschiede, zerstört. Dies kann zu gewalttätigen Aufständen, regionalen Militärrevolten, zur regionalen Herrschaft von Warlords oder terroristischen Banden führen, welche die Bevölkerung unterdrücken und ausbeuten. Der Unterschied zu einem Systemwechsel oder einer Krise, die zu einer Nachfolgeregierung führt, ist insbesondere in der schwerwiegenden Zerstörung der Identifikation mit einem staatlichen System als solchem und dem Versagen zivilgesellschaftlicher Standards zu sehen – so Zartman (1995):

“What distinguishes this scenario from other instances of government change is the inability of civil society to rebound: to fill positions, restore faith, support government, and rally round the successor. The maimed pieces into which the contracting regime has cut society do not come back together under a common identity, working together, sharing resources. The whole cannot reassembled and instead the components of society oppose the center and fend themselves on the local level. Organization, participation, security, and allocation fall into the hands of those who will fight for it – warlords and gang leaders, often using the ethnic principle as a source of identity and control in the absence of anything else.” [2]

Sicherlich muss hierbei auch gefragt werden, ob das Kollabieren von Staaten nicht auch eine postkoloniale Reaktion auf das willkürliche Ziehen von Staatsgrenzen unabhängig von Stammesgebieten und kulturellen Zugehörigkeiten ist. Möglicherweise ist des Weiteren das System des westlichen Nationalstaates auch nicht das global verallgemeinerbare und angemessene Modell für jede Region und Kultur. Hier treffen also die Kritik an einer aufgezwungenen Nationenbildung und die postkoloniale Kritik aufeinander.

Das Auseinanderfallen von Staaten und das Entstehen von ‚Failed States‘ führen in jedem Fall zu einem längerfristigen Zustand der Unsicherheit und Angst für große Teile der Bevölkerung, zu Massenmord und Folter sowie zur Unterwerfung und Ausbeutung weiter Teile der Bevölkerung des ursprünglichen Staatsgebietes. Dies kann nach einer längeren Zeit zu neuen und auch regionalen, kleineren Staatsgebilden führen, kann aber auch auf nicht absehbare Zeit denjenigen überlassen bleiben, denen es gelingt, sich zu bewaffnen, Hierarchien zu bilden und Regionen zu terrorisieren.

Die Vereinten Nationen haben bisher noch keinen Weg gefunden, auf den Fall kollabierender Staaten angemessen zu reagieren. Die schrecklichen Massaker der Hutu-Mehrheit an der Tutsi-Minderheit in Ruanda, die islamistisch orientierten Versuche regionalen Terrors im arabischen Raum, die Einmischung um regionale Hegemonie kämpfender ausländischer Mächte im Jemen, die unsägliche Situation in Afghanistan sowie die Kollaboration von an Rohstoffen interessierten Konzernen mit Rebellengruppen in Zentralafrika zeigen die Hilflosigkeit der Vereinten Nationen im Umgang mit der Situation von ‚Failed States‘ und ‚Killing Fields‘. Doch robuste weltpolizeiliche Interventionen der Vereinten Nationen bzw. von beauftragten Allianzen sind notwendig, um Massaker, Massenvergewaltigungen und Folteranwendungen an der Zivilbevölkerung zu verhindern, sowie ein Verbleiben der UN-Interventionskräfte, bis sich neue tragfähige und die Menschenrechte achtende politische Strukturen gebildet haben [3] – so Michael Walzer:

“An independent UN force, not bound or hindered by the political decisions of individual states, might be the most reliable protector and trustee – if we could be sure that it would protect the right people, in a timely way.” [4]

Das Beispiel Afghanistans zeigt allerdings in einem negativen Sinne, was passieren kann, wenn Interventionen primär militärisch konzipiert werden. Wenn parallel zur militärischen Intervention, z.B. durch eine von den UN beauftragten Staaten-Allianz, keine entsprechenden Ressourcen zum Wiederaufbau eines Landes bereitgestellt werden, wird sich die Menschenrechtsproblematik nur in die Zukunft verlagern, werden Konflikte nicht zivilgesellschaftlich ausgetragen, werden terroristische Aktivitäten genährt, wird das System des Staates erneut kollabieren.

2.4    Religiöser Fanatismus und Terrorismus

Terroristische Organisationen benutzen religiösen Fanatismus, um sich gegenüber ihren Organisationsmitgliedern einer totalen Treue und Aufopferungsbereitschaft zu versichern. Zunehmend ersetzt religiöser Fanatismus extremistische politische Ideologien, da sich die Führer derartiger Organisationen auf diese Weise leichter ihrer Gefolgschaft versichern können.

Dies war bei den verheerenden christlichen Kreuzzügen der Fall, als räuberischer Eroberungsdrang und geostrategisches Denken mit christlichen Motiven besetzt wurde. Dies ist ebenfalls bei den islamistischen Terrororganisationen IS, Boko Haram und Al-Qaida der Fall, so dass nach dem terroristischen Einsatz und dem Selbstmordattentat die Belohnung im Paradies versprochen wird. Der vermeintlich göttliche Auftrag beseitigt jegliche Hemmschwelle im Töten und rechtfertigt jede Grausamkeit – wird sie doch gegen abgewertete und exkludierte Ungläubige bzw. Andersgläubige ausgeübt.

Dies ist ein terroristisches Gegenmodell zum Projekt der Aufklärung, das an der Säkularisierung, den Menschenrechten und an humanen Werten orientiert ist. War man eine Zeit lang der Auffassung, die an der Aufklärung orientierte Modernisierung würde alle Teile der Welt erfassen und auch religiöse Traditionen beseitigen, muss nun befürchtet werden, dass religiös legitimierte Diktaturen mit einem globalen Allmachtsanspruch zunehmen werden.

Wenn sich dies mit dem Besitz der Atombombe paart, sind die Folgen unabsehbar.

Normalerweise wird hier durchaus zu Recht der Iran, dessen Staatsreligion die schiitische Version des Islam ist, genannt. Auch das traditionalistisch sunnitisch ausgerichtete und hochgerüstete Saudi-Arabien ist hier zu nennen. Aber ebenso sind in diesem Zusammenhang Regierungsaktivitäten des israelischen Staats zu beobachten. Hierbei muss man – gerade als Deutscher – sehr vorsichtig in der Kritik von Maßnahmen der israelischen Regierung sein, muss genau hinsehen und differenziert argumentieren. Insbesondere ist zwischen Regierung, Staat und den verschiedenen Gruppierungen in der israelischen Bevölkerung zu unterscheiden. Zwischen orthodoxen Juden, militanten Siedlern im Westjordanland und israelischen Vertretern der BDS-Bewegung [5] ist hinsichtlich der politischen und kulturellen Einschätzung ein großer Unterschied zu machen.

Israel besitzt die Atombombe in einer äußerst konfliktreichen und Krisen geschüttelten Region voller Hass und religiöser Vorbehalte. Ein militanter orthodoxer Jude hat den jüdischen Friedensstifter, Friedensnobelpreisträger und Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin ermordet. Es wäre ein sehr bedrohliches Szenario, wenn militante Gruppierungen der jüdischen Orthodoxen, deren religiöser Fundamentalismus genauso wie der Fundamentalismus aller entsprechenden Religionen im Gegensatz zu den Werten der Aufklärung und der Menschenrechte steht, in Israel an Macht gewinnen würden. Noch problematischer wäre es, wenn sie maßgeblich an der Regierungsmacht beteiligt wären und gemäßigte, demokratisch gesinnte Israelis in ihrem kulturellen Geltungsanspruch und aus den gesellschaftspolitisch relevanten Positionen verdrängen würden.

Doch die weltpolitisch brisanteste Konstellation liegt in der Ausbreitung orthodoxer bzw. salafistischer Einflüsse des politisch-militanten Islams begründet, die neben Andersgläubigen insbesondere Menschen mit anderer Ausrichtung des islamischen Glaubens, also ebenfalls Muslime, zum Opfer ihrer Anschläge und Massenmorde werden lassen. Diese extremistischen Einflüsse sind bereits weltweit am Wirken und sind eindeutig gegen die Errungenschaften der Aufklärung wie die Emanzipation der Geschlechter, die Menschenrechte, die glaubensunabhängige Rechtsstaatlichkeit sowie gegen die Demokratie gerichtet. Das Negativszenario weltweiter Entwicklung muss von einer Aktivitätssteigerung dieser z.T. klandestinen, in voneinander getrennten Verzweigungen und Zellen operierenden islamistischen Extremisten im globalen Islam ausgehen, die auch pazifistische und auf Nächstenliebe basierende Strömungen des Islam, wie z.B. bestimmte Gruppierungen des Sufismus, zu verdrängen bzw. zu vernichten suchen.

Diese aggressiven salafistischen und terroristisch ausgerichteten Strömungen und Organisationen des politischen Islam streben einen weltweiten Gottesstaat und die Unterwerfung oder Vernichtung Anders- oder Nichtgläubiger an. Pluralismus im Sinne einer Toleranz in den Lebensentwürfen, Weltanschauungen und Politikkonzepten ist ihnen fremd. Sie stellen ihre religiöse Ideologie über die staatliche Gesetzgebung. Sie stehen moralisch auf einer vormittelalterlichen Stufe, besitzen aber moderne Technologien. Dies macht ihre Gefährlichkeit aus.

Diese Tatsache ist nüchtern zu analysieren und darf nicht beschönigt oder verharmlost werden. Allerdings sollte die Bedrohung auch nicht übertrieben dargestellt werden, da dann rechtsextremistische Gruppierungen weltweit Auftrieb bekommen, sowie die Staaten ihre Sicherheitsmechanismen so verschärfen, dass hierdurch die demokratischen Freiheiten der Bürger unterdrückt werden. Beide Tendenzen sind bereits zum aktuellen Zeitpunkt zu beobachten: Bewaffnete Rechtsextremisten überfallen und morden Muslime, islamistische Terroristen verüben Anschläge. Die Staaten schränken die demokratischen Freiheiten zunehmend ein, so dass das, was sie vorgeben zu schützen – Freiheit und Demokratie – beeinträchtigt wird.

In dem vorliegenden Negativszenario ist jedoch davon auszugehen, dass rechtsextremistische Anschläge auf Muslime oder jüdische Mitbürger und islamistische Anschläge auf nicht-orthodoxe Muslime und Andersgläubige bzw. Nichtgläubige sich in einer gegenseitigen Gewaltspirale steigern und die Grundfesten demokratischer Gesellschaften erschüttern werden. Hier dürften auch die rechtsextremistischen und rassistisch motivierten Anschläge in Norwegen, in den USA, in Frankreich, in Deutschland und in Neuseeland, denen sowohl Muslime, jüdische Mitbürger als auch Befürworter einer multikulturellen Gesellschaft zum Opfer fielen, nur der Anfang einer – allerdings vermeidbaren – Entwicklung sein.

Es ist zu hoffen, dass dieses Negativszenario nicht eintreten wird. Dies kann nur durch eine über die UN und die transnationalen bzw. regionalen Sicherheitsbehörden weltpolizeilich gut koordinierte und konsequente strafrechtliche Verfolgung der Tätergruppen in einem weltweiten Kontext erfolgen. Auch muss den Tätern die Rekrutierungsbasis genommen werden, indem soziale, ökonomische, politische und ökologische Verhältnisse verhindert werden, bei denen religiöse Legitimationen für terroristische Taten auf einen fruchtbaren Boden fallen. Auch die Demokratisierung in einem lokalen, regionalen und globalen Zusammenhang und der erlebbare Nachweis der Vorteile dieser Demokratisierung für das menschliche Zusammenleben werden hier eine entscheidende Rolle spielen.

Auch hier wird wieder deutlich, dass das zu betrachtende Phänomen, religiös getarnter Terrorismus, nur durch eine Vielzahl zusammenwirkender Faktoren verständlich und auch nur in der Bearbeitung dieser verschiedenen Ebenen eine wirkungsvolle Lösung dieses Problems möglich wird.

2.5  Zusammenbruch der Weltwirtschaft, Überbevölkerung und         Hungerkatastrophen

Das zunächst hier vorzustellende ökonomische Negativszenario geht vom Ende des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs zugunsten einer Monopolisierung zentraler Branchen in der Hand von riesigen Wirtschaftskonzernen aus, die weltweit und im Zuge einer Verschmelzung von Industrie-, Banken- und Spekulationskapital ökonomisch aktiv sind. Hierbei wird jede relevante Branche von einigen wenigen Unternehmen oder sogar von einem einzelnen Konzern beherrscht.

Konzerne, wie z.B. Walmart, Nestlé, Goldman Sachs, Coke, VW, General Motors, AT&T, Cargill, Apple, Shell, Amazon, Google, Bayer, Unilever, Shell und BlackRock, haben sich in diesem Negativszenario inzwischen endgültig durchgesetzt und verhindern die marktwirtschaftliche Konkurrenz in ihren Branchen. Durch die Beherrschung der Branchen steigen in der Regel die Preise und sinkt die Qualität der Produkte. Die politischen Weichenstellungen hierfür werden u.a. durch gekaufte Politiker in Regierungsämtern vorgenommen. Eigene Medienabteilungen der Konzerne erzeugen das entsprechende Bewusstsein bei noch nicht käuflichen Politikern und den Wahlbürgern. Riesige Rechtsabteilungen der Konzerne wehren jegliche Klage erfolgreich ab. Das Sammel- und Verbandsklagerecht wurde in vielen Staaten abgeschafft oder gar nicht erst installiert. Über multilaterale Wirtschaftsverträge wurden das Klagerecht der Konzerne vor deren Interessen vertretenden Sondergerichten installiert. Das vertraglich vereinbarte Klagerecht der Konzerne wird von diesen bei von ihnen festgestellten Beeinträchtigungen ihrer Investitions- und Produktionstätigkeit, beispielsweise durch das Umweltrecht eines Staates, weltweit in Anspruch genommen. Die Welt ist in der Hand der Konzerne und noch vorhandene Demokratien sind in dieser Negativvision nur noch formal und als Verschleierung der tatsächlichen Verhältnisse vorhanden. Der demokratische Staat wird zur Fassade.

Doch auch dieses System ist nicht stabil: Der ökonomische Erfolg des privatwirtschaftlich produzierenden Bürgertums bzw. der Kapitalistenklasse legt – so die marxistische Analyse – jedoch auch gleichzeitig massive ökonomische Krisen an, die durch die rasante technische Weiterentwicklung der Produktionsmittel in den dafür zu eng werdenden Produktionsverhältnissen eintreten. Der hochentwickelte Kapitalismus mit modernisierten Produktionsmitteln und konzentrierter Wirtschaftsmacht ist in der Lage, mehr zu produzieren, als dies in Form von Waren und Dienstleistungen verwertbar, also für Menschen bezahlbar, abgesetzt werden kann. Hierdurch entstehen Handels- und Absatzkrisen. Marx/Engels analysieren nun die weitere Krisen auslösende ökonomische Kettenreaktion:

„Die bürgerlichen Verhältnisse sind zu eng geworden, um den von ihnen erzeugten Reichtum zu fassen. – Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen? Einerseits durch die erzwungene Vernichtung einer Masse von Produktivkräften; andererseits durch die Eroberung neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung der alten Märkte. Wodurch also? Dadurch, daß sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzubeugen, vermindert.“ [6]

Weltökonomie als globale Finanzspekulation anonymer Akteure

Finanzspekulationen mit börsennotierten Wertpapieren, Hypothekenverbriefungen bis hin zu hochdotierten Risikowetten auf politische und ökonomische Entwicklungen werden bereits jetzt in einem gigantischen Ausmaß vorgenommen. Da der Profit mit der Produktion von Waren und der Erstellung von Dienstleistungen – Ausnahmen bilden hier die Geschäfte mit Drogen, Rüstungsgütern und digitalen Produkten wie z.B. ‚War Games‘ – begrenzt ist, wendet sich das internationale Finanzkapital zunehmend der Finanzspekulation in den unterschiedlichsten Formen zu. Anstatt dass Banken in die reale Wertschöpfung investieren und z.B. kleinere oder mittelständige Betriebe mit den notwendigen Krediten versorgen, spekulieren sie eher mit dem Geld ihrer Anleger und dem Eigenkapital, da sie sich hiervon wesentlich höhere und schnellere Kredite versprechen.

Bereits jetzt entwickelt das spekulative Kapital, das digital um die Erde herum bewegt wird, ein Vielfaches vom Volumen des in die reale Wertschöpfung investierten Kapitals.

Diese Tendenz wird sich in dem möglicherweise eintretenden Negativszenario noch verstärken und wird durch das Entstehen und die Verwendung digitaler Währungen bzw. Kryptowährungen, wie z.B. Bitcoin, Litecoin oder Ether, noch unübersichtlicher, als dies gegenwärtig bereits der Fall ist. Digitale Währungen werden hierbei aufgrund der Verwendung von Pseudonamen vermehrt für Geldwäsche in Bezug auf Drogengeschäfte oder Schutzgelderpressung oder illegale Rüstungsgeschäfte eingesetzt werden.

Hinzu kommt, dass durch Kryptowährungen sich der staatliche Einfluss auf die Währungspolitik verringert, beispielsweise hierüber auch die Konjunkturlenkung erschwert wird.

Die Finanzspekulation stellt die postmoderne Variante des ‚Fäulnischarakters‘ des Spätkapitalismus dar. Es entstehen hierbei regelmäßig ‚Spekulationsblasen‘, die durch nichts abgesichert sind. Wenn sie platzen, greift dies aufgrund der überschneidenden Beteiligung der Akteure auf die Realwirtschaft über, zieht dies gesellschaftliche Ordnungen zerstörende Destruktion nach sich. [7]

Das hier zu entwickelnde Negativszenario für die globalisierte Wirtschaft geht davon aus, dass die von Finanzspekulation ausgelösten Krisen immer gewaltiger werden und auch immer größere Verwerfungen in der Realwirtschaft nach sich ziehen. Gelingt es der Weltgemeinschaft nicht, die globale Finanzspekulation einzudämmen, wird das ökonomische System des Weltkapitalismus noch weniger regulierbar sein, als es dies bereits schon ist. Die Gesellschaften werden der Finanzspekulation anonymer Mächte überlassen, deren einziges Anliegen der eigene Profit ist.

Kapitalismus, soziale Ungleichheit und Welthunger

Obwohl also eine ungeheure Produktivität im hochentwickelten Kapitalismus vorhanden ist, reichen die verfügbaren Ressourcen nicht aus, um die wachsende Weltbevölkerung zu ernähren. Der Menschenrechtler Jean Ziegler (2015, 50) führt die Tatsache, dass nach Schätzungen der Weltbank derzeit ungefähr eine Milliarde Menschen von weniger als 1.25 Dollar pro Tag, also in extremer Armut leben, auf die hegemoniale Eigenart des Kapitalismus zurück, auf seinen kannibalischen Charakter:

„Das durch Unterernährung und Hunger verursachte Massaker an Millionen Menschen ist heute, zu Beginn des dritten Jahrtausends, ein skandalöser Ausdruck des Kampfs der Reichen gegen die Armen, eine Ungeheuerlichkeit, eine Absurdität, die durch nichts zu rechtfertigen und durch keine Politik zu legitimieren ist. Es ist unzählige Male wiederholtes Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Heute stirbt alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren an Hunger oder einer durch Unterernährung verursachten Krankheit. Im Jahr 2014 starben mehr Menschen durch Hunger als in sämtlichen Kriegen, die in diesem Jahr geführt wurden.“

Die Studien der NGO Oxfam machen deutlich, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander geht. In einer 2018 veröffentlichten Studie fasst Oxfam die erhobenen Daten zusammen [8]:

„Weltweit leben sieben von zehn Menschen in einem Land, in dem die Einkommensungleichheit zugenommen hat. Die Vermögensungleichheit hat sich auf globaler Ebene drastisch verschärft, wie Oxfam gezeigt hat: Das reichste Prozent der Weltbevölkerung besitzt mehr Vermögen als die unteren 99 Prozent zusammen. Im Jahr 2002 lag der Anteil am Gesamtvermögen des reichsten Prozents noch bei 43 Prozent. (…) 

Für die Analysen zu globaler Ungleichheit nutzt Oxfam die Zahlen des Weltvermögensberichts der Schweizer Großbank Credit Suisse und die jährliche Aufstellung der Milliardäre der Welt von Forbes. Diese zeigen einen ungebrochenen Trend der wachsenden globalen Vermögenskonzentration. Nach den aktuellsten Informationen verfügten im Jahr 2017 nur 42 Personen über den gleichen Reichtum wie die ärmsten 3,7 Milliarden Menschen auf der Welt.“

Es gibt bisher keine Hinweise darauf, dass sich diese ungleiche Vermögensverteilung umkehren wird, so dass anzunehmen ist, dass in Zukunft die soziale Ungleichheit in dieser Hinsicht weiterwachsen wird. Auch wenn die extreme Armut in den letzten Jahrzehnten zurückgegangen ist, leben noch zu viele Menschen am Rande des Hungertodes und ist es nicht hinnehmbar, dass noch einmal besonders von der sozialen Ungerechtigkeit Frauen und Kinder in den Ländern des ärmeren Südens betroffen sind, die – wenn sie überhaupt Arbeit haben – unter schlechteren Bedingungen mit ungenügender Bezahlung als Männer arbeiten müssen.

Oxfam sieht die Ursache sozialer Ungleichheit in einem unsolidarischen Wirtschaftssystem, in der Gier und dem Bereicherungswillen der kleinen Schicht transnationaler Reicher:

„Die strukturellen Ursachen für die wachsende Ungleichheit sind weltweit ähnlich: Unser Wirtschaftssystem stellt die Profitinteressen einer kleinen Gruppe über das Wohl der großen Mehrheit. Das zeigt sich insbesondere an der Fixierung auf Aktiengewinne, an Steuervermeidung, einer überzogenen Sparpolitik und Privatisierungen, sowie in der Beschränkung der Rechte von Zivilgesellschaft und Arbeiter/innen. Die Fixierung auf kurzfristige Gewinne und Dividendenausschüttungen hat in den Konzernzentralen stark zugenommen. In Großbritannien wurden in den 1970er Jahren 10 Prozent der Unternehmensgewinne an Aktionär/innen weitergereicht, heute sind es 70 Prozent. Weltweit wurden im Jahr 2015 allein 1,2 Billionen Dollar an Dividenden ausgeschüttet.“[9]

Hierbei wäre es durchaus möglich, fast die doppelte Zahl der gegenwärtigen Weltbevölkerung zu ernähren, wenn man nicht Millionen Tonnen Mais und Weizen zu Biotreibstoffen verbrennen, die Fleischwirtschaft bevorzugen, Bodenspekulation betreiben, und aus Feldern Weiden machen würde, sowie Nahrungsmittel, die sich nicht verkaufen lassen, vernichten würde – so Jean Ziegler (2015, 52):

„Aus dem alljährlichen Bericht zur Ernährungsunsicherheit der Welternährungsorganisation geht hervor, dass die Landwirtschaft weltweit mit dem erreichten Niveau ihrer Produktivkräfte normalerweise – durch die Zufuhr von 2200 Kilokalorien täglich für einen Erwachsenen – 12 Milliarden Menschen ernähren könnte, fast das Doppelte der gegenwärtigen Weltbevölkerung. Das durch den Hunger verursachte Massaker an Millionen Menschen hängt deshalb heute deshalb nicht damit zusammen, dass zu wenig Nahrungsmittel produziert werden, sondern mit dem Zugang zu den Nahrungsmitteln. Wer genug Geld hat, kann essen und leben; wer nicht genug Geld hat, leidet an Unterernährung, den Krankheiten, die eine Folge davon sind, und an Hunger. Ein Kind, das heute an Hunger stirbt, wird ermordet.“

Wird diese Entwicklung nicht gebremst, sind die Folgen für die Zukunft absehbar: Die Menschen in den ländlichen Regionen werden über das ‚Land Grabbing‘ zunehmend enteignet, von ihren Grundstücken vertrieben und landen dann in den Slums der Großstädte, wo sie eine ungesicherte Existenz, Massenarbeitslosigkeit, unhygienische Bedingungen und Krankheiten, Kriminalität und Kinderprostitution erwarten.[10] Gleichzeitig müssen sich die Reichen in mit Mauern und Wachen geschützten Arealen isolieren, in eingegrenzte, bewachte Bereiche, die überall auf der Welt ähnlich aussehen. Extreme strukturelle Heterogenität als Zukunftsvision – unabänderlich?

Globales Bevölkerungswachstum und wachsender ökologischer Fußabdruck

Die bisher letzte größere Club of Rome-Studie (v. Weizsäcker/Wijkman u.a. 2017) zur Überbevölkerung kommt zur Einschätzung, dass die Erde voll sei. Die Bevölkerung der Erde werde sich bis zum Jahre 2050 auf ca. 10 Milliarden vermehren [11] und damit eine an Nachhaltigkeit orientierte Entwicklung auf der Erde erschweren. Die Folgen werden weitere Klimaveränderungen, gewalttätige Konflikte und Fluchtbewegungen in andere Regionen der Erde sein. 

Der Anteil der städtischen Bevölkerung an der Weltbevölkerung steige beständig. Zwischen 1900 und 2017 sei die Weltbevölkerung um das Fünffache gestiegen, gleichzeitig aber habe sich die urbane Bevölkerung um das 18-fache erhöht. Im Jahr 2030 werden fünf Milliarden Menschen in Städten und Vororten leben. Aber der ökologische Fußabdruck von Städten ist ungleich größer als die Belastung der Umwelt von Menschen, die auf dem Lande leben. Der Club of Rome geht von einer vierfach höheren ökologischen Belastung aus. [12]

Der auch gewalttätig ausgetragene Kampf um Rohstoffe, Trinkwasser, Grundnahrungsmitteln und Energie wird sich drastisch verschärfen, wenn hier nicht umgesteuert wird. Auch werden immer mehr Menschen versuchen aus den verarmten und ökologisch verwüsteten Gebieten der Welt in hiervon noch verschonte Regionen der Welt zu fliehen. Die Gegenreaktionen, d.h. die Maßnahmen zur Verteidigung der Einheimischen-Rechte, sind absehbar und aktuell bereits vielerorts feststellbar.

Flüchtlings-Camps von aus Venezuela geflüchteten Menschen werden in Brasilien von Einheimischen angegriffen. Im Mittelmeer lassen die europäischen Staaten Flüchtlinge im Meer ertrinken, um weitere Flüchtlinge abzuschrecken. In Libyen werden Flüchtlinge unter menschenunwürdigen Bedingungen in Lagern gehalten, sie werden z.T. als Arbeitssklaven verkauft oder zur Prostitution gezwungen. In Australien werden Flüchtlinge abgefangen und auf im Pazifik vorgelagerte und weit entfernte Inseln verbracht und dort unter Bewachung einkaserniert. In den USA wurden die Kinder von ihren Eltern bei mexikanischen Flüchtlingsfamilien getrennt und separiert eingesperrt. Dies sind nur einige Beispiele bzw. die Vorboten von Verhältnissen, bei denen es im Falle der Zunahme weltweiter Krisen zu sich multiplizierenden Flüchtlingsbewegungen kommen wird.



Anmerkungen Kapitel 2.3-2.5

[1] Adam (1995,78).
[2] Zartman (1995, 8).
[3] Vgl. die für humane Interventionen plädierenden Argumentationen bei Mills (2002), Walzer (2002) und Ignatieff (2002).
[4] Walzer (2002, 31).
[5] BDS = Boycott, Divestment and Sanctions: von palästinensischen Aktivisten und u.a. sogar einigen israelischen Oppositionellen ausgehende internationale Bewegung, die sich gegen die Unterdrückung der Palästinenser durch den israelischen Staat und insbesondere die Besiedlung des Westjordanlandes wendet. Hier wird der israelischen Regierung Apartheid und Kolonialismus gegenüber der palästinensischen Bevölkerung vorgeworfen. Die BDS-Bewegung ist politisch umstritten, wird z.B. vom Deutschen Bundestag als antisemitisch verurteilt und von der Regierung Israels in die Nähe terroristischer Aktivitäten gerückt. Hiergegen wehrt sich die Bewegung allerdings, weist den Antisemitismus-Vorwurf von sich und betont ihren legitimen zivilgesellschaftlichen Charakter (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Boycott,_Divestment
_and_Sanctions, 1.12.2019, 1.12.2019).
[6] Marx/Engels (1848/1983), 31.
[7] Vgl. hierzu z.B. Altvater (2006), Wagenknecht (2008), Scherrer/Dürmeier/Overwien (Hrsg.) (2011) sowie Scherrer (2015).
[8] Oxfam Deutschland (2018, 4).
[9] Oxfam Deutschland (2018, 6).[
10]
Vgl. Ziegler (2015, 53)
[11] von Weizsäcker/Wijkman u.a. (2017, 68)
[12] von Weizsäcker/Wijkman u.a. (2017, 73 ff).


 

2.6      Cyber-Kriege

Möglicherweise war nach den US-Wahlen im Jahr 2017 erstmals in der Menschheitsgeschichte ein Präsident u.a. aufgrund einer Cyber-Attacke an die Macht gekommen, die über die sozialen Netzwerke durchgeführt wurde. Die entsprechende Untersuchung führte zu Ergebnissen, die allerdings von der hierdurch gewählten Regierung bestritten wurden.

 Das gleiche Bild zeichnete sich beim Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union ab. Die für den ‚Brexit‘ notwendige Abstimmung wurde ebenfalls durch gezielte Falschmeldungen in den sozialen Netzwerken manipuliert.

Eine neuere Form kriegerischer Aggressivität zeigt sich in Cyber-Attacken, deren gravierende Folgen nicht zu unterschätzen sind und die möglicherweise die dominante Kriegsform der Zukunft sein können. Das Hacken von digitalen Netzen, der Verkehrsüberwachung, der Stromversorgung, der Atomtechnologie oder der Wasserversorgung sowie der Netze der Militärtechnologie kann schwerwiegende Folgen vom Stromausfall in Krankenhäusern, über den Zusammenbruch des privaten und öffentlichen Verkehrs bis hin zu manipulierten militärischen Angriffen und Raketenstarts haben.

Digitale Kriminalität in großem Umfang, wie das Abgreifen von Nutzerdaten aus sozialen Netzwerken oder die digitale Manipulation von Wahlen und Abstimmungen, wie z.B. beim ‚Brexit‘, ist bereits eingetreten und ist nur schwer zu verhindern.  

Moegling/Bläsius (2024) warnen daher eindringlich vor der Gefahr der Manipulation digitaler Medien im Zusammenhang mit KI: 

„Mit Hilfe von Techniken von „deepfake“ und Systemen der generativen KI können massenhaft Texte, Bilder und Videos erzeugt werden, die vermeintliche Tatsachen vermitteln. Mit solchen Desinformationen können Menschen manipuliert und Gesellschaften destabilisiert werden. Wenn immer mehr Medieninhalte automatisch erzeugt werden, ohne Möglichkeit den Wahrheitsgehalt zu prüfen, wird politisches Handeln in demokratischen Staaten immer schwieriger. Chaos mit sozialen Verwerfungen, Aufständen und eventuell Bürgerkriege könnten die Folge sein.“ 

Die Kombination von Cyber-Spionage mit konventionellen militärischen Attacken wird vor allem aggressive Nationen interessieren, um einerseits sensible Daten aus den Verteidigungs- und Sicherheitsbereich einer Nation auszuspähen und andererseits im Falle eines militärischen Übergriffs die Infrastruktur des jeweiligen Landes herunterfahren zu können.

Hierbei handelt es sich nicht um spontane Hacker-Angriffe eines Landes, sondern um langfristig angelegte Hacker-Attacken qualifizierter und von einem aggressiven Staat subventionierter Hacker-Gruppen.
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 „So funktioniert ‚Snake‘ Die russische Cyber-Spionagegruppe ‚Snake‘ (Schlange) ist schon seit 2005 aktiv. Nach einer Analyse des Antivirus-Spezialisten Kaspersky handelt es sich um eine der komplexesten laufenden Cyberspionage-Kampagnen. ‚Snake‘ habe vor allem Regierungsbehörden (Innen-, Wirtschafts-, und Außenministerium, Geheimdienste) im Visier, aber auch Botschaften, Militäreinrichtungen, Forschungs- und Bildungsorganisationen sowie Pharmazieunternehmen. Bei ihren Angriffen versuchen die Hacker, ihre Opfer durch sogenannte Watering-Hole-Attacken zu infizieren. Dazu spähen die Spione zunächst Webseiten aus, die von den Opfern potenziell von Interesse sind. Mit gefälschten E-Mails werden dann die Opfer auf einen manipulierten Webserver umgeleitet, der dem Original zum verwechseln ähnlich sieht. Auf diesem Weg werden dann beim Opfer die Rechner infiziert. Somit können auch Keylogger installiert werden, die jede Tastatureingabe aufzeichnen und an die Angreifer weiterleiten.“ [1]
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Ein Beispiel für den Beginn von Cyber-Kriegen war der Angriff auf die Netze des Bundes, die im Frühjahr 2018 öffentlich wurden, bei denen sensible Daten aus dem Sicherheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland über sehr komplexe Schadstoffsoftware hochprofessioneller Angreifer entnommen wurden.[2]

Cyber-Angriffe sind Bestandteil einer hybriden Kriegsführung, bei der Propaganda im Internet, das gezielte Einsetzen von Fake-News und Drohungen im Sinne von Desinformationskampagnen zunächst mit destabilisierenden Hacker-Angriffen auf die Infrastruktur eines Landes bzw. einer Region und dann im negativsten Fall mit militärischem Eingreifen kombiniert werden.
Der Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 und im weiteren Kriegsverlauf war ebenfalls von zahlreichen Cyber-Attacken im Sinne hybrider Kriegsführung begleitet, um die ukrainische Infrastruktur, wie die Energieversorgung und die ukrainische IT, sowie die militärische Kommunikation zu stören.

Künstliche Intelligenz und Cyber-War

Diese bisherigen Vorstellungen eines Cyber-Wars beruhten auf bewussten menschlichen Eingriffen in das internationale System, berücksichtigen allerdings noch nicht die Möglichkeit von Software in Computersystemen, die sich im Zuge entwickelnder künstlicher Intelligenz selbstständig macht. Was ist, wenn die hektische Aktivität im Bereich der Erforschung und Installierung künstlicher Intelligenz von Google, Amazon, Facebook, Apple und Co. dazu führt, dass diese sich in digitale Netze einmischt und hinsichtlich militärischer Angriffe und entsprechender Abwehrreaktionen aktiv wird? Ist dies völlig ausgeschlossen und szenarischer Unsinn?
Der Informatik-Professor und KI-Experte Karl H. Bläsius (2024) bestätigt, dass die hier angesprochenen gefährlichen Zukunftstendenzen  durchaus realistische Bedrohungen sind: 

"Atomwaffen können auch als Abschreckung gegen andere Bedrohungen wirken. Militärstrategien sehen dies teilweise auch vor, z.B. als Vergeltung für schwerwiegende Cyberangriffe. Eine solche nukleare Abschreckung könnte aber nur wirken gegen andere Staaten. Dies würde nichts nutzen bei Risiken die von Systemen wie ChatGPT ausgehen. Eine nukleare Abschreckung wirkt auch nicht gegen Terroristen oder sonstige Gruppen, die z.B. mit Hilfe von KI (ChatGPT oder ähnlichem) schwerwiegende Cyberangriffe ausführen. Auch kann eine solche nukleare Abschreckung nicht davor schützen, dass Systeme wie ChatGPT außer Kontrolle geraten, selbst aktiv werden und eventuell eine Internetdominanz erreichen, mit weltweitem Chaos. Im Gegenteil: In solchen Situationen ist das Risiko groß, dass Atomwaffen zum Einsatz kommen, ohne dass solche Waffensysteme dann noch von abschreckender Schutzwirkung hätten." 

Der Neurobiologe und Physiker Christoph v. d. Malsburg, der ansonsten ein eher nüchternes Verhältnis zu Utopien künstlicher Intelligenz aufweist, stellt fest: 

„Ich denke trotzdem, man muss die Gefahr der künstlichen Intelligenz sehr ernst nehmen, das ist schlimmer für die Menschheit als die Atombombe.“ [3]

Auch ein solcher Vorgang dürfte, wenn er denn eintritt, eher schleichend und zunächst wenig bemerkt passieren. Gefährlich wird es vor allem dann, wenn sich die für militärische Kontrollzwecke eingesetzte Software selbstständig macht und eigene Initiativen in militärischer Hinsicht entwickelt, z.B. den Abschuss gegnerischer Atomwaffen gegen das eigene Staatsgebiet fälschlicherweise dokumentiert.

Wie ausgeschlossen ist eine derartige Entwicklung in einem solchen Szenario?

Der Informationswissenschaftler Werner Meixner ist der Auffassung, dass es einen grundlegenden Gegensatz zwischen der weltweit vernetzten Anlage von ‚Big Data‘ und einem gelingenden Sicherheitskonzept für vernetzte Rechner gibt, der zu einer nicht beherrschbaren Gefährdung der Menschheit wird:
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 „Zur tödlichen Gefahr wird die Vernetzung allerdings dann, wenn ein Baustein der Autonomisierung von kriegerischen Angriffen aus dem Internet heraus agiert, weil Algorithmen befehlen, eine mutmaßliche Gefahr abzuwenden. Das mag nach Science-Fiction klingen, dieser Baustein wird jedoch bereits entwickelt. (…) Er ermöglicht den autonomen präventiven Cyberkrieg und ist notwendig, weil die Reaktionszeiten zu kurz sind, als dass man einen menschlichen Entscheidungsprozess vorschalten könnte. Verantwortungsbewusste Hacker und Whistleblower haben gezeigt, was wir befürchten müssen. Eine schnell wachsende Internetkriminalität zeichnet sich ab. Atomanlagen, Energieversorgung, Wasserversorgung, Krankenhäuser, Öffentlicher Verkehr, Behörden sind von Anschlägen und Spionage bedroht. Die Existenz jedes Einzelnen ist in Gefahr, zerstört zu werden. Wegen der bereits bestehenden Risikolage müssen sofort alle kritischen Anlagen vom Internet genommen werden. Universitäten müssen Alarm schlagen. Politisch ist zu fragen, ob Amtseide verletzt werden. Die weltweite Vernetzung der „Welt der Dinge“ mit zentraler Datenverarbeitung ist eine gefährliche Fehlentwicklung. Sie bedeutet den Verlust der Souveränität aller Nationalstaaten, weil die Nationalstaaten ihre Sicherheit nicht mehr selbst gewährleisten können. Zwangsläufig entsteht ein zentraler Überwachungsstaat, weil man sich von diesem allein noch Sicherheit erhofft. Aber selbst der Zentralstaat kann die erhoffte Sicherheit nicht bieten und wird nach und nach alle Freiheiten seiner Bürger abschaffen, weil nicht mehr klar ist, wer der Feind in einem Cyberkrieg ist. Warum sollten die Völker zulassen, dass mit den Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen auf den Roulettetischen von Forschung und Entwicklung gespielt wird?“ [4]
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2.7  Digitale Imperien und die mediale Transformation des                 Humanen

Marx/Engels sahen bereits Mitte des 19. Jahrhunderts die permanente Notwendigkeit für die Eigentümer der Fabriken und Dienstleistungsunternehmen, die technischen, organisatorischen, rechtlichen und politischen Möglichkeiten weiter zu entwickeln, um in der regionalen und globalen Konkurrenz bestehen zu können:

„Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftliche Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. (…) Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeois-Epoche aus.“[5]

Die Ausmaße zukünftiger Digitalisierung stellen eine dieser von Marx/Engels beschriebenen Revolutionierungen der gesellschaftlichen Verhältnisse dar, deren Reichweite wohl noch immer unterschätzt wird. Die Digitalisierung der Gesellschaft kann im Rahmen eines Negativszenarios vor allem den Menschen als arbeitendes Wesen überflüssig machen sowie ihn der digitalen Kontrolle der Herrschenden überlassen. Die digitale Transformation von Arbeitsprozessen setzt den Menschen aus Arbeitsprozessen frei, ist aber darauf angewiesen, ihn digital zu kontrollieren, damit er nicht gegen dieses System rebelliert.

Die totale digitale Transparenz: Google kennt uns besser.

Die digitale Revolution ist im vorliegenden Negativszenario eine Form der gesellschaftlichen Transformation, deren Triebfeder die ungehemmte Gier im Kapitalismus nach immer größeren Profiten auf Kosten des Humanen ist.

Negativszenarien eines übermächtigen digitalen Zeitalters bzw. digitaler Hegemonie im Interesse hierauf ausgerichteter Ökonomien und politischer Herrschaftsverhältnisse in der utopischen Literatur sind z.T. bereits von der gesellschaftlichen Wirklichkeit eingeholt bzw. überholt worden. Die Bedrohung der Humanität, also des menschlichen Kerns, über die digitale Koppelung und Beherrschung der Individuen zu einem human-digitalen Zwidderwesen, einem Cyborg, ist zunehmend erkennbar. Ein aus digitalen Uhren, Smartphones, Alexa und Siri, Chip-Implantaten unter der Haut, digital vernetzten audiovisuellen Systemen und humaner Substanz bestehendes symbiotisches Lebensverhältnis führt zum Verlust der Subjektivität. Totale digitale Transparenz ermöglicht die Vernichtung individueller Freiheitsspielräume, jeglicher Privatsphäre und auch die Möglichkeit zum systematischen Zweifeln und praktizierter Mündigkeit und Kritikfähigkeit. Der ‚antiquierte Mensch‘, also ein Mensch, der an den Zielen der Aufklärung festhält, wird zum zu verfolgenden Gegenbild einer digitalen Modernisierung, die aufgeklärte Antiquiertheit ausgrenzen und vernichten will.[6]

Der Mensch ist nicht mehr in der Lage, mit seinen technischen Erfindungen Schritt zu halten, überblickt nicht mehr, welche Konsequenzen die digitale Überwachung der Subjekte in den individuellen, sozialen und gesellschaftspolitischen Bezügen hat. Günther Anders (1956) fokussierte vor allem die atomare Bedrohung und die hierauf bezogene planetare Apokalypse. Zu diesem Bedrohungsszenario tritt nun die digitale Apokalypse hinzu, über die Verschmelzung des Humanen mit dem Digitalen.

Der deutsche Informatiker und engagierte Vertreter einer wissenschaftlichen Ethik, Werner Meixner, warnt vor einer bereits eingetretenen und sich in Zukunft weiter verstärkenden Entwicklung in Zeiten der gesetzlich beschlossenen Staatstrojaner, der kontrollierenden Apps sowie der in Smartphones, Tablets und anderen PC’s bereits bei der Produktion eingebauten Sicherheitslücken, welche die humane Privatsphäre gefährden bzw. vernichten:
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Unsere Privatsphäre ist massiv gefährdet, und es gibt allen Grund, sich mit den Ursachen und Urhebern der Gefährdung zu beschäftigen. Marc Rotenberg hat in einem Artikel für den Nachrichtensender CNN die Eingriffe in die Privatsphäre durch die Internetfirma Google als ‚eine der größten Gesetzesübertretungen der Geschichte‘ bezeichnet. (…) Rotenberg war Präsident des Electronic Privacy Information Center (EPIC), eines unabhängigen gemeinnützigen Forschungszentrums in Washington, D.C., das auf den Schutz der bürgerlichen Grundrechte achtet. Und Google Chef Eric Schmidt prahlt, dass Google uns besser kennen würde als wir uns selbst (…). Man fragt sich, ob es noch eines weiteren Beweises bedarf, dass unsere Privatsphäre gefährdet ist. Übrigens sind sowohl Datendiebstahl als auch staatliche Überwachung für die Betroffenen weitgehend unsichtbare Vorgänge. Es findet ein Umbruch statt. Schritt für Schritt wird das Grundgesetz geändert oder unwirksam gemacht. Die wesentlichen gesellschaftlichen Entscheidungsprozesse werden dem Parlament entzogen und in undemokratische Außengremien verlagert. Die Mündigkeit der Bürger wird systematisch untergraben, indem man nicht mehr parlamentarisch offen diskutiert (…). Der Umbruch, von dem wir hier reden, ist nichts Geringeres als der Angriff auf die verfassungsrechtlich verbrieften Grundlagen unseres Staates. [7]
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Die Individuen dürfen die Kosten dieser digitalen Beherrschung zum großen Teil selbst finanzieren, da ihnen das digitale Zeitalter und die entsprechenden Medien über manipulative Werbestrategien sowie bereits im Kindesalter über Computerspiele schmackhaft gemacht werden. 

Der Mensch zwischen Algorithmen und Werten

So gesehen ist auch das digitale Zeitalter mit gigantischen Renditen für die sich zunehmend ausbreitende und gleichzeitig in riesigen Medienkonzernen konzentrierende digitale Wirtschaft versehen, die das neue Menschenbild und das digitale Verständnis des Modernen in das Denken und Fühlen der Menschen propagandistisch und manipulativ zu implementieren versucht. Ähnlich wie früher Religionen bereits im frühen Kindesalter manipulativen Zugang zum Menschen suchten, werden bereits Kleinkinder an die Displays digitaler Medien gewöhnt und Schritt für Schritt in einen digital-menschlichen Cyborg überführt. Das zunehmende Betreten virtueller Welten (,Virtual Reality‘) auch von Kindern und Jugendlichen mit Hilfe von VR-Brillen durchmischt die reale Wirklichkeit mit der virtuellen Welt ohne die Sicherheit, dass noch Beides auseinander gehalten werden kann bzw. ohne das Wissen, wie es sich gegenseitig beeinflusst. Das Zeitalter der digitalen Hybrid-Menschen ist eingeleitet.

Wenn das ‚Metaverse‘ von Facebook sich durchsetzt, ist davon auszugehen, dass die virtuelle Welt so an Bedeutung gewinnt, dass die reale Welt an Wertigkeit verliert. Dann werden auch gesellschaftliche Krisen und Katastrophen in der realen Welt aus der Sicht der Spielsüchtigen ihre Bedrohlichkeit verlieren – ist doch die Flucht in virtuelle Welten möglich, in denen in Echtzeit dank 5G und Blockchain gelebt werden kann.

Im Zuge der Durchsetzung digitaler Zugriffe ist das Verhältnis zwischen künstlicher Intelligenz und der Eigenart des Humanen zu klären und inwieweit, die künstliche Intelligenz auch in Zukunft noch beherrschbar ist. Entscheidend wird sein, wann die Politik auf diese Problematik aufmerksam wird, ob sie dies unterstützt oder sich widerständig zeigt und ob sie verbindliche ethische Richtlinien zur Entwicklung künstlicher Intelligenz in Kooperation mit den beteiligten Wissenschaftlern_innen entwickelt. 

Die Voraussetzung hierfür ist, dass ein Diskurs stattfindet, was den Menschen eigentlich ausmacht. Ist es Liebesfähigkeit, Fähigkeit zu verstehen oder Einfühlungsvermögen, ethisch geleitete Kritikfähigkeit? Sind dies die Eigenschaften, die den Menschen von den intelligenten Maschinen unterscheiden? Genauso muss gefragt werden, was die technologisch möglichen Reichweiten künstlicher Intelligenz sind, und welche Gefährdungen für den Fortbestand der Menschheit hierin zu sehen sind – so Ulrich Schnabel (2018, 39):

„Ob all die Fähigkeiten des Homo sapiens – Liebe, Empathie, Kunst, Fehleranfälligkeit, Flexibilität, Innovationskraft, moralisches Denken und Zuversicht – am Ende ausreichen, die Maschinen auf Dauer unter Kontrolle zu halten, wird man sehen. Aber wenn wir nicht beginnen, über Unterschiede nachzudenken, haben wir schon jetzt verloren.“
 

ChatGPT 

Das KI-Informationssystem ChatGPT („Generative Pre-trained Transformer“, deutsch: Generativ vortrainiertes Transformationssystem) ermöglicht als App den Zugriff auf Informationsbestände des Internet, wenn ihm entsprechende Fragen digital gestellt werden. Chat GPT kann ohne Weiteres in Schulen, Universitäten und Ausbildungsstätten eingesetzt werden. Auf den ersten Blick klingt dies so, als wenn hier eine Erleichterung in der Informationsbeschaffung gegeben wäre. Das gesamte Wissen der Menschheit könnte mit wenigen Klicks verfügbar werden. 

Doch der Schein trügt. Mit etwas Nachdenken wird deutlich, dass sich dadurch auch eine Negativvision menschlicher Entwicklung einstellen könnte. Wenn Wissensbestände ständig und leicht verfügbar sind, wenn vorformulierte Antworten auf die meisten Fragen von jedem ohne großen Aufwand erhalten werden können, was macht dies mit dem Menschen als lernendes und aufnahmebereites Individuum? Die Folge könnte ein lernfauler und denkunfähiger Mensch sein, der sich auf seine ChatGPT-App verlässt. Hier entstünde ein Zwitterwesen, das in Abhängigkeit zu einem digitalen Programm gerät, das sich einer kritischen Überprüfung entzieht. Die eigene Kreativität im Denken scheint keiner Mühe mehr wert. Das Programm liefert bereits alles – allerdings nur die Wissensbestände, die im Internet verfügbar sind und kann nicht zwischen richtigen und falschen Informationen unterscheiden. Man stelle sich eine Wissenswelt vor, die nur Vorhandenes reproduziert, in privatwirtschaftlicher Hand ist und natürlich auch immer wieder von Hackern autoritärer Systeme bedroht ist, die das menschliche Wissen in ihre Richtung manipulieren wollen. 

So warnt Marie-José Kolly (2023) entsprechend: 

„Deshalb sind die Inhalte immer wieder falsch. Manchmal offensichtlich, manchmal nur subtil. Und deshalb sind auch die Leitplanken, die den Bot vor manipulativen Nutzern schützen sollen, manipulierbar. Das bedeutet: Jede Antwort vom Bot ist a priori unzuverlässig. Man kann ihr nicht trauen. 

Nun geistert in verschiedenen Ecken des Internets Halbwahres, Unwahres und Absurdes herum. Manchen Seiten sieht man das an. Manchmal braucht es mehrere Klicks, um eine Information zu überprüfen. Aber dem Chat mit einem Bot sieht man die Qualität nicht an. Und was Bots schreiben, klingt mitunter so richtig, dass es auch Profis blendet. So dachte etwa der einstige Google-Mitarbeiter Blake Lemoine, Googles Sprachmodell habe ein Bewusstsein. Chatbots tun so, als wären sie etwas, was sie nicht sind. Kein Wunder, glauben wir, dass dahinter jemand – etwas – denkt. 

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