Sehr geehrte Kollegen_innen,
Sie finden auf dieser Unterseite zunächst einen bildungswissenschaftlich und politikdidaktisch gehaltenen Einführungsbeitrag, der beleuchtet, wie eine sinnvolle weltbürgerliche politische Bildung im 21. Jahrhundert aussehen könnte.
Des Weiteren finden Sie einen Beitrag, der deutlich macht, wie das fachliche Lernen mit dem fächerübergreifenden Lernen im Zuge einer aufgeklärten Pädagogik zusammenwirken kann.
Hiernach wird ein grundlegendes Werk zur Klimabildung und zur Problematik der Biodiversität in Form einer Rezension vorgestellt (Gudrun Spahn-Skrotzki: Klimabildung –
Leitlinien für alle Schulen und Fächer)
Danach erfolgen verschiedene politikdidaktische Aufgabenstellungen für die praktische Lehrtätigkeit, die sich auf Texte insbesondere aus meinem Buch 'Neuordnung. Eine friedliche und nachhaltig entwickelte Welt ist (noch) möglich.' beziehen, vgl. auch die beiden frei einsehbaren Seiten auf der vorliegenden Webpage:
auf Deutsch (komplette 4. akt. u. erw. Auflage): https://www.klaus-moegling.de/aktuelle-auflage-neuordnung/
auf Englisch (komplette internationale Ausgabe): https://www.klaus-moegling.de/international-edition/
Ich hoffe, dass diese vom Kollegen Alexander Berg und mir verfassten Aufgabenstellungen eine gute Unterstützung für Ihre Lehrtätigkeit in der Sekundarstufe II und im Rahmen der Politiklehrer_innen-Ausbildung darstellen.
Beste Grüße
Klaus Moegling
P.S.: Falls Sie weitere Materialien, basierend auf Texten der 'Neuordnung' entwickeln möchten, würde ich mich über eine Zusendung und die Publikationsgenehmigung freuen - per e-Mail: klaus (at) moegling.de
P.P.S.: Das Buch "Neuordnung" wird ausführlich und kontrovers in wechselseitiger Kommunikation mit dem Autor diskutiert unter:
https://www.freitag.de/autoren/profdrklausmoegling1952/sozialoekologische-transformation
Die 186 Kommentierungen zum Buch und über das Buch hinaus könnten ebenfalls zu einem spannenden und lehrreichen Inhalt politischer und historischer Bildung gestaltet werden.
------------------------------------------------------------------------------------
neu erschienen:
Interview mit Klaus Moegling in der Zeitschrift 'Polis':
Politische Bildung zum Krieg in der Ukraine. In: https://elibrary.utb.de/doi/abs/10.46499/2052.2423
--------------------------------------------------------------------------------------
Zur Einführung:
Bildung, politische Bildung und gesellschaftliche Entwicklung
(Text aus: Moegling, Klaus: Neuordnung. Eine friedliche und nachhaltig entwickelte Welt ist (noch) möglich. 3. aktualisierte und erweiterte Auflage, Opladen, Berlin, Toronto, S. 204ff. u
318ff.)
3.2 Bildung und die Arbeit am sozialen Selbst:
Über empathische Gemeinschaftserfahrungen zum gebildeten Selbst
Die Theorie der Kommunikation von Habermas [1] und die damit verbundene Diskursethik stellen die Grundlage von kommunikativen Gemeinschaftserfahrungen dar, die als friedfertig zu bezeichnen sind und auch als Grundlage der Kommunikation innerhalb der internationalen Beziehungen gelten können. Einerseits setzen Kommunikationsprozesse, die auf gleichen Sprechchancen und auf einer diskursiven Beratungs- und Entscheidungskultur beruhen, einen gewissen Bildungsstand der einbezogenen Akteure voraus, andererseits stellen sie auch kommunikative Erfahrungssituationen dar, die aus sich heraus bilden und zur Weiterentwicklung der Kommunikationspartner beitragen können.
Eine empathische Zivilisation
Zentral für die Art kommunikativer Erfahrungen, die hier gemeint sind, ist der Begriff der Empathie. [2] Das Einfühlungsvermögen in emotionaler und kognitiver Hinsicht gegenüber einem Kommunikationspartner ist die psychosoziale Voraussetzung für Gemeinschaftserfahrungen, die bilden können. Der US-amerikanische Ökonom und Publizist Jeremy Rifkin setzt den Empathiebegriff als so bedeutend an, dass er von der ‚Empathic Civilization‘ als der notwendigen gesellschaftlichen Zukunftsform spricht, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sich ein Mensch in einen anderen Menschen hineinversetzt, ihn zu verstehen sucht und anhand dieses Eindrucks sein eigenes Denken, Fühlen und Handeln ergebnisoffen überprüft.
Rifkin ist davon überzeugt – und führt dies an zahlreichen menschheitsgeschichtlichen Beispielen aus – dass der Mensch nicht nur egozentrisch, aggressiv und machtbetont sei, sondern auch von seiner Natur her eine Fähigkeit zur Empathie besitze:
“What does this tell us about human nature? It is possible that human beings are not inherently evil or intrinsically self-interested and materialistic, but are of a very different nature – an empathic one – and that all over the other drives that we have considered to be primary – aggression, violence, selfish behavior, acquisitiveness – are in fact secondary drives that flow from repression or denial of our most basic instinct?” [3]
Nun ist allerdings festzustellen, dass es eine Wechselwirkung zwischen gesellschaftlich dominanten Entwicklungen und psychischen Auswirkungen auf die Menschen in einer Gesellschaft gibt. Gesellschaftliche Strukturen, ökonomische Entwicklungen, Pandemien, ökologische Katastrophen, Migrationsbewegungen und Flucht oder militärische Bedrohungen verändern das Denken und Fühlen der hiervon betroffenen Menschen. Hierdurch werden Fähigkeiten des Menschen zu empathischer Gemeinschaftserfahrung abgeschwächt oder auch gestärkt – je nach den zentralen Intentionen einer gesellschaftlichen Verfasstheit, den charakterlichen Voraussetzungen eines Menschen oder auch eintretenden dominanten Tendenzen.
Die Bedeutung der Bildung
Genauso unterliegen die Institutionen der Bildung historisch-gesellschaftlichen Entwicklungen. Vormilitärische Härteerziehung und Entwicklung von Feindbildern in der Schule sind in anderen Gesellschaftsformationen gefragt als dies für die Förderung sozialer Empathie gilt. Genauso wie Gesellschaften sich ihre für sie typischen Schulen schaffen, müssten gesellschaftliche Kräfte, die an einer Veränderung der Gesellschaft interessiert sind, Schulen verändern wollen.
Eine Vision einer friedfertigen Weltgemeinschaft benötigt zur Friedfertigkeit in Freiheit geförderte und befähigte Menschen, die ihre Feindbilder überwunden haben.
Die Veränderung globaler Strukturen und die Lösung internationaler Konfliktsituationen haben oft eine Entsprechung im Kleinen, im mikrogesellschaftlichen Raum. Wenn dort schon keine Veränderung gelingt, wird dies im makrogesellschaftlichen Raum auch kaum gelingen. Wenn eine an Solidarität, Pazifizierung und ökologischem Engagement orientierte Identitätsbildung über Bildungsprozesse gelingt, ist eine wichtige Voraussetzung für ein entsprechendes Handeln im Rahmen der subjektiven Möglichkeiten des Einzelnen und der gesellschaftlichen Reichweite handelnder Kollektive, wie z.B. Parteien, Gewerkschaften und anderer zivilgesellschaftlicher Organisationen, gegeben. Oder am Beispiel der ‚sustainable development‘ auch anders ausgedrückt: Eine Bildung für eine nachhaltige Entwicklung fördert einen Lebensstil, ein friedliches und ein ökologisches soziales Miteinander, das auch auf der überregionalen Ebene gesellschaftliche Einflüsse ausübt, Haltungen und Handlungsweisen verändern kann, die in gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen durchaus eine ernst zu nehmende politische und ökonomische Macht ergeben können. Dies ist sicherlich ein langfristiger und nach zivilgesellschaftlicher Courage, nach Kreativität und ausdauerndem gesellschaftlichen Engagement verlangender Prozess.
Bildung im gemeinten Sinne lässt sich nicht verordnen bzw. autoritär anordnen. Hierbei kann es sich nur um selbstbestimmte Bildungsprozesse handeln, um ein selbstverantwortetes Lernen in der Balance von Freiheit und Verantwortung. Das Ziel liegt in der Befreiung von Tendenzen der Unterwerfung und aggressiver Destruktion – so Theodor W. Adorno (1971, 126):
„Die These, die ich gern mit Ihnen diskutiert hätte, ist die, dass die Entbarbarisierung heute die vordringlichste Frage aller Erziehung ist. Das Problem, das sich dabei aufdrängt, ist, ob an der Barbarei durch Erziehung etwas Entscheidendes geändert werden kann. Ich meine dabei mit Barbarei etwas ganz Einfaches, daß nämlich im Zustand der höchstentwickelten technischen Zivilisation die Menschen in einer merkwürdig ungeformten Weise hinter ihrer eigenen Zivilisation zurückgeblieben sind – nicht nur, dass sie in ihrer überwältigenden Mehrheit nicht die Formung erfahren haben, die dem Begriff der Zivilisation entspricht, sondern dass sie erfüllt sind von einem primitiven Angriffswillen, einem primitiven Haß oder, wie man das gebildet nennt, Destruktionstrieb, der noch das Seine dazu beiträgt, die Gefahr zu steigern, dass diese ganze Zivilisation, wozu sie von sich aus schon tendiert, in die Luft geht. Ich halte das zu verändern allerdings für so vordringlich, dass ich dem alle anderen spezifischen Erziehungsideale nachordnen würde.“
Bildungsprozesse müssten, so Adorno (1971, 137), durch einen Verzicht auf autoritäres Verhalten gekennzeichnet sein, es müsse die „Bildung eines rigorosen, starren und zugleich veräußerten Über-Ichs“ in der Erziehung verhindert werden. Bildungsprozesse müssten daher am Postulat der Mündigkeit orientiert sein und die Möglichkeit zur Selbstbestimmtheit und Kritikfähigkeit anlegen. [4]
Die Entwicklung von Universalismus und Ich-Identität
Die Entwicklung sozialer Empathie stellt hierbei ein zentrales Bildungsziel dar.
Rifkin stellt den Empathiebegriff in einen direkten Zusammenhang mit dem humanen Zivilisierungsprozess, wenn er formuliert:
“A heightened empathic sentiment also allows an increasingly individualized population to affiliate with one another in more interdependent, expanded, and integrated social organisms. This is the process that characterizes what we call civilization. Civilization is the detribalization of blood ties and the resocialization of distinct individuals based on associational ties. Empathic extension is the psychological mechanism that makes the conversion and the transition possible. When we say to civilize, we mean to empathize.” [5]
Empathie ist sicherlich eine zentrale psychosoziale Fähigkeit, untersucht man den Interaktionsprozess genauer, so wie dies im symbolischen Interaktionismus der Fall ist, lassen sich zumindest im Sinne der Identitätsanalyse des Soziologen Lothar Krappmann vier Voraussetzungen qualitativ hochwertigen Rollenhandelns im Versuch bestimmen, eine Balance von sozialer und personaler Identität in sozialen Situationen zu entwickeln:
· Rollendistanz – die Fähigkeit sich von Rollenerwartungen zu distanzieren;
· Ambiguitätstoleranz – die Fähigkeit, auch andere Meinungen auszuhalten;
· Empathie – die Fähigkeit, sich in einen anderen Menschen hinein zu denken und zu fühlen;
· Fähigkeit zur Identitätsdarstellung – die Fähigkeit, sich in der Interaktion als
authentische Persönlichkeit zu zeigen und einzubringen. [6]
Die Förderung dieser vier Fähigkeiten über entsprechend prägende soziale Erfahrungs- und Reflexionssituationen in Bildungsprozessen erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen zu einer weitgehend selbstbestimmten und bewusst vorgenommenen Balance von personaler Identität und sozialer Identität in entsprechenden Interaktionssituationen befähigt werden.
Es gelte, das Dilemma des Rollenzwanges zu überwinden, so zu sein wie kein anderer und doch so zu sein wie jeder andere – eine strukturelle Anforderung in sozialen Situationen, für die in jeder neuen Interaktionssituation immer wieder neu Identitätslösungen gefunden werden müssen.
Das soziale Selbst, d.h. eine Fähigkeit zur Ich-Identität, die sowohl prinzipiengeleitet als auch offen genug ist und auf psychische Vereinfachungen verzichtet, ist die psychosoziale Voraussetzung für eine Weltgesellschaft mit universalistischen Werten und hieran ausgerichteten Strukturen. Die moralisch fundierte Hemmschwelle, nationalchauvinistisch, autoritär und rassistisch zu regredieren, muss sich über Bildungsprozesse unterschiedlichster Art in den Persönlichkeiten aufbauen, um nicht der Verführung von Vereinfachungen angesichts hochkomplexer gesellschaftlicher Anforderungen in einer sich zunehmend vernetzenden Weltgesellschaft zu erliegen.
Hierbei ist es in einem holistischen Sinne wichtig, dass der sich bildende Mensch lernt, sich als Teil eines Ganzen zu begreifen und in seinem alltäglichen Verhalten auch Verantwortung für das damit verbundene Ganze zu übernehmen, soweit dies ihm möglich ist.
Die menschliche Persönlichkeit, die widerständig gegen die Verführungen und Manipulationen national-chauvinistischen Denkens, Natur verschlingender unsinniger Konsumbedürfnisse und aggressiver Militärstrategien ist und die mit einer universalistischen Moral ausgestattet sich als demokratisch orientierter und engagierter Weltbürger fühlt, eher zum Altruismus denn zum Egozentrismus neigt, kann nur eine allseits gebildete Person sein. Eine ethisch geleitete Bildung in seinen unterschiedlichen Facetten ist der Schlüssel zur Weiterentwicklung des Humanen. Dies meint nicht die wissensfixierte Paukschule, sondern meint ein Bildungsverständnis, das schulische Bildung als gekonnte Initiierung zur Selbstbildung in Verantwortung für das Ganze versteht. Schulen und Ausbildungen sollten problemorientiert Kompetenzen fördern, welche die Lernenden auf die Gegenwart und Zukunft einer verantwortbaren Globalisierung und damit auf ein an Nachhaltigkeit, Einhaltung der Menschenrechte und friedlichem Zusammenleben orientiertes Leben vorbereiten sollten.[7] Die Fortführung einer imperialen Lebensweise (Brand/ Wissen 2017) kann kein Ziel schulischer Bildung mehr sein.
Zentrale Rolle politischer und historischer Bildung
Hierzu gehört natürlich die zentrale Rolle der mit sehr viel mehr zeitlichen Möglichkeiten auszustattenden gesellschaftspolitischen Bildung in den Schulen der Zukunft. Politische und historische Bildung versuchen über die Kontroversität von Themen und Materialien den Lernenden ein eigenständiges politisches Urteil sowie eine eigene historische Narration zu ermöglichen. Im Rahmen eines Wechselspiels zwischen lehrerstrukturierten und projektorientierten Unterrichtsphasen sind die möglichst selbstständige Analyse u.a. von gewalttätigen Auseinandersetzungen und von ökologischen Konflikten, die Beurteilung staatlicher und überstaatlicher Politikstrukturen sowie friedensstiftende und ökologische Handlungsmöglichkeiten im globalisierten Kontext und deren historischer Genese zu erarbeiten.
Insbesondere das exemplarische Prinzip ist hier von großer Bedeutung. So untersuchen die Lernenden im Politik- und Geschichtsunterricht oder auch im Rahmen fächerübergreifender Projekte einzelne Konfliktfälle genauer. Sie suchen sich z.B. einen militärischen Konflikt heraus, und analysieren, wie es z.B. in Mali zu einer Verknüpfung von Klimawandel, Ressourcenkonflikten, Postkolonialismus, terroristischer Rekrutierung und gewalttätigen Auseinandersetzungen gekommen ist. Hier werden anhand eines einzelnen massiven Konfliktfalls auch allgemeine Aussagen und Beurteilungen möglich, die über den Einzelfall hinausgehen und zeigen, wie das regionale Geschehen in weltsystemische Strukturen und Prozesse eingebunden ist. Vor diesem komplexen Hintergrund gilt es dann zu reflektieren, wie sich eine Gesellschaft aus ihrer desolaten Situation befreien kann und welche Rolle hier z.B. auch die Vereinten Nationen oder die Europäische Union spielen könnten.
Demokratie ist nichts überdauerndes, nichts ein für alle Mal gesichertes, sondern muss immer wieder hinsichtlich ihrer ethisch begründeten Ziele, ihrer Partizipationschancen und deren Bedeutung für das menschliche Zusammenleben sowie des historischen Kampfs um die Demokratie und die dafür gebrachten Opfer in jeder Generation neu erlernt werden.
Eine qualitativ hochwertige politische und historische Bildung im dafür notwendigen Umfang ist eine wichtige Grundlage für das Lernen in der Demokratie für den Erhalt und die Weiterentwicklung der Demokratie, wo sie noch verbessert werden sollte. Eine derartige Bildung ist ebenso die Grundlage für ein Engagement in internationalen Beziehungen und für die Verbesserung der Lebensverhältnisse über die eigene Staatlichkeit hinaus. In diesem Sinne ist ein hochwertiger politischer und historischer Lernprozess auch als weltbürgerliche Bildung zu begreifen.
Äußerungen, die darauf abzielen, die historischen Katastrophen doch endlich ruhen zu lassen, ist entgegenzuhalten, dass über die schulische Auseinandersetzung mit historisch vergangenem Unrecht von Menschen über Menschen für die Verhinderung zukünftiger Katastrophen gelernt werden kann. Es darf im Geschichtsbild der heranwachsenden Generationen nicht vergessen werden, wie viele Menschen in früheren Zeiten unterdrückt, gequält und getötet wurden, wenn sich Gesellschaftsstrukturen destruktiv entwickelten. Fast jede Nation hat eine derartige Geschichte des Überfalls auf andere Nationen und der Unterdrückung der eigenen Bevölkerung aufzuweisen. Hieran ansetzend kann die existenzielle Bedeutung des gesellschaftlichen Ineinandergreifens von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit erkannt werden.
Schulen in der Demokratie müssen anders sein
In diesem Zusammenhang darf die Struktur der Schule nicht in einem Widerspruch zum Metaziel der Mündigkeit stehen. Wenn Mündigkeit mit selbstständigem und kritischem Denken und Handeln verbunden sein soll, dann müssen Schulen auch die Lernenden ernst nehmen und ihnen Möglichkeiten zur Mitbestimmung im Rahmen der Schulstrukturen sowie auch Mitsprache und Wahlmöglichkeiten über die zu bearbeitenden Inhalte und die eingesetzten Methoden geben.
Die Möglichkeit in einer demokratischen Schule, Demokratie lebensweltlich und praktisch über Mitbestimmungsmöglichkeiten und mit wahrnehmbaren Folgen zu erleben, stellt die notwendige Ergänzung zur politik- und geschichtsunterrichtlich vermittelten Bildung dar. Wenn dann in diesem Zusammenhang Schüler_innen z.B. bereit sind, engagiert an der Organisation und Durchführung der Fridays for Future-Demonstrationen teilzunehmen, müssten demokratische Schulen eigentlich Wege finden, dieses Engagement zu unterstützen. Auf jeden Fall dürften den Lernenden hieraus keine Nachteile erwachsen.
Auch die Herstellung kontroverser und zu kritischer Reflexion anregenden schulinternen Öffentlichkeiten in Form von Schülerversammlungen, Ausstellungen, Experten-Hearings und selbstorganisierten Podiumsdiskussionen stellen wichtige Elemente des Demokratie-Lernens dar.
In vielen Regionen und Ländern entwickeln sich innovative Bildungskonzepte und alternative Schulen, die auf staatliche finanzielle Ressourcen angewiesen sind, wenn sie nicht nur Schulen für Kinder aus wohlhabenderen Familien in Form von Privatschulen sein wollen.[8] Umso wichtiger ist der Verzicht auf Rüstungsspiralen bzw. auf die Erhöhung der Wehretats, damit die entsprechenden Ressourcen für den Bildungsbereich und zur inklusiven Förderung aller Kinder in allen Weltregionen zur Verfügung stehen. Zukünftige Gesellschaften können es sich nicht mehr erlauben, Milliarden und weltweit Billionen Dollar für Tod bringende Waffensysteme zu verschwenden.
Wichtige soziale Erfahrungen können in den offiziellen gesellschaftlichen Bildungsinstitutionen, wie Kindertagesstätten, Schulen, Stätten beruflicher Bildung und den Hochschulen gemacht werden. Wichtiges kann aber auch über nonformale Erfahrungen in den Lebenszusammenhängen, wie z.B. in privat lebenden Familien, in politischen Initiativen, aber auch in alternativen Lebens- und Arbeitsformen, gelernt werden.
(…)
Bildungsmaßnahmen gegen die Konstruktion von Feindbildern
Die manipulative Erzeugung von zwischenstaatlichen Feindbildern ist aus ethischen und auf dem Völkerrecht basierenden Gründen abzulehnen. Natürlich muss eine Kritik des staatlichen Gegenübers erlaubt sein, wenn sie Fakten gestützt ist, d.h. mit transparenten und nachprüfbaren Tatsachen belegt ist. Allerdings führt die (…) Generierung von Feindbildern zu keiner diplomatischen Lösung von militärischen Konflikten, sondern zu deren Zuspitzung. Die Erzeugung von manipulativen Feindbildern ist ein kriegsvorbereitender und kriegstreibender Akt, den es sowohl in den Medien als auch in institutionellen Bildungsprozessen zu vermeiden bzw. aufzudecken gilt.
Insbesondere in der historischen und politischen Bildung ist die kritiklose Übernahme von Feindbildern zu verhindern. Bildung kann natürlich nicht allein die Welt verändern. Hier sind vor allem die Zivilgesellschaft, die Medien, die von ihnen gewählten Politiker sowie die regionalen, nationalen und transnationalen Politikinstitutionen verantwortlich, keine Feindbilder aufkommen zu lassen und diese präventiv in ihrer ideologischen Funktion zu entlarven. Dennoch sollte auch der Bildungssektor seinen ihm möglichen Beitrag zur Friedenssicherung beisteuern, indem die Konstruktion von ‚Feindbildern‘ als ideologische und kriegsvorbereitende Maßnahme erkannt wird. Folgende Möglichkeiten bieten sich u.a. im schulischen und außerschulischen Rahmen politischer Bildung an:
- Sich selbst als Lehrende und als Lernende fragen, welche eigenen Feindbilder vorhanden sind, und diese auf darin enthaltene Vorurteile und pauschale Abwertungen untersuchen;
- Kritische politisch-historische Bildungsarbeit an Beispielen von Feindbildkonstruktionen als kriegsvorbereitende Maßnahmen;
- Das Thema ‚Feindbilder‘ zum Gegenstand von Ideologiekritik und sozialpsychologischen Studien machen; hierbei sollte gefragt und mit historischen Beispielen versehen werden, wie eine Versöhnungskultur auszusehen hat;
- Politische Bildung kontrovers anlegen: Mainstream-Medien und alternative Quellen vergleichend analysieren, um Feindbilder zu analysieren;
- Bildliche Darstellungen des ‚homo hostilis‘ untersuchen und die ästhetischen Mittel auf ihre manipulative Wirkung hin analysieren;
- Mit Zeitzeugen über die historische Konstruktion von Feindbildern und deren Auswirkung diskutieren;
- Kontakte in Austauschprojekten und humanitäre Unterstützung aufbauen und pflegen;
- Eigene Medienaktivitäten, wie z.B. Podcasts, Blogs, Schülerzeitungsartikel oder Radiobeiträge, zum Thema ‚Feindbilder‘ fördern.
Hierbei ist darauf zu achten, dass die Lernenden in den sich mit dem Phänomen des Feindbildes beschäftigenden Projekten wiederum nicht manipuliert oder überwältigt werden. Dies kann über Methoden selbstständigen Lernens und Forschens an kontrovers angelegtem und mehrperspektivischem Quellenmaterial sowie der Begegnung mit unterschiedlich denkenden Menschen gelingen. [9]
Anmerkungen:
[1] Vgl. Habermas (1981).
[2] Vgl. auch hierzu Moegling (2019a).
[3] Rifkin (2009, 18).
[4] Vgl. die Rekonstruktion der Kritischen Theorie im Zusammenhang mit dem Bildungsanliegen bei Moegling (2017, 32-49).
[5] Rifkin (2009, 24).
[6] Vgl. Krappmann (1971 u. 1978).
[7] Vgl. u.a. Moegling (2017).
[8] Internationale Beispiele für bildungsinnovative Schulen finden sich bei Moegling (2017, 504ff.).
[9] Die notwendigen Schritte im Rahmen von Prozessen historischer und politischer Bildung wurden in Anlehnung an Moegling (2019d) entwickelt.
(Ausführliche Literaturangaben unten bei https://www.klaus-moegling.de/international-edition/)
Katja Faulstich-Christ/Gabriel Hund-Göschel/Klaus Moegling/Tim Sauerwein/Martin Volkmann
Vom kulturellen Sinn und Unsinn der Fächer.
Einführende Überlegungen zum fächerübergreifenden Unterricht
Die Autorin und die Autoren zeigen auf, aus welchen kulturellen Motiven heraus sich das disziplinäre Denken in der Gesellschaft entwickelt hat. Hierbei werden auch kritische Aspekte in Bezug auf die fachliche Durchdringung kultureller Wissensbestände und gesellschaftlicher Problemlösungsversuche angesprochen. Insbesondere aufgrund der Gleichzeitigkeit der Komplexität und der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Problemstellungen und Konfliktlagen wird die Notwendigkeit disziplinärer, interdisziplinärer und transdisziplinärer Erkenntnisstrategien und deren Berücksichtigung in schulischen Lernkulturen begründet. Vor diesem Hintergrund wird abschließend auf die Veränderung der curricularen Organisation der Lehrerbildung verwiesen.
The authors of this article show which cultural motives have influenced the development of disciplinary thinking in society. The critical aspects concerning the permeating of disciplines throughout cultural knowledge as well as social problem-solving strategies are addressed. The necessity for disciplinary, interdisciplinary and transdisciplinary strategies of gaining knowledge and the consideration of these strategies in school contexts becomes apparent, especially, because of the simultaneity of complexity and differentiation in social problems and conflicts. Against this background, the authors refer to the curricular changes in the organization of teacher training.
Kultureller Sinn und Unsinn – ein begrifflicher Klärungsversuch
Unter kulturellem Sinn soll hier im Verständnis der Autorengruppe der Versuch von Gesellschaften (und auch transnationalen Verständigungsgemeinschaften) verstanden werden, sich selbst zu konstituieren und zu legitimieren. Im Mittelpunkt steht daher die Frage, wie gesellschaftliche Systeme ihre sozialen Praktiken und (daraus entstandene?) Institutionen begründen, die für sie konstitutiv sind. Die Frage nach dem kulturellen Sinn versucht soziale Systeme und Strukturen zu identifizieren, die sich in ihren sozialen Praktiken und Institutionen sowie deren Interpretationen, Kodierungen und Fixierungen zu definieren (aber auch zu verändern) versuchen. Kulturell unsinnig ist für eine gesellschaftliche Entwicklung bzw. für die Weiterentwicklung sozialer Systeme das Festhalten an Formen kulturellen Lebens, wenn die zentralen Erfordernisse gesellschaftlicher Problem- und Konfliktlösungen eine Loslösung von kulturellen Werten bzw. traditionellen Erkenntnisstrategien deutlich machen würden.
In dieser Hinsicht wird im vorliegenden Beitrag die alleinige Fixierung auf die fachliche Spezialisierung als kultureller Unsinn bezeichnet werden, die zur Blockierung von notwendigen gesellschaftlichen Konflikt- und Problemlösungsansätzen führen kann.
1. Vom kulturellem Sinn des Fachlichen
Während in voraufklärerischen Zeiten holistische Ansätze der Weltwahrnehmung – seien sie philosophischer oder religiöser Natur – Vorrang hatten, führte die mit der Veränderung der Arbeits- und Produktionsverhältnisse einhergehende Industrialisierung zu einer Ausdifferenzierung und Verfachlichung des Denkens. Das Wissen löste sich zunehmend aus lebensnahen Bezügen und wurde für technologische und kulturelle Verwertungszusammenhänge funktionalisiert. Einerseits entfernte sich das Denken und Wissen der Menschen hiermit von ihren Lebenszusammenhängen, andererseits wurden neue Dimensionen des Denkens erschlossen, welche die Grundlage für eine kollektive Lebenssicherung auf der Erde darstellten. Der Preis dafür ist groß: Globale Ausbeutungszusammenhänge und eine drohende Verwüstung der Erde sind bis in die heutige Zeit virulent und werden sich noch verschärfen.
Wilber (1988) spricht in diesem Zusammenhang gesellschaftlicher Erkenntnisgewinnung von den ‚drei Augen der Erkenntnis‘, also drei grundlegend verschiedenen Erkenntniswegen: der Spiritualität, dem verstehenden Denken sowie dem szientistischen Umgang mit der Welt. Hierbei hätte eine nicht eingelöste und verengte Aufklärung dem Szientismus zu einem Siegeszug verholfen, dessen messendes ‚Auge‘ nur noch das wahrnimmt und ernst nimmt, was mit den Mitteln fachlich spezialisierter empirischer Forschung ermittelt werden könne. Es fände eine Entzauberung der Welt zugunsten von endlosen, disziplinär produzierten, hypothesenprüfenden Datenlisten und Tabellen statt.
Mit der Herausbildung der modernen Wissenschaften entstanden die sich zunächst voneinander abgrenzenden und um eine eigene Identität ringenden Disziplinen, in denen die Produktion von Wissen und Erkenntnis systematisch, d.h. einerseits orientiert an übergreifenden Erkenntnisregeln und andererseits auch ausgerichtet an fachspezifischen Normen, festgelegt ist. Die disziplinäre Arbeitsteilung war eingebunden in ein institutionelles System kognitiver und sozialer Strukturen, mit entsprechenden wissenschaftlichen Codes und Methoden, Berufsverbänden, Zugangsmechanismen, Forschungspraktiken usw.: „Disziplinen bilden das institutionelle Gefüge, das die modernen Systeme von akademischer Bildung heute dominiert.“ (Heilbron 2005, 23). Disziplinen verbanden Lehre, Forschung und professionelle Organisation und waren das Ergebnis eines langfristigen und durchaus konflikthaften Prozesses kultureller Konstruktion und Ausdifferenzierung.
Bourdieu (1993, 51) verweist in diesem Zusammenhang auf die Spaltung der menschlichen Erkenntnisfähigkeit in einen abgewerteten subjektiven und einen aufgewerteten objektiven Erkenntniszugang:
„Der Objektivismus, der sich vorgenommen hat, vom individuellen Willen und Bewusstsein unabhängige Gesetzmäßigkeiten (Strukturen, Gesetze, Systeme von Relationen usw.) zu ermitteln, setzt eine schroffe Diskontinuität zwischen der wissenschaftlichen und der praktischen Erkenntnis, indem er die mehr oder weniger expliziten Vorstellungen, mit denen letztere ausgerüstet ist, als ‚Rationalisierungen‘, ‚vorwissenschaftliche Begriffe‘ oder ‚Ideologien‘ verwirft.“
Der Objektivismus verband sich mit einer auf Spezialisierung basierenden Disziplinarität, war gesellschaftlich funktionalisierbar und führte zu einer erkenntnistheoretischen Verengung und einem systematischen Wegsperren anderer Erkenntniszugänge.
Im Zuge des Prozesses einer rationalistischen und sich an den interessengeleiteten Erfordernissen industrieller Produktion und Verwertung durchsetzenden Version von kultureller Aufklärung erfanden die sich kapitalistisch ausformenden Gesellschaften Bildungssysteme und Institutionen, die ambivalente Funktionen hatten. Einerseits wurden sie mit humanistischen Bildungsidealen, andererseits mit Ausbildungszielen belegt, die an den Erfordernissen industriell-kapitalistischer Produktionsweise orientiert waren. Letztendlich ist diese Werteambivalenz bis heute nicht aufgehoben: Dem Wunsch nach einem in den Schulen zu fördernden Idealbild des sich zunehmend selbstständig bildenden und zu kritischer Autonomie befähigten jungen Menschen steht die Erwartung gegenüber, dass gesellschaftliche Erziehungsvorstellungen zunehmend dahin tendieren, jene Bindungslosigkeit und Flexibilität zu erzeugen, in der Oskar Negt den allseits für Verwertungszusammenhänge einsetzbaren, flexiblen Menschen sieht, der der innengeleiteten Seite seiner Identität beraubt ist. [1]
Auch die Verfachlichung kulturellen Wissens im Zuge einer sich durchsetzenden rationalistischen Spielart der Aufklärung trägt diese Ambivalenz in sich: Einerseits bietet die Einteilung kulturellen Wissens in Disziplinen einen ordnenden kognitiven Orientierungsmaßstab (Duncker/Popp 1997). Es entstehen mit der Herausbildung der Fachwissenschaften und der Fächer disziplinäre Zuständigkeiten und Kompetenzen, die Identifikation und Sicherheit bieten. Die Absolutheit voraufklärerischer spiritueller Gewissheiten und damit verbundener Abhängigkeiten wird im Zuge der Säkularisierung abgelöst durch fachliche Expertisen, die am Kriterium empirischer Überprüfbarkeit orientiert sind. Das entstehende Schulwesen erhielt hiermit ein Ordnungsprinzip, das der Gesellschaft eine Auswahl, Überprüfung und Stufung von Kindern und Jugendlichen ermöglichte mit dem Ideal, dass nicht mehr die Herkunft sondern die primär fachliche Leistung der Subjekte über Lebensvorteile entscheide. Auch wenn dies bis heute aufgrund veränderter sozialer Barrieren für einen freien Bildungszugang nur in Ansätzen gelungen ist, stellt die gegenwärtige Bildungswelt dennoch – zumindest in den reicheren Industrieländern und den Schwellenländern – im Vergleich zur präaufgeklärten Welt mit ihrem Bildungsmonopol für die Kinder von Adligen, Klerus, Reichen und Mächtigen – wesentlich mehr Bildungsgelegenheiten und Aufstiegsmöglichkeiten zur Verfügung, als dies früher der Fall war.
Die disziplinäre Spezialisierung stellt seitdem die Substanz dar, über die sich unter schulisch-institutionellen Gesichtspunkten der Erfolg im Versuch, zu Bildungsabschlüssen und Laufbahnberechtigungen zu gelangen, entscheidet. Hierbei spielt die innere Hierarchie des sich entfaltenden und historisch immer wieder verändernden Fächerkanons eine gewichtige Rolle. Es bildeten sich die sogenannten Hauptfächer (Deutsch, Mathematik, moderne Sprachen) heraus, die den Stellenwert der alten Sprachen, wie Lateinisch, Griechisch oder Hebräisch, verminderten und die nun gegenüber den sogenannten Nebenfächern institutionell privilegiert waren, indem sie mit einem größeren Stundenumfang und einem deutlicheren Gewicht bei der Versetzungsentscheidung ausgestattet wurden.
Die institutionelle Wertigkeit des Fachlichen in Bezug auf die Zertifizierung schulischer Leistungen überlagerte nun zunehmend den subjektiven Aufklärungswert des Disziplinären aus der Sicht der hiervon betroffenen Subjekte. Die Selektions- und Bildungsfunktion des Fachlichen standen und stehen sich immer noch konkurrenzorientiert gegenüber. Insbesondere in der Wahrnehmung der zu bildenden Subjekte hat fachliche Bildung auch immer wieder einen Bedrohungscharakter – solange mit den Fachnoten für die Lernenden auch der Ausschluss oder der Zugang zu erweiterten Bildungsgelegenheiten verbunden sein kann.
Dennoch stellte die Säkularisierung der Welt und die fachliche Diversifizierung der kulturellen Weltwahrnehmung einen Fortschritt für die in unaufgeklärten Mythen, religiösen Zwängen und diffusen Ängsten geistig gefangenen Menschen der voraufgeklärten Zeit dar. Kants Anspruch an den Menschen, sich aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien, die Fähigkeit zu entwickeln, sich selbstständig, also ohne Bevormundung durch einen anderen (Fürst oder Priester, auch nicht Lehrer(!)) denkend zu entfalten, ist zwar vorwiegend disziplinär gelöst, steht aber immer noch als Ideal der Aufklärung in Konkurrenz zu modernen Formen institutionell gesicherter Unmündigkeit, auch in den Schulen. Die Spur zum Ursprung dieser modernen Form der Unmündigkeit und Aufgeklärtheit suchen Horkheimer und Adorno in einem sich im 19. Jahrhundert durchsetzenden System industriell-kapitalistischer Ausbeutung und Entfremdung, die aus ihrer Sicht zu einer institutionellen Massenabrichtung und kulturell angelegten Triebdestruktion in der modernen Industrie- und Konsumgesellschaft führte. Horkheimer und Adorno (1996) kritisieren in ihrer ‚Dialektik der Aufklärung‘ die Zurichtung und die Ausschaltung
menschlicher Affektlagen und kognitiver Weltzugänge durch die zunehmende Spezialisierung und Verfachlichung menschlicher Kognitionsleistung im Sinne eines an den Erfordernissen der Modernisierung orientierten Effizienzdenkens. Alles werde im Zuge der szientistischen Umfunktionalisierung des Aufklärungsgedankens dem ökonomischen Zweck-Mittel-Nutzen-Denken unterworfen und der Mensch werde seiner komplexen Fähigkeit zu denken über diesen Prozess kultureller Domestizierung beraubt. Marcuse (1980, 21 ff.) spricht in diesem Zusammenhang von der
Einübung in instrumenteller Vernunft und in der Identifikation mit den Produkten einer Warengesellschaft in den kulturellen Institutionen moderner Gesellschaften, die zunehmend zu einem „eindimensionalen Menschen“ führten. Daher sei eine zweite Aufklärung einzufordern, die das instrumentelle Denken durch ein befreites Denken ersetze, das im lebendigen Kontakt zu seiner emotionalen Grundlage stehe. Adorno (1971) sieht in seinen bereits legendären Gesprächen mit Hellmut Becker ebenfalls einen Zusammenhang zwischen Bildung und Gesellschaftsentwicklung. Erst eine Erziehung zur Mündigkeit, die von der disziplinären Zurichtung für die Erfordernisse des industriellen Arbeitssektors und den dienstleistenden Verwaltungen wegführe und eine kritische Menschenbildung beinhalte, könne eine Grundlage für eine humane und demokratische Gesellschaft sein.
Jürgen Mittelstraß (1982 und 2010) schätzt die kulturelle Leistung der Disziplinarität durchaus konstruktiv ein, kritisiert allerdings die zunehmende Spezialisierung des Menschen hin zu einem immer größeren Detailwissen, wodurch der Einblick in die Grundlagen des Erkennens und Denkens verloren gehe. Er kritisiert über die Fixierung auf technisches Verfügungswissen einen zunehmenden Verlust an Orientierungswissen, das in der Lage sei, ethische Verantwortlichkeit und auch komplexes Denken miteinander zu verbinden. In diesem Zuge fordert er die Ergänzung des Disziplinären durch das Interdisziplinäre und insbesondere den integrativen erforschenden Zugang (Transdisziplinarität) zu gesellschaftlichen Problem- und Konfliktlagen.
2. Zum kulturellen Sinn des Inter- und Transdisziplinären
Die Wirklichkeit richte sich – so Mittelstraß (1982) – nicht nach den Einteilungen der Fächer, sondern erfordere in der Bearbeitung eines Problems auch das Hinausgehen über den fachlichen Horizont eines Faches, die Verbindung und Integration mehrerer fachlicher Zugänge, die fächeraussetzende Herangehensweise, wenn dies erforderlich ist, sowie den Einbezug nichtfachlichen Wissens. Dennoch sei das Fachliche eine wesentliche Grundlage, auf die nicht verzichtet werden könne, da hier bereits ein hohes Niveau im Erkennen des Details und disziplinärer Zusammenhänge erreicht sei, das mitverantwortlich für den Erfolg einer technologisch fortgeschrittenen Gesellschaft sei. Gerade die Verbindung des Fachlichen mit dem Interdisziplinären und Transdisziplinären in einem Kontext von Schule, Bildung und Unterricht könnte die Voraussetzung dafür darstellen, dass sich kulturell gewachsene und verwertbare Kognitionsleistung mit einer komplexen und verantwortungsbezogenen Orientierung verbinde [2].
Eine moderne bzw. postmoderne Kultur kann sich sicherlich nicht mehr die Dominanz des fachlichen Blickwinkels leisten. In der Wissenschaft und in der Forschung wurde dies erkannt. Längst wird hier international inter- und transdisziplinär geforscht. In den Forschungsabteilungen renommierter Universitäten und großer Unternehmen finden Zugänge in Verbindung von Physik, Mathematik, Chemie, Biologie oder von Soziologie, Kulturwissenschaften und Psychologie in der Entwicklung von Zukunftstechnologien, wie z.B. Technologien ressourcensparender und regenerativer Energieerzeugung, ihre selbstverständliche Anwendung. Die Erforschung des Weltraums ist von vorneherein ein auf transdisziplinäre Forschung angelegtes Projekt. Gesundheit und Krankheit werden in den Gesundheitswissenschaften grundsätzlich transdisziplinär erforscht, da ohne Bezüge zur Kulturwissenschaft, zur Soziologie, zur Politikwissenschaft, Psychologie, Biologie, zu den Bewegungswissenschaften, zur Medizin und zu den Erziehungswissenschaften die Frage nicht verstehbar ist, unter welchen Bedingungen Menschen gestärkt oder krank aus Belastungssituationen hervorgehen. Alles dies sind Beispiele für eine Begründung von Interdisziplinarität unter einem Anwendungsaspekt. Darüber hinaus gibt es eine Begründung mit dem Blick auf die lernenden Subjekte selbst. Eine Erziehung zur Mündigkeit beinhaltet ebenfalls den komplexen Blick auf die Welt, strukturelles Analysieren, ein Verstehen von Zusammenhängen, den Perspektivenwechsel und ein Handeln, das an diesen Fähigkeiten und Bereitschaften orientiert ist. Hier geht es um das Recht des Subjekts auf eine vielseitige Bildung, die sowohl fachliche Spezialisierung als auch fächerübergreifende und fächeraussetzende Weltzugänge beinhaltet und sich gegen eine institutionelle Vereinnahmung des Blicks auf die Welt der Lernenden über fachlich einseitige Weltzugänge wendet.
3. Zur Kooperation des Fachlichen und des Fächerübergreifenden
Übersetzt in die Welt der institutionellen Organisation von Schule bedeutet dies, dass die Schule sowohl disziplinäre Lehrgänge als auch interdisziplinäre Projekte zu organisieren und für Bildungsprozesse bereit zu halten hat. Zwar braucht man das Disziplinäre für den teilspezialisierten Zugang zur Lösung von Problemstellungen, dennoch erfordern wesentliche gesellschaftliche Problemstellungen und Konfliktlagen, wie z.B. das Verhältnis des Menschen zur Natur, die Existenz kultureller Differenzen und Konfliktlagen, die Suche nach globalen Mechanismen der Friedenssicherung, die Bekämpfung von Krankheiten und Seuchen, die Lösung des globalen Hungerproblems oder der Versuch einer gerechten Verteilung gesellschaftlichen Reichtums einen interdisziplinären Blick und eine Suche über die Grenzen der Fächer hinaus.
So gehört die Einsicht in die begrenzte Leistungsfähigkeit des rein fachlichen Denkens ebenfalls zu einem vertieften Verständnis fachlichen Lernens. Ein guter Physiker weiß, dass die Möglichkeiten der Physik über z.B. chemische und biologische, aber auch gesellschaftspolitische Wissensbestände und Überlegungen erweitert werden müssen, wenn er versucht, die Risikowahrscheinlichkeit des GAU eines Atomkraftwerks und dessen möglichen Folgen einzuschätzen.
Das Verhältnis von Disziplinarität und Interdisziplinarität führt zu unterschiedlichen didaktischen Perspektiven in den Schulen. Ausgehend vom Fachlichen können die Fächergrenzen überschritten werden, um Wissensbestände aus benachbarten oder weiter entfernt gelegenen Fächern zur Lösung eines fachlichen Problems heranzuziehen. Es geht zunächst um die fachliche Kontextualisierung, in einem nächsten Schritt um die fächerübergreifende Integration von Wissensbeständen sowie in einem letzten Schritt wieder um die durch den interdisziplinären Perspektivenwechsel bereicherte disziplinäre Perspektive auf das zu lösende Problem. Schüler werden hierüber nicht nur Spezialisten für das fachliche Detail, sondern auch Spezialisten für Zusammenhänge (Popp 1997). Eine grundlegende Alternative zu dieser durchaus sinnvollen und immer noch für die gegenwärtige, fachlich-einseitig dominierte schulische Unterrichtspraxis innovative Vorgehensweise im fächerübergreifenden Lernen besteht nun in der transdisziplinären Vorgehensweise von Anfang an. Im Rahmen eines transdisziplinären Vorgehens werden die Fächer von Anfang an ausgesetzt und die Frage-, Forschungs- und Interpretationsrichtung entscheidet sich nach der Komplexität und Strukturiertheit des zu untersuchenden Problems. Das ideale Anwendungsfeld des Transdisziplinären liegt in einem niveauvoll angelegten Projektunterricht begründet, so wie er in etwa bereits bei Dewey und Kilpatrick, den amerikanischen Pragmatisten, vor vielen Jahrzehnten im Sinne denkender Erfahrung bzw. reflektierten Tuns entwickelt wurde. Hier können Schülerinnen und Schüler Fragen an ein von ihnen erkanntes gesellschaftliches Problem stellen, die von Beginn an fächeraussetzend angelegt sind. Der Konflikt um die massive Einleitung von Salzlaugen in einen Fluss durch einen multinationalen Konzern, der Streit um den Neubau einer Autobahn in einem Naturschutzgebiet, der Konflikt um den Neubau einer Moschee, d.h. um die Anerkennung und Integration von Bürger(inne)n mit Migrationshintergrund oder der Streit um die Verlängerung der Laufzeit der Atomkraftwerke können nur transdisziplinär gelöst werden. Weder die Untersuchungsfragen der Schülerinnen und Schüler, noch die Untersuchungsmethoden und Formen der Erkenntnissicherung und -prüfung lassen sich alleine fachlich begründen und bearbeiten. Hier wird nur eine interdisziplinäre und vor allem eine transdisziplinäre Vorgehensweise den gesellschaftlichen Konfliktlagen gerecht, die es in Projektform zu bearbeiten gilt. Projekte, die mehr als Hobby- und Bastelkurse für Kinder sind (Bastian/Gudjons 1986), sondern berührende und bedeutungshaltige Erfahrung mit niveauvoller Reflexion und ernsthafter intellektueller Suche verbinden, stellen die idealtypische Grundlage für vernetztes Denken, den Perspektivenwechsel sowie komplexes Handeln dar [3]. Eine konsequente Projektorientierung unter einem transdisziplinären Aspekt überschreitet auch die Sortierung und die Anzahl der schulisch eingeführten Fächer. Beispielsweise Gesundheitswissenschaften, Kulturwissenschaften, Psychologie, Ernährungswissenschaften, Archäologie, Zukunftswissenschaften, Astrophysik, Ethnologie oder Ozeanografie stellen Wissensgebiete dar, die wertvolle Wissensbestände und methodische Vorgehensweisen zur Verfügung stellen, die nicht deswegen schon in der Schule keine Rolle spielen sollten, weil sie schulische Nicht-Fächer sind. Einerseits muss natürlich der Fächerkanon der Schule immer wieder kritisch überdacht und überarbeitet werden; andererseits bieten Projekte die Möglichkeit, auch Nicht-Fächer im Lernen und Lösen von Problemen zu berücksichtigen.
Insbesondere die Debatte um die Kompetenzorientierung darf nicht dazu führen, dass ein einseitiger Rückzug auf das Fachliche stattfindet. Der Blick ist ebenfalls auf Kompetenzen und Standards fächerübergreifenden Lernens zu richten. Die Fähigkeit, Wissensbestände zu vernetzen, die Bereitschaft andere Blickwinkel einzunehmen, das Können, das sich auf ein Handeln bezieht, das durch interdisziplinären Durchblick gekennzeichnet ist, oder eine Analyse- und Urteilsfähigkeit, die auch eine transdisziplinäre Wissensgrundlage besitzt, sind Kompetenzen, die dringend in die Diskussion von Bildungsstandards und deren Konkretisierung aufgenommen werden müssen. [4]
4. Rhythmisierung der Schule, fachliches und fächerübergreifendes Lernen
Eine Aufwertung fächerübergreifend angelegten Projektlernens bedeutet einen anderen Umgang mit schulischer Zeit (vgl. z.B. Holtappels 2007,11 oder Reheis 2005, 311). Insbesondere der gesellschaftliche Trend zu Ganztagsschulen ermöglicht auch eine großzügigere Rhythmisierung der Schulen. Hierbei ist der fachliche Lehrgang durch eine Vielfalt unterschiedlicher fachlicher und fächerübergreifender Lerngelegenheiten mit sehr verschiedenen zeitlichen Strukturen zu kombinieren. Eine andere Rhythmisierung von Schule zeigt sich insbesondere in der Einrichtung des Epochenlernens sowie zeitoffener Lernangebote. Der Ausstieg aus der Dominanz des 45-Minuten-Rhythmus oder sogar des Doppelstunden-Rhythmus ist der Einstieg in eine subjektfreundliche und problemangemessene Lernstruktur. Die Schülerinnen und Schüler werden nicht durch das Stundenende in einem zersplitterten Schulalltag aus ihrem Lernprozess gerissen. Sie können in Ruhe die Grenzen ihrer Fächer im intellektuellen Suchen und Forschen überschreiten – unterstützt von Lehrkräften, die in der Lage sind zu instruieren, zu moderieren, aber vor allem den selbstständigen Erkundungsprozess der Schülerinnen und Schüler beratend zu unterstützen [5]. Dies bedeutet auch zu erkennen, welche Hilfen gerade diejenigen Schülerinnen und Schüler brauchen, deren familiäre Bildungsvoraussetzungen erschwert sind. [6] Dies bedeutet aber ebenfalls, sehr motivierten und bereits versierten Lernenden zeitliche Räume und transdisziplinäre Anregungen für ihren Forschungsprozess zu eröffnen. Didaktische Erfahrungen mit zeitoffenen fächerübergreifenden Lernangeboten, die eine deutliche Projektorientierung bevorzugen, liegen bereits vielfältig vor [7]. Grundbedingung unterrichtlicher Neurhythmisierung ist vor allem die sogenannte „äußere Rhythmisierung“ (Höhmann 2007), damit gemeint ist die strukturelle und institutionelle Reform des schulischen Taktes. Erst dann kann über Binnenrhythmisierung (unterrichtsinterne Neurhythmisierung) und die subjektive innere Rhythmisierung (lernerbezogen) ernsthaft nachgedacht werden. Schulische Modelle, die von der äußeren Rhythmisierung angefangen, das schulische Lernen weitreichend umgestellt haben, existieren bereits seit Jahren, wie z.B. die Offene Schule Kassel-Waldau, die Max-Brauer-Schule Hamburg oder das Oberstufen-Kolleg Bielefeld. Das Wissen und die pädagogischen Erfahrungen um eine Didaktik und eine schulisch-institutionelle Umsetzung eines sinnvollen Wechselspiels fachlichen und fächerübergreifenden Lernens in kreativ gelösten zeitlichen Strukturen stehen bereit und warten auf ihre institutionelle Umsetzung in den Regelschulen. Kultusministerien, Bildungswissenschaftler(innen), Schulleitungen, Lehrerkollegien sowie Schülerinnen und Schüler und ihre Eltern können von diesem Wissen Gebrauch machen, wenn sie an einem zeitgemäßen Lernen und weltoffenen Schulen interessiert sind. Doch alle bisherigen Erfahrungen machen deutlich: Zum institutionellen Nulltarif ist eine derartige Umorientierung und Öffnung zu neuen Formen des Lernens nicht zu haben. Gerade die Verbindung zwischen einer niveauvollen Kompetenzorientierung mit Formen fachlichen, fächerübergreifenden und fächeraussetzenden Lernens ist sowohl auf Koordinations- und Planungsstunden für die Lehrerteams und auf Lehrerbildungsmaßnahmen auf allen Ebenen angewiesen.
5. Fächerübergreifendes Lernen in der Lehrerbildung
Lehramtsstudenten(innen) und Referendare(innen), die als Schülerinnen und Schüler vorwiegend fachlich gelernt haben, müssen während ihrer Lehrerausbildung Erfahrungen machen können, um die Einseitigkeit rein fachlicher Identifikation und den fachlich beengten Blick aufzubrechen. Die Lehrerbildung muss den Nutzen des Wechselspiels von fachlichem und fächerübergreifendem Lernen theoretisch und praktisch erfahrbar werden lassen. Einerseits gibt es vielfältige fachliche Themen, die sich ergänzend fächerübergreifend bearbeiten lassen. Zum anderen müssten Studienreformbemühungen dazu führen, dass die in den 70-er Jahren angesetzte Reform universitären Lernens im Sinne des studentischen Projektlernens, das nicht einseitig fachlich eingeengt ist, wieder aufgegriffen und dadurch transdisziplinäres Lernen ermöglicht wird. Vorlesungsbetrieb, Seminarveranstaltungen müssten sich abwechseln mit Formen selbstorganisierten Lernens in Projektform. Hierbei erhalten die Lehramtsstudenten(innen) einerseits einen soliden Wissenshintergrund systematisch vermittelt, andererseits erhalten sie die Gelegenheit, sich als Forscher in weitgehend selbstorganisierten Lern- und Arbeitsverhältnissen zu erfahren. Erst wenn die Studienstruktur disziplinär, interdisziplinär und transdisziplinär angelegt ist, wächst die Wahrscheinlichkeit, dass strukturkonservative Beharrungsmechanismen in der Schule, die auf der Ebene der Subjekte aber auch der Institution an der leichter organisierbaren, gewohnten fachlichen Orientierung schulischer Bildung interessiert sind, Schritt für Schritt überwunden werden können.
Die im Zuge des Bologna-Prozesses an den Universitäten durchgeführten Reformen weisen jedoch zu großen Teilen in eine andere Richtung: Statt selbstständiges Lernen und Studieren zu fördern, wirkt die Ausbildung bzw. die Lehrerbildung nunmehr „verschult“ – auch die der Lehramtsstudierenden. Fachfremde Seitenblicke sind wegen der recht starken Normierung nunmehr erschwert und selbstständiges Lernen und Produzieren ist zurückgetreten hinter der Priorität von Leistungsbewertung durch standardisierende Tests und Klausuren.
Lehrerfort- und -weiterbildung muss ergänzend dafür sorgen, dass der universitäre Innovationsimpuls und eine entsprechende längerfristige und durchgehende Erfahrung im Referendariat mit fächerübergreifenden Unterrichtsversuchen – wenn dies denn gegeben ist – im Sinne eines ausgewogenen Verhältnisses fachlichen und fächerübergreifenden Lernens erhalten bleiben.
Hierbei soll zuletzt auf eine unkonventionelle und kaum Ressourcen kostende ausgesprochen wertvolle Lehreraus- und -fortbildung verwiesen werden:
In John Deweys ‚laboratory school‘ in Chicago gab es in der Schule einen besonderen Raum. Dieser Raum bot interessierten Lerngruppen und Lehrkräften die beobachtende Teilhabe an Lehrkunststücken. Wer also etwas Interessantes für die anderen Schüler, die Kollegen und auch interessierte Eltern zu bieten hatte, konnte dies in einen Plan mit der Angabe von Inhalten, Methoden und Terminen eintragen und dies mit seiner Lerngruppe in diesem Raum zeigen. Auf diese Weise kann es sehr praktische Einblicke in neuartige und reformorientierte Unterrichtsweisen geben. Die verschiedenen Vorgehensweisen im fächerübergreifenden Lernen, z.B. auf der Ebene der Organisation: fächerintegrierende oder fächeraussetzende Vorgehensweisen (Huber 1995), und auf der Ebene der didaktisch-methodischen Bearbeitung die Erkundung der Synergie der Teile und die Erforschung des Ganzen im Teilhaften (vgl. Moegling 2010, 53 ff.), könnten – neben anderen Lehrkunststücken – in einem solchen pädagogischen Vorführraum demonstriert werden. Wird dies auch noch nachträglich miteinander reflektiert, ist hierdurch eine schulnahe, hocheffektive Form dezentraler schulischer Fortbildung gegeben.
Anmerkungen
[1] Vgl. Negt (2002)
[2] Vgl. hierzu ausführlich das Interview mit Jürgen Mittelstraß in diesem Band (Kapitel 15).
[3] Vgl. zur Didaktik dieser drei Merkmale fächerübergreifenden Lernens Moegling (2010).
[4] Vgl. zum Zusammenhang zwischen Kompetenzorientierung und fächerübergreifendem Lernen Moegling (2010).
[5] Zum notwendigen Rollenverhalten und den entsprechenden institutionellen Spielräumen im selbstständigkeitsorientierten fächerübergreifenden Unterricht vgl. die Untersuchungen von Stübig/Ludwig/Bosse (2008) sowie den Beitrag von Rabenstein und Herzmann in diesem Band (Kapitel 6).
[6] Vgl. zur Notwendigkeit des besonderen Augenmerks auf bildungsbenachteiligte Schüler im fächerübergreifenden Projektunterricht bei Bastian/Combe/Gudjon/Herzmann/Rabenstein (2000) sowie Herzmann/Artmann/Rabenstein (2010) in diesem Band (Kapitel 3).
[7] Vgl. als Beispiele für ein zeitoffenes, anders rhythmisiertes fächerübergreifendes Arbeiten für den naturwissenschaftlichen Bereich das Konzept des Physik-Clubs von Haupt (2010), für das Sprachenlernen das Konzept des Centres de Documentation et d’Information (CDI)z.B. bei Leuck (2010) und für die politische Bildung die Arbeit der Politikwerkstatt bei Moegling (2003).
Literatur
Adorno, Theodor W. (1971). Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969. Frankfurt/M.
Bastian, Johannes & Gudjons, Herbert (1990). Über die Projektwoche hinaus. In: Bastian, Johannes & Gudjons, Herbert (Hrsg.). Das Projektbuch (II), Hamburg, 9-42.
Bastian, Johannes; Combe, Arno; Gudjons, Herbert; Herzmann, Petra & Rabenstein, Kerstin (2000). Profile in der Oberstufe. Fächerübergreifender Projektunterricht in der Max-Brauer-Schule Hamburg. Hamburg.
Bourdieu, Pierre (1993). Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt/M.
Dewey, John (1993). Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik. Neu hrsg. von Oelkers, Jürgen; Weinheim.
Duncker, Ludwig & Popp, Walter (1997). Die Suche nach dem Bildungssinn des Lernens – eine Einleitung. In: Dieselben (Hrsg.). Über Fachgrenzen hinaus. Chancen und Schwierigkeiten des fächerübergreifenden Lehrens und Lernens. Heinsberg, 7-13.
Haupt, Klaus-Peter (2010). Kompetenzförderung im naturwissenschaftlichen Arbeiten bei Projektarbeit und forschendem Lernen.In: Schulpädagogik-heute, Nr. 1 (2010), www.schulpaedagogik-heute.de.
Heilbron, Johan (2005). Das Regime der Disziplinen. Zu einer historischen Soziologie disziplinärer Wissenschaft. In: Joas, Hans & Kippenberg, Hans G. (Hrsg.). Interdisziplinarität als Lernprozeß. Erfahrungen mit einem handlungstheoretischen Forschungsprogramm. Göttingen, 23–46.
Herzmann, Petra; Artmann, Michaela & Rabenstein, Kerstin (2010). Forschungen zum fächerübergreifenden Unterricht: Ausgangspunkte, Befunde und Perspektiven. In: Schulpädagogik-heute, Nr.2 (2010),
www.schulpaedagogik-heute.de.
Höhmann, Katrin (2007). Rhythm is it. Lernen eine gute Basis geben – die Organisation des Tages verändern. In: Ganztags Schule machen. Verändertes Leben und Lernen in der Schule, Nr. 1 (2007), 4-7.
Holtappels, Heinz Günter (2007). Schüler- und Lerngerecht rhythmisieren. Begründungen und Gestaltungsansätze. In: Ganztags Schule machen. Verändertes Leben und Lernen in der Schule, Nr. 1 (2007), 8-11.
Horkheimer, Max & Adorno, Theodor (1996). Dialektik der Aufklärung. Frankfurt/M.
Huber, Ludwig (1995). Individualität zulassen und Kommunikation stiften. In: Die Deutsche Schule, (1995), H.2, 161-182.
Leuck, Paul (2010). Bilingualer Unterricht. Sachfachunterricht in der Fremdsprache – Fremdsprache als Arbeitssprache im Sachfachunterricht In: Schulpädagogik-heute, Nr. 1 (2010), www.schulpaedagogik-heute.de.
Marcuse, Herbert (1980). Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Darmstadt und Neuwied.
Mittelstraß, Jürgen (1982). Wissenschaft als Lebensform. Reden über philosophische Orientierungen in Wissenschaft und Universität. Frankfurt/M.
Mittelstraß, Jürgen (2010). Transdisziplinäre Herausforderungen begreifen.Ein E-Mail-Interview (geführt mit Klaus Moegling), In: Schulpädagogik-heute, Nr. 2 (2010), www.schulpaedagogik-heute.de.
Moegling, Klaus (2003). Die Politikwerkstatt. Ein Ort politischen Lernens in der Schule. Schwalbach/Ts.
Moegling, Klaus (2010). Kompetenzaufbau im fächerübergreifenden Unterricht. Förderung vernetzten Denkens und komplexen Handelns. Immenhausen bei Kassel.
Negt, Oskar (2002). Der gute Bürger ist derjenige, der Mut und Eigensinn bewahrt. Reflexionen über das Verhältnis von Demokratie, Bildung und Tugenden. In: Frankfurter Rundschau, 16. September 2002, S. 10.
Popp, Walter (1997). Die Spezialisierung auf Zusammenhänge als regulatives Prinzip der Didaktik. In: Duncker, Ludwig & Popp, Walter (Hrsg.). Über Fachgrenzen hinaus. Chancen und Schwierigkeiten des fächerübergreifenden Lehrens und Lernens. Heinsberg, 135-154.
Reheis, Fritz (2005). Nachhaltigkeit, Bildung und Zeit. Zur Bedeutung der Zeit im Kontext der Bildung für eine nachhaltige Entwicklung in der Schule. Baltmannsweiler.
Stübig, Frauke; Ludwig, Peter H. & Bosse Dorit (2008). Problemorientierte Lehr-Lern-Arrangements in der Praxis. Eine empirische Untersuchung zur Organisation und Gestaltung fächerübergreifenden Unterrichts. In: Zeitschrift für Pädagogik, 54. Jg. (2008), H. 3, 376-395.
Wilber, Ken (1988). Die drei Augen der Erkenntnis. Auf dem Weg zu einem neuen Weltbild. München.
(Erstveröffentlichung in Artmann, Michaela/Herzmann, Petra/Rabenstein, Kerstin (Hrsg.) (2011): Das Zusammenspiel der Fächer beim Lernen. Fächerübergreifender Unterricht in den Sekundarstufen I und II: Forschung, Didaktik, Praxis. Immenhausen bei Kassel: Prolog-Verlag, S.9-20.)
Rezension
Gudrun Spahn-Skrotzki
Klimabildung –
Leitlinien für alle Schulen und Fächer.
1. Auflage 2023, Beltz, Weinheim und Basel, 175 Seiten, mit E-Book inside, 24.- EURO.
ISBN 978-3-407-25925-7 Print
ISBN 978-3-407-36932-1 E-Book (PDF)
Die Autorin hat in ihrer Monografie ein Buch mit einem hohen und allumfassenden Anspruch geschrieben.
Zunächst leitet der Klimawissenschaftler Mojib Latif mit einer kurzen Einführung in das Buch ein. Zwar sagt er richtig, dass es hinsichtlich der Erkenntnislage in Bezug auf die Klimakrise eigentlich kein grundsätzliches Wissensproblem mehr gäbe, allerdings man sich frage, warum nicht entsprechend des vorhandenen Wissens gehandelt werde. Er sieht eine Ursache in der Neuartigkeit und der zeitlichen Dauer der notwendigen Maßnahmen, die über den nationalen Rahmen hinausgehen müssten (S.9). Unerwähnt bleiben von Latif zumindest an dieser Stelle die ökonomischen und politischen Interessen von Fossilkonzernen und der damit in Verbindung stehenden Regierungen, welche die notwendigen Maßnahmen zu blockieren suchen.
Die promovierte und habilitierte Autorin, Gudrun Spahn-Skrotzki, kritisiert in ihrer eigenen Einführung die Marginalität klimapolitischer Fragen und des Aspekts der Biodiversität in der herrschenden Politik und sieht dies auch im Bildungsbereich gegeben:
„Auch im Bildungsbereich, in den Schulen und im Unterricht, sind die Themen »Klima« und »Biodiversität« nicht ausreichend etabliert. Sie sind Randthemen, denen zu wenig Zeit und Raum zugebilligt werden. Dass sich das angesichts der zunehmend dramatischer werdenden Situation dringend ändern muss, ist offenkundig. Klima- und Biodiversitätsbildung muss endlich in Schulen und im Unterricht grundlegend verortet werden, und dieses Buch möchte einen Beitrag dazu leisten.“ (S.10)
Das erste Kapitel befasst sich nun mit der Notwendigkeit der Klimabildung.
Hier wird mit Bezug auf Lessenich dann auch auf das Gerechtigkeitsgefälle zwischen dem globalen Norden und Süden Bezug genommen und die Auslagerung (Externalisierung) der Kosten des westlichen ‚guten Lebens‘ auf ärmerer Weltregionen kritisiert. Die Produktion werde in ärmere Länder ausgelagert, wo die Lohnkosten extrem niedrig sind und die arbeitsrechtlichen Regelungen keine Kosten verursachen. Umweltverschmutzung werde hierbei zunehmend in andere Weltregionen verlagert. Die Autorin wird nun in ihrer Kritik sehr deutlich:
„Unser Wohlstand hängt direkt mit dem schlechten Leben anderer
und den ökologischen Ausbeutungsstrukturen zusammen. Unser Wirtschaftssystem
und unsere gesellschaftlichen Strukturen könnten nicht in der jetzigen Form
existieren, ohne Ausbeutung und Plünderung der natürlichen Mitwelt und ihrer
Ressourcen nach sich zu ziehen. Obwohl diese Zusammenhänge skandalös sind
und unseren gesamten Lebensstil und unser Wirtschaftssystem in Frage stellen,
werden sie kaum thematisiert. Warum dieses so ist, dafür führt Lessenich eine einfache
Begründung an: Diese Zusammenhänge werden stillschweigend geduldet,
weil wir alle davon profitieren.“ (S.15)
In einem nächsten Schritt werden die Einflüsse der Externalisierung auf die Mitwelt ausführlich und kenntnisreich thematisiert. Hierbei wird der Begriff der Externalisierung auch auf die Zukunft bezogen. So benötige die Zersetzung von Plastik 350-400 Jahre. Der radioaktive Abfall werde sogar verantwortungslos in die Zukunft von 3000 Generationen externalisiert (S.17).
Die Auslagerung der ökonomischen, sozialen und ökologischen Probleme in den globalen Süden wird konkret an folgenden Beispielen beschrieben:
· „Rodung des Regenwaldes für Futtermittel und Weideflächen und damit Zerstörung
der Lebensgrundlagen der indigenen Bevölkerung;
· Tomatenproduktion in Südspanien mit massiven Ausbeutungsstrukturen von
illegalen Einwanderer*innen;
· Wasserproblematik beim Avocado-Anbau, der ganze Landschaften trockenlegt
mit gravierenden Auswirkungen auf die Bevölkerung;
· Pestizideinsatz im Bananenanbau mit gravierenden Auswirkungen auf die Gesundheit
der Arbeiter*innen;
· Zerstörungen von Lebensräumen für Palmöl, Menschenrechtsverletzungen bei
der Plantagenarbeit u. v. a.“ (S. 20)
Sehr berührend wird das Phänomen der Sklavenarbeit insbesondere der Kindersklaven an der Elfenbeinküste oder in Nepal angesprochen. Kindersklaven seien heutzutage so billig wie noch nie und es lohne sich nicht einmal aus der Sicht der Sklavenhalter, ein verletztes Kind zum Arzt zu geben. Das Kind werde einfach am Straßenrand liegen gelassen und ein neues Kind gekauft. (S.20) In vielen preiswerten Produkten stecke weltweite Sklavenarbeit.
Die Autorin thematisiert daher auch, wie es kommen könne, dass Großeltern ihre Enkel lieben würden, aber durch ihren Lebensstil das Leid anderer Kinder in Kauf nehmen und durch ihr Konsumverhalten das zukünftige Leben ihrer Enkel und deren Kinder so massiv beeinträchtigen würden. (S.22)
Nun folgen zwei ausgesprochen faktenreiche Kapitel zur Klima- und zur Biodiversitätskrise (S.23-40), die in einer Kritik hinsichtlich der Marginalisierung der ökologischen Bildung in den öffentlichen Schulen münden (S.40-44).
Auf den Seiten 45-56 rekonstruiert Gudrun Spahn-Skrotzki die Konzeptionen der Ökoroutine, der Gemeinwohlökonomie und der Postwachstumsgesellschaft im Zuge der notwendigen ökosozialen Transformation von Gesellschaften. Sie kritisiert auch hierüberhinaus eine anthropozentrische Zugangsweise zur Ökologieproblematik, wenn die Autorin den menschlichen Eigennutz als Triebfeder ökologischen Überlebensverhaltens hinterfragt und folgende Fragen stellt:
„Haben wir das Recht, anderen Lebewesen die Lebensgrundlage zu nehmen, indem wir permanent natürliche Lebenszusammenhänge zerstören und Individuen und Arten damit die Lebensgrundlage
nehmen? Was ist der »Zweck« anderer Lebewesen? Sind sie Ressource für unsere Bedürfnisse? Bestimmt sich ihr »Wert« allein in dem Nutzen, den wir ihnen zuschreiben? Dürfen wir andere Lebewesen entgegen ihrer natürlichen Lebensbedürfnisse für unsere Zwecke missbrauchen, ihnen zum Beispiel für ein Luxusgut wie Fleisch Qual und Schmerz zuzufügen, was in der industriellen Massentierhaltung geschieht? (Tierhaltung auf engstem Raum, Qualzüchtungen auf profitmaximierende Merkmale, Tiertransporte etc.).“ (S.49)
Im dritten großen Kapitel wendet sie sich hierauf aufbauend den Konzeptionen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung und Klimabildung zuwenden. Allerdings findet dies weniger an dieser Stelle statt, sondern es werden die 17 SDGs der UN, die sechs Handlungsfelder im Rahmen des Klimaschutzprogramms der Bundesregierung sowie der 10-Punkte-Plan von Mojib Latif rekonstruiert und nur mit kurzen Hinweisen auf Handlungsmöglichkeiten für Schüler*innen versehen.
Allerdings ab der Seite 70 finden sich dann unter der Überschrift ‚Praxis‘ zahlreiche umsetzbare Vorschläge zur Nachhaltigkeitsthematik in der Schule und im Unterricht. Hierbei weist die Autorin zunächst im Rahmen ihres „Whole Institution Approach“ zu Recht darauf hin, dass die Handlungsweisen der Institution Schule nicht in einem Widerspruch zu den Unterrichtsinhalten treten dürften. So sollten auch regenerative Energieerzeugung in der Schule eingesetzt, Energie gespart werden, nachhaltig bewirtschaftete Lebensmittel verwendet, der Schulweg möglichst zu Fuß oder mit dem Rad zurückgelegt werden, konsequente Mülltrennung zum Zuge kommen und unter prekären Arbeitsbedingungen erzeugte Produkte, wie z.B. unfair gehandelte Produkte, nicht innerschulisch verkauft werden. Es werden im Rahmen dieses Kapitels entsprechende an Nachhaltigkeit orientierte Maßnahmen ausführlich dargestellt, so dass Schulen hier eine gute Orientierungshilfe dafür haben, dass sich die Nachhaltigkeitskultur der Schule im Einklang mit den Unterrichtsinhalten zur Nachhaltigkeitsthematik befindet.
Im 5. Kapitel ihres Buches fordert die Autorin, die Klimabildung und Fragen der Biodiversität angemessen in allen Schulfächern zu behandeln und dies auch curricular zu verankern. Hierbei sei die Forderung nach einem Einbezug von 20% der Inhalte (Hagedorn) angesichts der gravierenden Problematik durchaus richtungsweisend. Des Weiteren müsse die Lehrerbildung Bildung für nachhaltige Entwicklung für alle Schulfächer, Schulformen sowie Altersstufen der Lernenden wesentlich stärker berücksichtigen.
Im folgenden 6. Kapitel thematisiert die Autorin den Knowledge-Action-Gap, also die Lücke zwischen Wissen und Handlung in Bezug auf Fragen der Nachhaltigkeit. Vieles sei der Gesellschaft bereits bekannt, die warnenden Stimmen der Wissenschaft und die entsprechenden Informationen über die bereits eintretende Klimakatastrophe und über den Verlust der Artenvielfalt seien vorhanden und dennoch werde nicht im notwendigen Maße gehandelt. Es werden auf S. 82ff. sieben Ursachen für diese Lücke in Anlehnung an Gifford (2011) und van Bronswijk u.a. (2021) beschrieben:
1. Das menschliche Denken ist begrenzt und z.T. irrational.
2. Ideologien, wie z.B. der Glaube an das kapitalistische System, bremsen Erkenntnis aus.
3. Vergleiche mit Menschen, die auch nicht nachhaltig handeln, rechtfertigen das eigene Verhalten.
4. Bereits getätigte Investitionen, z.B. in ein Auto oder eine Heizung, stellen ein Hemmnis für eine Umstellung dar.
5. Verschwörungsmythen verhindern die Anerkennung wissenschaftlicher Erkenntnisse.
6. Zeitliche, ökonomische und soziale Risiken für eine Umstellung auf ein ökologisch nachhaltiges Verhalten werden überschätzt.
7. Es finden eine Begrenzung des eigenen ökologischen Handelns auf relativ unwichtige Bereiche statt sowie Rebound-Effekte statt, d.h. dass eine Umstellung in einem Bereich zu einem Rückfall in einem anderen Bereich führt, z.B. der Erwerb eines E-Autos mit vermehrten durchgeführten Flugreisen begleitet wird.
Es gelte diese Ursachen für das angesprochene Knowledge-Action-Gap zu kennen, zu berücksichtigen und den Lernenden bewusst zu machen.
Die Probleme, die sich mit der eintretenden Klimakatastrophe und der zunehmenden Zerstörung der Biodiversität einstellen, müssten klar angesprochen werden, aber es müssten auch Chancen thematisiert werden, wie hier entgegen gehandelt werden könnte:
„So ist es beispielsweise wichtig, die Distanz zu Klimaereignissen zu überbrücken und aufzuzeigen, dass das Klimageschehen kein Ereignis in ferner Zukunft ist, sondern uns heute schon betrifft, z. B. mit Veränderungen in der Natur (Absterben heimischer Baumarten, veränderter Vogelzug, Ausbreiten invasiver Arten, Zunahme von Waldbränden etc.) oder mit Beeinträchtigungen unserer Gesundheit (Zunahme von Erkrankungen durch Hitze, Luftverschmutzung etc.). Es ist sinnvoll, positiv zu bleiben und statt Schuldzuweisungen zu formulieren Lösungsstrategien aufzuzeigen und auch Geschichten des Gelingens zu erzählen. Es ist anregend, deutlich zu machen, dass notwendige, grundlegende Veränderungen der Gesellschaft auch eine Zunahme von Lebensqualität bedeuten können, wie etwa autofreie Innenstädte etc.“ S. 87
Die Lernenden dürften psychisch nicht überfordert werden, sondern müssten neben der Analyse des bereits eintretenden und zukünftig zu erwartenden ökologischen Schadens auch konkrete Handlungsmöglichkeiten kennen lernen, hier gegenzusteuern bzw. die Folgen abzumildern. Hier bezieht sich die Autorin in ihren Vorschlägen u.a. auf Aaron Antonowsky und seinen Ausführungen zur Resilienz. Die ökologische Thematik müsse daher so bearbeitet werden, dass sie verstehbar, handhabbar und sinnerfüllende Handlungsoptionen bieten könne. Das Resultat des Lernens sollte keine Depression und Niedergeschlagenheit sein, die zur Passivität und zur gesundheitlichen Beschädigung der Lernenden führt. Das Lernen in Bezug auf die angesprochenen Nachhaltigkeitsfragen sollte wichtige konstruktive Selbstwirksamkeitserfahrungen enthalten und identitätswirksam in einem positiven Sinne sein. Daher beinhalten die didaktischen Vorschläge von Gudrun Spahn-Skrotzki neben und in Verbindung mit der soliden Vermittlung ökologischen Wissens in den verschiedenen schulischen Fächern und Schultypen vor allem handlungsorientierte Lernformen, wie z.B. Projektunterricht zur Müllvermeidung und forschendes Lernen zur regenerativen Energiegewinnung, die Wahrnehmung außerschulischer Lernorte und Formen der aufsuchenden Naturbegegnung sowie den Frei Day zur Ökologieerkundung. Auch wenn sie zahlreiche fachdidaktische Anknüpfungspunkte für Bildung für nachhaltige Entwicklung gibt, fordert sie auch ein fächerübergreifendes Lehren und Lernen ein:
„Natürlich bietet sich es sich an, dass zu Klima-, Biodiversitäts- und BNE-Themen Fächer zusammenarbeiten. Im fächerübergreifenden Unterricht können die verschiedenen Facetten unterschiedlicher Themenkomplexe viel besser erfasst und bearbeitet werden, z. B. unter ökologischen, sozialen, wirtschaftlichen oder historischen Perspektiven. Klimabildung und BNE gehen nie in einem Fach auf, deshalb sollten immer Möglichkeiten zur thematischen Zusammenarbeit gesucht werden, in persönlichen Absprachen, aber auch in Schulcurricula, in Jahrgangsteams etc.“ (S.102)
Insbesondere in der Oberstufe sei die Umsetzung des forschenden Lehrens und Lernens auf einem wissenschaftlich ansprechendem Niveau bereits sinnvoll und möglich. Hier sollte auch Kontakt zu den Universitäten und Forschungseinrichtungen aufgenommen werden. Auch könnten Wissenschaftler*innen, z.B. von den ‚Scientists for Future‘, in den Unterricht eingeladen, befragt und mit ihnen diskutiert werden. Des Weiteren sollten ökologisch orientierte Berufsangebote hier ein Thema sein, mit denen sich die Lernenden auseinandersetzen könnten.
Anschließend werden ab der Seite 107 bis zur Seite 164 zahlreiche fachdidaktische Hinweise für eine Umsetzung des angestrebten Lernens in den Fächern der naturwissenschaftlichen, geistes- und sprachwissenschaftlichen Lernbereiche der Schule gegeben. Dies kann hier schlecht zusammengefasst werden und es bleibt hier nur die eigene Lektüre des*r interessierten Lesers*in. Allerdings lässt sich feststellen, dass die hier vorgenommenen didaktischen Anregungen und die Vorschläge zur schulischen Umsetzung von Bildung für nachhaltige Entwicklung ausgesprochen reichhaltig und kohärent mit den zuvor vorgenommenen theoretischen und praxisbezogenen Reflexionen sind.
Der inhaltliche Teil des Buches schließt mit einem letzten Kapitel und dem Appell an die Schulleitungen ab, sich für die Umsetzung von Bildungsprozessen zur Klimaentwicklung und zur Biodiversität einzusetzen. Dies müsse sich sowohl auf die Quantität und die Qualität der Lehr- und Lernprozesse als auch auf die Entwicklung einer ökologischen Schule beziehen.
Abschließend appelliert die Autorin noch einmal eindringlich an die Schulleiter*innen, die eine zentrale Rolle bei der Bildung für nachhaltige Entwicklung einnehmen müssten:
„Der ganzen Schulgemeinschaft muss deutlich werden, dass Klimaschutz, einschließlich Schutz der Biodiversität, überaus relevant und nötig ist, dass es das wichtigste Thema für unsere Zukunft ist! Das kann von Seiten der Schulleitung klar vermittelt werden. (…) Setzen Sie sich für Ihre Schule und Klimaschutz ein. Es geht um die Zukunft Ihrer Schüler*innen!“ (S. 167)
Fazit: Insgesamt liegt ein ausgezeichnetes Buch vor, das in der Lage ist, durchgehend nachvollziehbar Theorie und Praxis nachhaltiger Entwicklung unter dem Fokus der Klimabildung und des Aspekts der Biodiversität miteinander zu verbinden. Es ist als ausgesprochen innovativ zu sehen, da es den aktuellen sozialwissenschaftlichen und ökologischen Kenntnisstand mit eigenen umfassenden und sehr konkreten Vorschlägen zur Umgestaltung der Schulen und des Unterrichts verknüpft. Dieses Buch sollte eine Pflichtlektüre für die Lehrenden, die Schulleitungen und die Curriculum-Planer*innen sein. Auch sollte der Verlag eine englischsprachige Übersetzung vornehmen, da das Werk international verbreitet werden sollte.
(Klaus Moegling)
Subject: Conflicts in a globalized world
Author of the task: Alexander Berg
How to end the war in Ukraine?
Klaus Moegling, published on Feb 25, 2022, and updated on Mar 3, 2022, in: https://www.klaus-moegling.de/actual-blogs/ (last accessed on Mar 7, 2022, slightly adapted and abridged version)
The Russian Federation's invasion of Ukraine is a disaster and cannot be justified by anything – not even by the prior decision of the sovereign Eastern European states to join NATO and not by the mutual violations of the Minsk Treaty in the Donbas.
The attack and the associated invasion of Russian troops represent a blatant violation of international law and an aggressive destruction of the European security order as well as a breach of the UN Charter.
This paper will develop the prospects of finding a way out of this situation without indulging in illusions.
Were offers to negotiate a mistake?
One frequently hears the accusation that the offers to negotiate with Russia were naive. A more extensive military buildup in the West – and also in Ukraine – should have been pursued in good time. […] Could more consistent measures of military deterrence have had greater success instead of diplomacy?
Regarding this, one must ask: What would have been the alternative? Should we have allowed […] Russian aggression to force us into an even more extreme armaments spiral that would prevent necessary future investments for combatting the climate crisis, world famine, and preventing more pandemics?
[…]
So far, the UN has been remarkably restrained. Although there have been special meetings of the UN Security Council and a condemnation of the Russian aggression by the UN Secretary-General, the structural problems of the United Nations are also evident in this dangerous world political situation. A state invades a neighboring state – for obviously pretextual reasons – and thereby violates international law as well as fundamental norms of the UN Charter. […]
But one cannot seriously believe that the Russian Federation would not make use of its veto power if a corresponding request were to be discussed in the Security Council.
On February 25th, Russia also vetoed a UN Security Council resolution condemning the Russian attack and calling for the withdrawal of Russian troops. Precisely for this kind of situation, a reform of the UN Security Council is urgently needed. A state that militarily attacks another state must lose the right to vote in the UN Security Council – especially if this is a permanent member with veto rights.
Of course, the UN General Assembly can also initiate a decision that would require intervention on behalf of the UN in accordance with the UN Charter. But even these decisions only have a recommendatory character for such a case. […] Here, once again, and pointing at conflicts that have claimed countless human lives, the urgent need for structural reform of the United Nations becomes apparent in a serious way. The abolition or modification of the veto right of the permanent members of the UN Security Council, which has already been demanded internationally several times, as well as its changed composition and the upgrading of parliamentary assemblies within the framework of the United Nations, must no longer be held up on flimsy grounds.
Restoring and maintaining world peace requires different international political structures and must not be left to individual nation-states […]. Russia’s current invasion of Ukraine is a vivid illustration of this.
From this point onwards, […] what would have to be initiated internationally?
Inevitably, NATO countries must […] take appropriate safeguards as to how they can successfully counter a further escalation of the war beyond the borders of Ukraine. If Article 5 [1] of the NATO treaty is activated, the appropriate defensive measures in the event of an attack on a NATO state must [be] successfully implemented.
[…]
[In addition,] economic sanctions, which do and will profoundly affect the economy of the Russian Federation, must continue to be introduced […] with the awareness that restrictions and economic losses will not only hit the Russian side. The economic sanctions already […] introduced and, in particular, measures such as freezing the accounts of the financial oligarchs ruling Russia are important. The blocking of accessible cash reserves of the Russian state will hit Russia hard. The temporary exclusion of Russia from the SWIFT, an international payment system, must [be kept up] for the largest banks – and possibly extended to entire Russian banking system.
In the event of economic difficulties in Russia and the resulting increased pressure on the Russian government – including from Putin’s circles of supporters – this could lead to the Russian government having to give in and return to the negotiating table. This must be the declared aim of all measures. […] The aim of the negotiations would then have to be the withdrawal of all Russian troops from Ukraine, combined with reparation payments to Ukraine. The United Nations International Court of Justice and the International Criminal Court must also investigate the case and hold the responsible parties, first and foremost the Russian government, accountable.
There should not be the illusion that all this can be achieved with the approval of a “Putin system”. The focus must be on regime change in the Russian Federation, which must be carried out from within, i.e., primarily by the Russian civil society. This will be a dangerous path for those currently engaged in Russia against the Ukrainian war since the Russian government relies on repression and has already arrested thousands of people, and counting.
A peaceful and sustainably developed world is (still) possible
The development of the world and the international community has currently been pushed back by Russia’s attack on Ukraine and the associated threat to also use nuclear weapons in the event of a military intervention by the West. As stated, this is a major blowback regarding the path towards a more peaceful and sustainable global development – especially since even the People’s Republic of China is reluctant to condemn the Russian aggression. It is not only world peace that is at risk, but also the fight against the climate crisis, which can only be achieved together […].
The obvious problem is that powerful members of the UN Security Council, due to the military power of these members and the inadequate structure of the UN, and without the United Nations being able to take action against them, continue to not abide by the rules of international law. This as well has been shown by violations of international law by the USA (e.g., Iraq war), by China (Tibet), or for the matter in hand. The United Nations must be democratized and at the same time strengthened, so that in the future, in the event of military aggression by any state, it will be able to act more effectively and swiftly […].
Assignments
1. Do research on which statutes of international law, as well as norms of the UN Charter, have been violated by Russia and explain your findings making text references.
Resort to these resources from Council on Foreign Relations:
a. What is International Law? (Esp. Ten International Agreements You Need to Know)
b. Backgrounder: The UN Security Council – What are its tools for conflict management?
2. Moegling criticizes the UN for its structural shortcomings. Analyze …
a. … what his criticism exactly aims at.
b. … which structural reforms he proposes to make UN decision-making more efficient and binding?
3. Compile a list of Moegling’s suggestions as to what measures should be taken to de-escalate, if not resolve, the Russia-Ukraine conflict.
4. Assess [2] the consequences of a potential NATO intervention in the conflict from the perspectives of a) the West, b) Russia, and c) the Ukrainian civil society.
Notes:
[1] Article 5 of the North Atlantic Treaty refers to the so-called “Case for the Alliance” (Bündnisfall): it governs mutual defense in the event of an attack on a member nation
[2] Assess: Bewerten
Suggestions
Assignment 1
Statutes of international law: an example would be to refer to the Geneva Conventions that give “wartime protection to the sick, the wounded, […] prisoners of war, and all civilians” (World 101: What is international law?). Putin ignores the conventions when he bombards hospitals, schools, kindergartens, etc. Another example would be to refer to the Genocide Convention if we assume that Putin takes actions “committed with intent to destroy, in whole or in part, a national […] group. A reference to the Genocide Convention is supported by the fact that Putin has been called a war criminal who threatens to use his nuclear arsenal and that the convention “classifies genocide as a crime against humanity” (ibid.).
Norms of the UN Charter: in accordance with Chapter VI of the UN Charter, the UN, especially the Security Council, “aims to peacefully resolve international disputes”, preferably by means of “negotiation, arbitration, or other peaceful means” (The UN Security Council: What are its tools for conflict management?, CfR, 2021). Russia, as a permanent member of the Security Council, has been disregarding these means repeatedly. It keeps on bombarding (civilian) targets in Ukraine.
Even the International Criminal Court in The Hague, Netherlands, has urged Putin to immediately stop all acts of war.
Assignment 2
------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Criticism Proposals for reform
-----------------------------------------------------------------------------------------------------------
Russia vetoed a resolution “condemning the “A state that militarily attacks another state
Russian attack and calling for the withdrawal must lose the right to vote in the UN Security
of Russian troops” (25-26) Council” (28)
UN General Assembly decisions “only have “The abolition of modification of the veto right” recommendatory character” (32) (35),
“Restoring and maintaining world peace […] a “changed composition” of the UNSC (36),
must not be left to individual nation-states” “the upgrading of parliamentary assemblies” (39-40) (37) in connection with a “democratized” UN (79)
-------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Assignment 3
Suggestions to de-escalate and resolve the conflict:
- in case a NATO country is attacked, swift implementation of “defensive measures” (44)
- the keeping up of economic sanctions including the freezing of oligarchs’ bank accounts, cash reserves, and exclusion of Russia from SWIFT (46ff.)
- the “aim of the negotiations” must be “the withdrawal of all Russian troops from Ukraine, combined with reparation payments” (58-59)
- the International Court of Justice and the International Criminal Court must held Russia responsible for the war crimes (59-61)
- Putin will likely block reforms, so the “focus must be on regime change” in Russia, preferably “from within” (62-63)
- mechanisms to make “powerful members” of the UNSC “abide by the rules of international law” must swiftly be installed (76-77)
Assignment 4
------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
The West Russia Ukrainian civil society
-----------------------------------------------------------------------------------------------------------
NATO, as long as no member state A NATO intervention will Ukrainian civil society
is attacked, will most likely not be seen as a direct intervention may not rationally
intervene as this will escalate the by the West; Russia may call calculate the conflict to unprecedented levels on China for support; both consequences
(including threats to use strategic powers possess WMDs of a NATO intervention;
WMDs). which they may utter desperation and
threaten to use if NATO will not the countless losses
retreat immediately. of lives will make
Ukrainians welcome any military support from the West; even
Ukraine’s ambassador Melnyk, on German TV, has called upon
NATO countries to provide “more active”
support, which can
be interpreted as
being ready to intervene militarily.
-------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Conclusion: If it even takes NATO intervention to further escalate the conflict can certainly not be predicted. Right now, the close unity of the West may have surprised Putin in the first place. In addition, the arsenal of sanctions resembles a kind of “economic warfare” never seen before in recent history. In the face of desperation, it may either spur the will of Russian civil society (and Russian elites) to rise up and remove Putin or drive Putin mad so he considers taking measures we do not want to think of.
Thema: Entwicklung einer zukünftigen Sicherheitsarchitektur
Quelle: Modifizierter Text nach Moegling, Klaus (2021): Auf dem Weg zu einer neuen Sicherheitsarchitektur: Wie ein Spannungsabbau zwischen Russland und der NATO gelingen kann. In: https://www.klaus-moegling.de/actual-blogs/, blog 2, 18.12.2021.
Verfasser der Aufgabe: Klaus Moegling
Die Konstruktion von Feindbildern
Die Entwicklung gegenseitiger Feindbilder stellt die sozialpsychologische Voraussetzung für die Durchführung von Kriegen dar. Auf russischer Seite wird das Feindbild einer imperialistischen NATO bemüht, die primär das Interesse von US-Konzernen international durchzusetzen habe. Auf westlicher Seite wird das Feindbild eines militaristischen und aggressiven russischen Autokraten entwickelt. Russland wird als Staat dämonisiert. Ähnliches entwickelt sich zwischen den USA und China.
Die gegenseitige Feindbildkonstruktion, die häufig durch dementsprechende Berichterstattung in den Medien intensiviert wird, hat verschiedene Funktionen. Sie lenkt von innenpolitischen Schwierigkeiten ab, erhält militärische Strukturen, unterstützt die Existenz des militärisch-ökonomischen Komplexes, erhöht die Kampfbereitschaft in der Bevölkerung und schafft die Voraussetzung für militärische Interventionen mit einem geostrategischen bzw. machtpolitischen Hintergrund.
Wie könnte man also der gegenseitigen Feindbildkonstruktion die Voraussetzungen entziehen?
Zur Rolle von politischen Visionen
Kurzfristige Realpolitik in den internationalen Beziehungen ist häufig nicht genügend an längerfristigen politischen Zielsetzungen orientiert. Doch politische Visionen, also langfristige Entwürfe einer sinnvollen zukünftigen politischen Neuordnung [1], sollten in einem positiven Sinne die Normen gegenwärtigen politischen Handelns in der internationalen Politik bestimmen. Immanuel Kant hätte in seinen Überlegungen ‘Zum ewigen Frieden‘ [ 2] ohne eine positive Vision gesellschaftlicher Entwicklung nicht die ideellen Grundlagen der Vereinten Nationen entwickeln können.
Eine auf der Kritik realer Verhältnisse und auf ethischen Idealen einer gemeinsamen, demokratischen, gerechten, friedlichen und ökologisch vertretbaren Entwicklung basierende Vision gesellschaftlicher Neuordnung stellt die Voraussetzung dafür dar, dass die gegenwärtigen politischen Schritte nicht orientierungslos ausfallen, den interessierten Machteliten bzw. den herrschenden Mächten überlassen bleiben.
Hierbei kann man einer politischen Vision nicht vorwerfen, sie sei visionär und nicht sofort umsetzbar. Das Visionäre ist ja der Kern einer Vision. Sie stellt – im positiven Sinne - eine in die Zukunft gedachte vernünftige politische Entwicklungsabsicht dar. Die an einer derartigen Vision ausgerichteten ersten Schritte müssen allerdings realistisch am Ist-Zustand ausgerichtet sein. Hierbei sollte eine eher optimistische Grundhaltung das bestimmende Moment sein, ohne die keine Motivation für konkrete Schritte in eine sinnvolle friedenspolitische Richtung entstehen kann. Ein pessimistisch ausgerichteter realpolitischer Habitus stellt hingegen ein Hemmnis für eine friedliche Entwicklung dar, da er den Völkern keine gemeinsame Entwicklungschance zutraut.
Die friedenspolitische Initiative ‚Sicherheit neu denken‘ bzw. ‚Rethinking Security‘ entwickelt daher ein Positivszenario friedenspolitischer Entwicklung, das von folgenden Prämissen ausgeht:
„Nachhaltige zivile Sicherheitspolitik beruht auf einer Friedensethik, in der sich die Gedanken und Handlungen nicht nur auf die eigenen nationalen Interessen beziehen, sondern zugleich reflektieren, welche Folgen diese für die Menschen in anderen Ländern haben. Sicherheit besteht in dieser Perspektive (nur) als gemeinsame Sicherheit aller Beteiligten. Das gilt sowohl für den Einzelnen in seinem privaten Alltag als auch für die Akteure in Wirtschaft, Politik, Kultur, Erziehung und Wissenschaft. In diesem Szenario entwickelt die Gesellschaft als Ganze eine Orientierung gemeinsamer Sicherheit als Weg und Ziel, um der Kultur der Gewalt entgegentreten und eine Kultur des Friedens entwickeln zu können.“ [ 3]
(…)
Vorteile einer neuen Sicherheitsstruktur
Wie kann man nun das vorhandene und sich steigernde gegenseitige Bedrohungspotenzial reduzieren und zu gemeinsamen Verhandlungen sowie wieder zu einer gemeinsamen Sicherheitsarchitektur gelangen?
Eine sicherheitspolitische Neuordnung der internationalen Beziehungen müsste von den ebenfalls zu reformierenden Vereinten Nationen im UN-Sicherheitsrat und der UN-Generalversammlung begleitet und legitimiert werden. Hierbei sind u.a. das Veto-Recht im UN-Sicherheitsrat aufzugeben sowie die Finanzierung weltpolizeilicher Maßnahmen sicherzustellen. Die Vereinten Nationen sind zu stärken und zu demokratisieren. [4]
Die NATO und die russische Föderation müssten ihr gegenseitiges Feindbild aufgeben, zu ernst gemeinten Gesprächen und Abrüstungsbemühungen zurückkehren. Der dann zu vollendende Prozess einer Annäherung und die wieder zu beginnende Kooperation der Russischen Föderation mit der NATO müsste mit einer Umstrukturierung der NATO und der russischen Föderation zu einem gemeinsamen Verteidigungsbündnis unter Verzicht von Angriffswaffen und u.a. mit einem Angebot an die VR China für eine umfassende Sicherheitspartnerschaft zwischen NATO, EU, Russischer Föderation und der VR China verbunden sein, damit sich diese nicht durch ein neues Sicherheitsbündnis der NATO und der russischen Föderation militärisch bedroht fühlt.
Durch eine derartige Sicherheitsarchitektur von New York, über Brüssel, Moskau bis nach Peking würde die Notwendigkeit, sich mit der manipulativen Konstruktion gegenseitiger Feindbilder gegenseitig zu bedrohen, wegfallen. Der Feind würde abhandenkommen und zu einem Partner im Rahmen einer gemeinsamen Sicherheitspartnerschaft werden. Das kurzfristige Ziel wäre eine sicherheitspolitische Partnerschaft. Doch das mittelfristige Ziel wäre eine gute Nachbarschaft befreundeter Staaten im Kontext einer zu reformierenden UN.
Ein weiterer Vorteil würde in der Umlenkung gesellschaftlicher Ressourcen in eine konstruktive Richtung liegen. Zunächst würde das neue Sicherheitsbündnis über gemeinsame Verhandlungen die Rüstungsinvestitionen einfrieren, um die Rüstungsspirale zu stoppen. In einem nächsten Schritt gilt es dann, die Investitionen in Waffensysteme bis auf das notwendige Minimum im Rahmen der durch die UN kontrollierten weltpolizeilichen Maßnahmen [5] zu reduzieren, so dass gewaltige Finanzmittel für das globale Engagement gegen die Klimakrise, gegen den Welthunger und für die notwendigen Investitionen in soziale Absicherung frei werden. Es geht hierbei um einen umzulenkenden gigantischen Betrag von ca. 20 Billionen US Dollar in den nächsten 10 Jahren.
Letztlich werden alle Beteiligten – bis auf die Rüstungsindustrien – Gewinner der Einlösung dieser politischen Vision sein. Doch auch die Rüstungsindustrien könnten zum ökonomischen Gewinner dieser sicherheitspolitischen Umorientierung werden, wenn sie ihre Rüstungskonversion und die damit verbundene Stärkung ihrer zivilen Produktionszweige ernsthaft vornehmen würden. [6]
Fazit
Hiermit ist ein umfassender Vorschlag für die Gestaltung einer zukünftigen Sicherheitsarchitektur skizziert, der nicht ignoriert werden sollte. Über die Kooperation auf allen wichtigen Ebenen werden Vertrauen und damit Sicherheit aufgebaut. Es gilt nun, den hier vorgelegten Vorschlag in den entsprechenden nationalen und internationalen Institutionen und Gremien zu diskutieren, auch parteipolitisch aufzugreifen, weiter auszudifferenzieren und dann Schritt für Schritt umzusetzen.
(…)
Die Welt kann sich keine weitere Vergeudung gesellschaftlicher Ressourcen leisten. Die gemeinsamen Kräfte müssen global gebündelt werden, um die gegenwärtigen Bedrohungen, wie die Klimakrise, militärische Konflikte, Pandemien oder wachsende soziale Unterschiede, zu bekämpfen. Der NATO, der Russischen Föderation, der VR China, der EU und der OSZE sowie vor allem der UNO kommen hier die entscheidenden Aufgabenstellungen in Zusammenarbeit aller Staaten und transnationalen Regionen zu, um einen dritten Weltkrieg zu vermeiden und auch den nächsten Generationen einen lebenswerten Planeten zu hinterlassen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Moegling, Klaus (2021): Realignment. A peaceful and sustainably developed world is (still) possible., u.a. publiziert im open access: https://www.klaus-moegling.de/international-edition/, 14.12.2021.
[2] Vgl. Kant, Immanuel (1796): Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. Königsberg.
[3] Becker, Ralf/Maaß, Stefan/Schneider-Harpprecht, Christof (Hrsg.) (2021): Sicherheit neu denken. Karlsruhe. https://www.sicherheitneudenken.de/media/download/variant/248631/d---kurzfassung_2021_web.pdf, 15.12.2021. Siehe auch entsprechende Ansätze in der englischsprachigen Ausgabe ‚Rethinking Security‘: https://www.sicherheitneudenken.de/media/download/variant/186330/rethinking_security_abridged_version2019.pdf, 15.12.2021.
[4] Vgl. zur Reform der UN u.a. Leinen, Jo/Bummel, Andreas (2018): A World Parliament: Governance and Democracy in the 21st Century. Bonn: J.H.W. Dietz-Verlag. Moegling (2021): a.a.O., Zumach, Andreas (2021): Reform oder Blockade. Welche Zukunft hat die UNO? Zürich: Rotpunktverlag.
[5] Vgl. Vgl. das Zusammenspiel zwischen zivilen Konfliktpräventionsmaßnahmen und weltpolizeilichen Maßnahmen in: https://www.sicherheitneudenken.de/sicherheit-neu-denken-unsere-vision/downloads/, 14.12.2021.
[6] Zur Rüstungskonversion vgl. u.a. Rieger, Anne (2021): Rüstungskonversion: das Gebot der Stunde. In: Henken, Lühr (Hrsg.) (2021): Weltkriegsgefahren entgegentreten. Wandel zum Frieden einleiten. Kassel: Verlag Winfried Jenior, S. 40-58. Vgl. auch https://ruestungskonversion.de/, 14.12.2021.
Aufgabenstellungen:
1. Geben Sie Moeglings Ansatz zur Rolle politischer Visionen wieder.
2. Beschreiben Sie die Rolle von Feindbildern hinsichtlich der Entstehung aber auch zur Bewältigung von Kriegen im vorliegenden Text.
3. Beschreiben Sie die Grundzüge der zukünftigen Sicherheitsarchitektur bei Moegling.
4. Der zugrunde gelegte Text wurde ca. einen Monat vor dem russischen Angriff auf die Ukraine geschrieben. Analysieren Sie den gegenwärtigen Stand der Kriegshandlungen und diskutieren Sie, inwieweit Moeglings Überlegungen zur Vision einer zukünftigen Sicherheitsarchitektur noch eine Relevanz besitzen.
Thema: Wars as Economic Stimulus and Types of War
(in: Moegling, Klaus, 2021, Realignment. A peaceful and sustainably developed World is (still) possible, 1st international ed. (adapted and abridged), in: https://www.klaus-moegling.de/international-edition/, S. 103ff.)
Author of the task: Alexander Berg
Wars are often promoted […] as stimulus packages for a sluggish domestic economy. Joseph Stiglitz contradicts the views that wars […] are suitable as economic stimulus programs and calls for the true costs of wars to be made transparent:
“At the beginning of 2003, the U.S. government said the Iraq war would cost only $50 to $60 billion. Was this merely a mistake, or were the politicians simply too optimistic? First, at the beginning, only the war costs in the narrower sense were considered, i.e., the operational expenditures. Ignored were the war costs in the broader sense, such as interest payments on war loans, the costs of caring for war invalids and veterans, or money for the intelligence services. […] One must also consider all the things that could have been done for the economy with the three trillion dollars in war spending. For example, building American infrastructure instead of destroying Iraqi infrastructure. From an economic standpoint, war and mass destruction is the worst economic stimulus program.”
Moreover, it would be cynical to discuss the mass suffering and deaths of people at a merely economic level. This would present a worldview prioritizing economic interests over the necessities of humanity. People torn to pieces, children who lose their parents, or parents who hold their dead children in their arms, are all victims to the economic interests of private-sector profit-seeking as well as to the political expectation of economic stimulus from a booming arms industry in the event of war.
[…]
Parallel to traditional wars in which individual states or alliances of states fight each other (symmetrical wars), changed forms of armed conflicts have been taking place for some time. Terrorist attacks, guerrilla wars, cyber-attacks, civil wars, warlord regimes exploiting and dominating the population, and racist-religious riots lead to permanent military conflicts not only in the peripheries but also increasingly in the capitalist metropolises. War returns with a different face to the zones of prosperity also as terrorist threats and mass migrations.
The political scientist Herfried Münkler distinguishes between symmetrical and asymmetrical wars. The “classic war” between states with armies fighting against each other on behalf of a territorially limited nation state, and which tend to proceed with the same military strategies and are based on the same military principles such as the attempt to defeat the opponent in a decisive battle, is referred to as symmetrical war.
Asymmetrical wars are, among other characteristics, marked by discrepancies in terms of military strategy, military strength, and treatment of combatants (members of the army) and non-combatants (civilian population). For the 21st century, Münkler predicts particularly three types of violent conflicts, which are already increasingly occurring alongside traditional forms of war and which to a greater or lesser extent fall into the category of asymmetrical wars:
Resource Wars
Local and regional conflicts develop at the edges of prosperity zones, in which warlords with their mercenaries, in conjunction with internationally organized crime on the one hand and multinational corporations on the other, fight for military power over a confined area with the aim to exploit the raw materials (e.g., diamonds, oil, etc.). At the same time, the local population is subjugated and forced into labor slavery to increase the profits from the sale of said raw materials. Examples of this are diamond mines in Congo and opium cultivation in Taliban-dominated regions in Afghanistan. Resource wars are difficult to cool down and end by “usual means”, since, for example, sanctions are often shifted to the civil society of the affected region and resource wars are often linked to and financed through the “global shadow economy”, where capital and commodity flows become untransparent and difficult to trace back. Often, criminal gangs or similar groups tend to give themselves a legitimate image by ideologically claiming religious or other cultural differences and discrimination as the motive for their activity.
Pacification Wars
In this case, prosperous powers, above all the USA or coalitions led by the USA, intervene in regional conflicts (which can be resource wars). In addition, prevention of proliferation of ABC weapons/ WMD (Weapons of mass destruction) can be given as a motive for pacification wars. The reasons for this type of war can be based on economic and geostrategic interests, but also on human rights and international law. In reality, there is often a (deliberately) confusing web of different interests.
The second Iraq war (2003-2011) serves as an example of a pacification war. Here, in addition to massive human rights violations against the Iraqi Kurds, the construction or imminent possession of nuclear weapons by Iraq was cited as a reason for the intervention by the U.S.-led alliance. The claim of a nuclear threat later turned out to be a lie of the U.S. administration led by former president George W. Bush. Such claims served to forge an alliance and realize economic interests of the arms industry, interests of the oil industry and hegemonic interests of the USA in the Arab region.
Pacification wars are usually short-lived due to the lack of popularity among the own population, the unwillingness to risk “too many” dead and wounded, and the high costs involved. Therefore, resource wars can often hardly be ended by pacification, or then it only leads to a change in the power constellations in the affected area. For example, the second Iraq war led to the ousting of the Sunnis from power in favor of a central government dominated by Shiites. This, in turn, was one of the reasons why the terrorist organization Islamic State (IS, formerly ISIS) was founded in Iraq and then also in Syria, whose military core was made up of, among others, some of the Sunni soldiers of Iraq’s former regime, which originally was brought to power by the CIA.
Wars of Devastation Against the North
These are mainly wars led by terrorist organizations against the wealthy OECD (economically developed) world. In a broader sense, these wars also include terrorist attacks such as 9/11 and others in the recent past. Terrorists usually cannot rely on the protection by the civilian population, but must resort to the use of modern media infrastructure and modern means of transportation in a covert manner to carry out their terrorist activities. Organizations such as IS or Taliban use cultural or religious justifications as ideological legitimation. However, the real reasons for such terrorist activities are more likely to be a mixture of religious, power-political, and economic interests.
Terrorist organizations attack pedestrian zones, hijack airplanes, or target holiday centers in either groups or, increasingly, as single individuals (“suicide bombers”), in order to spread fear among the population of the rich countries of the North: According to Münkler, this is done to achieve, among other things, a withdrawal of troops such as in the context of pacification wars.
Wars of Liberation
In addition to these three “new forms of war” there are also genuine wars of liberation, in which the majority of a population revolts against dictatorial regimes and achieves political system change first through guerrilla warfare, then through massive civil society resistance, and finally through the military loss of support for the regime. With the global rise of autocratic and dictatorial regimes, an increase in wars of liberation can be expected, sometimes in conjunction with international military interventions.
[…]
International terrorism does not have to expect a counterattack using the same means since it is difficult to identify as it uses the infrastructure of a state and has no demarcated territory. If terrorists use poison gas or explosives for their attacks, they do not have to expect a comparable attack on their own territory, since they are internationally organized and act without an assignable nation-state territory. As the so-called Islamic State became “territorially visible”, it was possible to attack more precisely and, in part, to defeat militarily. IS then had to react accordingly and went underground again from where it could exploit the advantages of asymmetric warfare in the form of international terrorism operating with small terrorist cells.
The increasing existence of asymmetrical warfare further strengthens the argument for a democratically controlled “world-police structure” to be installed alongside a UN that needs massive reform. Whereas conventional wars are to be banned and prevented, the above-mentioned predominantly newer forms of war are to be relentlessly prosecuted as criminal acts of war by the corresponding UN police-like authorities and military units to be installed in the future. […]
Assignments:
1. Analyze the “true costs of war” as explained by Stiglitz, American economist, and University Professor at Columbia University.
2. Find criteria by means of which to distinguish and categorize the three asymmetrical types of violent conflicts.
3. Discuss the following statement: “If wars of liberation are seen as legitimate action, then why is terrorism seeking to liberate a country from a foreign occupant not?”
4. To combat asymmetrical warfare, Moegling calls for the implantation of a world-police as a department of the UN. Comment on the effectiveness and legitimacy of such a “world-police”.
Text: ‚Fassadendemokratie‘ und ‚Tiefer Staat‘?
(Aus (in modifizierter Form): Moegling, Klaus (2020): Neuordnung. Eine friedliche und nachhaltig entwickelte Welt ist (noch) möglich. 3. Auflage. Opladen, Berlin/ Toronto: Verlag Barbara Budrich, S. 49ff.)
Verfasser der Aufgabenstellung: Klaus Moegling
Häufig wird in letzter Zeit kritisiert, Demokratien seien zu ‚Fassadendemokratien‘ degeneriert, die letztlich von einem ‚Tiefen Staat‘, d.h. versteckten Interessengruppen in Verbindung z.B. mit staatlich organisierten Geheimdiensten, gelenkt würden. Typisch für die im Widerspruch zueinander stehende Verbindung aus neoliberalisiertem Kapitalismus und einem nur formalen Anspruch auf demokratische Strukturen seien zunächst systemische Tendenzen hin zu Scheindemokratien bzw. ‚Fassadendemokratien‘. [1]
Der Psychologe Rainer Mausfeld beschreibt die Fassadendemokratie wie folgt:
„Vorrangiges Ziel des Staates ist es, die Stabilität gegenwärtiger Machtverhältnisse zu sichern. Dem steht jedoch die zivilisatorische Leitidee von Demokratie diametral entgegen.“ [2]
Über die psychische Kontrolle und Manipulation seiner Bürger_innen, u.a. über Medien und Bildungsprozesse, gelinge es dem Staat, sich als demokratisch darstellen zu können. Dennoch sei dies nur eine Fassade, hinter der ‚Eliten‘ ihre eigene Politik im Verborgenen verfolgen würden – so Mausfeld:
„Die großen politischen Entscheidungen werden zunehmend von Instanzen und Akteuren bestimmt, die nicht der Kontrolle der Wähler unterliegen. Während also die Hülse einer repräsentativen Demokratie weitgehend formal intakt erscheint, wurde sie ihres demokratischen Kerns nahezu vollständig beraubt. Demokratie birgt also für die eigentlichen Zentren der Macht keine Risiken mehr.“ [3]
Die Verbindung aus ‚Fassaden-Demokratie‘ und ‚Tiefer Staat‘ könne aufgrund subtiler Manipulationsmechanismen seiner Bürger_innen - so Mausfeld - funktionieren. Derart getäuschte Bürger_innen könnten dann nicht mehr erkennen, wem der Staat eigentlich diene.
Ob die westlichen Demokratien bereits oder noch als Fassadendemokratien und als ‚Tiefer Staat‘ in diesem Sinne bezeichnet werden können, hängt meines Erachtens vom Ausgang der politischen Auseinandersetzungen zwischen den sich engagierenden Bürger_innen und den politischen und ökonomischen ‚Eliten‘ ab, die auf der Seite der wirtschaftlich Mächtigen stehen. Wie diese Auseinandersetzungen ausgehen werden, ist bislang noch nicht entschieden. So zeigten beispielsweise die in dieser Zeit überall auf der Welt stattfindenden Massenproteste erste Wirkungen, z.B. im Bereich der Klimapolitik, aber auch im Bereich gesellschaftlicher Herrschaft, politischer Disziplinierung und sozialer Benachteiligung, bis die Corona-Pandemie und deren Beschränkungen die Wirksamkeit der Protestbewegungen deutlich verminderte.
Sicherlich sind Demokratien auch immer von ihrer Entleerung und Aushöhlung im Sinne von Entdemokratisierung bedroht. Insbesondere sind sie auf das politische Interesse, das Engagement und die Zivilcourage ihrer Bürger_innen angewiesen. Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit und gerät unter dem Einfluss interessierter Kreise und profitierender Machteliten in Gefahr, tatsächlich zu einer ‚Fassadendemokratie‘ zu degenerieren, wenn ihre Bürger_innen das Interesse an ihr verlieren, sozial und ökonomisch abgewertet, zum Objekt raffinierter Medienpropaganda werden bzw. nicht die notwendigen Bildungsmöglichkeiten erhalten. In diesem Fall kann es passieren, das sich hinter einer ‚Fassadendemokratie‘ ein ‚Tiefer Staat‘ aufbaut, der von im Hintergrund bzw. in der Tiefe agierenden, für die Öffentlichkeit weitgehend unsichtbaren Kräften gesteuert und beherrscht wird.
Würden in diesem Fall einzelne gesellschaftliche Gruppen das Konzept der Fassadendemokratie dennoch durchschauen, kann dann Systemstabilität über eine zunehmend repressiver werdende Ordnung und auf durchgehende Kontrolle basierende innere Sicherheitsarchitektur im Zuge des Mechanismus eines ‚Tiefen Staats‘ gewährleistet werden. Hier werden dann polizeistaatliche und geheimdienstliche Mechanismen greifen und widerständige Bürger_innen ausspioniert und verhaftet. Derartige Strukturen und Maßnahmen lassen sich z.B. in der Türkei oder in Russland beobachten.
Aber die – trotz aller noch vorhandenen Defizite – am weitesten entwickelten westlichen Demokratien, wie z.B. die skandinavischen Staaten oder auch Staaten wie Frankreich, Deutschland oder Großbritannien, als ‚Fassadendemokratien‘ in Verbindung mit einem ‚Tiefen Staat‘ bezeichnen zu wollen, ist meiner Meinung nach gegenwärtig nicht gerechtfertigt und maßlos übertrieben: Weder im historischen Vergleich gab es, noch im interkulturellen Vergleich gibt es mehr Möglichkeiten zur demokratischen Partizipation und Mitbestimmung, ohne dass eine Verfolgung und eine Bedrohung von staatlicher Seite zu befürchten ist. Eine pauschale und abwertende Gleichsetzung von allen westlichen Demokratien über deren Einschätzung als Fassadendemokratie gekoppelt mit ‚Tiefem Staat‘ halte ich für eine fatale Fehleinschätzung.[4]
So muss beispielsweise normalerweise niemand, der an einer Demonstration von ‚Fridays for Future‘ in Deutschland oder in Finnland teilnimmt, befürchten, eine Strafanzeige zu erhalten. Auch wird ein_e Teilnehmer_in an einer Gewerkschaftskundgebung nicht befürchten müssen, am nächsten Tag abgeholt und eingesperrt zu werden. Es gibt ein breites Spektrum an Medien, deren politische Inhalte verglichen und beurteilt werden können. Es sind zahlreiche Partizipationschancen in Bürgerinitiativen, Nicht-Regierungsorganisationen und politischen Parteien vorhanden, die wahrgenommen werden können. In der Regel muss man keine Bedenken haben, frei seine Meinung zu äußern – auch wenn sie vom gesellschaftlichen Mainstream abweicht. Erst wenn der Tatbestand der Volksverhetzung oder der Aufruf zu Straftaten erfüllt ist, erfolgt eine polizeiliche Ermittlung und eventuell eine gerichtliche Verurteilung.
Dies bedeutet dennoch nicht, dass nicht auch die Staaten mit demokratischem Selbstanspruch von systemischer Regression bedroht und auf erhebliche systemische Verbesserungen angewiesen sind, um ihr bisheriges Partizipationsniveau zu halten oder noch zu verbessern. So stehen auch diese Staaten und ihre Bevölkerungen unter dem Verwertungsdruck des internationalen Kapitals, dem die Partizipation der Bürger_innen lästig wird, wenn diese sich beispielsweise gegen Klimazerstörung oder gegen die Verwüstung ihrer Region zum Abbau von Bodenschätzen zu wehren beginnen. Lange Zeit sind – gerade auch in Deutschland – Personen, die vom Verfassungsschutz zu Recht oder zu Unrecht als verfassungsfeindlich identifiziert wurden, aus dem öffentlichen Dienst entfernt worden (siehe der Radikalenerlass von 1972). Auch ist die Wirtschaft im Kapitalismus nur in Ansätzen demokratisch organisiert. Ein Teil der Konzerne, wie z.B. Lidl oder Amazon, versucht eine Demokratisierung zu verhindern und versucht die Bildung von Betriebsräten zu verhindern. Auf Bundesebene gibt es in Deutschland kaum direkt-demokratische Partizipationschancen.
Die Kritik an Diskrepanzen zwischen politischem und ökonomischem System sowie an der unvollendeten demokratischen Durchdringung gesellschaftlicher Strukturen ist also berechtigt und muss im Detail genau analysiert werden. Dennoch bedeutet dies nicht, dass alle Erfolge vorhergehender Generationen im Kampf um demokratische Rechte pauschal abzuwerten sind. Auch eine alles vernichtende Kritik derjenigen Gesellschaften, die sich um eine Demokratisierung bemühen, hilft wenig und ist destruktiv. Wird eine Gesellschaft mit politischen Strukturen, die am Demokratieprinzip orientiert aber auch immer von Entdemokratisierung bedroht sind, als ‚Fassadendemokratie‘ mit einem dahinter stehenden ‚Tiefen Staat‘ eingeschätzt und dies medial propagiert, dann besteht die Gefahr, dass Menschen, die diese Einschätzung glauben, sich nicht mehr für den Erhalt der vorhandenen demokratischen Strukturen einsetzen und sich prinzipiell von den vorherrschenden politischen Strukturen abwenden. Dies wiederum führt zu einer weiteren Schwächung der Demokratie.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Mausfeld, Rainer (2017): a.a.O., vgl. auch Mies, Ullrich/ Wernicke, Jens (Hrsg.) (2017): Fassadendemokratie und tiefer Staat: Auf dem Weg in ein autoritäres Zeitalter. Wien: Promedia.
[2] Mausfeld, Rainer (2020): Der autoritäre Planet. Im Interview mit Flo Osrainik, in: https://www.rubikon.news/artikel/der-autoritare-planet, 30.5.2020.[
3] Mausfeld, Rainer (2017): Die Wahrheit über die Demokratie. In: https://neue-debatte.com/2017/09/15/die-wahrheit-ueber-die-demokratie/, 15.9.2017.
[4] Vgl. ausführlicher zu diesem Begründungszusammenhang Moegling, Klaus (2020a): ‚Fake News‘ gegen Demokratie. In: Gesellschaft, Wirtschaft, Politik., 3/2020, 280-287.
Aufgabenstellungen:
1. Beschreiben Sie, was im Text in Anlehnung an Mausfeld unter einer ‚Fassadendemokratie‘ und einem ‚Tiefen Staat‘ verstanden wird.
2. Erläutern Sie, inwieweit sich die Beurteilung von Moegling hinsichtlich der im Text geäußerten Einschätzung Mausfelds unterscheidet, inwieweit in westlichen Gesellschaften, wie z.B. Deutschland, eine ‚Fassadendemokratie‘ in Verbindung mit einem ‚Tiefen Staat‘ vorhanden ist.
3. Entwickeln Sie eine eigene Position zur Frage, wie sich die politischen Strukturen in einer westlichen Demokratie, wie z.B. der Bundesrepublik Deutschland, Kriterien orientiert beurteilen lassen, und entwerfen Sie hierauf aufbauend eine eigene Beurteilung des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland.
Thema: Die EU-Taxonomie im Spannungsfeld des Nachhaltigkeitsbegriffs am Beispiel „Atomkraft“
(in: Moegling, Klaus, 2022, https://www.klaus-moegling.de/actual-blogs/ (vom 3.2.2022, abgerufen am 11.02.2022, gekürzt, blog 1)
Verfasser der Aufgabenstellung: Alexander Berg
EU-Nachhaltigkeitssiegel – Verstößt „Atomkraft? – Nein, Danke!“ gegen EU-Nachhaltigkeitskriterien?
Nachhaltig ist eine Politik oder eine Unternehmensstrategie, wenn sie dazu beiträgt, dass den aktuellen und insbesondere den zukünftigen Generationen eine lebenswerte und bedürfnisgerechte Qualität ihrer existenziellen Bedingungen erhalten bzw. geschaffen wird, wie z.B. eine intakte Natur, eine stabile Friedensordnung oder eine gerechte Vermögensverteilung. […] Die Befriedigung der Bedürfnisse der jetzigen Generationen [sind] streng daraufhin zu prüfen ist, ob sie die existenziellen Möglichkeiten der zukünftigen Generationen einschränken. […] Das Festhalten an oder die Entwicklung von umwelt- und menschenfeindlichen Technologien und industriellen Strategien verbieten sich hierdurch. Die an Nachhaltigkeit orientierte globale Entwicklung und entsprechende politische Maßnahmen haben hierbei insbesondere den Ausgleich von weltweiter Ungerechtigkeit bzw. die Besserstellung der unterprivilegierten Regionen der Welt zu berücksichtigen. […]
Die EU-Nachhaltigkeits-Taxonomie fokussiert insbesondere die ökologische Dimension der Nachhaltigkeit, bezieht aber auch Nachhaltigkeitsperspektiven im erweiterten Sinne ein. Die jüngst in die öffentliche Kritik geratene EU-Nachhaltigkeits-Taxonomie ist in einer früheren Version bereits 2020 entwickelt worden und hat die Funktion, auf dem Weg zu mehr Nachhaltigkeit „das Potenzial des Binnenmarkts für die Verwirklichung dieser Ziele voll auszuschöpfen. In diesem Zusammenhang ist es entscheidend, Hindernisse zu beseitigen für die effiziente Lenkung von Kapital hin zu nachhaltigen Investitionen im Binnenmarkt und die Entstehung neuer Hindernisse zu vermeiden.“
Die durchaus vertretbare Intention eines Nachhaltigkeits-Labels für Finanzprodukte war es, die privaten und öffentlichen Investitionen […] systematisch und wirksam in eine nachhaltige Richtung zu lenken. […] Es geht also darum, ob eine wirtschaftliche Aktivität, also z.B. die Herstellung eines industriellen Produkts sowie das Produkt selbst, als nachhaltig zu qualifizieren sind und damit für […] institutionelle sowie private Anleger aufgrund der EU-Taxonomie als „grünes Produkt“ empfohlen werden können. Des Weiteren betrifft dies auch die öffentliche Förderung und staatliche Maßnahmen zur Konjunkturlenkung. […] Interessanterweise wird in der EU-Richtlinie von 2020 vor dem „Greenwashing“ gewarnt (wenn also falsche Label für vorgeblich ökologische Produkte vergeben werden). Die EU-Taxonomie solle das „Greenwashing“ verhindern. […] Vor diesem Hintergrund ist es dann doch erstaunlich, wenn die EU-Kommission [1] nun am 01. Januar 2022 einen Vorschlag zur Beratung in die zuständigen Gremien gibt, der sich für die Nachhaltigkeit von Atomkraftwerken bzw. der Kernenergie (bis 2045) und der Energiegewinnung auf der Basis von Gas (bis 2030) ausspricht. […] Aktien von Energieversorgungsunternehmen, die ihre Energieproduktion vorwiegend aus Kernenergie bzw. Atomkraftwerken beziehen, [könnten dann] als nachhaltig empfohlen werden. [In der Folge könnten] Atomkraftwerke dann […] der CO2-Bilanz eines Staates gutgeschrieben werden.
Wie nachhaltig ist Atomenergie im Sinne der EU-Taxonomie wirklich?
Frankreich ist – zusammen mit Finnland und einigen osteuropäischen Staaten, u.a. Polen – Hauptinitiator des derzeit laufenden Versuchs, die internationalen Finanzströme über eine veränderte Nachhaltigkeits-Taxonomie der EU in die Finanzierung von Atomkraftwerken und damit auch der gesamten Nuklear-Industrie, einschließlich der Atomwaffen, zu lenken. Insbesondere der französische Präsident Emmanuel Macron bestand [auf die Abänderung] mit dem Argument, […] Energiegewinnung über Kernkraft sei nachhaltig und als „grüne“ Energieproduktion zu bezeichnen.
In Frankreich sind derzeit 56 AKWs in Betrieb, die allerdings z.T. marode sind und nach erheblichen Reparaturinvestitionen verlangen. Frankreich bezieht ca. 71% seines Stroms aus Kernkraft [und] liegt mit der Anzahl seiner AKWs an zweiter Stelle der nuklearen Energieproduktion im weltweiten Vergleich, hinter den USA und noch vor China.
[Es] soll [an dieser Stelle] nun die Auffassung vertreten werden, dass es sich bei dem maßgeblich von Frankreichs Nuklear-Industrie initiierten und [von] Macron [unterstützten] Vorstoß, die Nuklear-Industrie als nachhaltig auszuweisen, um einen extremen Fall von Etikettenschwindel bzw. von Greenwashing handelt. Die international anerkannte Nachhaltigkeitsdefinition der Brundtland-Kommission und auch die verabschiedeten UN-Nachhaltigkeitsziele basieren darauf, dass die Bedürfnisse der gegenwärtigen Generationen nicht die Einlösung der existenziellen Möglichkeiten zukünftiger Generationen behindern bzw. vernichten dürften.
Doch bürdet die Atomindustrie Tausenden von zukünftigen Generationen die bisher nicht geklärte Entsorgungsfrage des Atommülls auf. Dies ist ein deutlicher Verstoß gegen den Kern der Nachhaltigkeit und auch dementsprechend gegen die Kriterien der EU-Taxonomie […], die eine Verringerung bzw. Beseitigung des Einsatzes „besonders besorgniserregender Stoffe in Materialien und Produkten während ihres gesamten Lebenszyklus“ [fordert]. Diese hochradioaktiven Isotope strahlen extrem lang und haben Halbwertzeiten zwischen zehntausenden bis hunderttausende Jahre. Neben einem fehlenden und als nachhaltig zu bezeichnenden Entsorgungskonzept sind die Gefahren durch eine Kernschmelze im Atomreaktor zu nennen. Atomkraftwerke sind nicht rein technischer Natur, sondern bestehen aus einem „Mensch-Technik-System“ und beides ist fehleranfällig. […] AKWs stellen eine extreme Gefahr für die Gesundheit der Menschen dar, da sie – zumindest bislang – nicht sicher zu betreiben sind und auch ein sicherer Betrieb zukünftig nicht erkennbar ist. Dieses Argument verstärkt sich noch einmal, wenn man über den „Normalfall“ einer betriebstechnischen Störung hinausgeht und die Möglichkeit externer Eingriffe durch Cyber-Angriffe im Kriegsfall oder durch terroristische Anschläge einbezieht.
Ist eine ökonomische Aktivität geeignet, die Wirkungen des bereits eintretenden oder zukünftigen Klimawandels zu vermindern – allerdings „ohne das Risiko nachteiliger Auswirkungen auf Menschen, Natur oder Vermögenswerte zu erhöhen“? Hierbei ist zu berücksichtigen, dass der Abbau von Uran, der Bau von AKWs, der Betrieb von AKWs sowie die Entsorgung der Anlagen sowie des verbrauchten radioaktiven Materials keineswegs CO2-neutral und damit […] klimaschonend sind. Auch ist Uran ein endlicher Rohstoff, der in wenigen Jahrzehnten weltweit ausgebeutet sein dürfte. Betrachtet man des Weiteren die Kosten des Atomstroms, so wird deutlich, dass es sich hier mit Abstand um die teuerste Variante der Stromerzeugung handelt, die weit hinter den Kosten regenerativen Stroms zurückfällt. AKWs sind sogar in einem noch größeren Maße als die auf Verbrennung fossiler Energieträger basierende Stromerzeugung von staatlichen Subventionen [d.h. Förderung] abhängig. Die Gewinne der Atomindustrie werden letztendlich vom Steuerzahler bezahlt. […] Niemand kann des Weiteren die immensen Kosten eines GAUs oder gar Super-GAUs seriös berechnen; wie will man […] die Kosten Jahrtausende umfassender sicherer und zu bewachender Einlagerung von Atommüll berechnen? Dies alles bedeutet zweifelsfrei, dass die [von] der EU-Taxonomie geforderte Energieeffizienz in keiner Weise in Bezug auf Kernkraftwerke gegeben ist. […] Der von der EU-Taxonomie geforderte wesentliche Beitrag für die „Anpassung an den Klimawandel“ würde somit durch die Lenkung der Finanzströme in die Kernkraft geradezu verhindert, denn das notwendige Investitionskapital wird in diesem Falle für die eigentliche Energiewende nicht zur Verfügung stehen.
Fazit und politische Forderungen
Die von interessierten Kreisen angestrebte Renaissance der Atomkraft mit Nachhaltigkeitsargumenten zu belegen, ist absurd. Die in der 2020 verabschiedeten und veröffentlichten EU-Taxonomie festgelegten Kriterien verweisen eindeutig auf die fehlende Nachhaltigkeit der Kernkraft. Atomkraftwerke sind weder sicher, noch ist die Entsorgungslage geklärt. Auch sind sie nicht CO2-frei, bieten keine Versorgungssicherheit und sind extrem teuer. […] Die europäischen Finanzströme sind über die Vermeidung von „Greenwashing“, so wie es die ursprüngliche EU-Taxonomie vorsah, in den Ausbau der regenerativen Energieförderung sowie in die Entwicklung von Speichertechniken und in den Netzausbau zu lenken.
Modernisierte Gaskraftwerke mit geringeren CO2-Emissionen könnten allerdings noch eine Zeit lang eine wichtige Brückenfunktion während der Durchführung der Energiewende und Dekarbonisierung [2] auf dem Weg zur Klimaneutralität haben, um in dieser Zeit Versorgungssicherheit zu gewährleisten.
Anmerkungen
[1] die „exekutive Gewalt“ der EU.
[2] Das Ziel ist auf Dauer die Schaffung einer CO2-freien Wirtschaft im Rahmen der Energiewende.
Aufgabenstellungen:
1. Ordnen Sie die Argumente Moeglings zur Kritik an der Änderung der EU-Taxonomie – begründet – den Kategorien „Effizienz“ (z.B. Aufwand, Kosten, Nutzen) und „Legitimität“ (z.B. Zumutbarkeit, Akzeptanz, Nachhaltigkeit) tabellarisch zu.
2. „Wenn durch die Herstellung oder den Verbrauch von Waren oder Leistungen […] der Gesellschaft Kosten (externe Kosten) [entstehen] und vom Schadenverursacher kein Ausgleich vorgenommen wird, […] spricht man von externen Effekten. […] Externe Kosten entstehen z.B., wenn von Unternehmen […] die sozialen Kosten der Produktion auf die Gesellschaft abgewälzt – sprich externalisiert – werden.“ (aus: Das Lexikon der Wirtschaft: Externe Effekte, bpb, Onlineressource; Hervorhebungen hinzugefügt)
a. Recherchieren Sie, was unter „soziale Kosten“ zu verstehen ist.
b. Ermitteln Sie ausgehend von der Quelle die möglichen externalisierten sozialen Kosten im Falle eines Greenwashings von Atomkraft bzw. des Baus weiterer AKWs.
3. Erörtern Sie angesichts der in der Quelle dargestellten Risiken, ob das BIP noch die geeigneten Anreize zur Erreichung des ökologisch nachhaltigen Umbaus der Wirtschaft setzt.
Beziehen Sie in Ihre Überlegungen ausgewählte Passagen aus den Texten Maja Göpels (2020) mit ein.
Möglicher Erwartungshorizont:
Aufgabe 1: Anwendung politischer Urteilskategorien
Effizienz | Legitimität | Nutzen: ein Nachhaltigkeits-Label setzt Anreize, private und öffentliche Investitionen „systematisch und wirksam in eine nachhaltige Richtung zu lenken“ (20-22); hierdurch solle Greenwashing verhindert werden (28)
Zumutbarkeit: das Greenwashing von Kernkraft steht im Widerspruch u.a. zu den UN-Nachhaltigkeitszielen und behindere die „existenziellen Möglichkeiten zukünftiger Generationen“ (51-53)
Aufwand/Kosten: ein „Entsorgungskonzept“ für Atommüll fehlt gegenwärtig noch (60, 81) | Nachhaltigkeit: die Entsorgung von Atommüll sei nach wie vor ungeklärt (55) und verstößt gegen Kriterien der EU-Taxonomie (56-57)
Aufwand: AKWs sind nicht sicher zu betreiben, da nicht rein „technischer Natur“ (62); anfällig für „Cyber-Angriffe“ und „terroristische Anschläge“ (66-67)
Zumutbarkeit: Kernenergie stellt „eine Gefahr für die Gesundheit der Menschen dar“
Nutzen: Uran ist ein endlicher Rohstoff (72)
Nachhaltigkeit: Der Abbau und die Entsorgung von Uran, der Bau und Betrieb von AKWs usw. sind nicht „klimaschonend“ (72)
Kosten: Atomstrom ist teurer als die Stromerzeugung aus regenerativen Energien (75-76)
Kosten: AKWs sind nur durch staatliche Subventionen wirtschaftlich zu betreiben (77); Gewinne der Atomindustrie sind z.T. Steuergelder (78)
Kosten/Zumutbarkeit: eines GAUs bzw. Super-GAUs sind für Mensch, Natur und Gesellschaft nicht „seriös“ zu erfassen (80)
Nutzen: Investitionen in Kernenergie fehlen für die „eigentliche Energiewende“ (86) |
Nutzen/Zumutbarkeit: „Gaskraftwerke mit geringeren CO2-Emissionen“ sind notwendig, um „auf dem Weg zur Klimaneutralität“ die „Versorgungssicherheit zu gewährleisten“ (97-98)
Aufgabe 2: Externe Effekte & soziale Kosten
1. Soziale Kosten sind von Unternehmen verursachte, aber nicht von diesen getragene bzw. eingepreiste Kosten; sie werden auf die Allgemeinheit, z.B. den Staat bzw. die Steuerzahler, abgewälzt.
2. Externalisierte soziale Kosten des Greenwashing von Atomkraft sind z.B.:
- gesundheitliche Schäden für Anwohner bzw. im Falle eines (Super-)GAUs für die Bevölkerung (auch über Landesgrenzen hinweg)
- Gefahren für Natur und zukünftige Generationen im Falle der Endlagerproblematik
- Aufwendungen zur Wiederherstellung des Ursprungszustandes nach Unfällen und Zerstörungen
- Gewinne werden von der Nuklearindustrie eingenommen; Verluste und Kosten werden dem Staat bzw. dem Steuerzahler aufgebürdet.
Würden diese Kosten kalkulierbar sein und somit in die Erzeugung von Kernenergie eingepreist werden, wäre Atomenergie betriebswirtschaftlich trotz Subventionen noch teurer und unrentabler im Vergleich zu regenerativen Energien als ohnehin schon.
Aufgabe 3: Das BIP und die ökologische Transformation der Wirtschaft
In Göpel (2020) wurde ausgeführt, dass sich die Wohlstandsmessung des BIP vor allem auf die quantitative Steigerung der Wirtschaftskraft bezieht und damit genuin von Produktion und Konsum abhängig ist. Auch die Schadensbeseitigung nach Nuklearkatastrophen oder der Bau und die Bewachung von Endlagern würden vor diesem Hintergrund positiv zur Steigerung des BIP beitragen. Auf der anderen Seite würden sich qualitative Faktoren wie Wohlbefinden und Gesundheit mutmaßlich radikal verschlechtern, insbesondere im Falle eines GAU bzw. Super-Gau. Untere und mittlere Einkommensschichten wären mit Sicherheit unverhältnismäßig stark hiervon betroffen. Für den ökologischen Umbau der Wirtschaft setzt das BIP in seiner jetzigen Form somit die falschen Anreize, weil es potenziell steigt, wenn Lebensraum gefährdet oder gar vernichtet wird. Habeck befürwortet z.B. aus diesen Gründen eine „erweiterte Wohlstandsmessung“, wobei Wachstum „nicht mehr der alleinige Maßstab sein solle“ (vgl. Jahreswirtschaftsbericht 2022).
Qualitatives Wachstum meint umweltschonendes und risikoarmes Wachstum und den Wegfall der Produktion gesellschaftlich nicht notwendiger Produkte. Erst kürzlich konnte man im Kontext des Russland-Ukraine-Kriegs erfahren, dass die gezielte Bombardierung von AKWs innerhalb kriegerischer Auseinandersetzungen (leider) ein Mittel der Wahl darstellt und Szenarien wie die in der Quellenvorlage beschriebenen nicht realitätsfern sind. Daher müssen auch alle Risiken für Mensch und Umwelt im Rahmen eines qualitativen Wachstumsdenkens einbezogen werden.